JAHRESBERICHT
über die
Fortschritte der klassischen
Altertumswissenschaft
begründet von
Conrad Bursian
herausgegeben von
A. Körte.
Hunderteinundneunzigster Band.
Achtundvierzigster Jahrgang 1922.
Erste Abteilung.
GRIECHISCHE AUTOREN.
I
9
LEIPZIG.
O. R. REISLAND.
1923.
Alle Rechte vorbehalten.
3
-TS
Altenburg, S.-A.
Piererache Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & (Jo.
Inhaltsverzeichnis
des hunderte inundneunzigsten Bandes.
Seita
Bericht über Herodot 1915—1920. Von J. Sit zier in
Freiburg i. Br 1 — 26
Bericht über die griechischen Lyriker (mit Ausnahme
des Pindar und Bakchylides) , die Bukoliker, die
Anthologia Palatina und die Epigrammsammlungen
für 1917 — 1920. Von J. Sitzler in Freiburg i. Br. 27—78
Bericht über die in den letzten Jahrzehnten über Piaton
erschienenen Arbeiten. Von Constantin Ritter
in Tübingen. (Fortsetzung) 79 — 305
Bericht üöer Herodot 1915—1920.
Von
J. Sitzler in Freiburg i. Br.
Vorbemerkung.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse brachten es mit sich,
daß die im Ausland erschienenen Bücher und Zeitschriften in dem
folgenden Berichte nur in beschränktem Umfange berücksichtigt
werden konnten. Was mir zugänglich war , auch wenn es aus
zweiter Hand stammte, verzeichnete ich, vieles freilich nur ganz
kurz oder auch nur unter Angabe des Titels.
I. Handschriften und Ausgaben.
Ausgaben, die in Betracht kämen, sind mir nicht bekannt ge-
worden; dagegen brachten die
Oxyrhynchus-Papyri. Part X. XI und XIII
wieder neue Stücke des Herodot-Textes , die außer einigen text-
lichen Verbesserungen auch über die hs. Überlieferung Herodots
wertvolle Aufschlüsse geben.
Der 10. Bd. der Ox3Th.-Pap. enthält Stücke aus Buch I 105
bis 108 unter Nr. 1244. Stücke aus I 105 und 106 wurden schon
im 1. Bd. der Oxyrh.-Pap. unter Nr. 18 veröffentlicht. Beide Pap.,
Nr. 1244 und Nr. 18, haben in Kap. 105 die Lesart irtoxr^iliEv /]
x^eoi;, wofür unsere Hs. 6 ^£og bieten. Paj). 1244 liest Kap. 107
mit der Hs.-Kl. ß ^OTvdyr^g ö Kva^ägew jra/c, während die Hs.-
Kl. a den Art. 6 ausläßt. Im folg. hat der Pap. tvr£^^c'«£voc, wie
Schäfer, nicht H. Stephanus, den Holder irrtümlicherweise
nennt, st. des hs. vTtoi^^usvog verbesserte.
Bd. XI Pap. 1375 aus dem Anfang des 2. Jahi-h. n. Chr. bietet
Herod, VII 166 — 167. In Kap. 166 stellt er KaQyj^dovicov vor,
nicht wie unsere Hs. nach xar' aidgayai^hp'. dann hat er ij avu-
ßoX?j te sysiveco, wo unsere Hs. ayiiexo, S eyerevo lesen, ferner
7^aa(ijTo st. i-GOOiTO der Hs. In Kap. 167 stimmt er in der Lesung
Jahresbericht für Altertumäwissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 1
\
2 J. Sitzler.
iv rfi ^ixeXii] e[.taxovTO mit a überein, während ß iv Tjj 2iY.eXii]
nicht hat, ebenso in den Lesungen xoaovxo und XiyETai.
Das bedeutendste Bruchstück enthält Pap. 1619 des 13. Bandes,
nämlich III 26 — 72, freilich teilweise sehr lückenhaft. Es stammt
aus den Jahren 50 — 150 n. Chr. und besteht aus ungefähr 220 Zeilen
in Kolumnen zu 39 — 40 Zeilen, die Zeile zu 21 — 27, durchschnitt-
lich 23 — 24 Buchstaben. Über den Linien hat der Schreiber Kor-
rekturen und abweichende Lesarten eingefügt. Neben der Haupt-
hand unterscheiden die Herausgeber noch zwei Nebenhände, die mit
der Haupthand ungefähr gleichzeitig sind ; sie nahmen eine Revision
vor, von der die Noten auf dem oberen Rande und zwischen den
Kolumnen zur Verbesserung und Erklärung des Textes herrühren.
Der Papyrus stimmt im Text teils mit a, teils mit ß überein,
hat aber auch eigene , von beiden Hs.-Kl. abweichende Lesarten.
Kap. 29 hat der Pap. oQchj /niv ötj, wie unsere Hs. ; Schäfer ver-
besserte rj OQxij fifv ötj xtA. ; das Ursprüngliche war wohl t} /.liv
ö^ ogrij xtA. — 30 : xat ^cQiZxa fitv ti/jv zaxwr, wie unsere Hs. ;
T(ji)v xaxwv hat Stein getilgt. — 31: l7tianoiAivi]v , wie R. —
32: adehfEov arToD aXXov a'/,vXctv.a, wie die Hs.-Kl. a; Naber
hat alXov axtAaxa eingeklammert, kaum mit Recht, da auTor wohl
später eingedrungen ist. Es wird aöeXffeov tövra aXXov ox. zu lesen
sein. — Im folg. läßt der Pap. tovg GAvXayiag zwischen ol'rw Stj
und eTtey.QaTr^oai mit Recht aus. — 33: eg roig olyi[£]i[TaTOvg
mit ß, orKTjlovg a. — Im folg. läßt der Pap. mit a xayiä zwischen
avi^QioTiovg und v.aza'kaf.ißüvEiv aus, hat aber mit ß xal i/. yevefjg. —
34 : täds eg zovg xrA. mit übergeschriebenem de zwischen rdöe und
€g-, ß zdÖE 6^ sg, a xd öi eg. — Dann iq^dges, wie unsere Hs.;
wofür Naber taEcpoQEE vermutete. — Auch 7toög xov Ttaxeqa xeXtaai
KvQOv hat der Pap., woraus ich folgere, daß man doch wohl xeXeaai
mit Unrecht ausschließen will; eher scheint Kvqov aus einer Er-
klärung eingedrungen zu sein und ein Substantiv wie egya ver-
drängt zu haben, vgl. Hom. ß 272. — Am Ende des Kapitels dy.ovaag
mit ß ; in a fehlt das Wort ; aber etwas vorher mit a 7CQoaey,xijad^ai,
xfj yiQtOEi, ohne yivoi^avi], und xdöe. — Ferner Ttgög xov KafjßcGf]v
st. des hs. Kai-ißiosa. — 35: ßaXeeiv wie unsere Hs. — 36: noD.dJ
f.iExt7tEixa XQovip, ohne vaxEQOv, das unsere Hs. beifügen. Zur Les-
art des Pap. vergleichen die Herausgeber VII 7, wo auch /.lEXETtEixa
mit Dativ ohne vgieqov steht.
49 hat der Pap. ebenso lückenhaft, wie unsere Hs., slal aXXr^-
XoLGi öidtpoQOi ; die Herausgeber merken an, daß der Wortlaut im
Pap. kürzer war als die vorgeschlagenen Ergänzungen. Es scheint
Bericht über Herodot 1915—1920. 3
sich also um eine alte Korruptel zu handeln. — Dann fehlt im
Pap. wv zwischen zovitov eivekev. — Im folg. weist der Pap. auf
iTtt^ne, wie die Hs.-Kl. ß hat, schreibt aber mit a TipiioQEVfievog. —
52 stimmt der Pap. in oi/.teiqe und xat ayaO^a za vvv mit unseren
Hs. überein. — Im folg. scheint er Krügers Schreibung ytyovE
st. lyEyovEE oder lyytyövEEv zu bestätigen. — 53 spricht der Pap.
für d/tiifi und (piXoriijiin ohne /;, wie a hat, aber für yeQcov t€ di]
st. i^ÖE mit ß. — 54 steht zu fnl lijg Qaxiog rod OQEog als Er-
klärung auf dem Rande i^cl rov a/.Qiorrjqlov. — Im folg. ey.cEivor '
si (.liv vvv xrA. mit a. — Dann avvEGnEö6viEg\ a avvEiöJtEOovTEQ^
ß avunEOovTEg. — 56 : ovtcd öij anaXXäaoEai^ai mit a, aber TigtoTi^v
mit ß; ebenso y1uy.EÖai!.tovioioi. — 59: tr^g l^i^rivaitjg zfjg i^)'
^lylvTß\ unsere Hs. iv ^lyivrj ohne zT^g. Die Herausgeber ver-
gleichen V 82 zfj l^i^rjvair] ze zrj noXiäöi und VII 43 zij L^if-rjvair]
zij ^Ihddi , Beispiele , die doch wieder anderer Art sind , weil es
sich bei ihnen um Adjektive, nicht präpositionale Bestimmungen
handelt. — Im folg, ycQOiEooL mit a; ß tiqozeqov.
60 : dQ%izi/.zL>jv ÖE zov OQvyf-iazog zovzov mit a, ß stellt zovzov
vor zov OQvyi-iaTog. — Dann /W/tm iv d^aXdaarj ßd&og ytazd Eiy.oat
OQyviEiüv, wie unsere Hs. Gewöhnlich ändert man mit Eltz xar«
in xat; richtiger ersetzen die Herausgeber ogyviECJv durch ogyvidg,
nur ist so die Verschreibung in ogyviEiov nicht erklärt. Dies ge-
schieht, wenn man ogyvidg eov liest, woraus oQyvieiov wurde. —
68. Der Pap. hatte ohne Zweifel die Worte örj zaizrjv Eiy^E zote,
die ß ausläßt. — 72 hat der Pap. tzeqiJooi-iev mit a; ß TtEigrjaoiAEv. —
Der Satz agyov di ovösv drt^ avztov Xaf.i7tQdv yivezai war im Pajj.
kürzer gefaßt; es fehlte wohl yivEzat oder cctv^ avzdiv. — Dann
zoLoJvÖE mit ß, a zoicov.
Der Pap. 1619 stimmt, wie man sieht, an vielen Stellen mit
der Hs.-Kl. a, seltener mit der Hs.-Kl. ß überein, bietet aber auch
Eigenes, darunter einiges Wertvolle. Er läßt sich in dieser Hinsicht
mit den Pap. ,19, 1092 und 1244 zusammenstellen. Die Heraus-
geber vermuten, daß diese Papyri älter seien als die Trennung
der Hs. in die Florentiner- und Romanusgruppe, vgl. auch vorigen
Jahresb. Bd. CLXX (1915. 1) S. 292. Ich halte es für richtiger,
darin eine dritte, neben a und ß stehende Überlieferung zu sehen,
der auch P und der von L. Weber in den Analecta Herodotea.
Philologus Suppl. XII S. 133 f. behandelte cod. D angehörte. Auf
eine weitere Rezension deutet eine Marginalnote des Pap. 1092.
Die Entstehung der Rezensionen a und ß setzen die Herausgeber
frühestens in das 4. Jahrh. n. Chr. Vgl. auch B. E. Grenfell,
1*
4 J. Sitzler.
The value of Papyri for the textual Criticism ofex-
tant Greek Authors. A paper read to the Hellenic Society,
May 7, 1918. Journal of Hell. Stud. XXXIX (1919) S. 16 f. Sie
wird aber wohl in noch spätere Zeit fallen; nach J. Groegera
Untersuchungen benützte auch Eustathius einen Herodot-codex, der
Lesarten beider Hs. -Klassen in sich vereinigte, vgl. vorigen Jahresb.
a. a. 0. S. 296. Vielleicht bringt ein glücklicher Papyrusfund einmal
auch die Lösung dieser Frage.
Als Übersetzung erwähne ich
Herodot, Orientalische Königsgeschichte. Hrsg.
von P. Ernst.
Die Übersetzung rührt von Goldfaden (im 18. Jahrh.) her;
sie wird als genau und sehr lesbar gerühmt in Sokrates V S. 490.
n. Kritische und exegetische Beiträge.
1. Text.
Mit der Verbesserung und Erklärung des Textes befassen sich
folgende Arbeiten:
1. W. Nestle, Herodot I 32. Berl. phil. Wochenschr. 1916,
Sp. 261.
2. P. Shorey, Herodot I 60. Class. PhÜologj^ XV S. 88.
3. F. Jacoby, Herodot Interpolation aus ^vd laxd.
Hermes 51 (1916) S. 477 [I 71].
4. C. F. Lehmann-Haupt, Gewichte. Pauly-Wissowa-KroU,
Suppl. in Sp. 644 [Herod. I 178]. — Ebenda Sp. 596 f. [III 89].
ö. C. Bonner, The sacred bond. Americ. Philolog. Asso-
ciation. Transactions 1913, S. 233 f. [I 26. 199].
6. E-. Rödiger, Neue Lesungen in griechischen
Schriftstellern. Sokrates IV S. 229 [II 2].
7. Guielm. Vollgraff, Ad Plutarchum et Herodotum.
Maemosyne 44 S. 337 [III 51j.
8. St. Casson, Herodot IV 109. Class. Review XXXIV
S. 30 f. — The dispersal legend. Ebenda Jahrg. 1913,
S. 153 f. [IV 191. V 13. VII 91].
9. E. Washburn Hopkins, Epic Mythology (= Grundriß
der indo - arischen Philologie und Altertumskunde III. Bd.
Heft 1 B). Straßburg 1915. 277 S. [IV 62].
10. E. Aßmann, Herodot V 33, 2 und die &aXufxiaL.
Berl, philol. Wochenschr. 1919, Sp. 277 f.
Bericht über Herodot 1915—1920. 5
11. S. Eitrem, Beiträge zur griechischen Religions-
ge schichte. II. Kathartisches und Rituelles. Kristiania
1917. 50 S. (= Videnskapsselskapets Skrifter II. Hist.-Filol.
Kl. 1917, Nr. 2) [Herod. VII 39].
Aus diesen Arbeiten hebe ich folgendes hervor. Nestle
wendet sich gegen C. P. Gunning, De sophistis Graeciae
praeceptoribus. Diss. Amstelodami 1915, welcher I 32: xa
näita f-itv yi'v tavxa ovXXaßnv y.xX. aus einer Vergleichung des
Sämanns mit dem Erzieher erklären wül. Demgegenüber hält
Nestle an seiner schon N. Jahrb. 1909, S. 11 ausgesprochenen
Ansicht fest , daß der BegriiF alzdQKrjg auf einen Zusammenhang
unserer Stelle mit dem Sophisten Hippias hinweise. — Jacoby
sieht in I 71 : ovrojACx oi i\v ^dvdavig eine Beischrift aus den
Scholien, die vielleicht aus Xanthos stammt. Die auffallende Stellung
der Worte spricht für Jacobys Vermutung; freilich könnten sie
auch ursprünglich vergessen und auf dem Rande nachgetragen ge-
wesen und so an unrechter Stelle in den Text eingedrungen sein.
Ihr Platz wäre nach xtov xig ytvdiöv. — Lehmann-Haupt weist
darauf hin, daß sich Herodot I 178 ungenau ausdrückt, wenn er
sagt: 6 öe ßaaiXr^Log ^tjx^'S '^ov ^etqIov iozl yiijx^og f.tiLtov xQial
da/.TvXoioi ; er hätte 2f st. 3 sagen müssen; denn 26|- : 24 = 80 : 72
= 10 : 9, das Verhältnis der königlichen Elle zur gewöhnlichen in
Fingerbreiten. — Bonner bespricht die Sitte, durch ein Band,
wie z. B. einen Strick oder eine Kette, äußerlich anzudeuten, daß
die gebundene Person oder Sache zu einer Gottheit in Beziehung
steht, sei es als Schützling oder Geweihter. So erklärt er es, daß
die Ephesier nach Herod. I 26, als ihre Stadt von Krösus belagert
wurde, vermittels eines langen Seiles ihre Verbindung mit dem
Tempel der Artemis herstellten. In gleicher Weise ist der Kranz
ans Stricken, den nach I 199 die Frauen in Babylon tragen, ein
Anzeichen dafür, daß sie im Dienste der Mj^litta stehen: während
der Dauer ihres Gelübdes sind sie gebunden, nach Erfüllung des
Gelübdes von ihrer Verpflichtung gelöst.
Lehmann-Haupt hält an seiner Lösung der in HI 89 f. vor-
liegenden Schwierigkeiten gegen Weißbachs und Nestles Ein-
wendungen fest, vgl. vorigen Jahresb. Bd. CLXX (1915. I) S. 301 f.
Er nimmt die Summe von 7600 babylonischen Silbertalenten, die
sich aus der Addierung der aufgezählten Tribute ergibt, und die
Summe von 9880 Silbertalenten, die übrig bleibt, wenn man von
der Gesamtsumme von 14 560 die in Gold bezahlten Tribute im
Werte von 4680 Silbertalenten abzieht, als feststehend an; 7600
g ; J, Sitzler.
babylonische ergeben aber 9880 euböische Silbertalente nur, wenn
60 babj^lonische gleich 78 euböischen sind. Demnach lägen zwei
Versehen bei Herodot vor; statt 9540, wie unsere Hs. haben, muß
mit Mommsen und Brandis 9880 geschrieben werden, was
Lehmann-Haupt befürwortet, und Herodots Angabe, 60 baby-
lonische Silbertalente seien gleich 70 euböischen, müßte dahin be-
richtigt werden, daß 78 an die Stelle von 70 träte. Diese Änderung
empfiehlt Lehmann-Haupt nicht mehr; er glaubt jetzt, daß
Herodot selbst diesen Irrtum begangen habe; seine Gewährsmänner
— Hekataios oder Dionj'sios — hätten zwar nach dem Verhältnis
60 : 78 gerechnet, er habe aber 60 : 70 geschrieben, weil es wirk-
lich ein babylonisches Talent gegeben habe, das dem Gewicht von
70 euböischen Minen so gut wie gleichgekommen sei, nämlich das
Talent der ^leichten königlichen Gewichtsmine Form B, vgl. a. a. 0.
S. 635 f. — Dieselben Fragen behandelt auch 0. Viedebantt,
Forschungen zur Metrologie des Altertums. Akad. d.
Kön. Sachs. Ges. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. Bd. 34 (1917) Nr. 3, be-
sonders im 9. Abschnitt, vielfach abweichend von Lehmann-
Haupt, aber gekünstelt und daher wenig überzeugend. — Die
Worte Kap. 96 xo d^ I'ti tovtwv Dmooov aTrieig ov Xeyo) faßt
Lehmann-Haupt ebenso wie ich im vorigen Jahresbericht a. a. 0.
Casson vermutet, daß die IV 109 erwähnte Xt/uvrj ^eydXr] re
laai 7ToX?.)j das Kaspische Meer sei. — Bei Herodot findet sich
wiederholt der Ausdruck ol £x Tgoirjg von eingeborenen Trojanern,
die ihre Heimat verlassen mußten. So IV 191, wo von den Maxyes
in Libyen die Rede ist ; auch der Gebrauch des /.lilzog, der ihnen
zugeschrieben wird, deutet nach Casson auf Asien hin. Dann V 13,
wo über die Päonier gesprochen wird. Weiter VII 91 bei Er-
wähnung der Pamphylier. Aus diesen Stellen schließt Casson,
daß einmal in alter Zeit die Vertreibung und Zerstreuung eines
asiatischen Volksstammes in entlegene Länder stattgefunden habe.
I)ie Kunde von diesem Ereignis sei in der griechischen Über-
lieferung mit der Sage vom Trojanischen Krieg verschmolzen; in
Wirklichkeit aber habe es früher stattgefunden. In dieser Ansicht
wird Casson durch das , was Thukyd. VI 2 von den Elymeru
berichtet, bestärkt. Er denkt an eine Auswanderung infolge des
Einfalls der Hittiter. — Washburn Hopkins vergleicht mit der
IV 62 berichteten Verehi'ung des Schwertes durch die Skythen die
, göttliche Verehrung des Schwertes Mahäbhärata 12, 166, 87.
Herodot erzählt V 33, daß Megabates den Myndier Skylax,
der nicht für die Bewachung seines Schiffes gesorgt hatte, dadurch
Bericht über Herodot 1915—1920. 7
bestrafte, daß er ihn so öiä d^aXafiir^g z^g veog steckte, daß der
Kopf außen, der Leib aber innen im Schiffe war. Gewöhnlich versteht
man unter i^aXa^iiiq eine mannskopfgroße Rojepforte der untersten
Remenreihe ; so L ü b e c k , Seewesen der Griechen und Römer 2, 2,
Torr, Ancient ships 43 f., Eins im Danziger Gymnasialprogramm
1896, S. 11. Dies kann Tarn, Journal of Hell. Stud. XXV 155.
213. 217 nicht glauben und bestreitet daher, daß daXa^ulrj etwas
mit den Thalamiten zu tun habe; es bezeichne vieiraehr jede Öffnung,
hier eine längliche Pforte nach Art der mittelalterlichen Zenzile-
Galeeren, worin drei Remen einer Gruppe auf gleicher Höhe neben-
einander lagen. Diese Annahme widerlegt Aß mann und zeigt, daß
eine etwa 20 cm große Rojeupforte wohl möglich, ja sogar vorteil-
haft sei; die Prora von Samothrake, ein in wirklicher Größe aus
Marmor nachgebildeter Zweireiher der Diadochenzeit, habe Rojen-
pforten von 9 cm Höhe und 13,5 — 16 cm Länge. Auch verlange
die ganze Art der Strafe, an eine Rqjenpforte der Thalamiten zu
denken , die oft kaum 0,25 m über dem Meeresspiegel lagen ; so
werde die Strafe erst zu einer recht grausamen.
Eitrem vermutet, Xerxes habe sein Heer durch die beiden,
auf beiden Seiten des Weges aufgestellten Hälften des Leichnams
des ältesten Sohnes des Pythes hindurchgeführt, um es durch diesen
Ritus zu reinigen (VII 39). Ich kann diese Vermutung nicht teilen;
von einer Verunreinigung oder Befleckung der Truppen ist nirgends
die Rede. Wenn Eitrem meint, die von Herodot erwähnte Sonnen-
finsternis sei ein Unglückszeichen gewesen, so widerspricht dem
die Deutung der Magier; aber auch wenn man das zugibt, besteht
darin doch keine Befleckung des Heeres. Aus der ganzen Erzählung
geht klar hervor, daß Xerxes mit dieser Tat abschrecken wollte.
Zugleich woUte Herodot mit dieser Erzählung aber auch den Des-
potismus der orientalischen Herrscher charakterisieren. Ähnlicher
Art ist die Grausamkeit des Dareios gegen Oiobazos IV 84.
2. Grammatik und Lexikologie.
Beiträge zur Flexionslehre der griechischen Sprache Hefert
H. Kallenberg, Bausteine für eine historische
Grammatik der griechischen Sprache. Rhein. Mus. 72
S. 481 f. und 73 S. 324 f.
Es sind im ganzen fünf Untersuchungen, im Bd. 72 vier, die
sich auf die Deklination der Pronom. interrogat. und indefin. be-
ziehen, im Bd. 73 eine, welche die Formen von öuo feststellt. Die
letztere brinü;t für Herodot nichts Neues. Aus den ersteren ersieht
8 J. Sitzler.
man, daß Herodot von dem Fragepronomen im Gen. und Dativ fast
nur die kürzeren Formen rev und tho gebraucht; Tivog findet sich
nur VI 80, rivi nur III 08, wo W. Dindorf rtii) dafür einsetzen
wollte, ohne genügenden Grund. Vom Indefinitpronomen sind die
Genetivformen tev und tivog ungefähr gleich häufig, aber im Dativ
kommt zeoj viel öfter vor als rivi-^ rivL steht fast nur in Ver-
bindung mit einem Femininum und außerdem noch I 114: tw de
Tivt Tag ayyeXiag xtA., um das Zusammentreffen von t(Jj und tso)
zu umgehen. Auch im Gen. und Dativ Plural verwendet Herodot
die kurzen Formen, selbst beim Femininum; xiviov findet sich nie,
xiai nur IX 113. Das Neutrum Plural arra oder ziva kommt bei
Herodot nicht vor; denn IX 91: eX zira oqui]to Xiyeiv 6 '^Hyrjai-
axQaxog ist "koyov aus dem Vorhergehenden zu Tivä zu ergänzen.
Von oOTig lauten die Gen. und Dative bei Herodot orey, otbi^ und
OTEiov, bzeoiai, das Neutr. Plur. aaoa.
Die Konstruktion des Verbums juekkeiv behandelt
A. Kocevalov, De (leX^Eiv verbi constructione
apud Graecitatis classicae scriptores. Diss. Charkow
1917. 82 S.
Nach Kocevalovs Untersuchungen hat Herodot (xtXXEiy mit
dem Infinitiv 76 mal, und zwar 65 mal mit dem Infinitiv Futuri,
11 mal mit dem Infin. Praesentis, beidemal in gleicher Bedeutung.
Der Infin. Aor. steht nur I 34 : twv f-ieXlovrcuv yevtai^ai xaxwv xaiä
Tov Ttaiöa'^ demnach wird an dieser Stelle mit Kallenberg
yivEod^ai oder vielleicht richtiger yevr^aeaitai zu schreiben sein.
J. Schmitt, De parenthesis usu Hippocratico,
Herodoteo, Thucydideo, Xenophonteo. Diss. Greifs-
wald 1913,
behandelt die Parenthese bei Herodot in fünf Kapiteln. Im ersten
stellt er fest, wo sie sich findet. Hier bietet Herodot nichts Be-
sonderes. Wichtiger ist das 2. Kapitel, das die Partikeln aufzählt,
mit denen die Parenthesen eingeführt werden; es sind yog^ y.aif
y.al yccQ, olöt . . . de (I 143 am Ende), oiö^ luv ovöe (V 98); ohne
einleitende Partikel nur V 76 : oviog 6 azoXog xrA. Das nächste
Kapitel zeigt, daß die Parenthesen in der Regel nur aus einem
Hauptsatze bestehen , daneben auch aus Haupt- und Nebensatz ;
größere Parenthesen finden sich nur in VIII 136: AXt^avÖQOV yag
adeXcper]v atX. und IX 110: rovio de xö öeijivov xr A. Im 4. Kapitel
werden die Störungen dargelegt, welche die Parenthese in der
Konstruktion des Satzes bewirkt. Häufig wird nach ihr ein Teil
Bericht über Herodot 1915—1920. 9
des Satzes wieder aufgenommen, um das Weitere daran anzufügen.
Bei einer solchen Epanalepsis verwendet Herodot teils Partikeln,
wie (jüv — dies scheint Schmitt allerdings in Abrede zu stellen,
aber vgl. III 97. IV 72. V 99. VI 76, wo a freilich d' wv hat — ,
auch in Verbindung mit dtj (I 174), dann dtj II 124. IV 76. V 92 v.
103. IX 108, endlich de z. B. VII 95. VIII 67, teils das Pronom.
ottog ohne Partikel vgl. 177. IX 89. Häufig verursachen die Paren-
thesen Änderungen in der begonnenen Satzkonstruktion, auch in
der Weise, daß das folgende an die Parenthese angeschlossen wird.
Das letzte Kapitel betrachtet den Inhalt der Parenthesen, die teils
Erklärungen, teils Beweise zum ganzen Satz oder einem Teü des-
selben sind. Was ihre Stellung dem zugehörigen Satze gegenüber
anbelangt, so sind sie diesem in der Regel angefügt, doch fehlt es
auch nicht an Fällen, wo sie ihm vorausgehen, wie B. I 8. 12. Den
Ursprung der Parenthesen leitet Schmitt mit J. 0. Weis sen-
feis, Zeitschrift f. Gymnasialw. N. F. 19 (1885) S. 100 f., aus der
Umgangssprache her; aber während sie hier nur der Befriedigung
eines natürlichen Bedürfnisses dient, ist sie in der Literatursprache
weiter ausgebaiit und zu einem Kunstmittel umgestaltet worden.
Über die Bildung der Adjektive auf aiog handelt
G. Sand Joe, Die Adjektive auf aiog. Studien zur
griechischen Stammbildungslehre. Diss. Uppsala 1918. 115 S.
Das Material aus Herodot stellt Sandjoe Abschnitt IV S. 8 f.
zusammen, seine Ansicht über die Bildung dieser Adjektive legt er
S. 88 f. dar. Unter Verwerfung der bisher aufgestellten Erklärungen
nimmt er an, daß es Wortbildungen nach Art des ai. deya gab, wie
ßlaiog, ayalog, i/ciyaiog] von hier aus habe sich dann die Kate-
gorie der mit den ö-Stämmen zusammenhängenden atog -Ableitungen
entwickelt.
In das Gebiet der Lexikologie schlagen ein:
1. J. M. Linforth, Ol ad-avar itovxeg. Class. Philolog.
XIII (1918) S. 23 f.
2. W. W. How, On the meaning of B^JHN and JPO-
31QI in Greek historians of the fifth Century.
Class. Quarterly XIII S. 40 f.
3. K. Brugmann, EIqtjvi]. Ber. d. Sachs. Gesellsch. der
Wissensch. 68 (1916) S. 1 f.
Herod. IV 93. 94. V 4 gibt den Geten den Beinamen 01 a&a-
vatiLovreg, den man gewöhnlich erklärt: „die an Unsterblichkeit
glauben". Linforth hält diese Deutung nicht für ausreichend;
10 J- Sitzler.
er versteht unter oi ai^avaxitovTeg: „who practise deification" ,
und man wird ihm beistimmen müssen; denn diese Erklärung paßt
besser zu a^avatiZw „unsterblich machen", also zu einem Gott,
und stimmt mit Herodots Ausführungen und mit der Auffassung
Piatons Charm. p. 156 D und Lukians Skyth. 1 und deor. conc. 9-
How weist daraufhin, daß ögouio Herod. IX 59 „at the double",
„im Sturmschritt" bedeutet, während es III 77 und VI 112 nur
„im Laufe" heißt, im Gegensatz zu ßadi]v.
Brugmann hält Valckenaers Änderung des IX 85 über-
lieferten iQtEg in igeveg für unwahrscheinlich, weil für das Be-
gräbnis nicht die Altersstufe, sondern nur die aQiazeia in der
Schlacht maßgebend gewesen sein könne. D i e 1 s Vermutung, iQaeg
sei gleich r^geeg von ^]Qr^g oder r^QEvg = ^^giog in dem allgemeinen
Sinn von avdgeg ayad^ol, erscheint ihm gewagt, weil die Etymologie
von rjgiog noch unaufgeklärt sei. Brugmann selbst nimmt an,
daß iQSvg der lakonische Ausdruck für agiOTEvg sei; ccQiatog und
ageiiov seien aber ohne Zweifel Sippengenossen von dgagiaxcOf
ageiij usw. Er weicht also nur in der Form und Ableitung des
"Wortes von Diels ab, nicht in der Bedeutung, und doch scheint
mir diese in unsern Zusammenhang nicht zu passen. Ich sehe
dabei von dem Satze l'ti}a i-iev . . . KaXXiv.Qc'iT^^g ab, der offenbar
später eingeschoben ist, da er den Zusammenhang stört und weder
zu igieg = ccQiaiEvoavieg noch zu Iqiveg stimmt; denn als uqiovev-
aavieg gibt Herodot nur Poseidonios, Amompharetos und Philokyon
an, während hier nicht nur Kallikrates beigefügt ist, sondern mit
dem Relativ rwr noch auf viele andere hingewiesen wh'd; zu den
iQiVEg gehören die Genannten aber sicher nicht. Abgesehen also
von diesem Satz kann ich mich nicht davon überzeugen , daß die
ccQioreia, wie Brugmann will, für das Begräbnis in Betracht ge-
kommen wäre ; wenigstens findet sich Ahnliches sonst nicht. Viel
wahrscheinlicher ist es mir, daß man beim Begräbnis die lotveg von
den älteren Bürgern trennte, wenn man nicht ein großes Massen-
grab für alle herstellen wollte. Auffallend bleibt dann aber, daß
die 7CEQior/.OL nicht erwähnt werden; sie müßten auch in die aAAot
^rcaQTiTjiai miteingeschlossen sein, eine Annahme, die nicht ohne
Bedenken ist.
Zum Schlüsse teile ich noch mit, daß das im vorigen Jahres-
bericht a. a. 0. S. 310 erwähnte lexicon Herodoteum von
W. Aly im Manuskript beendigt und im Freiburger philologischen
Seminar zu allgemeinem Gebrauch für alle Fachgenossen auf-
gestellt ist.
Bericht über Herodot 1915—1920. H
3. Geschichte und Geographie.
Über die lydischen Könige aus dem Geschlechte
•der Mermnaden und ihre Regierungszeit handelt
G. Hü sing in der Orient. Literaturzeitung XVIII (1915):
Kroisos (555 — 541) S. 177f. — Saduattes S. 205 f. —
Gügu (678—643) S. 299 f.
Er hält die für die Regierung des Kroisos angenommenen Jahre
555 — 541, mit denen auch das Marmor Parium übereinstimme, für
richtig. Kroisos' Vater war Walweiates, bei Herodot Alyattes ge-
nannt, der zwei Jahre vor seinem Tode (555) die Schlacht gegen
Kyaxares schlug, während der eine Sonnenfinsternis eintrat, vgl.
Herod. I 16 und 103. Saduattes, eine andere Sprachform für AU-
attes, ist von Herodot oder seiner Quelle eingeschoben. Dieselbe
Ansicht sprach Leigh Alexander aus, vgl. vorigen Jahresb.
a. a. 0. S. 312. Walweiates regierte von 605 — 555, sein Vorgänger
Ardys, der den Krieg gegen Milet begann, von 643 — 605 und Gügu
(Gyges), der erste Mermnade, von 678 — 643.
Gegen H ü s i n g wendet sich mit Erfolg Lehmann-Haupt,
Der Tod des Gyges. Klio XVII S. 113 f. Anschließend an
seine früheren Arbeiten Verh. Berl. Archäol. Ges. April 1898 =
Archäolog. Anzeiger 1898 S. 122. Klio II 344, betont er, daß das
einzige absolut feststehende Datum der lydischen Geschichte die
Eroberung von Sardes durch Kyros und damit das Ende der Re-
gierung des Kroisos im J. 546 v. Chr. sei. Der Tod des Gyges
kann nicht, wie er nachweist, nach 652/651 erfolgt sein, ein Datum,
das Eusebios' Chronik bestätigt, die dafür das Jahr 652 angibt.
Der Kimmeriereinfall im 7. Jahre des Ardys fand etwa um 646 statt.
K. Robert, Archäologische Miszellen. Kleobis
und Biton. Sitzungsber. d. Bayer. Akad, d. Wiss. Phü.-hist. Kl.
1916. 2. Abh. S. If.,
sucht die Sage von Kleobis und Biton, deren bei Herod. I 31 er-
wähnte Standbilder mit Inschrift in Delphi aufgefunden worden sind,
vgl. vorigen Jahresb. a. a. 0. S. 811, aufzuhellen. Da auf dem
Wagen nur die Götter und ihre Bilder gefahren werden, vermutet
er, daß auch die hier auf dem Wagen befindliche /.idrrjQ nicht die
Mutter des Kleobis und Biton gewesen sei, sondern eine göttliche
fiOTrjQ, die sich leider nicht näher bestimmen lasse, vielleicht Leto
oder Demeter. In dem Fall müßte man annehmen , daß Kleobis
nnd Biton den Kult einer BldrrjQ in Delphi neu eingeführt hätten.
12 J. Sitzler.
Daß ihren Namen das Ethnikon nicht beigefügt ist, würde darauf
hindeuten, daß sie Delphier waren, und damit wären auch das
phokische Alphabet und der phokische Dialekt der Inschrift erklärt.
Soweit wäre alles wohl verständlich; Schwierigkeit macht nur de.
Umstand, daß diese Delphier in der Sage als Argiver erscheinen,
und diese Schwierigkeit kann auch Robert nicht beseitigen. Er
weist darauf hin , daß der Bildhauer , der die Statuen verfertigte,
Polymedes, ein Argiver war; aber da erhebt sich sofort die weitere
Frage, wie die Delphier dazu kamen, einem Argiver die Anfertigung
der Bildwerke zu übertragen. Ebensowenig bietet die andere Tat-
sache, die Robert anführt, nämlich daß auf dem Markt in Argos
ein anderer Biton mit einem Stier auf der Schulter stand, vgl.
Paus. II 19, 5, wie er selbst zugibt, ein sicheres Fundament für
seine Hypothese, weil das Zeugnis für diesen Biton zu jung ist,
um jene alte Übertragung des Ethnikons auf den Delphier damit
zu begründen.
Mit der Aufhellung der Geschichte der Semiramis hat sieb
C. F. Lehmann-Haupt schon wiederholt beschäftigt, vgl. vorigen
Jahresber. a. a. 0. S. 214. Jetzt wurde im Museum in Konstantinopel
ein neues Denkmal, das sie betriift, entdeckt und von E. Unger
in den Publikationen der Kais. Osmanischen Museen II unter der
Überschrift: Reliefs tele Adadniraris III aus Sabaa und
Semiramis. Mit 7 Tafeln. Konstantinopel 1916, herausgegeben.
Diesen Fund bespricht
C. F. Lehmann-Haupt, Semiramis und Sammuramat.
Klio XV (1918) S. 243 f.
Es geht daraus hervor, daß Semiramis tatsächlich eine Zeitlang die
Regierung geführt hat. Unger zeigt, daß das nur in den Jahren
811 — 806 gewesen sein kann, in dem sie die Vormundschaft über
ihren Sohn hatte, und Lehmann-Haupt stimmt ihm bei. So
wird auch dieser Zug der Semiramis-Sage als historisch erwiesen,
und damit verliert der Gedanke, die Semiramis der Sage habe mit
der geschichtlichen Persönlichkeit nur zufällig den Namen gemein-
sam, seinen letzten Halt. Lehmann-Haupt hebt noch hervor,
daß sie auch in der Reihe der Königstelen von Assur mit einem
eigenen Monument vertreten sei. Ihre Vermählung mit Samsi-Adad
setzt er etwa in das Jahr 823 und weist darauf hin, daß sie jeden-
falls keine Kriegsgefangene war, die der König ihrer Schönheit
wegen geheiratet habe , wenn wir auch nichts Genaueres hierüber
wissen.
Bericht über Herodot 1915—1920. 13
Die babylonischen Nachrichten Herodots unterzieht
Fr, Delitzsch, Zxi Herodots babylonischen Nach-
richten. Festschrift E. S ach au zum 70. Geburtstage gewidmet
von Freunden und Schülern. Hrsg. von G. Weil 1915, S. 87 f.,
einer kritischen Prüfung auf Grund der Ergebnisse der Ausgrabungen.
In Betracht kommen die Kap. I 178 — 199 bzw. 200. Das Ergebnis
faßt er in die Worte zusammen: „Soweit Herodots Mitteilungen
auf Autopsie beruhen, können sie im großen und ganzen ungefähr
als ^richtig gelten 5 soweit sie auf Hörensagen beruhen , sind sie
durchweg falsch und haben infolgedessen bis auf diesen Tag Irr-
tümer über Irrtümer, zum Teil schwerer Art, verschuldet."
Dies sucht Delitzsch im einzelnen nachzuweisen. Die An-
gaben in Kap. 193 über Agrikultur und Fruchtbarkeit des Landes
erkennt er als richtig an, jedoch mit der Einschränkung, daß trotz
Herodots gegenteiliger Behauptung auch der Weinstock vorkomme
und auch das Öl , allerdings von auswärts eingeführt , schon seit
den ältesten Zeiten bekannt sei. Auch was Kap. 192 über die
pekuniäre Leistungsfähigkeit Babyloniens gesagt wird, entspricht
nach ihm der Wahrheit, und ebensowenig bieten die Mitteilungen
in Kap. 195 über Kleidung „einstweilen" Anlaß zu begründeten
Zweifeln. Aber in Kap. 194 vermengt Herodot die runden Fahr-
zeuge, die sog. Kuffen, auf denen man keine großen Warenlasten
unterbringen könnte , mit den auf aufgeblasenen Hammelshäuten
schwimmenden Keleks, die noch heute gebraucht werden. Die Er-
zählungen Herodots über Geschichte des Landes, Sitten und Ge-
bräuche bewahrheiten sich nach Delitzsch nicht; er meint, hier
sei unser Geschichtschreiber das Opfer orientalischen Fabulierens
geworden. So schreibe er einer Königin Nitokris zu, was inschrift-
lich dem Nebukaduezar zukomme. Sein Bericht über die Eroberung
Babylons durch Kyros, der offenbar auf Perser zurückgehe (Kap. 188
bis 191), sei vollständig erfunden; nach der Niederlage bei Opis
habe sich das babylonische Heer unter dem Kronprinzen Belsazar
fluchtähnlich in die Hauptstadt zurückgezogen, die dann durch
Verrat den Feinden in die Hände gefallen sei. Auch das , was
III 151 f. über die zweite Eroberung der Stadt durch Dareios
Hystaspes berichtet werde, gehöre ins Bereich der Fabel; denn die
Belagerung könne nicht lange gedauert haben, da Dareios fast un-
mittelbar nach der entscheidenden Schlacht bei Zazannu in Babylon
eingezogen sei. Ebensowenig hielten die Angaben über den Mädchen-
markt Kap. 196, über Tempelbordelle 199, über Krankenbehandlung
und Ärzte 197 der Kritik stand.
14 J. Sitzler.
Herodots Beschreibung der Stadt bezeichnet Delitzsch als
reines Phantasiegebilde. Damit geht er entschieden zu weit;
wenigstens sagt R. Koldewey, Das Stadtbild von Babylon
nach den bisherigen Ausgrabungen. Archäolog. Anzeiger
1918 Sp. 73 f.: „Die Beschreibung, die Herodot von Babylon ge-
geben hat, entspricht in den großen Zügen der Wirklichkeit gut;
nur die Maße sind übertrieben." Dies geht auch aus Delitzsch's
Ausführungen selbst hervor. Er tadelt zwar, daß Herodot Babylon
und Borsippa zu einem Ganzen vereinigt, muß aber zugeben, daß
der von ihm erwähnte Graben vor der Stadt tatsächlich vorhanden
und die von ihm beschriebene Herstellungsweise der Ziegel und
Ziegelbauten richtig sei, wenn auch die Maße der Mauern märchen-
haft anmuten. In dem Kap. 181 genannten Tempel erkennt auch
er, wie schon andere vor ihm, den des Bel-Nebo in Borsippa.
Der in demselben Kapitel erwähnte innere Mauerzug wurde in der
doppelten Lehmziegelmauer , dem Düru Imgur-Ellil und dem ihm
vorgelagerten Salbu Nimitti-Ellil, aufgefunden, ebenso die Kaimauer
mit den eherneu Pförtchen — nur hinsichtlich der Ausdehnung dieser
irrt sich der Geschichtschreiber — und die in Kap. 186 genannte
zweite Euphratmauer. Als auffallend bezeichnet es Delitzsch,
daß Herodot die königliche Burg in Kap. 181 so kurz abfertigt und
sowohl über die löwengeschmückte Prozessionsstraße als auch über
den dritten Palast Nebukadnezars, dessen Ruine Babil heute noch
das ganze Stadtgebiet überragt, kein Wort sagt. Mit dem künst-
lichen Meer Kap. 185 und 186 und der Euphratbrücke hat es seine
Richtigkeit; freilich ist das erstere wieder zu groß angegeben und
die Beschreibung der letzteren mit dem Märchen von dem allabend-
lichen Wegräumen der schweren Brückenbalken und dem Grunde
dieser Maßregel ausgeschmückt. Das schwerste Rätsel bilden nach
Delitzsch die drei- und vierstöckigen Häuser, von denen in
Kap. 180 gesprochen wird; er vermutet, daß darunter vielleicht
Häuser zu verstehen seien, auf deren flachen Dächern sich hölzerne
Söller übereinander erhoben; aber die Häuser selbst seien jeden-
falls nur einstöckig gewesen.
Nur kurz erwähne ich
W. Leonard King, A history of Babylon from
the foundation of the monarchy to the Persian
conquest. 1915. XXIV, 340 S. 8.
Darin ist auch die einschlägige Literatur in großer Voll-
ständigkeit zusammengestellt.
Bericht über Herodot 1915—1920. 15
Die Titel der persischen Könige sammelt
R. Dick Wilson, Titles of the Persian Kings.
Festschrift E. S ach au zum 70. Geburtstage gewidmet von
Freunden und Schülern. Hrsg. von G. Weil. 1915. S. 179 f.
aus den Inschriften und Schriftstellern , sowohl nichtgriechischen
als auch griechischen. Das bei Herodot vorliegende Material ver-
zeichnet er S. 191 f. übersichtlich geordnet. Darunter sind zwei
Inschriften, eine auf dem Maudrokles-Gemälde IV 88, wo es Jageiov
ßaailiog, und die andere auf der Tearos- Säule IV 91, wo es
JaqEiog 6 'Yazda/reOi;, IleQOtcov le xai 7xct.Gi,g itjg r^jceiQOv ßaoiXevc:,
heißt. Herodot selbst gebraucht bald den Namen, bald den Titel,
bald den Namen mit dem Titel, manchmal mit Beifügung der Ab-
stammung, Titel und Abstammung teils vor, teils nach dem Namen
gestellt. An andern Stellen hat er die Bezeichnung Perser oder
König der Perser bzw. von Persien, wozu bisweilen noch der Name
gesetzt wird , oder Meder und König der Meder oder der große
König. Die Anrede lautet auch w ötG/tOTa, wie III 34. 35. 62 usw.
Die Nachrichten über Kambyses, sowohl den Vater als auch
den Sohn des Kyros, behandelt
C. F. Lehmann-Haupt, Kambyses. Pauly - Wissowa-
Kroll Realenzykl. Bd. X Sp. 1810 f.
ausführlich. Der ältere Kambyses, über den Herodot I 107 f. spricht,
hatte den Titel „der große König, der König von AnSan", einer
Landschaft um Susa. Lehmann -Haupt entwirft den Stamm-
baum der Achämeniden, der Herod. VII 11 fehlerhaft angegeben ist;
richtig würde er lauten: f.irj yccQ el'vjV hc ^aqeiov tov ''Yoräoneog
%ov viQaäfxeog tov ^giagdureco tov TetoTtEog (;/.al i^ l^Toaarjg
Ttjgy KvQov TOV Kaußvaect) {tov Kvoov) tov Teioneog tov ^A^ch-
fieveog yeyovcog. Jedoch nimmt er keine Textverderbnis bei Herodot
an, sondern glaubt, er oder seine Quelle habe sich gein-t; so seien
Kambyses und Kyros unter die direkten Vorfahren des Xerxes ge-
kommen und vor das erste Mitglied der jüngeren Linie, Ariaramnes,
gesetzt worden, was dann die Doppelsetzung des Teispes zur Folge
gehabt habe. Daß Astyages seine Tochter Mandane infolge des
bekannten Traumes dem Kambyses zur Frau gegeben habe, erklärt
er mit Recht für Sage.
Der jüngere Kambyses , der von 529 — 522 Perserkönig war,
hatte nach Herod. II 1. III 2. 3 Kassandane , die Tochter des
Achämeniden Pharnaspes, zur Mutter, und daran hält Lehmann-
Haupt gegen Ktesias, der Amytis, die Tochter des Astyages, als
16 J. Sitzler.
seine Mutter nennt, fest. Aber als unrichtig bezeichnet er es, wenn
Herodot berichtet, Kambyses' Bruder Bardiya-Smerdis sei mit nach
Ägypten gezogen und dann von da wieder nach Susa zurück-
geschickt worden, wo er auf Befehl des Kambyses von Prexaspes
getötet worden sei. Lehmann-Haupt verlegt die Ermordung
in die Zeit vor dem ägyptischen Feldzug. Auch was Herodot zur
Begründung dieser Tat anführt, erscheint ihm als Nebensache; er
findet den Hauptgrund in dem politischen Verhalten des Bardiya,
das ihn dem Kambyses als gefährlichen Nebenbuhler verdächtig
machte. Er vermutet nämlich , daß Bardiya an den Aufständen
gegen Kambyses, auf die III 88 hinweist, beteiligt gewesen und
sogar von Atossa dabei unterstützt worden sei. Die Wahrheit des
Herodotischen Berichtes über den Untergang des nach der Ammons-
Oase gesandten Heeres zweifelt er nicht an, erweist aber die An-
gabe , Kambyses habe infolge seines Wahnsinns den Zug nach
Nubien ohne genügende Vorkehrungen füi- Ernähi'uug und Zufuhr
unternommen, als Irrtum Herodots; denn der äthiopische König
Nastesen rühmt sich in einer von ihm gesetzten Inschrift, daß er
das Heer des Kambyses geschlagen und der Herden, die es zu
seiner Ernährung mit sich führte, beraubt habe. Die von Herodot
erwähnte Schwierigkeit in der Versorgung des Heeres rührt also
von dieser Niederlage her. Übrigens war der Zug nicht so erfolglos,
wie es Herodot nach ägyptischen Quellen darstellt; denn er sagt
selbst , daß die an Ägypten grenzenden Äthioper von Kambyses
unterworfen worden seien (III 97); nach dieser Stelle bringen sie
auch unter Dareios Geschenke als regelmäßigen Tribut und nach
VII 69 f. leisten sie Xerxes Heeresfolge. Die Tötung des Apis,
welche die Apisstelen bestätigen, betrachtet Lehmann-Haupt
als historisch , ebenso die Zerstörung ägj^ptischer Tempel , in der
er einen Racheakt des Kambyses an den Priestern sieht, die er
für die Urheber des gegen ihn im Lande ausgebrochenen Aufstandes
hielt. Unwahr ist nach Lehmann-Haupt die Schändung der
Leiche des Amasis (III 16) und der Selbstmord Psammenits (III 15),
der übrigens bei Herodot infolge eines Irrtums an die Stelle Psam-
metichs III. trat; aber auch dieser hat sich nicht selbst getötet,
sondern wurde nach dem Mißlingen des Aufstandes seines Postens
als Verwalter Ägj^ptens enthoben und nach Susa gesandt. Die
Um'uhen in Ägypten hielten den König längei'e Zeit dort zurück;
erst die Nachricht von der Empörung der Magier zwang ihn zur
Rückkehr nach Persien. Die Seele dieses Abfalls war nach Herod.
III 61. 63 nicht der auf den Thron erhobene Gaumäta-Smerdis,
Bericht über Herodot 1915—1920. 17
sondern dessen Bruder Patizeithes. Da dieser Name „Regent" be-
deutet, so vermutet Lehmann-Haupt, daß er der von Kambyses
bei seinem Weggang eingesetzte ßeichsverweser gewesen sei, der
naturgemäß um die Ermordung des Bardiya gewußt habe. In der
Erklärung der Nachrichten über die Todesart des Kambyses schließt
sich Lehmann-Haupt an W. Schulze au, vgl. vor. Jahresb.
a. a. 0. S. 318.
Die Satrapienliste (III 89), die schon wiederholt Gegen-
stand der Untersuchung war, behandelt
C. F. Lehmann-Haupt, Die Liste der Satrapien
des Dareios. Pauly-Wissowa-Ki-oll -Witte Realenzykl. II A
S. 91 f. '
Er weist durch Vergleichung mit I 192 nach, daß sie inhaltlich
unvollständig ist, da die Satrapien außer dem Tribut auch noch
andere Leistungen zu erfüllen hatten, und zieht daraus den Schluß,
daß wir es hier nur mit einem Ausschnitt oder Auszug aus einer
vollständigen Liste zu tun haben. Diesen Auszug entnahm Herodot
seiner Ansicht nach nicht selbst den persischen Akten, sondern
den TleQüiKa des Dionysios von Milet, der ihn seinerseits wieder
von Hekataios erhalten habe. Dieser habe ihn nämlich als Unter-
lage für seinen Vortrag bei der Beratung der lonier über den
Abfall vom Perserkönig (V 36) aus Akten im Archiv der Satrapie
in Milet angefertigt und, da er ihn seiner Beschaflfenheit nach in
seinem eigenen Werke nicht verwenden konnte, nach der Benützung
seinem Landsmanne überlassen. Aus dem Zweck, den Hekataios
verfolgte, nämlich die lonier vom Kriege abzuhalten, erkläre sich
der Inhalt der Satrapienliste , die nur die övraf-iig des Großkönigs
nachweisen wolle und daher von der Heeresliste (VII 61 f.), die
Herodot ebenfalls aus Dionysios von Milet entnommen habe, ver-
schieden sei. Auch werde die Umrechnung der Tribute in euböische
Talente nicht auffallend erscheinen, wenn man bedenke, daß Heka-
taios zu loniern sprach. Der Liste selbst habe Hekataios noch einen
Anhang beigefügt, der Einkünfte aus Europa und andern Gegenden,
die zu den schon genannten hinzukommen, enthalten habe. Diesen
habe Herodot weggelassen, und darauf bezögen sich die Worte am
Schlüsse von III 95 : xo 6* an tovtcov xr/l.
Diese Hypothese, so scharfsinnig sie auch unter Berück-
sichtigung aller in Betracht kommenden Umstände ausgedacht ist,
muß einstweilen Hypothese bleiben ; beweisen läßt sie sich ebenso-
wenig wie die andere, die gerade in letzter Zeit so oft wiederholt
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 2
-[g J. Sitzler.
wird, daß Herodot die IlEQaL/.d des Dionysios von Milet benützt
habe, Aucli über das Verhältnis des Hekataios zu Dionysios wissen
wir nichts. Daß Hekataios, der so weit gereist war und dabei so
viel gesehen und gehört hatte, für seinen Vortrag in der Versamm-
lung der lonier nötig hatte , noch besondere Studien im Satrapie-
Archiv von Milet zu machen, wii'd manchem wenig glaubwürdig
erscheinen; ja man kann bezweifeln, ob ihm dieses überhaupt zu-
gänglich war. Auch wäre es meiner Meinung nach zweckdienlicher
gewesen, wenn er, um die lonier vom Kriege abzuschrecken, bei
der Aufzählung all der Völkerschaften jeweils die Größe der Streit-
macht der einzelnen anstatt die Summe des Tributes angegeben
hätte. Doch mag dem sein, wie ihm wolle, soviel steht fest, daß
Herodot die Liste irgendwoher entnommen und für seinen Zweck
verwendet hat. Ihm gehören nach Lehmann-Haupt Kap. 89:
xoiaL fiiv aiTOJv aQyvqiov bis zum Schlüsse des Kapitels {jidvia
i/.iT]xavijaaTo)^ wo er mit der Angabe, das babylonische Talent ver-
halte sich zum euböischeu wie 70:60, in Widerspruch mit der
Umrechnung in der Liste gerät, die 78 : 60 zugrunde legt, vgl. oben
S. 6. Ebenso hat er in Kap. 91 die Sätze: fiaoe^ xov e/. cr^g
MoiQiog Xi(xvi]g bis xat xoIgl tovtiov EnLy.ovQOioi wegen II 149
eingeschoben. Zur 9. Satrapie (Kap. 92) bemerkt Lehmanu-
Haupt, daß die Vereinigung von Babylonien und Assyrien den
Dareios nicht lange überdauert habe ; daher seien die Schriftsteller,
die später davon sprechen, von den unter Dareios schreibenden
Logographen abhängig; so Herodot selbst, der I 77 Labynetos als
König von Babylon kenne, ihn aber I 188 als Assyrer bezeichne.
Herodot erwähnt I 201. IV 13 f. die Issedoneu; über diesen
Volksstamm spricht
A. Herrmann. Issedoi. Pauly-Wiss. -Kroll Realenzykl.
IX Sp. 2235 f.
Er sieht in ihm ein indo-germanisches Nomadenvolk, das östlich
vom Ural in den Flußgebieten des noch heute nach ihnen benannten
Iset und des unteren Tobol wohnte. Herodot (I 201) nimmt ihnen
gegenüber die Wohnsitze der Massageten an. Dies erklärt sich nach
Herrmann am einfachsten daraus, daß er „infolge der neueren
Nachrichten über den Weg zu den Issedoi sich veranlaßt sah, den
rings umschließenden Okeanos auszuscheiden und das Kaspische
Meer als Binnensee darzustellen. Auf diese Weise kamen Völker-
namen, die er auf dem Weg durch Persien erfahren hatte, südhch
von den Issedoi und x\riraaspen zu liegen'*'. Über das Kaspi sehe
Bericht über Herodot 1915—1920. 19
Meer, für dessen Geschlossenheit sich Herodot zuerst ausspricht,
allerdings nicht infolge authentischer Nachrichten , sondern auf
Grund theoretischer Erwägungen über die Verteilung von Wasser
und Land, vgl. A. Herrmanns Ai-tikel a. a. 0. Bd. X Sp. 2275 f.
Mit den Volksstämmen Skythiens beschäftigen sich:
1. H. Zij derhand , Her od. lib. IV und die uralischeii
Völker. Tidsskrift gesch., iknd en völkerk. 29 (1914)
S. 222 f.
■j. Vogel in der Festschrift E. Hahn zum 60. Geburtstage
dargebracht von Freunden und Schülern = Studien und
Forschungen zur Menschen- und Völkerkunde hrsg. von
G. Buschan 1919.
Über Zijderhands Arbeit kann ich nicht berichten, da sie
mir nicht zur Verfügung stand.
Vogel spricht über die ^/.L&ai ctQOTtjQsg und die ^y.vdai
yeiogyol (IV 17 — 19); unter den ersteren versteht er die Pflugbau-
Skythen, unter den letzteren die Hackbau- Skj-then. Der Hackbau,
die Bearbeitung des Feldes mit Hacke oder Grabstock, ist die Vor-
stufe des Pflugbaus , der erst nach der Zähmung von Zugtieren
stattfinden kann. Diese Erklärung stützt er zunächst durch den
Hinweis auf die Wohnsitze der beiden Skythenstämme. Geht mau
nämlich vom Bug zum Dnjepr, so kommt man zuerst in die Hylaia,
das Gehölzland oder den Galeriewald im unteren Dnjeprtal; von da
bis etwa nach Alexandrowsk reicht das Gebiet der Hackbau- Skythen.
Von Olbia den Bug aufwärts wohnen zunächst die Kallipiden, dann
die Alizonen, und an diese reihen sich die Pflugbau-Skythen an,
deren Nachbarn die Neuren sind; die Pflugbau- Skythen sitzen also
in Südostpodolieu in der Gegend von Ulman im Gou%'eruement Kiew.
Dann geht Vogel ziu" Betrachtung der Funde und Gräber über,
die seine Ansicht ebenfalls bestätigen. Die eine Hauptgruppe er-
streckt sich dem unteren Dnjepr entlang bis zu den Stromschnellen
und befindet sich auf beiden Seiten des Flusses. Die Königsgräber
(IV 71) lassen sich noch in den Hügehi bei Alexandrowsk bis zum
Buzuluk erkennen, während die Gräber der Hackbau- Skythen von
da bis Nikopol und Borislaw, also in der Südhälfte des großen
Dnjeprknies zu suchen sind. Endlich weist Vogel zum Beweise
noch auf die Verschiedenheit der beiden Siedlungsgebiete hinsicht-
lich der Bodengestalt, Bodenbeschaffenheit, der Vegetation und des
Klimas hin; die Gegend um das Dnjeprknie, wo die 2Kv&at yecogyol
wohnen, gehört nach Klima und Bodenbeschaffenheit noch der Hirse-
2*
20 J- Sitzler.
Zone an, aber das Land um Kiew, die Heimat der ^x. agov^gesi
hat kälteres Klima und eignet sich daher für den Anbau von Winter-
weizen (aiTog) ; jedoch bauen ihn die Bewohner ot-jt STtl aiTijai,
all' hti TtQiqoi^ sie verkaufen also, wie die russischen Bauern noch
heute , den teuren Weizen und nähren sich von der ßispenhirse.
tSo halten sie , was ihre Ernährung betrifft , an der alten Lebens-
weise fest, gingen aber für Handelszwecke zum Pflugbau über.
In der Frage über die Burgtempel in Athen ist eine
Einigung immer noch nicht ei'zielt. Zu meinem früheren Bericht
muß ich, wie ich aus Wochenschr. f. kl. Philol. 1917 Sp. 38 er-
sehe, noch
Fr. Groh, Über einige Streitfragen der Topo-
graphie von Athen. Listy filologicke XXXI S. 1 f .
nachtragen, der auf die Seite derer tritt, die to (.liyaqov xo Ttgög
kofrsQTjv TeTQaf.i(.isvov (V 77) auf das ältere Erechtheion beziehen,
und der Meinung ist, daß die Ketten der böotischen und chalki-
dischen Gefangenen an der nördHchen Burgmauer gegenüber dem
westlichen Teil dieses Tempels aufgehängt worden seien. Dem
widerspricht
W. Dörpfeld, DasHekatompedon in Athen. Jahrb.
d. deutsch. Archäol. Instituts 34 (1919) S. 1 f ,
Nach ihm bezeichnet das V 72 erwähnte advTOv, in das der Dorer
Kleomenes nicht eintreten durfte , und das nach Osten gerichtete
Megaron, in das die Verteidiger der Burg flüchteten (VIII 53),
denselben Tempelraum, in dem das Bild der Athene stand, nämlich
die östliche Zella des Hekatompedons. Herodot kennt noch ein
zweites nach Westen gerichtetes Megaron (V 77); das war das
Schatzhaus des Hekatompedons, wie Dörpfeld weiter ausführt.
Das xed^QiTinov xdly.eov zum Andenken an den Sieg der
Athener über die Böotier und Chalkidier wurde nach Groh nach
den Perserkriegen vor den Mnesikleischen Propyläen aufgestellt,
wahrscheinlich da, wo jetzt das Agrippamonument sich erhebt.
Eine neue Lösung der Frage über die Burgtempel in Athen
versucht
Fr. Weilbach, Der alte Athenatempel auf der
Burg. Jahrb. d. deutsch. Archäol. Instituts 32 (1917) S. 105 f.
Er vermag weder Döfpfeld zuzustimmen, der den alten Tempel
der Athena Polias auf der Burg in dem Hekatompedon erkennt und
dieses bis zum Ende des Altertums bestehen läßt, noch dessen
Gegnern, die das Hekatompedon am Ende des 5. Jahrh. vor-
Bericht über Herodot 1915—1920. 21
schwinden lassen und den alten Tempel der Inschrift des 4. Jahrh.
und den Polias-Tempel des Tansanias im Erechtheion wiederfinden
wollen. Seiner Meinung nach bestand der alte Tempel der Athena
Polias neben dem Hekatompedon, Erechtheion und Parthenon noch
weiter; er hatte mit dem Erechtheion einen gemeinsamen Tempel-
hof, aber trotzdem hatte das Erechtheion neben ihm eine relative
Selbständigkeit, wie sich aus Herod. VIII 55 ergibt. Das Pandro-
seion , unmittelbar westlich vom Erechtheion , wai' vermutlich nur
eine kleine Kapelle, die sich auf den Tempelhof öffnete.
Diese Ansicht Weilbachs erklärt Dörpfeld a. a. 0., vgl.
auch Archäol. Anzeiger 1918 Sp. 84 f., als unhaltbar; er weist
nach, daß ein vierter Tempel neben Hekatompedon, Erechtheion
und Parthenon auf der Burg gar keinen Platz habe und von einem
solchen auch keine Spur vorhanden sei. In der Zeit vor den
Perserki'iegen habe es neben dem alten Hekatompedon und dem
Parthenon keinen andern Tempel der Athena auf der Burg ge-
geben, wohl aber noch einen Tempel des Erechtheus-Poseidon, in
dem neben den Kultmalen beider nach Herod. VIII 55 auch der
heilige Ölbaum der Athena stand, und einen Tempel der Pandrosos
(Pausan. I 27, 2). Das Hekatompedon habe neben dem jüngeren
Parthenon seinen Namen „alter Tempel" behalten, die Benennung
Hekatompedon aber verloren, weil im Parthenon die Zella allein
schon hundertfüßig war.
Die Schlacht bei Platää behandeln :
1. J. Vanök, Herodot und die Schlacht bei Platää.
Mit 2 Karten. Listy filolog. 39 S. 335 f., 401 f.
2. R. T. Clark, Darstellung des Feldzugs von Pla-
taiai 479 v. Chr. nach dem 9. Buch des Herodot.
Hierzu mehrere topographische Skizzen. Class. Philology XII
(1917) S. 30 f.
Keine der beiden Arbeiten war mir zugänglich. Über Van ek 3
Aufsatz lese ich in Wochenschr. f. klass. Philologie 1917 Sp. 426 f.,
daß er eine kritische Prüfung des herodotischen Berichtes und der
modernen Forschung über die Schlacht sei und den Versuch mache,
den wirklichen Verlauf der Schlacht darzustellen; dafür bleibe der
Bericht Herodots die Grundlage , müsse aber in einigen Punkten
verbessert und ergänzt werden.
0. Viedebannt, der früher schon das der Berechnung der
Länge der Königsstraße (V 53 f.) zugrunde gelegte Stadion fest-
stellte, vgl. vor. Jahresb. CLXX (1915. I) S. 356, führt im 3. Ex-
22 J. Sitzler.
kurs zu seiner Abhandlung über Poseidonios, Marinos, Ptolemaios.
Klio XVI S. 94 f. seine Untersuchung weiter; er bespricht hier die
aus Herodot für ein Stadion von 148,85 m beigebrachten Stellen
und zeigt, daß sie zum Beweise nicht genügen. Das altgeographische
Stadion maß 157,5 (159,8) m.
in. Herodots Leben und Gescliiclitsvverk.
H. Froidevaux, Herodots ägyptische Reise. La
Geographie 29 S. 130 f.,
Stand mir nicht zur Verfügung.
Zur vielerörterten Frage der '^Aoovqloi Köyoi äußert sich
C. F. Lehmann-Haupt, Satrap. Pauly-Wiss.- Kroll
ßealenzukl. IIA Sp. 108 f.
Er stellt sich auf Seite derer, die glauben, Herodot habe sie seinem
Werke einverleiben wollen, sei aber daran gehindert worden, vgl.
vor. Jahresb. a. a. 0. S. 347 f. ", sie enthielten nach seiner Meinung
vornehmlich Nachrichten über Babylon und die Babylonier.
Fr. P fister, Tacitus als Historiker. Wochenschr.
f. klass. Philol. 1917 Sp. 833 f., 899 f.,
kommt S. 899 f. auch auf die Stellung zu sj^rechen, die Herodot in
der Historiographie einnimmt; er meint, unser Geschichtschreiber
stehe am Endpunkt einer langen Entwicklung, nicht aber am Anfang
einer neuen als „Vater der Geschichte'". Dieses Urteil wird der
Bedeutung Herodots in keiner Weise gerecht. Schon im Ethno-
logisch-Geographischen, worin er sich mit seinen Vorgängern be-
rührt, schreitet er über sie hinaus, indem er nüchternen Empirismus
an die Stelle ionischer Spekulation und das wirkliche Weltbild an
die Stelle des konstruktiven des Hekataios setzt ; ganz neue Bahnen
weist er aber der Geschichtschreibung durch seine Auswahl des
Stoffes, seine Art der Behandlung und Darstellung, seine Ver-
bindung des Ethnologischen, Geographischen und Historischen zu
einem Gesamtbilde des Volkes , wodurch erst ein Geschichtswerk
in unserem Sinne entsteht. So führt er trotz aller ihm noch an-
haftenden Mängel doch mit vollem Recht den Namen „Vater der
Geschichte".
Daß Herodots Geschichtswerk auch für die Geologie be-
deutungsvoll werde, zeigt
B. Schweitzer, Eine geologische Entdeckung des
Altertums und ihre Wiederentdeckung in neuerer
Zeit. Sokrates VI S. 342.
Bericht über Herodot 1915—1920. 23
Er weist auf die Beschreibung des Nillandes (IT 10 — 12) hin, wo
Herodot Kenntnis des Wesens der Versteinerungen und der im
Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen der Erdoberfläche ver-
rät. Diese kann nur das Ergebnis genauer Einzelbeobachtung und
darauf beruhender Induktionsschlüsse sein, und da sie sich auch
in den rein deduktiven Systemen der ionischen Naturphilosophen
als Beweismittel verwendet findet, so schließt Schweitzer mit
Recht, daß schon im 6. Jahrh. v. Chr. in lonien die Anfänge der
exakten Natur\vissenschaften vorhanden waren , die im Keime die
moderne Geologie und Paläontologie umfaßten. Darüber kam das
Altertum und auch das Mittelalter nicht hinaus. Erst Lionardo
da Vinci hat, von Herodot, dessen Werk damals gerade in latei-
nischer Übersetzung erschienen wai*, angeregt, das Problem wieder
aufgenommen und erfolgreich weitergeführt und ist so der Vater
der modernen Paläontologie geworden.
Zu Herodots geographischer Kenntnis und An-
schauung liefert
J. Part seh, Die Grenzen der Menschheit. I. Teil :
Die antike Oikumene. Ber. d. Kgl. Sachs. Gesellsch. d.
Wiss. in Leipzig. Phil.-hist. Kl. Bd. 68 (1916). 2. Heft. S. 1 f.,
einen Beitrag. Er macht darauf aufmerksam , daß der Begriff der
Oikumene gewiß schon alt sei, aber zufällig erst bei Herodot zum
erstenmal begegne (III 106 f.). Herodot legt an dieser Stelle dar,
daß die äußersten Ränder der bewohnten Erde mit den kostbarsten
Gütern ausgestattet seien, ist also noch vollständig in dem die
ganze alte Welt beherrschenden Wahne von der Glückseligkeit
dieser Gegenden befangen. Dabei ist er sich aber „vollkommen
klar darüber, daß er die Grenzen der bewohnbaren Welt nur zum
Teil kenne, daß er sie nicht allseitig durch sicher erkundete Küsten,
sondern vorläufig durch dünn bevölkerte Landstriche zu bezeichnen
vermöge, in denen die sichere Kenntnis in allmählichem Übergang
verschwimme mit dem Bereich der Fabelwelt". Zu den äußersten
Völkern gehören die Ichthyophagen, über die Herodot III 19 f-
spricht; nach Parts ch sollte man diese Bezeichnung nicht mit
.,Fischesser" übersetzen, sondern eher mit „Kostkinder des Meeres",
vgl. Agatharchides 46: oi h. zt^g ^aldzTrjg aixovfxevoi. Bartsch
behandelt ausführlich diese auf der tiefsten Kulturstufe stehenden
Völkerschaften. In Nordafrika ist dem Herodot die Zonengliederung
— Landbauern und Nomaden, tierreiches Gebiet, Wüste — m'cht
entgangen, vgl. IV 181. 185. II 32.
24 J. Sitzler.
Unsere Kenntnis der Quellen Herodots fördern :
1. A. Hausrath, Die ionische Novellistik. N. Jahrb.
f. d. klass. Altertum 1914 S. 441 f.
2. C.F.Lehmann-Haupt, Pausanias, Heros Ktistes
von Byzanz. Klio XVII S. 59 f.
3. H. Pomptow, Delphische Neufunde III. Klio XV
S. 303 f.
4. W. W. How, Cornelius Nepos on Marathon and
Paros. Journal of Hell. Studies XXXIX (1919) S. 48 f.
5. A. G. Laird, The source of Herodotus' know-
ledge of Artabazus. In Class. Studies in honour of
Ch. Forster Smith by his colleagues. University of
Wisconsin Studies in Language and Literature N» 3. 1919.
Hausrath ist der Meinung, daß bei Herodot noch unver-
stümmelte Proben der ionischen Novellistik, der Erzählungen der
koyoTtoiol vor dem Volke in der Lesche, vorhanden sind, und zwar
in vollendeter Technik, ein Beweis dafür, daß sie auf einer lang-
jährigen Übung beruhen. Dahin rechnet er die Erzählung vom
Ursprung der Skythen (IV 8 — 10), für welche die Augenbhcks-
motivierung bezeichnend sei , daß Herakles zwei Bogen mit-, sich
führe. Auf dieser ionischen Novellistik baut sich nach Hausrath
Herodots Erzählerkunst auf, so in den Geschichten von Gyges und
Kandaules, von Kypselos und Periander, von der Brautwerbung des
Hippokieides und vom Meisterdieb. Das Charakteristische dieser
Erzählerkunst findet er in der Freude am Gegenständlichen, in der
naiven Unbekümmertheit, mit der alle Züge bis ins Märchenhafte
gesteigert sind , in der liebevollen Versenkung ins Detail und in
der heiteren Lebenslust und Frische des Erzählers. Das Interesse
haftet ganz am Stofflichen ; bei dem Bestreben , möglichst viele
wunderbare Geschichten auf eine Persönlichkeit zu häufen , wird
ihre einheitliche Charakterisierung nicht einmal angestrebt. Die
sprachliche Form dieser Erzählungen ist die ke^tg €iQO/.tevr] der
älteren Prosa. Als weiteres Kennzeichen kommt noch die naive
Freude am Geschlechthchen hinzu, so in den Träumen des Astyages
(I 102. 108), in den Worten des Schattens der Melissa an Periander
(V 97, 7), in der Aufklärung, die Demaratos von seiner Mutter
über seine Geburt erhält (VI 68. 69).
Lehmann-Haupt wendet sich S. 62 Anm. 3 und S. 63 Anm, 1
gegen Beloch, der in seiner griechischen Geschichte II ^ 2 S. 61 f.
die Schlangensäule (Herod. IX 81) als alleinige Quelle für Herodots
Bericht über Herodot 1915—1920. 25
Angaben über die Beteiligung der Griechen an den Kämpfen bei
Artemision, Salamis und Platää annimmt, und zeigt, daß Herodot
noch andere Quellen gehabt haben müsse. Ob freilich unter diesen.
wie er meint, Dionysios von Milet war, muß dahin gestellt bleiben,
da überzeugende Beweise dafür bis jetzt nicht beigebracht werden
konnten,
Pomptow behandelt den Text des Presbeutikos im Pseudo-
hippokratischen Korpus und stellt in ihm eine Quelle für den ersten
Heiligen Ki'ieg fest, die älter ist als Herodot.
How kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß
Herodot glaubwürdiger als Cornelius Nepos sei , der sich auf den
ganz unzuverlässigen Ephoros stütze.
Lairds Abhandlung war mir nicht zugänglich.
Abhängigkeit des Sophokles von Herodot nimmt
Max C. P. Schmidt Berl. phil. Wochenschr. 1916 Sp. 86
in der Beschreibung der Höhle des Philoktet auf Lemnos an ; dabei
sei dem Dichter nämlich die Schilderung des Tunnels des Eupahnos
auf Samos (Herod. III 60) vorgeschwebt. Er vergleicht OQvyficc
af.tq)iaTOua mit diorof-iog nixqa und ^i a/LKfiTg^rog avXiov. Frei-
lich sei die Höhle von Osten nach Westen, der Tunnel von Norden
nach Süden gerichtet, aber dies stehe seiner Annahme kaum im
Wege. Wenn man für Sophokles' Beschreibung ein Vorbild suchen
müßte , was ich für überflüssig halte , so scheint es mir näher zu
liegen, an die Hom. v 103 f. geschilderte Höhle beim Phorkys-Hafen
in Ithaka zu denken, der auch zwei Eingänge, ein nördlicher und
ein südlicher, gegeben werden.
Zum Schlüsse erwähne ich noch:
Marj^ V. Young, Apology f or Herodotus. Colonnade
1916 (August).
Stand mir nicht zur Verfügung.
G. Raddatz, Herodots Bedeutung für die Gegen-
wart. Deutsches Philologenblatt 1916 Nr. 23.
R. Herrle, Eine pädagogische Auswertung Hero-
dots. N. Jahrb. f. klass. Altert. XXIII. 2. Abt. S. 206 f.
Empfehlenswerte Ratschläge für die Herodotlektüre in der
Schule.
fiericht über die griechiscben Lyriker (mit Ausnalime des
Pindar und Bakchylides), die Bukoliker, die Antiiologia
Palatina und die Epigrammsammlungen für 1917—1920.
Von
J. Sitzler in Freibui-o- i. Br.
Vorbemerkung.
Die ausländischen Zeitschriften konnten nur in geringem Um-
fange benutzt werden; der Inhalt der darin erschienenen Arbeiten
wurde soweit als möglich wenigstens aus zweiter Hand angegeben.
A. Arbeiten, die sieb auf das ganze Gebiet
erstrecken.
An Ausgaben liegt nur
Anthologie aus den grie chischen Lyrikern. Nach
Text und Kommentar getrennte Ausgabe für den Schulgebrauch
von Fr. Buch er er. Gotha 1920. Text: VI u. 90 S., Kom-
mentar: 97 B.
in zweiter Auflage vor. Sie ist zwar für den Schulgebrauch be-
stimmt, bringt aber auch einige beachtenswerte Textverbesserungen
und neue Erklärungen. Beigefügt ist ihr jetzt noch als Anhang
eine Auswahl aus
Theokrit und Herondas, ebenfalls nach Text und
Kommentar getx-ennt, je 19 S.,
Theokrit lU, VII, XI und XV, Herondas III enthaltend.
Auch die Sprache der Lyriker berücksichtigen nur zwei
Arbeiten :
G. Sand Joe, Die Adjektive auf ai.og. Studien zur
griechischen Stammbildungslehre. Diss. Uppsala 1918. 115 S., und
K. Svoboda, Die verschränkte Wortstellung der
Substantiva und Adjektiva bei den alten Dichtern.
Listy filol. XLIV (1917) S. 21 f. und 95 f.
28 J- Sitzler.
Sandjoe geht von Wortbildungen nach der Art des ai. deya
aus, wie ßlmog, ayatog, STtiyaiog, und leitet davon die Gruppe der
mit den ä- Stämmen zusammengehörigen Adjektiven auf aiog ab. Die
bei den Lyrikern vorhandene Zahl solcher Adjektive ist nur klein.
S V 0 b o d a weist darauf hin , daß die Redner der asiatischen
Richtung, die alexandrinischen Dichter und die griechischen und
römischen Dichter der Kaiserzeit darauf ausgingen , jedem Sub-
stantiv ein Adjektiv beizufügen, um so den Ausdruck voller und die
Satzglieder symmetrisch zu machen. Er mustert diese Erscheinung
von Homer an bis auf die Kaiserzeit herab durch. Dabei zeigt sich
nicht nur bei den lateinischen Dichtern, sondern auch schon in der
alexandrinischen Poesie eine unnatürliche, gekünstelte Wortstellung,
die nach ihm auf die Gewohnheit der Elegiker zurückgeht, Substantiv
und zugehöriges Adjektiv vor die Hauptzäsur und an das Versende
zu stellen. Aus diesem Streben erklärt sich auch die Hypallage des
Adjektivs sowie der Gebrauch eines Adjektivs statt eines Adverbs.
Zahlreicher sind die Arbeiten, die sich mit Rhythmik und
Metrik beschäftigen. Zunächst ist es die Bedeutung des Wortes
Rhythmus, die man festzustellen sucht. Hierher gehören:
1. 0. Sehr oe der, "Pvd^^og. Hermes 53 (1918). S.^324f.
2. Fr. Novotny, ^Pvi^(.i6g. Ein semasiologischer Beitrag.
Listy filolog. XLV (1918). S. 328 f.
3. Th. Plüß, Die Deutung des Wortes Rhythmus
nach griechischer Wortbildung. Wochenschr. f. kl.
Philologie 1920 Sp. 18 f.
Über die Bedeutung des Wortes qvd^^og hat schon E. Petersen
in den Abhandlungen d. kgl. Gesellschaft d. Wiss. zu Göttingen
phil.-hist. Kl. N. F. Nr. 5 (1917) S. 9 f. gesprochen. Die Erörterung
setzt 0. Schroeder fort. Er untersucht, wie das Wort bei den
griechischen Schriftstellern (Archiloch. 66. Anakreon 7-1. Theognis
964 vergHchen mit Herodot. VI 128. Aeschyl. fr. 78 N^) gebraucht
ist, und findet, daß seine metaphorische Anwendung auf die Vor-
stellung von der Bewegung des Meeres bzw. eines flüssigen Ele-
mentes zurückgeht: „Gewoge, Taktschlag"; es liege demnach der
Begriff eines in sich gegliederten und motivartig sich wiederholenden
Gebildes darin. Dem widerspricht Novotny, aber was er selbst
zur Erklärung beibringt , genügt nicht 5 er meint nämlich , Qvd^fiog
bedeute nicht nur „das Rinnen", sondern auch den Ort des Rinnens,
„den Wasserweg", woraus sich dann die allgemeine Bedeutung
„Bahn, Ordnung" entwickelt habe. Aber die Bedeutung „Wasser-
Bericht über die griechischen Lyi-iker usw. für 1917 — 1920. 29
weg'', „Bahn", „OrdnuDg" für Qvi>f.i6g läßt sich einerseits nicht be-
legen, andererseits reicht sie nicht aus, da gerade der Begriff des
Geregelten, Wiederkehrenden, der für den metaphorischen Gebrauch
wesentlich ist, darin fehlt. Plüß geht von der Betrachtuno- der
Endung -i^fiog (ai^og) aus im Anschluß an F. S o 1 m s e n in Kuhns
Ztschr. f. vgl. Sprachwissenschaft XXIX 117 f. In dieser Endung
kommt nach ihm der Begriff des geregelt Wiederholten zum Aus-
druck; Qvd^fuog bezeichnet also die ebenmäßig gegliederte Bewegung.
Über den Rhythmus im Verse handelt
P. von der Mühll, Der Rhythmus im antiken Vers.
Vortrag gehalten auf d. 55. Jahresversammlung d. Vereins
Schweizerischer Gyinnasiallehi-er in Baden. Aarau 1918. 20 S.
(^= 46. Jahrb. d. Vereins Schweiz. Gymnasiall.).
Er nimmt den sog. Auftakt in Schutz, betrachtet die beiden Kürzen
im Choriambus als daktylische Senkung — die metrischen SchoHen
sprechen von daxri'Aog Jtat avllaß?j — und erklärt sich gegen
silbenzählende Verse im Griechischen , selbst bei den äolischen
Dichtern : lauter Dinge, denen ich nicht beistimmen kann. Richtig
und zeitgemäß ist aber die Mahnung, die er gibt, daß man beim
Lesen der Verse die Länge, auch wenn sie unter dem Iktus steht,
als Länge zum Ausdruck bringen müsse. Das Bestreben der Dichter,
das man in seinen Anfängen schon bei Homer wahrnimmt, dasselbe
Wort in demselben Verse rhythmisch zu variieren, legt er klar und
anschaulich dar.
Die Lösung einzelner metrischer Fragen versuchen :
1. E. Fränkel, Lyrische Daktylen. Rhein. Museum 72
(1918) S. 161 f., 321 f.
2. K. Münscher, Metrische Beiträge. I. Das Ithy-
phallikon — ein Vier hebe r. Hermes 54(1919) S. If. —
II. Erstarrte Formen im Versbau der Aioler.
Ebenda 56 (1921) S. 66 f.
3. H, Draheim, Bildliche Darstellung des Vers-
und Strophenbaues. Wochenschr. f. klass. Phüol. 1919
Sp. 214 f.
Fränkel stellt im 1. Abschnitt des ersten Teiles seiner Unter-
suchungen das Allgemeine über daktj^lische Verse zusammen und
bespricht die rein daktylischen Lieder. Im 2. Abschnitt behandelt
er die iambisch-daktylischen, im 3. die trochäisch-daktylischen Lieder.
Daran schließt sich ein Exkurs , der sich mit den QvÜ^f.tiKOi bei
Dionysios von Halikarnass über die Daktylen beschäftigt. Diese
30
J. Sitzler.
stehen zu Aristoxenos und der von ihm beheiTSchten Vulgata der
rhythmischen Theorie des Altertums im Gegensatz; sie betrachten
die Verse des Stesichoros , die mit zwei Kürzen beginnen und
daktylisch weitergehen, als Daktylen und nehmen auch die aloyoi,
in ihnen an, trennen sie also von den echten Anai^ästen. Der zweite
und dritte Teil untersucht die iambisch-daktylischen und trochäisch-.
daktylischen Eeihen.
Im einzelnen führe ich daraus an, daß Frank el das alkäische
Dekasyllabon für daktylisch hält, indem er in dem letzten Trochäus
einen verkürzten Daktylos erblickt. In dem archilochischen Verse
toXoQ yctQ ffiXoTYjTOs '/.zL (fr- 103) nimmt er 4 + 5 Hebungen an.
Das Praxilleion (und Archebuleion) betrachtet er als ein um einen
Daktylos erweitertes alkäisches Dekasj^llabon. Ferner läßt er beim
alkäischen Dekasyllabon eine Vorsilbe, beim iambischen Monometron
und DimetroD eine Nachsilbe zu-, auch Daktjden läßt er mit Vor-
silben versehen sein, selbst in dem Falle, wenn sie mit Nachsilbe
schließen. Ebenso glaubt er an richtig fallende Daktylen mit 3,
5 und 7 Hebungen. Die Daktyloepitriten erklärt er nach Herkunft
und Gestalt für Daktylen. Alle diese Annahmen sind unhaltbar,
vgl. 0. S c h r 0 e d e r Berl. phil. Wochenschrift 1919 Sp. 776 f. Aber
die Abhandlung enthält auch viel Gutes und Richtiges, was ich aus-
drücklich erwähne, um kein unrichtiges Urteil über sie aufkommen
zu lassen. Die freiere E,esponsion läßt der Verf. zu.
M ü n s c h e r leitet das Ithyphallikon aus dem Lekythion ab ;
es ist also wirklich ein Vierheber, wie es ja auch von den ionischen
und äolischen Dichtern gebraucht wird. Im 2. Abschnitt seiner
Arbeit behandelt M ü n s c h e r ausführlich das Glykoneion , Ana-
kreonteion, Enhophon, Telesilleion und Reizianum, insofern diese
erstarrten Formen zur Versbildung benutzt werden.
D r a h e i m stellt die alkäische und sapphische Strophe graphisch
dar, um sie dem Auge noch deutlicher zu machen als durch die
metrischen Schemata.
Eine Geschichte der griechischenLyrik erschien von
E. Bethe, Griechische Lyrik. Aus Natui' und Geiste s-
welt Bd. 736. Leipzig 1920. 104 S.
Das Buch ist für einen größeren Leserkreis geschrieben, wie man
schon daraus ersieht, daß es der Sammlung „Aus Natur und Geistes-
welt" angehört. Die auf uns gekommenen biogi^aphischen Notizen,
die zum Teil unsicher oder auch geradezu unrichtig sind, treten
zurück 5 dagegen war der Verf. bestrebt, die großen Lyriker um so
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 31
schärfer und anschaulicher zu zeichnen, wozu er auch besonders
bedeutsame Verse aus ihren Gedichten in Übersetzung benützt.
Daß bei Stesichoros ein Hinweis auf seine bukolischen Gedichte
fehlt, erklärt sich wohl daraus, daß diese streng genommen nicht
zur Lyrik gerechnet werden können ; aber auf die Verdienste des
Simonides um die Ausbildung des Epigramms hätte nachdrücklicher
hingewiesen werden sollen. Die LjTik läßt der Verf. aus dem
Rhythmus entstehen; aber der Rhythmus ist doch nur die Form,
die sie sich zu ihrem Ausdruck schafft; üiren Inhalt bilden die
Gefühle und Empfindungen des menschlichen Herzens, und das Be-
dürfnis, diese zu äußern und mitzuteilen, erzeugt sie. So entsteht
die Lyrik, ebenso wie die andern Arten der Poesie, wie die Musik
und Orchestik und auch andere Kunstschöpfungen ; sie alle kleiden
sich in rhjH:hmische Formen, jede ihrem inneren Wesen entsprechend.
Auch sonst fordert die und jene Meinung des Verf. den Wider-
spruch heraus, so wenn er in Archilochos auch einen gemütlichen
Erzähler sieht , wenn er dem Alkäos jedes höhere Streben ab-
spricht, wenn er die 2. Ode der Sappho : (paivExai (.toi x^vog l'oog
d^Eoloiv xtA. trotz Form und Inhalt für ein Hochzeitslied erklärt,
wenn er behauptet, die Sänger seien bei Homer in geringer Achtung
gestanden, wenn er Archilochos, Mimnermos, Hipponax die Dicht-
kunst zum Erwerb ausüben läßt, wenn er behauptet, die kriegerische
Elegie sei unter dem Namen des Tyrtäos zusammengefaßt und seine
Verse unpersönlich findet u. a. m. Unrichtig ist die Angabe, daß
Aristodamos, von dem das Wort yf^Qr^^iax avtJQ stammt (Alkäos 49),
der bekannte Spartanerkönig gewesen sei; Find. J. II 17 nennt ihn
einen Argiver und charakterisiert ihn als -/.zedvcüv d' a^ia Xeicfd^eig
y.ai q)LXcüv, vgl. auch Schol. zu d. Stelle. Er war einer der Sieben
Weisen, vgl. F. E. Bohren, De septem sapientibus. Diss. Bonn
1867 S. 30. Sapph. -34 /.axagig bedeutet nicht ., anmutlos", sondern
övTtco ya(.uüv e'xovaav coQav, wie Plut. erot. 5 erklärt. Aus Bakchyl.
V 16 f. geht nicht hervor, daß sieh der Dichter mit einem Adler
vergleicht; nur sein Gebiet ist so weit wie das des Adlers. Un-
schön und für die Mädchen wenig schmeichelhaft ist Alkman 23, 47
die Übersetzung: ein Rennpferd unter die Kuhherde. Ein Versehen
ist Korinna 1 unterlaufen; der Sieger ist Kithäron, nicht Helikon.
Für die Schule bestimmt ist
K. Belau, Griechisch-römische Lyrik in ihren
Beziehungen zur Gegenwart. Monatsschrift f. höhere
Schulen 17, S. 347 f.
32 J- Sitzler.
Der Verf. zeigt, wie die griechisch-römischen L}'Tiker im Anschluß
an den Weltkrieg zur Belebung der Vaterlandsliebe verwertet werden
können, und fügt zum Beweis Übersetzungen aus Kallinos, T3rrtäos,
Simonides, Theognis, Solon, Bakchylides, Archilochos (CatuU, Ovid,
Martial) bei.
Schließlich erwähne ich noch
H. Blümner, Die Schilderung des Sterbens in
der griechischen Dichtkunst. N. Jahrb. f. d. klass. Alter-
tum XXXIX (1918) S. 499 f.
Aus seinen Darlegungen ersieht man, wie wenig Material zur Be-
handlung dieser Frage die Lyrik liefert und wie auch dieses wenige
sich ganz in den Formeln des Epos hält. Etwas Neues bringt nur
Tyrt. X 23 f., wo geschildert wird, wie der Sterbende mit seiner
Hand nach seiner Scham greift, wie Blümner mit andern meint,
um auch im Tode den Anstand zu wahren, in Wahrheit, weil sich
die Verwundung an dieser Stelle befindet, wie die Beifügung von
aifAazoevTa zu alddla zeigt. Theokrit behandelt den Tod des
Daphnis nur kurz und den des Pentheus (XXVI) im Anschluß an
Euripides Bakchen in der gewöhnlichen Weise. Bion weiß in seiner
Beschreibung des toten Adonis alles Häßliche und Abstoßende zu
vermeiden.
B. Die eiiizehien Gattungen der Poesie.
I. Elegiker uud Jam1)ographeii.
Kallinos.
Fr. 5. Strabon XIII 627 überliefert, daß sich Kallisthenes für
seine Angabe, Sardes sei schon vor seiner Eroberung durch Kyros
zweimal eingenommen worden, das erste Mal von den Kimmeriern,
das zweite Mal von den Treren und Lykiern, auf Kallinos berufen
habe. Man hat die Richtigkeit dieser Angabe angezweifelt; jetzt tritt
C. F. Lehmann-Haupt, Zur Chronik der Kimmerier-
e in fälle, a) Der Tod des Gyges. Klio XVII S. 119, 11
dafür ein und weist sie als durchaus einwandfrei nach. Vgl. auch
Pauly-Wissowa-KroUs Realenzyklop. s. v. EÜmmerier Sp. 418 § 37.
Ar chilo cho s.
L.Weber, ^YKAEmEPMHL L Philologus 74 S. 92 f.
behandelt fr. 6 und 74. Fr. 6 hält er für ein Epigi-amm, worin ich
ihm nicht beistimmen kann. Zur Zeit des Archilochos waren die
Epigramme wirkliche Aufschriften ; worauf sollen aber unsere Verse
Bericht über die griecliisclien Lyriker usw. für 1917 — 1920. 33
eine Aufschrift sein? Dagegen hat er recht, wenn er Vv. 3 f. die
Fassung des Aristophanes , die von den bei Bergk * angeführten
Schriftstellern bestätigt und ergänzt wird, der des Plutarchos und
Sext, Empir. vorzieht, wie es schon andere vor ihm getan haben;
nur muß man dann tL ixol f.UXei aortig i'/.elv7] verbinden , damit
iQQiTiü kräftig hervortritt. — Fr. 74 sind nach Weber nicht Worte
des Lykambes, trotzdem Aristoteles dies ausdrücklich sagt, sondern
Worte des Dichters selbst. Ich glaube nicht, daß sich das Zeugnis
des Aristoteles so leicht abtun läßt, zumal da wir von dem Gedichte
nichts weiter erhalten haben. Webers Rekonstruktion des Ge-
dankengangs kann keinen Ersatz für diesen Verlust bieten. Neue
Vermutungen zur Verbesserung des Textes werden nicht vorgebracht.
S emonide s.
J. Sitzler in der Philolog. Wochenschrift 1921 Sp. 1053 f.
bespricht fr. 1, 9 f., 12 und 15 f. und schlägt Verbesserungen zu
diesen Versen vor.
Tyrtäos.
Zu Tyrtäos liefern Beiträge:
1. F.Klnge, TvQTalog. Indogerm. Forsch. XXXIX S. 129.
2. F. Jacoby, Studien zu den älteren griechischen
Elegikern. I. Zu Tyrtäos. Hermes LIII (1918) S. 1 f.
Kluge wül den Namen Tyrtäos, über dessen Herleitung und
Bedeutung Dunkel schwebt, als „der Vierte" deuten, was sowohl
nach der Form als der Bedeutung wenig wahrscheinlich ist. Jacoby
und E. Fränkel in einem Briefe an Jacob}^ nehmen richtiger
kleinasiatischen Ursprung des Namens an , da der Dichter aller
Wahrscheinlichkeit nach von dorther nach Sparta kam. Wenn aber
Jacoby zur Stütze dieser Vermutung behauptet, daß Namen von
Menschen auf aiog in Lakonien fehlten, so trifft das nicht zu-, auch
hier kommen solche vor, wenn auch selten, vgl. Kleoöaiog, Bevaiog
auf einer Inschrift, Tifuaia die Gemahlin des Königs Agis. Ebenso-
wenig läßt sich mit der Sicherheit , wie es Jacoby tut , sagen,
daß Tyrtäos seinen Namen in seinen Gedichten nicht genannt habe.
Solon hat dies getan und auch Theognis.
Über die Lebensumstände des Tyrtäos sind wir nur ganz
mangelhaft unterrichtet. Die paar auf uns gekommenen Notizen
bespricht Jacoby, ohne an sicheren Ergebnissen über das schon
Bekannte hinauszukommen. Den Angaben der Alten steht er zu
skeptisch gegenüber, weü er von der Meinung beherrscht wird,
sie hätten nur aus den Gedichten geschöpft. Angenommen nun,
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 3
34
J. Sitzler.
daß dem wirklich so wäre, so lagen diese ihnen immerhin in voll-
ständigerem und ursprünglicherem Zustande vor, so daß sie richtigere
Schlüsse daraus ziehen konnten. Aber dazu kam dann noch, was an
mündlicher Überlieferung über ihn in Sparta weiterlebte. Demnach
darf man den Nachrichten der alten Schriftsteller den Glauben nur
versagen, wenn gewichtige Gründe gegen sie sprechen. Die Be-
schenkung des Tyrtäos mit dem lakonischen Bürgerrecht ist gut
bezeugt, an sich glaubhaft und außerdem durch die erhaltenen Bruch-
stücke bestätigt. Aber wenn er auch nicht spartanischer Bürger
wurde, besaß er als in der Not von ihnen herbeigerufener Helfer
die Berechtigung, sich als zu ihnen gehörig zu betrachten und
autoritätvoll sich an sie zu wenden. Ein Grund, ihm die Eunomia
und die andern aus der Zeit des Messenierkrieges stammenden
Stücke abzusprechen, liegt nicht vor. Die Überlieferung, daß er
Stratege gewesen sei, war ursprünglich gewiß nicht in militärischem
Sinne gemeint, sondern nur in moralischem, weil er sie wieder zu
mutigem, siegreichem Kampfe führte. Die Analogie, die Jacoby
aus der Stellung des Tisamenos (Herod. IX 33) für Tyrtäos' Stellung
in Sparta entnehmen will, paßt insofern nicht, als Tyrtäos kein
uavTig war wie Tisamenos; er konnte nur durch seine anfeuernden
und begeisternden Lieder wirken. Was übrigens die Geschichte
des Tisamenos und seines Bruders selbst betrifft, so erklärt sie
Jacoby für wertlos, da sie aus eleischer Quelle stamme; nach
seiner Meinung beweist sie , daß Herodot von der Herleitung des
Tyrtäos aus Sparta nichts wußte. In WirkUchkeit zeigt sie , daß
Herodot unsern Dichter entweder für einen Spartaner hielt oder
ihn überhaupt nicht kannte; vgl. Mac an zu Herodot IX 35, 5.
In der Beurteilung der unter dem Namen des Tyrtäos er-
haltenen Verse schließt sich Jacoby an Wilamowitz und
Reitzenstein an, geht im einzelnen aber weiter. Sie stammen
nach ihm aus einer im 4. Jahrhundert in Athen unter dem Namen
des Tyrtäos im Umlauf befindlichen Sammlung. Diese geht seiner
Meinung nach auf eine alte den Namen des Tyrtäos tragende
Sammlung zurück, die in Sparta entstand und die lakonische
Kriegspoesie, mindestens die Elegie, enthielt, war aber durch
Interpolation und Umarbeitung völlig verändert. In dieser ver-
änderten Gestalt, glaubt er, sei dann die Sammlung wieder nach
Sparta zurückgekommen, wo mittlerweile Tyrtäos vollkommen ver-
gessen gewesen sei. Als altspartanische Stücke aus der Zeit des
großen Messenieraufstandes betrachtet er die Eunomia und ein
Gedicht, das unter Hinweis auf die langwierige Eroberung Messeniens
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 35
unter König Theopompos zum Ausharren auch im gegenwärtigen
Krieg mahnte.
Über die Gründe, welche die Athener veranlaßt haben mochten,
ein solches Tyrtäosbuch herzustellen, ergeht sich Jacoby in aus-
führlichen Erwägungen, die ihn schließlich auf die lakonierfreund-
Hchen Kreise Athens führen. Doch sieht man nicht recht ein,
welchen Zweck diese damit verfolgt haben soUten. Die Spartaner
kümmerten sich ja, wie Jacoby meint, so wenig um Tyrtäos,
daß sie ihn ganz vergessen hatten. Freilich, gerade an dieses
Vergessen kann ich nicht glauben. Gewichtige Gewährsmänner,
Piaton, Philochoros, Lykurgos, erzählen von der Verehrung, die
Tyrtäos bei den Spartanern genoß. Jacoby will ihr Zeugnis
allerdings auf das 4. Jahrhundert, auf die Zeit der von ihm an-
genommenen athenischen Wiederbelebung des Tyrtäos, beschränken,
aber sie weisen klar und deutlich auf eine feste Überlieferung hin,
und diese haben sie gewiß nicht selbst ersonnen. Ist es überhaupt
wahrscheinlich, daß Sparta eine solche Verehrung auf Anregung
von Athenern hin bei sich dauernd eingeführt hätte? Wenn
Jacoby sich darauf beruft, daß Xenophon und Herodot nichts
davon berichten, so darf man nicht übersehen, daß sie gar keine
Veranlassung zu einer Erwähnung hatten, da sie Lykurg und
dessen Verfassung behandelten. Auch das Tyrt. -i angeführte
Orakel betrifft nicht Lykurgs Verfassung , sondern Theopomps
Verfassungserweiterung, konnte also für Herodot nicht in Betracht
kommen. Ältere Schriftsteller aber, die über das Fortleben des
Tyrtäos in Sparta hätten berichten können, haben wir nicht. Nach
alledem kann ich mich von der Richtigkeit der von Jacoby
und anderen vertretenen Tyrtäos-Hypothese nicht überzeugen und
halte daher an der Überlieferung fest, nach der Tyrtäos in Sparta
nicht vergessen wurde. Gegen eine Umgestaltung seiner Gedichte
aber in dem Umfange und in der Weise, wie es Jacoby an-
nimmt, spricht schon der bekannte Konservatismus der Spartaner.
Fl". 10 will Jacoby nach dem Vorgang Heinrichs in zwei
Teile zerlegen, 1 — 14, nach seiner Meinung ein vollständiges Ge-
dicht, und 15 — 30; die zwei letzten Verse hält er mit andern für
unecht. Die Trennung sucht er in ausführlichen Darlegungen zu
begründen, die eine Verschiedenheit der beiden Stücke in Situation,
Voraussetzung, Ton, Gedankenführung und äußerer Form dartun
sollen. Ich kann diese Auffassung nicht teilen, sondern halte die
Verse für ein einheitliches Ganzes. Der Dichter beginnt mit dem
Lobpreis des Heldentodes im Kampfe füi- das Vaterland ; dem
3*
36
J. Sitzler.
stellt er die eindrückliche Schilderung des Elends und der Schande
der aus ihrer Heimat Vertriebenen und in der Fremde hilflos
Umherirrenden gegenüber. Damit hat er den festen Boden ge-
wonnen, von dem aus er die Aufforderung zu tapferem Kampfe
zunächst kurz an alle, dann ausführlicher an die Jungen, die es
besonders nötig haben, in einer gerade für Sparta bezeichnenden
Form richten kann. Zum Schlüsse wendet er sich wieder an die
Gesamtheit: alld iig ev diaßag v.tL, wo tig = ^fA€}g navzeg ist.
Daß die Aufforderung von Wir, das die Gesamtheit umfaßt, zu
Ihr, das nur einen Teil dieser, die veoi, bezeichnet, übergeht, ist
natürlich; die Beibehaltung derselben Person in der Anrede war
unmöglich, da sie an verschiedene Personen gerichtet ist. Ahn-
liches finden wii' Hom. E 464 f., Z 67 f., 0 496 f., N 95 f., 0 743.
Trotzdem betont J a c o b y gerade diesen Übergang in seiner Beweis-
führung, indem er von einer Mischung des Wir- und Ihr- Typus
in der Paränese spricht; von einem solchen könnte doch nur die
Rede sein, wenn die beiden Gruppen, die mit Wir und Ihr an-
gei-edeten, dieselben Leute wären. Das Distichon 17 — 18, das
sich ganz gut in den Zusammenhang fügt, erklärt Jacoby für
interpoliert, um den Anstoß, den Wilamowitz an cfL'koipvxeiTe
genommen hat, zu beseitigen. Das Verb. (fiXoxlivxslv kommt aller-
dings erst bei Euripides vor, aber (fiKoxl'vxia hat schon Herodot
VI 29; Tyrtäos selbst gebraucht Fr. 3 (piloxQy]i^ccTia. Adjektive
mit qiiXo finden sich bei Homer öfter. Sollte also die zu diesen
Substantiv- und Adjektivbildungen gehörige Verbalbildung q)ilo-
xpvxiio genügen, Verse, die an sich in den Zusammenhang passen,
dem Tyrtäos abzusprechen? Bei aii-taToevTa aidola (V. 25) handelt
es sich wirklich um Verwundung, wenn auch Jacoby meint,
daß eine so spezielle Sache in die allgemeine Mahnung nicht passe.
Der Dichter hat eben das Spezielle verallgemeinert, geradeso wie
Homer X 74 f., dem, wie das andere an unserer Stelle, auch dieser
Zug entnommen ist. Diese Art von Verwundung wird vom Dichter
besonders erwähnt, weil sie den Griechen als roheste und em-
pörendste erschien. Aus ähnlichem Grunde wird die Entblößung
der aldoia auch bei der Androhung von Mißhandlung B 262 f.
genannt.
Fr. 11 hält Jacoby wie fr. 10 B für alt, also wohl für Dichtung
des Tyrtäos, wie beide ja auch inhaltlich einander sehr ähnlich
sind. Unverständlich ist mir aber, wie er sagen kann, darin käme
die spätere Phalanx der Spartaner noch nicht vor. Diese ist doch
in fr. 10, 15 und 31 f., in fr. 11, 4, 11 f., 21 f. klar gekennzeichnet;
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 37
nirgends ist vom Abschleudern der Speere und Einzelkampf die
Rede, sondern in geschlossener Linie, Mann neben Mann, mit zum
Stoße eingelegter Lanze bzw. gezücktem Schwert rücken sie dem
Feind auf den Leib und ringen um die Entscheidung im Nahe-
kampf. Die ionische Kampfesweise ist im Gegensatz dazu Kallinos 5 f.
geschildert: Schleudern der Lanzen, keine geschlossenen Glieder,
der Tapfere der Trvgyog der andern. Das letzte Distichon (37 — 38)
erklärt J a c 0 b y mit Weil für spätere Zutat.
Fr. 12 spricht Jacoby nach dem Vorgange von Wilamowitz
dem Tyrtäos ab •, einen so bewußt symmetrischen Aufbau, wie ihn
dieses Gedicht zeigt, können die beiden Gelehrten erst der Sophisten-
zeit zutrauen. Um darüber ein sicheres Urteil abgeben zu können,
müßten wir alte Elegien in größerer Zahl zur Prüfung haben, als
dies der Fall ist. Das Gesetz der Sj-mmetrie beherrscht schon
von Homers Zeiten an die griechische Poesie •, man vergleiche
z. B. nur Nestors Rede A 254 f., Odysseus' Einleitung zur Er-
zählung seiner Abenteuer K 1 — 38, Solons Evvofxia, wo sie kaum
weniger bewußt als in unserm Gedichte hervortritt. Die Be-
sprechung des Inhalts im einzelnen fühx*t Jacoby zu dem Er-
gebnis , daß der Dichter ältere Stücke benützte , sie im Geiste
seiner Zeit umarbeitete und mit Formeln des Grabepigramms er-
weiterte. Er war ein Nachfolger des Kallinos, dessen Schema er
mit Freiheit behandelte, kennt aber auch Mimnermos, Archilochos
und Solon. Was er gab, stand künstlerisch sehr hoch, macht aber
schon den Eindruck einer Paränese ; er ist in der Ausführung zu
breit und übertreibt die Symmetrie. Wilamowitz in den
Sitzungsber. der Preuß. Akademie d. Wiss. 1918 S. 735 Anm. 1
kann von der zersetzenden Kritik Jacobys nichts annehmen. Er
fragt, was wohl von Goethes Euphrosyne bei solcher Behandlung
übrigbliebe. Die Vv. 31 — 38 hält er für eine Dublette zu 39 — 42.
Neue Bruchstücke des Tyrtäos veröffentlicht
U. V. Wilamowitz-Möllendorff , Dichterfragmento
aus der Papyrus Sammlung der Königlichen Museen.
Sitzungsber. d. Preuß. Akademie d. Wiss. 1918, S. 728 f.
Es sind drei. Der Papyrus, in dem sie stehen, trägt die
Nummer 11675. Er ist zum Teil aus Fetzen zusammengestückt
und stammt aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Zu dieser
Zeit war also Tyrtäos noch vorhanden. Es sind sechs Kolumnen,
zum Teil sehr verstümmelt, jede zu mehr als 25 Zailen; jedoch
läßt sich eine genaue Bestimmung nicht geben. Die Entzifferung
38 J. Sitzler.
stammt von W. Schubart, dem auch eine Anzahl Ergänzungen
verdankt werden, die Bearbeitung von Wilamowitz, der auch
zusammenstellt, was sich daraus für die Erweiterung unseres
Wissens über Tyrtäos und seine Zeit ergibt. Das Wichtigste ist,
daß die alten dorischen Phylen der Hjdleer, Dymanen und Pam-
phyler hier als Grundlage der Heeresaufstellung erscheinen. Man
wird also annehmen müssen, daß die lykurgische Verfassung diese
alten Phylen nicht beseitigte, wie man allgemein glaubte, sondern
nur neu ordnete und alle Phylenangehörigen wieder gleichstellte
(öfioioi).
Einige Beiträge zur Erklärung und den bis jetzt vor-
genommenen Ergänzungen liefert
E. Fränkel, Sitzungsberichte des Philol. Vereins zu Berlin.
Sokrates 1918, S. 366.
Zu Ttävza TQeTtovTsq vergleicht er V. 11 aarciai q>Qa^af.tevot,
zu (.iovirj (V. 15) das homerische xaiufiovir], zu Xoyt'^asL (V. 42)
die Redensart ovt ev koyo) övt^ sv aqid^^iqt = ovtig Xoy^aei ovd^
aQii>f.ir^aei y.eivo}v nokiv.
Mimnermos.
Mit den Fragmenten des Mimnermos beschäftigt sich
F. Jacoby, Studien zu den älteren griechischen
Elegikern. II. Mimnermos. Hermes 53 (1918), S. 262 f.
Auf Grund einer eingehenden Quellenuntersuchung von Strabo
XIV 1, 4 (p. 633 f.), behandelt Jacoby fr. 9. Er ist mit
V. Wilamowitz der Ansicht, daß das Zitat mit STieLTS Ilvkov xrA.
mitten im Verse beginnt, wobei der vorhergehende Hauptsatz weg-
gelassen wurde ; über seinen Inhalt gibt ^vrjO&eig Trjg ^(.ivQvr]g,
OTi TtSQifudxrjTog ael kurze Auskunft. Gegen v. Wilamowitz'
Auffassung der Verse aber nimmt er ebenso Stellung, wie ich im
vor. Jahresber, Bd. 174 (1916/8. III), S. 27. Die Verse sind
nicht als Tadel gegen den alten Adel gerichtet, sondern charakteri-
sieren das Verhalten der neuen Ansiedler gegen die ansässige Be-
völkerung, die im Herzen des Dichters die Besorgnis wachruft, die
Strafe dafür möchte jetzt über sie kommen. Mit Recht erklärt
Jacoby, daß daraus nichts für die bürgerliche Stellung oder
politische Überzeugung des Dichters gefolgert werden könne.
Soweit bin ich mit Jacoby einverstanden ; seinen weiteren
Ausführungen aber kann ich nicht beitreten, da sie mir eines
sicheren Untergrundes zu entbehren scheinen. Er hält fr. 14 für
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 39
ein Enkomion auf den Angehörigen einer vornehmen Familie, in.
deren Auftrag der Dichter die Verse gemacht habe. Daraus schließt
er, daß Mimnermos ein Berufsdichter war, der sich mit seiner
Kunst seinen Lebensunterhalt verdient habe , und der Schöpfer
eines neuen eldog geworden sei, des elegischen Epjdlions, das
dem Simonides, Aeschylos und Späteren zum Vorbild gedient habe.
Die Bestätigung für diese Vermutung findet er in fr. 13; das hier
erwähnte Prooemion gehört nach ihm zu diesem elegischen Epj^llion.
Ich will nicht darauf hinweisen, wie unwahrscheinlich es ist, daß
eine so wichtige Neuerung des Mimnermos unbemerkt geblieben
wäre ; es genügt, daß Pausanias dieses Prooemion ausdrücklich
als Einleitung der Elegien auf die Kämpfe zwischen Gj'ges und
den Smyrnäern bezeichnet, und diesen Elegien gehört auch fr. 9
und 10 an. Ebensowenig kann ich es billigen, wenn Jacoby
gegen Wilamowitz bemerkt, daß der Buchtitel Nanno helle-
nistisches Fabrikat, gebildet nach der Lyde des Antimachos, sei,
also den wirklichen Sachverhalt gerade umkehrt.
S olon.
Ein Solon-Zitat entdeckt 0. Kern Hermes 53 (1918) S. 220
bei L3sias or. 33, 7. Hier ist y.aiOf.iavr]v t^v '^EiXdöa nEQiOQcZaiv
"überliefert , das D 0 b r e e in y.aKOVf^ievrjv abänderte ; es ist aber
xXivofiivijV zu lesen, da eine Reminiszenz an Solon 27 a = Aristotel.
^O'. noXix. 5 : iaoQcop yalav laov/ag \ x,Xivof.ih'r]v vorliegt.
Fr. 13 = VTiod^^Kai Eig eavcov wird von
K. Reinhard, Solons Elegie slg savTov. Archiv f.
Geschichte der Philosophie 33 S. 79 f.
ausführlich unter philosophischen Gesichtspunkten besprochen; dabei
ist es dem Verf. gelungen , den in dem Gedicht ausgesprochenen
Gedanken ihre richtige Stelle in der gesamten Anschauungsweise
des Dichters zu geben.
Nur aus einer kurzen Notiz in einer Zeitschrift kenne ich
J, M. Linforth, Solon the Athenian.
Das Buch enthält eine Biographie Solons, den Text seiner
Gedichte samt Übersetzung und außerdem einen Kommentar. Die
Biographie soll zu skeptisch sein und kein klares Bild des Mannes
geben; auch die Übersetzung wird als wenig geschickt getadelt.
Vgl. The Journal of HeU. Studies XL S. 126.
40 J- Sitzler.
Xenophanes.
J. Sitzler in der Philol. Wochenschrift 1921 Sp. 1053 schlägt
fr. 1, 20 vor: wg o\ /.ivrj/joaivi] y.al zovog a^(q^ agExr^g als Erklärung
zu 8od-la avacpaivEi : daß sich ihm nämlich Gedenken und Streben
mit der aQBtTq beschäftigt.
Hipponax.
A. H. Sayce, Two notes on Hellenic Asia. The
Journ. of Hell. Stud. XXXIX (1919), S. 202 f.
führt das Wort ndlf-ivg (fr. 1) auf das lydische halmlin = König
zurück; damit stellt er das phrygische ßah'jv^ richtiger ßaXXrjw
(Aeschyl. Pers. 657. Soph. fr. 444 Euphorion fr. 127 Mein. = 151
Scheidw.), und das troische ntQQafxog = Jlgiaitog (Hesych.) zu-
sammen.
Außerdem nenne ich
Fr. Schwenn, Die Menschenopfer bei den Griechen
und Römern. Religionsgeschichtliche Versuche und Vor-
arbeiten. XV. 3. Heft. 202 S. 8,
der S. 26 f. auch über die q^aQua/.oi (fr. 2 usw.) spricht.
Theo gnis.
U. V. Wilamo witz -Möllendorff , Dichterfragmente
aus der Papyrussammlung der Königli chen Museen.
Sitzungsber. d. Preuß. Akademie d. Wissensch. 1918, S. 728 f.,
veröffentlicht S. 742 f. eine Sentenzsammlung, die auf dem aus
der zweiten Hälfte des 3, Jahrhunderts n. Chr. stammenden
Ostrakon 12 319 erhalten ist, vermutlich eine kalligraphische Übung
eines Schülers. Nr. 7 zeigt den Vers Theognis 25 f. in der Form:
ovSe yccQ ovv Zevg \ ovo vcov navTEGGL avöavei ovz avi^ayv.
Kritische und exegetische Beiträge zu Theognis
liefern :
1. E. Howald, Zur Theognissammlung. Festschrift
für A. Kaegi 1919, S. 164 f.
2. J. Sitzler, Zu griechis chen Lyrikern undTheo-
krit. Philol. Wochenschr. 1921, Sp. 1054.
Howald behandelt zuerst die schwierigen Verse 261 f., an
denen sich schon so viele Gelehrte versucht haben, ohne zu einem
befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Seine Erklärung lautet : „Ich
mag jetzt nicht trinken, weil ein anderer Mann, der viel weniger
wert ist als ich, bei meinem Mädchen ist." Die Geliebte ist dem
Bericlit über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 41
Dichter also untreu geworden. „Ihre Eltern haben gern frisches
Wasser (natürlich holt die Tochter dies bei einem Brunnen)-, dieser
Umstand hat es mir ermöglicht, sie neulich zu überfallen — die
hat einen gehörigen Schrecken gehabt." Aber Überfall und
Schrecken kann mit /at jf/e yotZoa (ftget und r* de regsv (pU^äyyeT^
ano OTouarog nicht ausgedrückt werden, und dazu ist auch der
ganze Gedanke wenig wahrscheinlich ; wenn ihm ein solcher Über-
fall geglückt ist, erwartet man eher den Ausdruck seiner Freude
über den gelungenen Streich als das Gefühl der Niedergeschlagen-
heit und Trauer. Offenbar bilden die Verse gar kein zusammen-
gehöriges Ganzes, sondern sind Stücke aus verschiedenen Gedichten.
Das erste Distichon klagt, wie Howald richtig sagt, über die Un-
treue des Mädchens; die zwei folgenden schildern die Treue eines
solchen, das trotz des Verbotes der Eltern an ihrem Geliebten
festhält. Dabei bleibt es sogar zweifelhaft, ob das 2. und
3. Distichon lückenlos aufeinander folgten; wenigstens stört der
Aorist nach den vorhergehenden Praesentia. Das 2. Distichon
hat auch durch die Überlieferung gelitten; statt nivovai hieß es
wohl ursprünglich y.ivovgl und statt (ftgei etwa, Tco&ei : „Frostiges
(im Sinne von Nichtiges) setzen bei dieser die lieben Eltern gegen
mich in Bewegung, und so holt sie Wasser und schaut sich zu-
gleich klagend nach mir um." — An zweiter Stelle behandelt
Howald die Vv. 425 f.; er tritt mit Recht für die Lesart Ttdricov
bei Theognis ein; Alkidamas setzte infolge des Gegensatzes uqigtov
und 'A(xXkiGTOV, den er einführte, aq^riv an die Stelle von naviiov,
und so kam diese Lesart in die Überliefei'ung. — Zuletzt spricht
Howald über 5 11 f.; den Sinn der Verse im ganzen gibt er
richtig wieder, aber seine Vermutungen im einzelnen sind nicht
glückhch: V. 516 xarcfxfi/ff^' = xaraxf/ffi^w und log (piXov rjtoq
e'xsi im Sinne von: er soll essen, soviel er mag.
Ich suchte die Vv. 489 und 490 durch die Schreibung Trjv
d' Iniyji] tov igäg und die Beziehung von ^ de rrgoxeiTai auf
die Becher, die auf Anordnung des ovunoGirtQXog getrunken werden
müssen, in den Gedankenzusammenhang einzupassen.
Aischrion.
Mit Aischrion beschäftigt sich
U. V. Wilamowitz-Möllendorff, Aischrion.
Sitzungsber. d. Preuß. Akademie d. Wiss. 1918 S. 1161 f.
Er betrachtet das Gedicht Aischrions zur Eechtfertigung der
Philänis für älter als das zu demselben Zweck gedichtete de»
42 J- Sitzler.
Dioskorides (Anth. Pal. VII 450), demnacli aucK den Aischrion
für älter als den Dioskorides. Aischrions Lebenszeit berührte sich
nach ihm mit der Hedyles, seiner Landsmännin, von der er wahr-
scheinlich in dem von Athen. VII 296 e erwähnten Gedicht, in
dem von Glaukos die Rede ist, abhängt. Wilamowitz nimmt an,
daß erst Aischrion Hydne, die Tochter des skionäischen Tauchers
Skyllias (Herod. VIII 8), an die Stelle der Skylla gesetzt habe.
Er weist darauf hin, daß der betreffende Vers (fr. 6) in einem
Jambenbuch gestanden haben kann, mag er ein trochäischer oder
jambischer Skazon sein. Zur ^etov ayQtoazig vergleicht er die vXt]
alevdovoa, an der sich nach Alexander Aetolus bei Athen. VII 296 e
die Sonnenrosse nähren.
Die Erhaltung der wenigen Überreste aus den Gedichten
Aischrions verdanken wir den in ihnen vorkommenden auffallenden
Metaphern. Wilamowitz erkennt in diesen die Neigung zudem
ygicpioöeg, das die griechische Poesie von Homer und Hesiod bis
herab ins 3. Jahrhundert beherrscht. Alle vorhandenen Fragmente
gehören einem Jambenbuch an. Darin konnte nach Wilamowitz
auch ein Gedicht in katalektischen Dimetern Platz finden, die aber
nicht durch Synaphie verbunden werden konnten ; vgl. das latei-
nische Beispiel, das Marius Victorinus S. 105 (Keil) für das
metrum Aeschrioneum bildet : amore me subegit et igneo furore,
worin Keil mit Unrecht ein metrum Ithyphallicum sah. Der Vers
im Etym. Gud. s. v. ^^vd^iqdiüv kann dem Aischrion nicht gegeben
werden, und ebensowenig darf in fr. 7 ^loyjvrjg o ^uQÖiavog in
-AloxQuov 0 ^d(.aog geändert werden.
Kailima c hos.
Mitteilungen über die Handschriften zu den Hymnen
des Kallimachos macht
M. T. Smiley, Die Handschriften der Hymnen
des Kallimachos. Class. Quarterly XIV (1920) S. 1 f .
Wie ich aus einer Notiz ersehe , gibt er Berichtigungen und Er-
gänzungen zu den hs. Angaben 0. Schneiders und behandelt
dann zunächst die aus der Abschrift des Aurispa stammenden
Hs., also Vaticanus 1691 (A) und 36 (B), Marcianus 480 (C),
ürbinas 145 (K).
L. Radermacher, Kritische Beiträge. XII. Kalli-
machos Zeus -Hymnus 79. Wiener Studien 39. S. 67 f.,
schlägt vor, hcel /Heg st. Jiög zu lesen, das Beste, was bis jetzt
zur Herstellung der Stelle vorgebracht ist.
Bericht über die griecliischeii Lyriker usw. für 1917 — 1920. 43
Außerdem erwähne ich
A. Rostagni, Poeti Alessandrini, Toriuo 1920,
der, wie ich einer Besprechung entnehme, die Hymnen des Kalli-
machos ausführlich behandelt. Vgl. Liter. Zentralbl. 1921, S. 11.
Zu fi*. 46 vergleicht U. v. Wilamowitz-Möllendorff,
Sitzungsber. der Preuß. Akad. d. Wiss. 1918, S. 1142 Anm. 1,
das fr. 6 des Kerkidas in Oxych. Pap. VIII: ßotjooog fjtvtx)\p\
Kerkidas nimmt ßoi]o6og als Adjektiv, Kallimachos als Synonym
zu fiiioili. — Ebenda bringt er die Bestätigung zu Naekes Her-
stellung von fr. 98 b: rn vtjv df. TtoXXrp' Tv[q)edcdva XeaxaivEiq.
Mit den neugefundenen Versen der Kydippe beschäftigen sich:
1. A. Brinkmann, Kallimachos' Kydippe. Rhein.
Museum 72, S. 473 f.
2. M. Pohlenz, Ad Callimachi Cydippam. Hermes 54,
S. 442.
Pohlenz verbessert V. 21 fwi^LOv in 8a{.ivyiov., Brink-
mann V. 39 iy d' ava tcü näv atX. (st. avf'rwg); vgl. ApoU.
Rhod. IV 730 ^ d^ aga xf] xa tAaaza xtA., V. 40 mit P. Schwister
'KYiv av (Jwg, dann selbst 0 re Xoiuov xrA. : „diese enthüllte ihm
(dem Vater) den ganzen Hergang und war wieder gesund. Und
■was noch übrig ist, du, Akontios, wirst nach Naxos gehen und
sie, die dir jetzt zu eigen ist, holen können". Darauf läßt er den
Abdruck der ganzen Kydippe-Erzählung folgen.
Das Fragment aus den Aitien Oxj^ch. Pap. XI Nr. 1362 be-
handelt
L. Malten, Ein neues Bruchstück aus den
Aitia des Kallimachos. Hermes 54, S. 148 f. Vgl. vor.
Jahresber. Bd. 174 (1916/8. III), S. 70 Nr. 20.
An den Abdruck des Textes schließt er eine eingehende Be-
sprechung an, aus der ich folgendes hervorhebe: Malten kann
weder Nilssons noch A. Körte s Hypothese über die Aiora
billigen; vgl. vor. Jahresber. Bd. 174 (1916/8. III) S. 76. Er
identifiziert Aiora mit dem Erigonefest, das der Entsühnung der
attischen Frauen diente, unter denen nach der Erhängung der
Erigone eine Selbstmordepidemie ausgebrochen war, daher auch
otxTt (7TJ;, oiY.Tog bringend, genannt. Zu dem Namen '//og, dessen
erste Silbe Kallimachos lang gebraucht, verweist Malten auf
Anth. Pal. VII 2, 10, wo er von Antipater Sidonius mit kurzer erster
Silbe verwandt wird. Die Vv. 11 — 14 waren uns schon bekannt,
vgl. fr. 109 *, der Pap. hat anioTvye und olvonoxelv, wie Athen. X 442 f.5
44 J- Sitzler.
aber Athen. XI 477 c am]vaTO (1. avrivaTo) und tioQOTtoxuv^ ebenso
Macrob. Saturn. V 21; olvoTtozeTv steht auch bei Athen. XI 781 d.
Aus diesen Abweichungen in der Überlieferung (av^vato — ccTteaTvye,
olvonoielv — tiogonoxelv) schließt Malten, daß schon im 1. Jahr-
hundert V. Chr., vor Athenäus und Macrobius, zwei Rezensionen
vorhanden gewesen seien. Mir erscheint dies zweifelhaft, da beim
Zitieren leicht aTttGTvys und olvonozelv durch die gebräuchlicheren
Verba aviqvaTO und uoqotiotsIv, zumal da ai-ivorii' vorhergeht, er-
setzt werden konnten; artrjvuTO scheint noch auf ctneaTvye hin-
zuweisen. Das Substantiv yJualt] für Speisesofa findet sich auch
Pind. IV 133, wie Malten bemerkt. Mit dem alvog ^Oi^i7]Qiy.6g
ist Q 218 gemeint. Jeder Gast durfte, wie Malten weiterhin
ausführt, den Becher bestimmen, den er haben wollte; aber beim
Zutrinken mußte er sich des -Bechers bedienen, der zu diesem
Zweck am Tische zirkulierte, also in unserem Fall des aXeiaov.
Auch nannte man beim Zutrinken den Namen vmd Stand des Ge-
ehrten ; daher : eCr^ edm]v oirof-ia y.al yevsr^v. Erst beim dritten
Zutrinken redet der Dichter den Fremden an. Vv. 15 — 16 werden
Athen. I 82 b ohne Nennung des Dichters angeführt. Die }.eaxVi
die Plauderei, ist dem Kallimachos und dem Fremden, mit dem er
sich unterhält, das Mittel {(fdQ(.iav.ov) gegen das Viel- und ßasch-
trinken, dem sich die andern Gäste hingeben ; sie machen daher
auch das oaiveiv der Dienerschaft gegenüber, das Buhlen um
schnelle Bedienung, nicht mit. MvQfAiöovcov ioa^va = fr. 509,
das Schneider fälschlich auf Äakos st. auf Peleus bezog. Für
die Beziehungen des Peleus zu Ikos bringt Malten drei Zeug-
nisse bei: fr. 372, wo mit Wilamowitz ^'lyup st. Kio zu schreiben
ist, Antipater Sidon. Anth. Pal. VII 2, 9 f., Schol. Eurip. Troer. 1128.
V. 25 ergänzt Malten: yiqtuov Id^ [e'l{X)]vT[iv ']Qrov c'^oiffa
coli. Hesych. l'XlvTig * nXa'/,ovg xig. Die letzten Verse bilden das
fr. 111. Zum Schluß fügt Malten eine auf den neuen Fund ge-
gründete Würdigung des Kallimachos als Dichter bei ; er meint,
wir bekämen daraus eine bessere Meinung von seinem Können,
als wir bisher hatten. Pollis ist, wie Wilamowitz brieflich
Malten mitteilte, vermutlich der Adressat des Gedichtes, ein
Freund des Dichters, den dieser durch die Widmung eines Aitien-
buches ehrt. Schneiders Ansicht, Kallimachos habe sich die
Aitien von den Musen eingeben lassen, ist durch den Fund wider-
legt. „Der verschiedene Stoff gebot verschiedene Behandlung.
Ein vereinzelt stehendes Kultfaktum, wie etwa der Peleuskult auf
Ikos, erledigt sich leicht durch Frage und Antwort. Aber die
Bericht über die griechiaclien Lyriker usw. für 1917 — 1920. 45
aitiologische Poesie begnügt sich so wenig wie die auf Verwand-
lung und Yersternung ausgehende mit der Deutung einzelner Sitten,
Bräuche, Kulttatsachen ; sie zieht von sich aus ältere Geschichten,
die in sich geschlossen waren, in ihren Bereich, um sie durch
neue Behandlung und neuen Aufputz für ihre Zwecke zu gewinnen."
Einen Beitrag zur Kenntnis der Sprache des Kallimachos
liefert
Guil. Vollgraff, De Theocriti et Callimachi dia-
lecto. Mnemosyne 47 (1919), S. 333 f.
Er weist darauf hin , daß Kallimachos sich in seinen Gedichten
gewöhnlich der epischen Sprache bediente , aber einiges auch
dorisch schrieb, wie hymn. 5 und 6, epigr. 46. 51. 55. 59; ja, da
er ein Dorier war, auch in die episch abgefaßten Gedichte Dorismen
brachte, wie tad^i^iog st. d^tofxiog (h. 2, 87. 3, 174, wozu ich noch
fr. 110 füge). Jedoch ist sein dorischer Dialekt nicht rein, sondern
mit Äolischem versetzt, wie die Endungen oioa und eoöl und das
Part, aaoccv (5, 69). Diese Mischung betrachtete man früher unter
dem Gesichtspunkt der sprachlichen Ausschmückung, bis E. Fränkel
in den Berl. Sitzungsber. 1903, S. 87 eine Inschrift aus Kyrene,
die nicht lange nach dem J. 20 v. Chr. eingemeißelt wurde,
veröffentlichte, die, in dorischem Dialekt abgefaßt, ävtjxoiaa und
TtQOyeyovoiaaig zeigt. Ebenso liest man auf einer andern Inschrift
(SGD I 4837) rekeacfOQSVTeg. Auch in Argolis und sonst im
Peloponnes finden sich Spuren des äolischen Dialekts, nach Voll-
graff eine Einwirkung der Sj)rache der früheren Bevölkerung auf
die der eingewanderten Dorer. Er nimmt an, daß diese Sprache
auch mit nach Kyrene gewandert sei; jedenfalls aber habe Kalli-
machos seinen heimischen Dialekt angewandt, wenn er ähnliches
ins Dorische gemischt habe.
In einem Aufsatze: Die alexandrinischen Biblio-
thekare. Wochenschr. f. klass. Philol. 1914 Sp. 1091 f. bin ich
für das Bibliothekariat des Kallimachos eingetreten ; vgl.
vor. Jahresber. Bd. 174 (1916/8. I) S. 78 f. Dagegen erhebt
W. Weinberger, Gehört Kallimachos zu den
alexandrinischen Bibliothekaren? Berl. phil. Wochen-
schrift 1919 Sp. 72,
in einem kurzen Artikel ohne Angabe von Gründen Einspruch.
Er stellt eine ausführliche Abhandlung in Aussicht, aber bis jetzt
ist mir eine solche nicht zu Gesicht gekommen.
46 J- Sitzler.
Herondas.
Kritische und exegetische Beiträge liefern:
1. P. Groeneboom, Varia III. Ad. Herodam. Mnemo-
syne 46 S. 165 f.
2. 0. Kern, Noch einmal Kerkinos. Zu Archiv XIX
S. 553. Ai-chiv f. Religionsw. XX, S. 236 [IV 44].
3. F. Seiler, Der Leder fressende Hund. N. Jahrb.
f. Altertumsw. XXII S. 435 [VII 63].
4. J. Sitzler, Zu griechischen Lyrikern und Theo-
krit. Philol. Wochenschi-. 1921 Sp. 1055 [III 87].
Groeneboom gibt Verbesserungsvorschläge zum 1., 3., 4.,
5., 6. und 7. Mimiambus. Das Wichtigste führe ich daraus an.
III 49: ftrjd' odovia yiLv^oai „ut ne hiscam quidem", vgl. Lukian.
fugit. 19: 'Mvrjaai xr^v yhoTTav. — IV 72 X^^Q^S „Kunstwerke". —
VI 35 vermutet er ra^a Noooidt /^^ffat st. taXXa. — VII 46
ergänzt er tovzo f.ioi\vov ifxvoiGi].
Der Pap. hat III 87 ovde '/.Irj^ag mit einem Querstrich oben
zwischen x und X. Crusius ergänzte ov d{el ff')£xX^^at; ich
halte ov doy.el Arj^ai, für richtiger.
Kern bezieht IV 44: iotrjxs 6' el'g ^ oQSvaa ycaQ'Äivov fiiCor
auf das Krebsgespenst Karkinos.
Seiler geht davon aus, daß die in dem Sprichwort vom
Leder fressenden Hund ausgesagte Behauptung den Tatsachen
nicht entspricht. Das Sprichwort ist nach seiner Meinung aus
einem Mißverständnis entstanden; ^ogiov, die Hülle um die Frucht,
die Nachgeburt, ist als „Haut, Leder" gefaßt worden. So ging
das Sprichwort zu den Römern über, die ^ogiov mit corium wieder-
gaben, und schließlich auch ins Deutsche.
Kerkidas.
Über Kerkidas handeln:
1. TT. V. W i 1 am 0 w it z - M ö 11 e n d 0 r f f , Kerkidas.
Sitzungsber. d. Preuß. Akademie d. Wissensch. 1918 S. 1138 f.
2. 0. Immisch, Zu Kerkidas. Berl. phil. Wochenschr.
1919 Sp. 598 f.
3. L.Deubner, Kerkidas beiGregorios von Nazianz.
Hermes 54 S. 438 [fr. 7].
Wilamowitz unterzieht die Bruchstücke des Kerkidas,- die
alten sowohl wie die neuentdeckten, einer allseitigen Betrachtung.
Den Namen Kerkidas leitet er von Kiqycog ab und stellt ihn
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 47
mit dem böotischen ^d^iüv, dem lateinischen Titus zusammen.
Seine Form ist ursprünglich patronymisch, wii'd dann aber genti-
lizisch. Die Grammatiker der Kaiserzeit schreiben KegMÖäg, weil
sie an solche Abkürzungen gewohnt waren. Der Name ist selten,
so daß die Träger in Familienzusammenhang miteinander stehen,
wie Hiller von Gärtringen im Index zum arkadischen Corpus
dargelegt hat.
Dann geht Wilamowitz zur Besprechung der Stellung
und Lebenszeit des Kerkidas über. Er hält ihn für keinen
Kyniker von der Art, wie sie uns Lukian und Athenäos für die
Kaiserzeit schildern. Er bestreitet, daß sich in dem neugefundenen
fr. 5 eine Polemik gegen Zenon erkennen lasse, und meint, wenn
eine solche gegen Sphäros vorliege, gelte sie nur seiner Person.
Kerkidas darf nach ihm nicht von der seit mehreren Generationen
herrschenden kynischen Literatur getrennt werden; neu ist er für
uns nicht in den Gedanken , sondern nur in der Form , aber als
Vertreter dieser kynischen Poesie ist er für uns wertvoll.
Die Sprache des Kerkidas berührt sich mit der des Epi-
charm, wofür Wilamowitz auf o/ivqoi, (.layig und d^i^v hin-
weist; aber darin liegt nichts Besonderes, da Epicharms Sprüche
damals ganz populär waren. Arkadisch ist nur der Gen. auf w,
der auch lakonisch war. Für literarisch erklärt Wilamowitz
das Vorkommen von aV und xa, tcote und yroxa und ähnlichem
nebeneinander; bemerkenswerter ist oAv.a (IV 9). Einen größeren
Raum gesteht Kerkidas dem Literarischen nicht zu , und auch
kühne Neubildungen finden sich nicht. Die Verwendung von OTtd
neben axor« betrachtet Wilamowitz als einen Scherz. Zu den
gelehrten Dichtern seiner Zeit steht Kerkidas im Gegensatz, und
es ist wohl möglich, daß sie ihn für einen dichterischen Dilettanten
ansahen.
Die Gedichte des Kerkidas tragen den Titel Meliamben.
Wilamowitz bemerkt mit Recht, daß sie nur wegen ihres In-
haltes lamben genannt werden. Wenn er aber unter Meliamben
gesungene lamben versteht und meint, Kerkidas habe selbst seine
Gedichte zur Kithara gesungen, so kann ich trotz des Tadels, den
.er gegen die Modernen, die dies nicht glauben wollen, ausspricht,
ihm nicht beistimmen; weder Inhalt noch Form der Gedichte kann
ich für geeignet zum Gesang halten. Meliambos bezeichnet meiner
Ansicht nach ein seiner Form nach zur melischen, seinem Inhalte
nach, zur iambischen Poesie gehöriges Gedicht. Einen lebendigen
Vortrag wird man wohl allgemein annehmen. Die Gedichte sind
48 J- Sitzler.
in gewissem Sinne kynische Predigten, ganz persönlicli und auf
den Moment berechnet. Die Angriffe auf einen Wucherer, auf
Xenon und auf Sphäros erinnern an die Satire des Horaz, was
nach Wilamowitz von manchen mit Unrecht geleugnet wird.
Behandlung durch die Grammatiker erfuhr Kerkidas nicht; die
Scholien auf dem Rande des Papyrus zeigen keinerlei Gelehrsam-
keit, die man Grammatikern zuschreiben müßte.
Daran schließt Wilamowitz die Behandlung der Gedichte
im einzelnen. Diese bezieht sich auf Text, Erklärung und Vers-
maß. Die neid^fo (II 7) kann Wilamowitz nur für die Göttin
halten, sozusagen die gute Aphrodite, der eine'" Yßgig etwa gegen-
überstehen könnte; zu den diaau TivevfjiaTa^'EQMzoQ vergleicht er
Pind. N. 8, If., zu adovonlii^ in III Timon 58, 4. — Das fr. 7
aus Gregor von Nazianz hält er nur infolge der aus Verszwang
verschränkten Wortstellung für schwer verständlich, jedoch nicht
für verdorben; er erklärt: „Kerkidas, der gi'oße Freund der ein-
fachsten Speisen aus einem Kessel, sagt mit Recht, daß alle die
kostbaren Speisen der Feinschmecker in den Abgrund (= Abtritt)
gehen, keine Speisen mehr : das ist das xtkog, Ende und Ziel, der
Schwelgerei. Er selbst ißt Salz und spuckt salzigen Spott noch
dazu auf die Schwelgerei." Ob für (xt^te zu schreiben sei f^rjdi^
wie die Grammatik verlangt, ist nach Wilamowitz so lange
nicht zu bestimmen, bis eine sorgfältige Ausgabe Gregors vorliegt.
Der Witz am Schlüsse kehrt wieder bei Gregor im Confiictus
mundi et Spiritus 96 : ägrog >) y.aQV'/.ia ^/uol zb 7iiix(.ia x , 6^ akCiV
ctnav yXvKVy olq tüjv rgvifiorTcov al/uvQOv /.aTumvo}. Ich glaube,
daß damit die Stelle aufgeklärt ist ; nur möchte ich xiXovg (st. TtAog)
schreiben, abhängig von /.aiamviüv und dem avx^g xgvq^rjg gegen-
übergestellt ; der Gedanke wird so geschlossener und die gram-
matische Verbindung leichter. Deubner sucht aus den zwei
Stellen Gregors den Wortlaut der Verse des Kerkidas festzustellen :
anavxa d' egnov elg . . . . ^.ir^öt alx' txi xcuv evxeleaxaxcov X^ßtjxog
i^ evog, xi?.og XQvcpwvnov, dann fehlt einiges, und darauf folgte:
agxog t] inagv/Ja \ ejxoi x6 TTtf'/"« t^' s^ alwv ö^ ccTtav ylvnv xrA. ;
aber keinesfalls hat xcov eixslsaxccxiov Itßrjxog e^ tvog zur Rede
des Kerkidas gehört , da dieser von seinem Standpunkt aus die
Eost der einfachen Leute nicht als /^r^öe olx^ txt bezeichnen
konnte ; dies konnte er nur von den SiDcisen der xQvcpäJvxEg
sagen.
In I 24 nimmt Wilamowitz mit P. Maas aus dem Rande
BQvyia auf; er erklärt : „das aber ist brygisches (d. h. phrj-gisches)
Bericht über die griechisclien Lyriker usw. für 1917 — 1920. 49
Myserpack". Bgvyi.'. sagt Kerkidas st. 0Qvyia, weil er v braucht.
Die ärÖQFg ^vddXif40i, ironisch gesagt, die Zeus beglückt, sind
Kanaille, vgl. das Sprichwort eaxara Mvoiöv, jedoch waren die
Myser hellenisiert und nicht mehr verächtlich, daher setzt Kerkidas
die Phryger an die Stelle, vgl. 0Qi§ dvr^Q /rZjjye/g df.ieiviov. Der
Schluß dieses Gedichtes ist für den Dichter besonders bezeichnend.
Wilamowitz weist darauf hin, daß er stets die erste Person
angewandt habe, so daß man denken konnte, er sei ein armer
Schlucker; aber dies war nur kynische Stilisierung, um die Un-
gerechtigkeit der Güterverteilung in der Welt drastisch zu schüdern.
Jetzt geht er zur Angabe des Heilmittels über; es besteht darin,
daß die Kyniker den Dienst ihrer Götter ausüben, also zu den
Bedrückten gehen und ihnen von dem Ihren geben. In diesem
Handeln findet Wilamowitz das, was Kerkidas mit Nemesis be-
zeichnet: es vergilt sich, hat seinen Lohn in sich. Aus dieser
Mahnung an seine Genossen ersieht man, daß es sich um Wohl-
habende handelt; sie sollen den ökßov und die xvyav ausspucken,
d. h. sich freimachen von der Gesinnung der andern, die ohne
Beachtung der Not der Zeit ihren Besitz nur für sich verwenden,
also das %i\.idv xr\v Merddio unterlassen.
Gegen diese Auffassung der Nemesis tritt Immisch auf.
Er geht von Plin. nat. hist. 2, 14 aus, wo gesagt wird, daß
Demokrit zwei Götter annahm, Poena und Beneficium. Dasselbe
lesen wir Stob, eclog. 4, 1, 72 [4, 1, 23 Hense] als Apophthegma
des Theophrastos, der auf die Frage : tl owt^ei tov twv ävifQwnwv
ßlov, die Antwort gibt: evegysaia [/.al rif^Tj] y.ai Tif^WQia. Daraus
folgert Immisch, daß auch Kerkidas das gleiche Götterpaar
neben Haidv verehrt wissen wolle, daß also Nef-teaig Strafe be-
deuten müsse. Der Dichter empfiehlt als Heilmittel gegen die
Schäden der Güterverteilung die Verehrung des Päan (des Helfers
und Heilbringers) und der Metados (der Mitteilung), die ebenso
wie die Nemesis eine Göttin ist; denn es ist nach Immisch zu
lesen: ^«og ydg aucct '/.ai ]Se/.iEaig '/mto: yav, weil das folg. Tauzav
sich auf Nemesis bezieht. Die Mahnung richtet sich an die
%Tri(.iaTi'/ioi in dem wirtschaftlich zerrütteten Megalopolis, allerdings
ohne Erfolg. Ich ziehe diese Erklärung der von Wilamowitz
und Arnim vor.
Zum Schluß bemerke ich noch, daß Wilamowitz bei seiner
Untersuchung des Metrums der Gedichte zu dem Ergebnis kommt,
daß Kerkidas nicht einzelne Versfüße verwendet, sondern größere
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 4
50 J- Sitzler.
Komplexe, Glieder, die durch Wortschluß -- wenn auch nicht
überall — kenntlich gemacht sind. Die Verde sind dieselben wie
die des Pindar und Bakchylides, nämlich Daktyloepitriten, und das
Prinzip der Auswahl ist, daß die vier Hauptglieder zusammen den
daktylischen Hexameter oder den iambischen Trimeter bilden, die
andern aber sich dem anfügen. Kerkidas folgt also der Theorie
des Herakleides Pontikos, der alle Verse auf diese beiden gewöhn-
lichen Maße zurückführte, die er auf einen Urvers zu bringen
wußte, vgl. Hephaestion 15: tc^qI aavvaQvtJTwv. Im 3. Jahrh.
rechnete also Theorie und Praxis die Daktyloepitriten zu den
Asyn arteten.
Parthenios.
Die €QcoTr/.a nad^rn-iara des Parthenios betreffen:
1. A. Hartmann, Untersuchungen über die Sage
vom Tode des Odysseus. München 1917. VIII, 242 S.
2. L. Radermacher, Sprachliches und Kritisches.
Wiener Studien 40 S. 168 f.
Hartmann behandelt S. 182 f. Parthen. III die Euryalos-
Sage. Die gewöhnliche Erzählung von Odysseus erfährt hier eine
Abänderung , insofern die Idee der Wiedervergeltung eingeführt
wird. Dies deutet mehr auf einen Dichter als auf einen Mytho-
graphen. Von der Darstellung in der Tragödie Euryalos bei
Sophokles weicht die bei Parthenios hinsichtlich der Tötung des
Euryalos ab, die bei Sophokles durch Telemachos (Eustath. ad
Odyss. II 118 p. 1796, 50), bei Parthenios durch Odysseus selbst
ausgeführt wird. Demnach ist trotz der Beischrift: \oTOQeX
2o(po7.}.^g EvQväho nicht Sophokles die Quelle des Parthenios;
Hartmann will vielmehr in der ganzen Art der Darstellung
Euripideische Kunst wahrnehmen. Da Tyrimmas , der Vater der
Euhippe, schon unter den Vorfahren der Lagiden genannt wird
(Meineke z. d. Stelle), so schließt er, daß die Geschichte schon
in einer alexandrini sehen Dichtung behandelt war.
Radermacher weist auf die Erzählung XXX hin: Tamr^v
de SQaa&eiaav zov HQay.?.eovg xaray.Qviliat zag ßovg htj i^eXeiv te
anoöovvai ei [.it] nQuceQOv avT^ {.iixi^t^vai , wo el (ui] Ttgovegov
zwar logisch, aber etwas schwerfällig sei; einfacher wäre ngiv
gewesen. Im Anschluß daran führt er des weiteren aus, wie
später el (xiq nach ov 7rQ6T€gov und selbst nach ov tiqLv an die
Stelle von ngiv getreten ist.
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 5I
\ Babrios.
Th. 0. Achelis, De falso credita fabulariim
Babrii conversione latina. Philol. 76 S. 113 f.
Bei dem Ulmer Arzt des 15. Jahrh. H. Steinhoewel finden
sich zwei lateinische Fabeln: de vulpe et uva und de lupo et
agno. Man glaubte bisher, diese seien einem lateinischen Schrift-
steller entnommen; nun zeigt aber Achelis, daß sie von einem
Italiener der Renaissancezeit aus dem Griechischen übersetzt sind.
Sie stammen nach ihm aus dem Aesopus Graecus, nicht aus
Romulus oder Babrios. Steinhoewel hat, wie Achelis gegen
Lessing bemerkt, selbst drei Fabeln des Rimicius, die 1448
übersetzt wurden, in die 4 Bücher des Romulus eingefügt.
Außerdem nenne ich noch
G. Thiele, Zur libyschen Fabel. Phüol. 75 S. 227 f.
Der Verfasser solcher Fabeln , Libysses , wird Babrios,
2. Prooem. 5 genannt. Thiele geht diesen Fabeln bei Dio
Chrysostomos und Lukian nach. Auch findet er eine Parallele im
Achikar-Roman, den er ins 5. Jahrh. v. Chr. setzt.
Neue Funde.
U. V. Wilamo witz-Möllendorff veröffentlicht in den
Sitziangsber. d. Preuß. Akademie d. Wissensch. 1918 S. 728 f.
unter II eine hellenistische Elegie, die auf dem Pap. 312 der
Bamberger Stadtbibliothek erhalten ist, vgl. vor. Jahresber. Bd. 178
(1919. I) S. 202. Es sind 17 Zeilen auf einer Kolumne, am Linken
Rand überall, am rechten meistens verstümmelt. Alle Lesezeichen
fehlen, der Schreiber verfuhr nicht sorgfältig, es finden sich viele
Korrekturen. Wilamowitz teilt den Text mit und bespricht
ihn ausführlich. Der Charakter des ganzen Gedichts bleibt nach
ihm ungewiß ; es scheint an einen Gesandten gerichtet zu sein,
der von einem makedonischen oder ägyptischen König an die
Galater geschickt worden war und jetzt mit der Botschaft zurück-
gekehrt ist. Diese scheint nicht günstig gewesen zu sein; denn
der König gerät in Zorn. Der Versbau ist gut, wenn auch nicht
der feinste, die Sprache etwas ärmlich, aus Homer stammt QVJtaQog,
aus Nonnos ßa&v/.Teavog.
Eine Elegie erkennt Wilamowitz, Lesefrüchte,
Hermes 54 S. 46 f., auch in den Versen am Ende des 26. Kapitels
(p. 115 a) der Trostschrift Plutarchs an Apollonius. Er liest:
52 J- Sitzler.
TOI ade {tot} d^vrp^oiGi xancuv '/.axa a/ncpi ze y.)JQeg j elksvvTai,
TiEvsrj (5' eiadvatg ovo* dO^tQt.
II. Melische Dichter.
A. Allgemeines.
L. Deubner, Paian. N. Jalub. XXII (1919) S. 385 f.
D e u b n e r will den Ursprung des Päan aufklären. Dieser
ist nach ihm kathartischer und apotropäischer Natur; er gilt als
Heilruf, der Übel abwenden und Segen auf alle Unternehmungen
des Tages herabrufen soll. Auch den Schlachtruf hält er für eine
Abart des Heilsanges. Die Heimat des Päan ist Kreta. Das
Hyporchem ist nach Deubner gleichbedeutend mit dem Päan,
nur daß in ihm das orchestische Element stärker hervortritt. Be-
gründer des Hyporchems scheint ihm Xenodamos von Kythera zu
sein. Der Tanz ist mit dem Päan als Zauberlied von Haus aus
verbunden, freilich nicht der feierliche der späteren Zeit, sondern
der wilde, leidenschaftliche, orgiastisch-ekstatische unter Begleitung
der Flöte. Die Heiltänze der Kureten betrachtet Deubner als
eng verwandt mit dem Päan. Die älteste Form des Päans war
der Heilruf iij Tiaiäv oder ir] Is {Ir^is) Tiaiccv, der, wohl noch aus
vorgriechischer Zeit stammend, sich als Refrain erhalten hat; von
ihm ging die magische Wirkung aus. Die Existenz eines wirk-
lichen Gottes Ilaidv leugnet Deubner; er meint, der Götterarzt
Jlairiüjv, der bei Homer vorkommt, sei vom Dichter selbst er-
funden. Aber diesen Götterarzt kennt auch Hesiod und Solon;
eine dichterische Erfindung ist ganz unwahrscheinlich, freilich mit
dem Heilsang Päan hat er nichts zu tun , wie ich schon in der |
"Wochenschr. für klass. Philologie 1901 Sp. 60 ausführte. Zum
spezifischen Kultlied des Apollon machten erst die delphischen i
Priester den Päan, der dann auch Beiname des Apollon wurde;
Apollon wurde dadurch als „Heiland" gefeiert. Später ging Päan
in den Begriff Hymnus über und wurde auch zu Ehren anderer
Götter gesungen, jedoch nie der Götter der Erdtiefe.
B. Die einzelnen Dichter.
Alkman.
W. Bannier, Zu griechischen und lateinischen
Autoren. II. Rhein. Museum 73 S. 59 f.
■will fr. 23, 46 f. den Genet. twv vTiOTterQidicov ovsiqcjv mit ev
ßoTolg verbinden, wogegen doch schon die Stellung spricht.
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 53
Die lesbischen Dichter.
P. Maas, Das Vau bei Sappho und Alkaios. Vor-
trag im Philol. Verein zu Berlin 12. Jan. 1920 (vgl. Wochenschr.
f. klass. Phil. 1920 Sp. 207).
Maas weist darauf hin, daß die lesbischen Dichter nur im
Personalpronomen der 3. Person das J- stets berücksichtigen, bei
andern Wörtern nur ausnahmsweise. Daher will er Alkäos 55 und
Sappho 28 das überlieferte TelWjjv, das man allgemein in J-einriv
änderte, beibehalten, indem er es als xoi siTtrjv (= aoi siTteiv)
erklärt. Dies ist möglich, aber mir unwahrscheinlich-, rot ist ent-
behrlich, die Verschreibung des .f in r zu naheliegend, um darin
den Rest von toi zu sehen.
Sappho.
Über Sappho veröffentlicht
W. Aly, Sappho. Pauly-Wissowa- Kroll -Witte ßeal-
enzyklopädie lA Sp. 2357 f.,
einen gut orientierenden Artikel, der die Literatur, die neueren
Papyrusfunde, den antiken Bios, Zeitansatz und Biographisches,
Textgeschichte, die antike Buchausgabe, unechte Gedichte, Sapphos
Stoffe, ihre poetische Anschauung, den Thiasos, die sprachliche
Form, Musik und Metrik sowie die antiken Darstellungen behandelt.
Überall scheidet Aly klar zwischen dem, was feststeht, und dem,
was mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit erschlossen ist;
seinem Urteil kann man fast ausnahmslos zustimmen.
Mit den bei Bergk* gesammelten Gedichten und Fragmenten
beschäftigen sich:
1. P. Maas, Ährenlese. 2. Sappho 1, 5. Sokrates VH
S. 254 f. — Ährenlese III. Sappho bei Aristoteles
Rh et. 1, 9 p. 1867 a 7. Ebenda VIII S. 20.
2. J. Lunak, De Sapphus fr. 52 commentariolum.
Wien. Studien 40 S. 9 7 f.
3. H. Diels, De Alcaei voto. Scheda gratulatoria ad
U. de Wilamowitz-Möllendorff. 1920 [fr. 70].
4. S. Hammer, Ad Sapphus et Catulli carmina
nuptialia notulae. Ex comment. q. i. Eos XXIII.
Posnaniae, TJniv. iuventutis Polonicae.
Die notulae Hammers konnte ich nicht einsehen. —
Maas bemerkt zu 1, 5, daß eine alte Doppellesung vorliege:
TOyAot und TtrjXvL. Mit der rituellen Formel at, jiota xarc^wra xr^.
54 J. Sitzler.
habe Sappho die Erfüllungen der Vergangenheit mit den Wünschen
der Gegenwart wundervoll verwoben, — Den Vers Alkäos 55, 2:
■d^eXio TL J-et/tr^v yitl. schreibt er mit anderen der Sappho zu,
Sapph. 28 al d' t^x^S '^^X- einem Novellisten des 6. Jahrh., der
ein Liebesverhältnis des Alkäos und der Sappho erdichtet habe;
von diesem Novellisten, meint er, hängen der Maler der Münchener
Vase, Aristoteles, Hermesianax und der Metriker ab, der die
Bezeichnung alkäischen Zwölfsilber für den Vers lo/ilox ayva xtX.
(Alk. 55) erfand. Ich kann dieser Vermutung nicht zustimmen.
Aristoteles legt den Vers ausdrücklich dem Alkäos bei, und daß
er keinen anderen als den lesbischen Dichter gemeint hat, zeigt
der Zusammenhang. Sein Zeugnis wird noch durch das Versmaß
unterstützt; denn Sappho gebrauchte, wie es scheint, das alkäische
Versmaß nur unter ganz bestimmten Verhältnissen. So steht es
für mich fest, daß Alkäos, wie andere Gedichte, vgl. fr. 55, 1 :
lonXox ayva xrA., so auch ein Gedicht an Sappho richtete, in
dem der Vers O^eXo) tl J^einrjv /.xX. vorkam. Darauf erwiderte,
wieder nach dem ausdrücklichen Zeugnis des Aristoteles, Sappho
mit einem Gedicht, das sie absichtlich in demselben Versmaß ab-
faßte, wie das an sie gerichtete, und in diesem kamen die Verse
«t 6" r^x^g xtA. vor. Was der Dichter zu sagen sich scheut, ist
ein -/.axbv und alaxQOv, wie man aus der Erwiderung der Dichterin
und aus Aristoteles ersieht, also jedenfalls keine diskrete An-
deutung seiner Zuneigung zu ihr. Aus dieser Beziehung der Verse
des Dichters und der Dichterin zueinander wurde im Laufe der
Zeit ein Dialog-Lied, das man der Sappho zuschrieb, wie Stephanus
zu der Stelle des Aristoteles beweist, und auf ein solches geht auch
das Zitat der Anna Komnena zurück. — Lunak wünscht fr. 52, 4
fiova ov TcaTSvöo) st. fuöva yiatscdw. Wer f.i6va VMiEvdo) der
Sappho nicht zutraut, würde ihr doch gewiß diese Verse, die ja
nicht unter ihrem Namen überliefert sind , richtiger absprechen,
als sie so für sie nach seiner Auffassung von ihr zurechtmachen.
— Di eis ergänzt fr. 70: tig 6 ed^eXye voov aot ayQottoTiv (jidX*)
STce/ufxiva \ y.ovk suiOTa(.iiva xrA., indem er bei ayQo'i'iotiv Ellipse
von axohqv annimmt, vgl. Maxim. Tyr. XXIV 9.
Auf die neuen Funde beziehen sich :
1. W. Schub art in d. Sitzungsber. d. Preuß. Akademie d.
Wissensch. 1918 S. 764 [fr. 21 Diehl^].
2. J. M. Edmonds in Class. Eeview XXXIV (1920) S. 4 f.
[Neuer Herstellungsversuch der Nereiden-Ode (fr. 1 Diehl^)
nebst Übersetzung.]
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 55
3. H. Idris Bell in Class. Review XXXIV (1920) S. 63.
[Vermutungen zum Text der Nereiden-Ode.]
4. 0. Engelhardt, Dem Bruder. Wochenschr. f. klass.
Philologie 1918 Sp. 263. [Übersetzung der Nereiden-Ode.]
Die Arbeiten von E d m o n d s und Bell waren mir nicht zu-
gänglich. Schubart hält die Zeichen, die im Sapphofragment
des Hallenser Papyrus erscheinen, nicht für Noten, sondern für
Akzente und Lesezeichen, wie z. B. Zeile 2 naiaar, Z. 9 : au d
ev yccQ oioiya. So schon Wessely, vgl. vor. Jahresber. Bd. 178
<1919. I) S. 50.
Über das Leben Sapphos spricht
W. K. Prentice, Sappho, ihr Leben und ihre
Persönlichkeit. Class. Philology XIII (1918) S. 347f.
Wie ich aus einer Anzeige ersehe, versucht er das gut Bezeugte
über sie aus den auf uns gekommenen Nachrichten und Mitteilungen
festzustellen.
C. D. Curtis, Sappho and the Leukadian Leap.
American Journal of Archaeology XXIV S. 146 f.,
bespricht ein Stuckrelief, das in der unterirdischen Basilika in der
Nähe der Porta Maggiore in Rom, einem Heiligtum des 1. christ-
lichen Jahrhunderts, entdeckt wurde. Er deutet es als Darstellung
des Sprunges der Sappho vom Leukadischen Felsen.
Alkäos.
Zur Erklärung und Ergänzung der Bruchstücke des Alkäos
liefern Beiträge :
1. U. V. Wilamowitz-Möllendorff in Sitzungsber. d.
Preuß. Akademie d. Wissensch. 1918 S. 1147 Anm. 1 [fr. 94].
2. H. Diels, De Alcaei voto. Scheda gratulatoria ad
U. de Wilamowitz-MöUendorff. 1920 [fr. 32. 94 (Bergk),
fr. 1. 25 (Diehl)].
3. J. Sit zier in Philol. Wochenschr. 1921. Sp. 1055 [fr. 12 DJ.
Fr. 32 schreibt Diels: ^'^X-AULog aaog agfxoi, evTsa d ov.
üTivTog aXiKQOTOv I elg riavy.oj7tiov Iqov {tax ) ovey.Qe(.ivaaav ^x-
ZL/.01 ; aber agi-iol paßt nicht, eher ist I'qqel oder egge zu lesen. —
Fr. 94 schreibt Wilamowitz /JivvofteveL ri^ TvQQa/ir^(i) und ev
D/lvQOLvvo) oder MvQaivijq) , indem er bemerkt, daß im 2. Vers
x' £/.iav^ nahe liege. Richtiger schließt sich Diels Seidler
an, der JivvofxevEL rot t' ^Yggaö^nj und fv Mugailrico vorschlug;
nur daß er Jivvonevr^ vorzieht. Pittakos stammt aus dem Ge-
56 J- Sitzler.
schlecht der Hj'^rradier, Dinnomenes aus dem der Archeanaktiden ;
beide Männer waren miteinander verbunden. Zu sv B'lvQaiXrjfif
bemerkt er: „Myrsili arx postea tamquam heroon conservata esse
videtur, ubi Pittaci et Dinnomenis arma velut in praesidio con-
servabant." — Fr. lA (Diehl). Di eis glaubt als Inhalt dieses
Bruchstückes feststellen zu können, daß Zeus mit der schweren
Niederlage der Partei des Alkäos in Beziehung gesetzt worden sei;
Alkäos überlege, was man tun müsse, um den Zorn des Zeus zu
versöhnen. Dann folge die Beschreibung der Niederlage und der
Dank an Zeus, daß sie wenigstens ihr Leben hätten retten können.
Alkäos rate zu einem feierlichen Bittfest des ganzen Volkes. In
B bitte er Zeus um Hilfe in dieser Not und füge den Wunsch
bei, die Gegner mögen umkommen, und ihm möge es vergönnt sein,
dem Retter Zeus beim Siegesgelage die Spende darzubringen, weil
Myrsilos tot sei, was auch eintrat, vgl. fr. 20. Zum Schlüsse gibt
D i e 1 s eine Ergänzung der Überreste in diesem Sinne nebst einer
lateinischen Übersetzung im gleichen Versmaß. — Fr. 12 (Diehl)
ergänze ich dem vorhergehenden d^Qtyoy.ovcsg ov ay.ga vdwv ent-
sprechend: -jCQOtovoig OTixavTsg] äolisch oiixaixL =^ Gvixäco = oreixo}.,
hier mit dem Akkusativ wie bei den Tragikern. — Fr. 25 (Diehl).
Diels ergänzt: XalßQMg öi aivaiei[iliEv yiEXiß]£id na[i \ rciixnXBiaiv
dy.QciT[co i^df.1^ £]7r' d/^iegq mit der Erklärung: „sectatus est
(Pittacus) illos, qui voraciter rustica pocula alicubi mero de die
crebro implent." Das dazu gehörige verstümmelte Scholion liest
er: [vv'Ara rat'JTj;»' leysi, [sv f] iliTTajxoc; gvv [rolg cpiloig to]v
eO-ovg [^Q^s -/a^/ff]rag zo oQireiv ...
Stesichoros.
An Arbeiten zu Stesichoros liegen vor:
1. Max Schmidt, Troika. Archäologische Beiträge zu
den Epen des troischen Sagenkreises. Diss. Göttingen.
1917. 93 S. [Iliupersis.]
2. S. Eitrem, Eine Verzweigung des Zwillings-
typus. Berl. philol. Wochenschr. 1919. Sp. 742f. [fr. 44].
3. J. Vürtheim, Stesichoros. Fragmente und Biographie.
Leiden 1919. 112 S.
Vürtheim behandelt den literarischen Nachlaß des Stesichoros,
soweit er auf uns gekommen ist, unter Verwertung der Arbeiten
derer, die sich bisher damit beschäftigt haben. Nachzutragen
wären nur Schol. Apoll. Rhod. I 1304 und Photios und Suidas
s. V. TvqtXÖTEQog Gjrdla/.og (vgl. Paroemiogr. I 309), zwei Stellen,
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 57
an denen Bergk* S. 232 f. ^crjal/LtßgoTog mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit in ^ir^ar/OQog geändert hat. Vürtheims Absicht ist,
aus den erhaltenen Fragmenten ein lebendiges Bild des Dichters
Stesichoros erstehen zu lassen. Wenn ihm dies nicht gelungen
ist, so ist nicht seine Behandlung daran schuld, sondern die
Dürftigkeit der Überreste, die einen Einblick in die Dichtkunst
des Stesichoros weder nach Inhalt noch nach Form ermöglichen.
Ihre Stoffe lassen uns die überlieferten Titel meistens erkennen,
aber über die Behandlung dieser im einzelnen sind wir im un-
klaren, und es liegt die Gefahr vor, daß man dem Dichter aus
der sonst bekannten Gestaltung der Sage zuschreibt, was ihm nicht
gehört. Auch Vürtheim, der im ganzen mit lobenswerter Umsicht
verfährt, scheint mir einigemal etwas zu weit gegangen zu sein.
^udd^la hei IleXia fr. 1 werden die Pferde Xanthos und Kyl-
laros genannt, die Hera den Dioskuren gegeben habe ; aber wie
sie die Pferde unter die beiden verteilte, darüber ist die Über-
lieferung nicht einig. Kyllaros wird bald dem Kastor, bald dem
Pollux zugeschrieben ; als Gewährsmann für Kastor nennt das
Etym. M. Stesichoros, als Gewährsmann für Pollux das Schol.
Bernense zu Vergil Georg. III 89 Alkman. Vürtheim hält,
wenn ich ihn recht verstehe, die letztere Angabe für irrtümlich,
kaum mit Recht ; denn Alkman dichtete einen Hymnus auf die
Dioskuren (fr. 9), worin er sie als tvojIwv tüy.i(ov df.iati^Qeg feiert,
und darin kann die erwähnte Zuweisung wohl vorgekommen sein;
auf der Kypselos-Lade (Paus. V 17, 9) ist unter den Wettfahrenden
bei den Leichenspielen Polydeukes genannt. Auf Alkman wird
die Angabe Virgils a. a. 0. zurückgehen-, die Mehrzahl aber folgte
der Angabe des Stesichoros. — fr. 2 werden eine Anzahl Speisen
aufgeführt, von denen es heißt: (figeod-aL zfj TtaqS^ivio dtoga.
Vürtheim erkennt richtig in Tvagi^ävip Athene und schließt
daraus, daß hier von einer Hochzeit die Rede sei. Ich kann mich
nicht davon überzeugen, daß eine solche in den Leichenspielen
geschildert gewesen sei, sondern beziehe die Verse auf ein den
Göttern, darunter auch der Athene dargebrachtes Opfer vor Be-
ginn der Wettspiele. — fr. 4 sind die Worte: ßeXziov öi . . .
nETQai(i), die eine andere Erklärung zu y^eigoßgarvL öeoui^ geben,
augenscheinlich ein fremder Zusatz , dessen verstümmelter Schluß
zu lesen sein wird : edti^t^^öav) yaq l'v zivl 7re{drj) xQu^eia.
Stesichoros hatte y^eiQo;iQWTL deoi-nf im Sinne von rolg nxvYXV/.oig
ifidai gebraucht, was hier bezeugt wird. Vürtheim, der die
von mir ausgeschiedene Erklärung für echt hält, ergänzt zu ided^i]
58 J. Sitzler.
Prometheus und glaubt, daß von dessen Schicksal gesprochen
worden sei. Aber könnte es in diesem Falle i'r xivi nexQcciii)
heißen? Und was hat Prometheus mit den Festspielen des Akastos
zu Ehren seines Vaters Pehas zu tun? — Als Inhalt der 'Ai^Xa
nimmt Vürtheim an: 1. Bericht über die Argonautenfahrt mit
Prometheus' Leidensschilderung; 2. Admetos' und Alkestis' Hoch-
zeit; 3. Verjüngung des Aeson und Tötung des Pelias; 4. Leichen-
spiele; 5. Medeas Flucht nach Korinth. Hiervon kann ich nur
Nr. 4 annehmen.
Geryoneis fr, 7 erklärt Vürtheim unter Vergleichung von
Theokrit. VII 149 f.: „Cheiron stellte dem Herakles einen wohl-
gemischten Krater auf den Tisch, Pholos selbst schöpfte den
Riesenbecher voll und reichte ihn dem Gast." Dies stimmt zu
Stesichoros' Worten nicht, bei dem Pholos mischt und aufstellt. —
fr. 8 will Vürtheim tiotl ßivO^Ea vvy.Tog egsf^iväg in dia ßtvi^ea
xrA. ändern, weil er meint, hier müsse von des Helios' Fahrt von
Westen nach Osten während der Nacht gesprochen werden , vgl.
Mimnerm. fr. 12. Dieser Annahme widerspricht der Wortlaut;
denn die ßiv^ea vvy.Tog sind nur im Westen, wo auch die Be-
hausung des Helios ist, vgl. die Stellen bei Athen. XI 469 und
781 ; außerdem Aeschyl. fr. 66. Wie er von Westen nach Osten
kommt, kümmert den Dichter nicht weiter. — Auch in der
Skizzierung des Inhalts dieses Gedichtes geht Vürtheim weit
über das hinaus, was wir wissen können ; nach ihm hat Stesichoros
darin auch geschildert, „was für Inseln draußen im Ozean liegen,
jenseits der Säulen, wo Sarpedon ruht und die Gorgonen lauern"
- — er möchte nämlich Kypr. fr. 21 K. dem Stesichoros geben — ,
und eine ganze Heraklea gedichtet.
Kerberos hatte nach Vürtheim „zweifelsohne" denselben
Inhalt wie Sophokles' Satyrspiel ^Hqu/JS^g Inl TaivcxQO); daraus,
daß darin das Wort agißaklog vorkam, schließt er auf „Aristo-
phaneischen Beigeschmack", vgl. Frösche Ulf. 561 fr.
Kyknos wird von Vürtheim nüchterner beurteilt; aber
Schol. Pind. 0. X 19 hätte er nicht für das yiTiol'Uovi^ das man
allgemein in ^'^qu korrigiert hat, eintreten sollen : dem Apollon baut
man keinen Altar aus Menschenschädeln, zumal wenn man, wie es
am Ende der Aspis von Kyknos heißt, die Pilger tötete, die nach
Delphi heilige Hekatomben bringen wollten. Kyknos hat keine Be-
ziehung zu Apollon, wohl aber innige zu Ares.
Skylla. Vürtheim vermutet sehr ansprechend, daß die
Lesart des Schol. Apoll. Rh. im cod. Laurent, ursprünglich ge-
J?ericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 59
lautet habe: ^ci^aiyOQog öi Iv tFj .2"xrAA/^ ^iaulag Tfjv ^/.iXXay
(fi,oi itv'/atiqa eivai ; über ^/afjiag sei Eldvig rtveg geschrieben
worden, und so sei die Lesart ei'dovg zivög yfauiag entstanden.
Europeia. Dabei behandelt Vürtheim die Geschichte des
Aktäon , vgl. fr. 68 und fr. adesp. 39, ohne fr. 39 jedoch der
Europeia oder auch nur dem Stesichoros zuzuschreiben. Dies
kann man nur billigen ; aber auch von fr. G8 läßt sich nicht sagen,
in welchem Zusammenhang es bei Stesichoros vorkam.
'/At'oi' riiQGig' Verhältnis zur Tabula Iliaca wird auch von
Vürtheim und Ma.\ Schmidt S. 60 f. untersucht; auch sie
kommen zu dem Ergebnis, daß der Künstler sich nicht genau an
die dichterische Darstellung hielt. — fr. 18. Vürtheim führt
gegen Paulcke, Ilische Tafel S. 79, aus, daß die Herabwürdigung
des Epeios nicht von Stesichoros ausgehe, sondern eine Folge des
fortwährenden Streites zwischen Epeiern und Pyliern sei, vgl.
Hom. y/ 747 •, Stesichoros habe den Helden wieder zu Ehren ge-
bracht.
Oresteia fr. 41. Vürtheim spricht die wahrscheinliche
Vermutung aus , daß Stesichoros selbst die Laodameia eingeführt
habe, um die Lücke in der Überlieferung der Geschichte auszufüllen.
Pherekydes schloß sich dem Stesichoros an, vgl. Schol. Find.
P. XI 26. — fr. 42 , der schon so oft behandelte Traum der
Klytämestra, wird von Vürtheim so gedeutet: „Nach ihrer Ver-
mählung mit Aigisthos hofft Klytaimnestra , die Regierung sei in
dessen Geschlecht übergegangen. Da schaut sie plötzlich in die
Zukunft. Nicht ein Nachkomme des Aigisthos wird herrschen,
sondern aus ihrem ermordeten Gemahl steigt ein neuer Pleistheniden-
könig empor; er trägt die Gesichtszüge, die Gestalt des alten
Geschlechts. Es lebt also noch ein aus Agamemnon Geborener;
dieser wird einst König, ein ßaoi?.ei\: iD.eiaO^eilöag sein." Diese
Deutung paßt nicht in den Zusammenhang, in dem Plutarch (de
sera num. vind. X) den Traum zur Bestätigung seiner Darlegungen
erzählt. Plutarch spricht hier nicht von der Offenbarung der Zu-
kunft durch Träume, sondern von den Schrecknissen, durch welche
die Übeltäter nach Verübung der Tat infolge ihres Schuldbewußt-
seins gequält werden. So wird auch Klytämestra, die ihren Ge-
mahl meuchlings erschlagen hat, nachts durch ein Traumbild ge-
ängstigt, das ihr den Ermordeten zeigt, wie er als Schlange mit
blutigrotem Kopfe auf sie zukommt : ein Traumbild, das Stesichoros,
wie Plutarch sagt, nach den wirklichen Geschehnissen gedichtet
hat {TiQÖg Tcc ysvousva ycal nqbg zriv alt^d^Eiav anoTtXcaxBGi^aL).
gO J- Sitzler.
Kalyke sucht Vürtheim als elische Novelle zu erweisen,
indem er Schol. Apoll. Rh. IV 57 anführt, wo Endymion nach Hesiod
als Sohn des Aethlios und der Kalyke bezeichnet wird, ferner
Paus, V 1, 3 und VIII 8, wo Aethlios, Sohn des Zeus und der
Protogenia, König von Elis genannt wird. Dies bleibt sehr zweifel-
haft, da die Namen Euathlos und Kalyke nicht an Elis gebunden
sind und auch Euathlos und Aethlios nicht ohne weiteres identi-
fiziert werden können.
ßhadines Geschichte bringt Vürtheim mit dem Grab-
kultus in Zusammenhang, weil Pausanias VII 5, 13 berichtet, daß
Liebesbedürftige zum Grabmal der Rhadine zu pilgern pflegen.
Eitrem sieht in der von der ßhadine-Erzählung vorausgesetzten
Situation eine Verzweigung des Zwillingstypus. Ein Grab des
Liebespaares war auf der Insel Samos, ein anderes vermutlich in
Korinth. Man darf annehmen, daß Sage und Kult mit den Aus-
wanderern aus Argos-Korinth nach Samos gelangte.
Helena und Palinodia. Fr. 26 schrieb Bergk xopatc,',
worin ihm Vürtheim folgt; es ist aber -/.oQug zu lesen, wie
M{yiovQag) hat; denn den Töchtern kann Aphrodite, die ja nur
vom Vater beleidigt wurde, nicht zürnen ; wohl aber kann sie in
ihrem Zorn den Vater in seinen Töchtern bestrafen. — fr. 32.
Vürtheim wirft, wie schon Bergk, die Frage auf, welchen
Aufenthaltsort Stesichoros der Helena angewiesen habe, während
Griechen und Troer um ihr Trugbild kämpften. Bergk be-
schränkte sich auf die Autwort, daß wir dies nicht wissen;
Vürtheim aber meint, der Dichter habe Helena, der Erde ent-
rückt, auf der Insel der Glückseligen weiter leben lassen, „irgend-
wo jenseits der Grenzen, die den Menschen gesetzt sind, im
Okeanos, d. h. im Himmelsmeer". Ja, auf Grund einer Ver-
gleichung mit Horaz, Epod. XVII 40 f., geht er noch weiter; er
nimmt an, Stesichoros habe „die Göttlichkeit der Helena in seiner
Palinodie anerkannt, ihr am nächtlichen Himmel neben den brüder-
lichen Gestirnen einen gebührenden Platz verliehen, sie als sidus
aureum astra perambulans besungen". Dieser Annahme wider-
spricht die Tatsache, daß die wirkHche Helena nach Beendigung
des Krieges wieder mit Menelaos in Sparta zusammen lebte; sie
muß also doch unter den Menschen geblieben sein. Auch ist es
wenig wahrscheinlich, daß Stesichoros Helena und die Dioskuren
unter die Sterne versetzte. Das Beispiel der Iphigeneia (fr. 88),
auf das Vürtheim zum Beweise hinweist, paßt nicht, weil
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. gl
Iphigeneia in eine Göttin, die Hekate, verwandelt wurde. Meiner
Meinung nach hat sich der Dichter überhaupt keine Gedanken über den
zeitweiligen Aufenthaltsort der Helena gemacht.
Daphnis hat Stesichoros nach dem Zeugnis des Älian. var.
bist. X 18 zuerst zum Gegenstand der Poesie gemacht. Vürt-
h e i m hat darüber ausführlich in d. Abhandl. d. Kgl. Akad. d.
Wiss. zu Amsterdam Ser. V T. II (1917) S. 387 f. gesprochen-,
in der vorliegenden Ausgabe der Fragmente des Stesichoros faßt
er die Ergebnisse jener Untersuchung kurz zusammen : Stesichoros
besingt die Leiden des Hirten Daphnis, der, von der Nymphe ab-
gewiesen, elend dahinschmachtet, von der ganzen Natur bedauert
wird und schließlich seinem unerträglichen Dasein durch einen
Sprung ins Meer ein Ende macht, nicht den Jäger Daphnis, der
wegen Untreue von der beleidigten N3'mphe geblendet wird;
Stesichoros* Fassung ist an der Nordküste Siziliens zu Hause, die
andere im Innern beim Palikenheiligtum , jenen Dämonen , die
Meineid mit Blendung bestraften.
Die überlieferten Fabeln spricht Vürtheim dem Stesichoros
ab, leugnet aber nicht, daß er Fabeln geschrieben haben kann. Zu
den Fragmenten fügt er noch Oxyr. Pap. II S. 59 Nr. 221,
Simonides 46 mit Wilamowitz, vgl. vor. Jahresber. Bd. 178
(1919. I) S. 84 f., Serv. Vergü. Bucol. VIII 68 mit ßeitzen-
stein und Verg. Aen. VI 5l7f. mit Immisch, die drei letzteren
Fragmente aber nur zweifelnd.
Anakreonteen.
E. Smith, Ad Carmen Anacreonteum XXI. Nordisk
Tidsskrift for Filologi VII (1918) S. 37
will V. 2 nlvei QeE&ga (5' avnjv, V. 3 Ttivei ^dXaaaa (J' av Qovg
(oder Qodg) schreiben.
0. Engelhardt, Der verliebte Schwärmer. Wochen-
schr. f. klass. Philol. 1918 S. 47.
Poetische Übertragung von Anacreont. 22.
Pratinas.
W. Garrod, The Hyporchema of Pratinas (Athen.
617 b). Class. Rev. XXXIV S. 129 f.
stand mir nicht zur Verfügung.
62 J- Sitzler.
Diagoras.
Br. Keil, Ein neues Bruchstück des Diagoras
von Melos. Hermes 55 S. 63 f.
Von Diagoras erzählte man sich bekanntlich, daß er einmal,
als es ihm an Heizmaterial fehlte, ein hölzernes Bild des Herakles
ins Feuer geworfen habe, um seine Linsen weich zu kochen. Keil
untersucht die Quellen für diese Erzählung. Dabei veröffentlicht
er ein bis jetzt unediertes Scholion des codex Vatic. Graec. 1298
zu Aristides' Rede vTteQ x^g Qt^TOQiK^g II 80, 15 (Dind.), das von
den übrigen Quellen stark abweicht. Es enthält ein Bruchstück
eines Gedichtes des Diagoras in ionischen Versen, das jenen Vor-
gang erwähnt: (TTQog) dojdeyia TÖlaiv ad-Koig \ ZQiGiiaidey.aTov tovö^
eTekeG(a)£p '^HQaxXijg dlog. Von der sprichwörtlichen ai^eoxrig des
Dichters ist auch darin nichts zu finden; aber die tendenziöse Er-
dichtung knüpft an die aus dem Zusammenhang gerissenen Worte an.
Timotheos.
Mit der Kritik und Erklärung des Timotheos befaßt sich
K. Aron, Beiträge zu den Persern des Timotheos.
Dissert. Erlangen 1920. 45 S. 8<'.
Er legt den Gedankengang des Gedichtes von V. 79 an dar. Dabei
bespricht er so ziemlich alle Ansichten und Besserungsvorschläge,
die von den Gelehrten bis jetzt vorgebracht sind; an den wenigen
Stellen, wo er sich mit keinem von diesen einverstanden erklären
kann, sucht er selbst Richtigeres an deren Stelle zu setzen. Am
beachtenswertesten sind: V. 82 f. owfxaTog' &d?Moa^ rjdrj d^gaaela
als Vokativ, V. 132 f. die Erklärung : „allein unsere Göttin, die uns
aus Not erlöst, kann diejenige werden, die mich nach Ilion, d. h.
in die Heimat Asien, bringt", und die Auffassung von V. 220 f.
Den Nomos läßt er an den Ephesien aufgeführt sein, was er wahr-
scheinlich zu machen weiß.
Mesomedes.
ü. V. Wilamo witz-Möllendorff in den Sitzungsber. d.
Preuß. Akad. d. Wiss. 1920 S. 368 spricht über die Gedichte, die
Sp. Lambros im Näog '^Elh]vof.tvtjf^tiov veröffentlicht hat. Sie ge-
hören nach ihm ohne Zweifel dem Mesomedes an und gestatten
■uns , die Kunst des Dichters vollständiger und richtiger zu be-
urteilen, als es bisher möglich war. Auch für die Kenntnis der
Rehgion jener Zeit fällt einiges ab. Zum Schluß wird eine neu©
Bearbeitung aller Gedichte des Mesomedes in Aussicht gestellt.
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 63
- Neue Funde.
IG XII 9, 259 ist das Bruchstück eines Hymnos auf die
idäischen Daktylen veröffentlicht, das von Ziebarth, Hiller
V. Gaertringen und Wilamowitz teilweise ergänzt wurde.
Dazu steuert K. S v o b o d a in der Wochenschr. f. klass. Philologie
1918 Sp. 262 noch einige Textverbesserungen und sachliche An-
merkungen bei.
1. W. Schubart, Ein griechischer Papj^rus mit Noten.
Mit 1 Tafel. Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1918.
S. 763 f.
2. A. Tierfelder, Päan [mit Faksimile]. Leipzig o. J.,
Breitkopf & Härtel. 6 S. Fol.
Auf der Rückseite einer in der Thebais gefundenen lateinischen
Militärurkunde (Pap. 6870) aus dem J. 156 n. Chr. stehen in großer,
sorgfältiger Schrift, durch a'AAo voneinander getrennt, drei Gruppen
griechischer Verse, die dem Ende des 2. oder Anfang des 3. Jahrh.
angehören. Nur die erste Gruppe kommt hier in Betracht ; sie ent-
hält 12 Zeilen mit übergeschriebenen Noten, worauf noch 3 Zeilen
Instrumentalnoten folgen , die sicherlich dazu gehören. Auf der
rechten Seite ist das Bruchstück verstümmelt. Der Anfang lautet
Ilaidv, 10 Ilaidv] wir haben also das Bruchstück eines Päans an
Apollon. Weiterhin wird Leto beschimpft, jedenfalls von Tityos.
Über das Musikalische ist H. Abert im Archiv für Musikwissen-
schaft I S. 313 f. zu vergleichen. Die höhere Oktave ist durch
einen schräg nach rechts aufwärts gehenden Strich bezeichnet. Über
den Noten erscheinen Längsstriche, außerdem befinden sich dünnere
und dickere Punkte vor, über und unter den Noten, auch Doppel-
punkte, jedoch nur vor nicht hochpunktierten Noten. Soweit sich
bis jetzt beurteilen läßt, sind die Senkungen punktiert (vgl. Anonym,
de mus. § 3). Vgl. noch K. Münscher Hermes 55 (1920) S. 60 2.
Da es sich um einen Päan handelt, hat man hier Flötenmusik*, die
Instrumental- und Singnoten zeigen bis zu vier Tönen über eine
Silbe gehende Polj^phonie. Vgl. dazu auch 0. Schröder in der
Berl. philol. Wochenschr. 1920 Sp. 350 f., der noch einige Ergänzungen
beifügt.
III. Bukoliker.
Theokrit.
Neue Papyrus funde geben bekannt:
1. Oxyrhynchos Papyri Part. XIII. Edited with trans-
lations and notes by B. P. Grenfell and A. S. Hunt.
With 6 plates. London 1919.
64 J- Sitzler.
2. B. P. Grenfell, The value of Papyri for the textual
criticism of extant Greek authors. [A paper read
to the Hellenic Society, May 7, 1918.] Journal of Hell.
Studies XXXIX (1919) S. 16 f.
Der 13. Band der Oxyrh. Pap. S. 168 f. Nr. 1618 enthält Id. V
53—65, 81—93, 110—122, 127—137, 139—150, VII 4—13, 68 bis
117 und XV 38—47, 51—57, 59—80, 84—100. Er gehört dem
5. Jahrh. an. Die Blätter sind sehr beschädigt, besonders am
Anfang. Der Schreiber nahm selbst Korrekturen vor, setzte die
Elisionszeichen und fügte auch eine Anzahl Akzente und Spiritus
bei. Andere Akzente und Spiritus rühren von einem Korrektor her,
der nicht viel später als der Schreiber lebte ; von diesem scheint
auch die Revision der Idjdlen V und VII zu stammen, die Text-
änderungen zur Folge hatte und Interlinearglossen und Inter-
polationen anbrachte. Der Text ist nicht sehr korrekt; er stimmt
mit keiner unserer Hs. -Familien überein , scheint aber so gut zu
sein wie der von K. Id. VII folgte unmittelbar auf Id. V, was in
keiner unserer Hs. der Fall ist; Id. XV steht nach V und VII.
An neuen Lesarten, die den Text verbessern oder doch beachtens-
wert sind, bietet der Pap. Id. V 116 ^Ef.ivr^G\ nach 150 noch 4 Verse,
VII 75 alz^ iq^uovto, 112 Eßgco tcoq noTa/nw, aber korrigiert aus
^'EßQOv TiccQ Ttorafioi', wie die 1. Hand schrieb, XV 38 xovto xar'
eijceg, 67 norex' avrag firj anon'kayyß^i^g, 70 eXO^e yivoio, 72 ox^og
aXai^itogy 86 o xj^v ^xeqov t\l (f[iX\i]i}eig, 92 TLalevaai, 98 [nEQv]oiv,
wie ß e i s k e vermutete.
In seiner Abhandlung weist Grenfell darauf hin, daß der
Pap. 1618 einen selbständigen guten Text zu Id. XV biete. Im
Anschluß daran spricht er die Überzeugung aus, daß die hs. Über-
lieferung der Gedichte XV fg. in der Zeit zwischen dem 5. und
13. Jahrh. n. Chr. sehr gelitten habe, und gibt bekannt, daß
J. de M. Johnson einen langen Papyrus der letzten Gedichte der
Theokritos-Sammlung, der in Antinupolis gefunden worden sei und
aus dem 5. oder 6. Jahrh. stamme, nächstens veröffentlichen werde,
der gewiß weitere Aufschlüsse darüber bringe.
Beiträge zur Kritik und Erklärung Theokrits liefern :
1. J. J. Hartmann, Theoeritea. Mnemosyne 47 S. 322f. —
Ad Theocriti III 32. Ebenda 46 S. 326.
2. 0. Könnecke, Zu Theokrit IL Philologus 74 S. 283 f.
3. J. Sitzler, Zu Theokrit. Philol. Wochenschr. 1921
Sp. 1055. [III 18. XI 28. XV 30.] -
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 65
4. K.Witte, Das achte Gedicht der the okritische n
Sammlung. Rhein. Museum 73 S. 240 f.
5. F. Seiler, Der Leder fressende Hund. N. Jahrb. für
Altertumsw. XXII S. 435 [X 11]. Vgl. Herondas S. 46 oben.
6. A. S. F. Gow, On three passages of Theocritus.
Class. Quarterly XIII S. 20 [XI 50- XVII 1 f . XXII 177 f.].
7. Guiel. VoUgraff, Theocritea. Mnemosyne 47 S. 345 f.
[XIV. XV. XVII].
8. E. Fitch, Note on Theocritus XXII 31 f. Class.
Philology X S. 455.
9. 0. Immisch, '^Exeqoöo^ov. Sokrates 1918 S. 337 f.
[Epigr. XXII].
Daraus hebe ich folgendes hervor:
Id. I 29 f. Könnecke, der V. 29 noxi (st. negl) und V. 30
'/,ey.OfJ,af.iivog liest, wie schon andere vor ihm, schließt sich in der
Gesamtauffassung der Schilderung des Bechers an E. Hill er an,
der vermutete, daß wir hier das bukolische Gegenstück zu Homers
Beschreibung des Schildes des Achilleus haben. Dann versucht er,
die Bildwerke auf den Becher zu verteilen. Ich stehe auf selten
derer, die solche Versuche für aussichtslos halten ; denn die ganze
Beschreibung, obwohl sie ohne Zweifel das Vorhandensein bildlich
geschmückter Becher voraussetzt , macht den Eindruck , daß sich
der Dichter selbst kein klares Bild des von ihm geschilderten
Bechers gemacht hat, sondern mit seiner Beschreibung nur die Vor-
stellung eines ausnahmsweise schön verzierten Kunstwerkes beim
Leser hervorrufen wollte, was ihm auch gelungen ist.
Id. III 18 haben die Hs. Xid^og, die Schol. liTtog, beides un-
passend; ich lese nod-og als Bezeichnung der Schönen, zu der den
Hirten sein Liebesverlangen treibt.
Id. VIII spricht auch Witte dem Theokrit ab ; er glaubt, daß
der Verfasser Theokrits Schnitter bei Abfassung seines Gedichts
benützt habe. Die Tetrade 57 — 60, die man seit G. Hermann
fast allgemein verwirft, schützt er durch Verweisung auf das Epi-
gramm des Eratosthenes Scholastikos Anth. Pal. VI 78, 2 Jdqivi
yvvar/.oq)iXa ; es gehört dem Daphnis. Aber nach V. 52 ist eine
Tetrade des Daphnis ausgefallen , die von der Nais sang , wie
Fritzsche vermutete. Das Ganze hält Witte für ein einheit-
liches Gedicht, in dem der Dichter 48 Verse mit 48 Versen umrahmt
habe. Dem kann ich nicht beistimmen , wie ich im vor. Jahresb.
Bd. 178 (1919. I) S. 124 f. ausführlich dargelegt habe.
Jahresbericht für AUrrtumstrissenschaft. Bd. 191 (1^22. I). 5
QQ J. Sitzler.
Id. XI 28 scheint mir durch die Änderung von y,al vavEQOr
in t6 y vüXEqov^ vgl. xo "/ £/5-f'g II 144, hergestellt zu werden-,
der Sinn ist dann : naioao^cii, sc. tov egcuzog, oute vaiEQOv söv-
vd(x)]v EGidiov TV ovTE vi'V dLvaf.iai ex Tijvto.
Id. XII 22 schützt Kön necke mit Recht vTregzegoi im Sinne
von y.vQiOL ; auch in der Erklärung von 35 f. stimme ich ihm bei»
nur ziehe ich ETrp:v(.iov mit Wilamowitz zu nevd^ovcai.
Id. XIV. Vollgraff hrlt den Namen Thyonichos , den er,
wie Wilamowitz , mit Oviov)], (DviovEvg und Wvioridag zusammen-
stellt, für makedonisch. Uvd^ayoQiyiTdg (V. 5) will er als Bezeich-
nung jeder Art von Philosophen fassen, weil es zur Zeit des
Theokrit, zumal in Athen, keine Pythagoreer mehr gegeben habe.
Ich glaube nicht, daß das zutrifft; Diodoros von Aspendos, der um
300 V. Chr. lebte, führte nach Diogen. La. VI 1, 13 ja die kynische
Tracht und Lebensweise bei den Pythagoreern ein, die gerade an
unserer Stelle hervorgehoben wü'd. Mit Recht tritt er unter Ver-
weisung auf Bechtel, Die historischen Personennamen S. 572,
für JAtilq ein, das Wilamowitz in Z4yiq verwandelte. Aus der
Nationalität der drei von Äschines Eingeladenen, einem Argiver,
einem Thessaler und einem Akarnanen (?), also Angehörigen von
Volksstämmen, die auf Ptolemäos' Seite standen, schließt Voll-
graff, daß das Gedicht zu Id. XV und XVII gehört, der Gruppe,
die zwischen 278 — 270 zum Preise des Ptolemäos abgefaßt ist.
, Cyniscae amorem scriptum esse putaverim post Adoniazusas et
Ptolemaeum: haec Alexandriae , illud postquam Theocintus inde
domum rediit." — V. 30 vermutet Vollgraff recht ansprechend
aTiäQ^ag st. «tt' ciQxag, im Sinne von t^äg^ag vgl. Anthol. Pal. IX
189, 3. — Die schwierige Stelle V. 38 erklärt er: „illi lacrimae
tuae fluunt poma magnitudine aequantes" ; ich könnte nicht sagen,
daß mir diese Übertreibung gefiele. — Zu V. 44 spricht er über
Schaltmonate, Sonnenjahr und Kalender. — V. 56 schlägt Hart-
mann bf.iaAÖg öi xig wv oxQaxwjxr^g (st. 6 ozq.) vor; Paley hat
schon log gewünscht.
Id. XV 19 ergänzt Vollgraff zu v.vvddag passend doqdg:
pelles caninas. — V. 30 haben die Hs. (.li^ drj noXv, fir^ de tioXv
oder /<r} novXv, aber übereinstimmend dann ccTiXrjOxe. Mir scheint
eine Verschreibung aus /</} ü^oAov (= xö olov) dnhjGxe vorzuliegen.
„Nicht das Ganze, du Nimmersatt!" ruft die HeiTin, als die Magd
das ganze ai-iccj-ia ausgießen will.
Id. XVI 18 f. will Könnecke unter fünf Personen verteilen,
das paßt aber nicht zur Einführung dieser Worte: ftag — £vO-vg
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 67
i&eiTai und bringt einen fremden Gedanken in des Dichters Dar-
tellung. Theokrit will hier nicht aufzählen, wie oft und mit welchen
lUsreden er mit seinem Gesuch um Aufnahme abgewiesen worden
$t, sondern nur eine Vorstellung von der Art der Gründe geben,
eren sich die Leute bei der Abweisung bedienen.
Epigr. XXII = XIV Ahrens = Anthol. Pal. IX 434: allos
Xlog vtrA. wird von I m m i s c h eingehend besprochen. Er kann
arin nichts finden, was auf einen Philologen hinwiese, der es au
en Anfang einer von ihm veranstalteten Theokritsammlung gesetzt
ätte. Die Worte arro ziov tioIXmv (V. 2) erklärt er mit „humiliore
)Co ortus", und TzEQiyJ.Eixrfi (V. 3) versteht er von der Berühmt-
eit infolge der von ihr ausgeübten Kunst; Philine wäre demnach
ine berühmte Zitherspielerin gewesen. In dem a'AAog 6 XIo^'
ieht auch Immisch den Theokritos von Chios, mit ixoloav 8^
^vür]v xrA. (V. 4) sagt der Dichter aber nach ihm, daß er sich
treng an die Regel der von ihm gewählten Dichtgattung gehalten
abe. Das Epigramm stand also am Schlüsse einer Sammlung von
redichten, die alle einer Gattung angehörten und weder in Form
och Inhalt bei einer andern Gattung Anleihen machten, vermutlich
llegien. Das Ergebnis seiner Untersuchung faßt I m m i s c h dahin
usammen: „Nondum provecta aetate nee adulta artis suae fama
^heocritus illos versus emisit , cum esset poeta uovus et ignotus
t qui fortasse rudimenta tum ponebat , modo a/ofcrrj^g yevöi^svog
^iXr]Ta, poetae elegiarum laude ea aetate quam maxime florentis.
ilio tempore vix erat, cur caveret, ne cum famoso Theocriti Chii
omine suum confunderetur. Elegias autem iUas aetatem non tu-
sse, id non mirum est in opusculo iuvenili et quod anxie prae-
epta magistri sequebatur tamquam veras genuinae regulas artis.'"
7g\. vor. Jahresb. Bd. 178 (1919. Ij S. 136.
Zu dem Dialekt Theoki-its äußert sich
Guiel. Vollgraff, De Theocriti et Callimachi
dialecto. Mnemosyne 47 (1919) S. 333 f.
ir geht davon aus, daß in den dorischen Gedichten Theokrits der
Dialekt nicht rein dorisch erscheint, sondern mit äolischen Bestaud-
eilen gemischt; so findet man ad st. t, Verdoppelung der Liquiden
n ai.ii.iEg und viuf.i€g, Partie, auf oiaa , Kasus obl. von Substant.
Luf Bvg mit r] im Stammauslaut, Dative auf eaai, Präsensendungen
m Perfekt und noch einiges andere. Diese Erscheinung erklärt
nan gewöhnlich damit, daß Theoki'it einen künstlich zurecht-
;emachten Dialekt angewandt habe , dem er eine bäurisch-länd-
g3 J- Sitzler.
liehe Färbung habe geben wollen. Wie grammatisch geschult der
Dichter war, zeigen seine äolischen und epischen Gedichte, ferner
die Syrinx, endlich die auffallenden Genusverschiebungen XV 84
ctQyvqiag yiXiGfxco, XV 119 oxiddeg ßgii^ovieg und XVII 90 väeg
aoiovoL, offenbar im Anschluß an Homer, vgl. Od. 4, 442. 19, 341.
II. 18, 477. Hierher gehört auch die Verwendung des Substantivs
GXYixa in der Syrinx, durch die er zeigen woUte, daß ihm die Er-
klärung von diaOTiqirjV (II. I, 6) durch manche Grammatiker wohl-
bekannt sei. Solche Besonderheiten in der Sprache finden sich
aber, worauf Vollgraf f aufmerksam macht, nur in den Gedichten
XV und XVII, die Theokrit in Alexandriä schrieb, um sich dem
Ptolemäos, dem Gönner der Dichter und Grammatiker, zu empfehlen ;
er eiferte darin ohne Zweifel dem Kalhmachos nach, „cuius carmina
exquisita et abstrusa doctrina Homerica referta regi et aulae ad-
modum placerent". Obwohl man nun nicht bestreiten kann, daß
Theokrits grammatische Ausbildung ihn befähigte , solche Gelehr-
samkeit zur Schau zu ti^agen, schreibt Vollgraff doch die Ver-
wendung von Aolismen bei ihm nicht diesem Umstand zu, sondern
glaubt, daß er sie, wie Kallimachos (vgl. oben S. 45), dem heimischen
Dialekt entnommen habe , er also dem s}Takusanischen , vglJ
Magnien, Mem. Soc. Linguistique 1919. Daß das SjTakusanische'
manches Äolische hatte, bezeugt auch das Schol. zu Id. III 52.
Bion und Moschos.
J. J. Hartmann Mnemosyne 47 S. 322 f. am Schlüsse seiner
Bemerkungen zu Theokrit bespricht auch einige Stellen des Moschos
[III 48 und 52] und vermutet Bion I 51 f. recht ansprechend
^Q'/mi slg Idx^QOvxa \ xbv (st. naQ) Gxvyvbv ßaoiXija. Außerdem
verbessert er Hights Übersetzung des Moschos an drei Stellen,
Zum Schlüsse erwähne ich noch
A. Rostagni, Poeti Alessand r in i. Torino,
der, wie ich einer Notiz entnehme, über Theokrit, die bukolisch«
Poesie und die Sage von Daphnis handelt.
IT. Anthologie.
Mit der Geschichte der Anthologia Palatina beschäftigt siel f
K. Preisendanz, Zur Herkunft der Anthologis'
Palatina. Zentralblatt f. Bibliothekwesen 34 S. 20 f.
In der Heidelberger Universitätsbibliothek befindet sich ein(
Aldina der griechischen Anthologie aus dem J. 1521, die einst in
Besitze Fr. Sylburgs war. Er hat in diese Lesarten der AnthoH
Bericht über die griechischen LjTiker usw. für 1917—1920. 69
Pal. eingetragen und den Epigrammen die Nummer der Seite bei-
gefügt, auf der sie in der Palatina stehen. Die 1. Zeile der Vorder-
seite des Vorsetzblattes enthält den Ex-libris-Eintrag des zweiten
Besitzers, J. Gruterus; die 2. Zeile ist so getilgt, daß sie nicht
mehr gelesen werden kann. Herbert wollte zwar erkennen:
Sum F. Sylburgi, aber dies ist eine aus dem folgenden geschöpfte
Vermutung. Übrigens rührt die Tilgung nicht von Gruter her,
sondern stammt aus späterer Zeit. Diese spätere Hand hat auch
in der 5. und 6. Zeile die drei ersten Worte von empto ex libraria
Sylburgii gestrichen und darüber geschrieben: habetque adscriptam
nonnunquam manum. Die Lesung Herberts erweist sich also
der Stadtmüllers gegenüber als richtig. Auch in der 7., 8. und
9. Zeile hat der Korrektor geändert. Wann dies geschah, ist nicht
mehr festzustellen. Die in die Aldina eingetragenen Kollationen
wurden vom Besitzer der Stephanus- Ausgabe vom J. 1566 benutzt,
deren inscriptio in fronte nach Bosch die zweite Fassung der
Grut ersehen Notiz verwertet, aber auf den Inhalt der getilgten
Worte nicht eingeht. Die Titelseite des Heidelberger Exemplars
wies rechts unten das Exlibris eines weiteren Besitzers auf, ist
aber bis auf ein E mit der Blattdecke selbst verschwunden. Der
letzte Besitzeintrag auf der letzten Seite lautet : M Jacobus
est possessor huius libri. Diese Seite enthält noch den Anfang
der Rede Ciceros pro Marcello mit dürftigen Worterklärungen. Auf
dem vorletzten freien Blatt stehen 19 holländische Zeilen, die wohl
kaum einen Aufschluß über die Geschichte der Anthologie oder
auch nur der Aldina ergeben.
Eine Anzahl Arbeiten beschäftigt sich mit Leben und Werken
einzelner Dichter der Anthologie.
0. Weinreich, Die Heimat des Epigrammatikers
Poseidippos. Hermes 53 S. 434: f.
Zur Bestimmung der Lebenszeit des Poseidippos war mau
bisher besonders auf Anth. Pal. V 133 angewiesen; aber dieses
Epigramm gestattete nur eine ungenaue Zeitangabe. Über die
Heimat des Epigrammatikers war man ganz auf Vermutungen be-
schränkt. Jetzt entdeckte Weinreich eine Inschrift im Museum
zu Thermon, Inventar Nr. 68, nach dem Schriftcharakter und nach
prosopographischen Anzeichen aus der Zeit um 280 v. Chr. stammend,
in der es Col. A. 23 f. heißt: IIoaeiölfrTTO) toj sTnyQaf.i^taTOTtonp
IlEXXaio} k'vyvog KXeoKQdtr^g '^Hocr/.Xeojrag. Nach dieser Inschrift
erhält der Epigrammendichter Poseidippos von den Atolern die
70 J- Sitzler.
Proxenie. Wir sehen daraus, daß er aus Pella war, und können
weiter scMießen, daß er spätestens 312 geboren war. Das Neben-
einander von a und t] war in Nordwestgriecbenland üblich.
A. Rostagni, Poeti Alessand rini, Torino,
behandelt, wie ich aus einer Zeitschrift ersehe, auch Asklepiades
von Samos. Mir war das Buch nicht zugänglich.
E. Bethe, Die Zeit Nikanders. Hermes 53 S. llOf.
Für die Lebenszeit Nikanders, von dem die Anth. Pal. drei
Epigramme erhalten hat (VII 453. 526. XI 7), liegen uns drei
Ansätze vor. Nach dem ersten, in den Aratviten 1, 2 und 4 bei
Westerm., in der Hypothes. zu Theokrit 1, in den Lykophronviten
p. 4, 30 bei Scheer und im Schol. zu Theriaka 3, lebte er um 275
als Zeitgenosse des Ai-at, Theokrit, Kallimachos und L^^kophron.
Der zweite Ansatz in der 4. Vita Arati läßt ihn 48 Jahre jünger
sein als Arat, also um 225 leben. Der dritte Ansatz datiert ihn
nach Attalos III. (138 — 133), vgl. den Kommentar zu den Theriaka
im yhoQ, und zu V. 3. In einem delphischen Proxeniedekret, das
Pomptow früher in das J. 266, nachher in das J. 205 setzte,
finden sich die Worte : NiTidvögci) l^va^ayoQOV KoXocfcovüp in^Mv
7ioir]Ta, vgl. Bull, de corresp. Hell. VI 1882 p. 217 Nr. 5, CoUitz-
Bechtel, Griech. Dialektinschriften II 2653 = Dittenberger Syllog
I^ 452. Bethe nimmt infolgedessen zwei Dichter namens
Nikandros an. Ist die letzte Datierung des Proxeniedekrets durch
Pomptow richtig, so lebte Nikander, der Sohn des Anaxagoras,
um 225 — 200 und wird als Dichter des Hymnus auf den Gallier-
sieg Attalos I. angesehen werden dürfen. Auf den berühmten
Nikander trifft dann der Ansatz auf 275 zu. Nach der früheren
Datierung Pomptows müßte sich das Proxeniedekret allerdings
auf diesen beziehen, und Damaios müßte dann für seinen delphischen
Adoptivvater gehalten werden, ein Name, der nach Bethe nur in
Delphi vorkommt.
K. Preisendanz, Zu Buenos von Askalon. Philo-
logus. 75 S. 476 f.
In der Anthol. Pal. werden drei Dichter mit dem Namen
Euenos bezeichnet, ein ^^ov-aXiovitr^g (IX 75), ein 2iKelia)Trjg
(IX 62) und ein '^d-r]va2og (IX 602). Schon Th. Bergk hat
den 2iyieluiki]g durch den ^^axalcovizrjg ersetzt, und Preisen-
danz bestätigt diese Vermutung jetzt, indem er nachweist, daß
die Epigramme IX 60. 61. 62 nicht mehr in ihrer urspi'ünglichen
Reihenfolge erhalten sind. Das Gentile ^^d^rjvalog ist nach
Bericlit über die griechisclien Lyriker usw. für 1917 — 1920. 71
Preisendanz dem Gedichte selbst entnommen ; es gehört zu
XaX-Kog = Xalxoad^ivrjg, der dadurch als athenischer Künstler
gekennzeichnet wird. So bleibt tatsächlich nur ein Epigrammatiker
Euenos übrig, nämlich der ^^OKahoriTr^g. Diesem will Preisen-
danz auch VI 170 zuweisen, indem er das überHeferte GYH^^OY
in EYHNO Y ändert, was paläographisch nicht zu beanstanden ist ;
aber inhaltlich weicht VI 170 von den Gedichten des Euenos ab. Ich
kann daher Preisendanz nicht beistimmen, sondern bilHge die
von andern vorgeschlagene Änderung in QYlyl^OY, die mindestens
ebenso leicht ist. Mit den Epigrammen des Thyillos berührt sich
VI 170 sprachUch und inhaltlich, vgl, VII 223 und X 5. Das
Epigr. IX 251 deutet Preisendanz auf Orakelstechbücher.
Was die Lebenszeit des Euenos von Askalon betrifft, so läßt sich
darüber bis jetzt nichts Bestimmtes angeben.
A. Veniero, Paolo Silenziario. Catania 1916. VIII,
368 S. 8.
Veniero gibt eine italienische Übersetzung der Epigramme,
der Encpgccaeig rrjg MeydXiqg ^Ey.'/.lriaiag und tov ^.Außiovog sowie
der Verse eig t« tv Tlvd^ioig ^€Qf,td im Versmaß der Originale mit
Einleitung und Kommentar, in denen er die Ergebnisse der bis-
herigen Forschung übersichtUch zusammenstellt. Die Einleitung
behandelt das Leben des Paulus und die literarischen Zustände
zur Zeit Justinians, als Heidentum und Christentum miteinander
im Kampfe lagen. Zu weit geht Veniero, wenn er behauptet,
Paulus habe sich überwiegend die römische Elegie zum Vorbild
genommen, und auch die Ansicht läßt sich nicht mehr aufrecht-
erhalten, daß die Motive der römischen Elegie den alexandrinischen
Elegikern entnommen seien, vgl, vor. Jahresber, Bd, 174 (1916/8,
III) S, 17 f. Mit großem Fleiß verzeichnet Veniero die Parallel-
stellen aus den römischen Elegikern, besonders aus Ovid, zu den
Epigi'ammen des Paulus. Man wird ihm für dieses Material dank-
bar sein, sich aber vor der Meinung hüten müssen, als sei Paulus
fast ausschließlich Ovid gefolgt. Textüberlieferung und Stil des
Paulus kommen ebenfalls zur Behandlung,
Verbesserungen und Erklärungen zu einzelnen
Gedichten der Anthol, Pal. geben:
1. U. V. Wilamo witz -Möllendorff , Dichterfragmente
aus der Papyrussammlung der Kgl. Museen.
Sitzungsb. der Preuß. Akad. d. Wissensch. 1918 S. 728 f.
Nr. 8 [V 151]. — Lesefrüchte. Hermes 54 S. 162 f.
72 J- Sitzler.
[V 236. 237. XIV 71. Appendix 182, vgl. dazu W. R.
P a 1 0 n , Die Großmutter Alexanders des Großen , vor.
Jahresb. Bd. 178 (1919. I) S. 197, dessen Verbesserung
mit der von Wilamowitz zusammentrifft.]
2. K. Preisendanz, Anthol. Pal. V 154. 155. Berl. phil.
Wocheuschr. 1918 Sp. 263. — Antbol. X 7. 14. 15.
Wochenschr. f. klass. Philol. 1919 Sp. 499 f.
3. J. Sitzler, Anth. Pal. VII 486. XII 50. Simonides 107
= CJ. 1051 = Kaibel 461. Berl. phil. Wocbenschr. 1921
Sp. 1054 f.
4. 0. Roßbacb, Zu Meleager von Gadara. Berl. phil.
Wocbenschr. 1917 Sp. 760. [XII 165.]
5. L. Weber, ^YK.4EmiPMHL II. Philol. 74. S. 248 f.
[VII 296. Appendix 165. 191. 205.]
Wilamowitz veröffentlicht den Berliner Pap. Nr. 10 571,
wohl ein Exemplar von Meleagers Stephanos, der V 151 enthält-
Er hat V. 7 äoQct^ wie Pierson und Graefe st. öogalg ver-
muteten. Nach V. 8, mit dem in der Anth. Pal. das Epigramm
abschließt, folgt im Pap. ohne Absatz noch eine Zeile, von der
aicfiXovovTE zu lesen ist. Dies bezeichnet Wilamowitz mit
Recht als befremdhch, weil das Epigramm vollständig ist und ein
neues Gedicht ein Lemma haben müßte. Eine Erklärung des
Rätsels kann Wilamowitz nicht geben. Ist vielleicht val
q^iXofiOios zu lesen, so daß hier V. 4 wiederholt wäre? — 236, 9
ei-klärt Wilamowitz läovza = ßXi7T.ovTa\ es ist also nicht zu
ändern. — 237, 3 ist unter Ares, wie er bemerkt, das Schwert zu
verstehen, in dem der Geliebte sein eigenes Bild sieht.
VII 296 = Simonides 142 (Bergk) = Preger 269, das Grab-
epigramm auf die Toten in den Kämpfen bei Kypros, liegt nach
der Meinung Webers bei Diodor, bzw. Ephoros, in seiner ältesten
Fassung vor. Er glaubt, daß es tatsächlich auf einem Grabstein
stand, ebenso wie seine Nachahmung auf der Stele von Xanthos,
vgl. Kaibel epigr. 768. — 486, 1 nehme ich an dem Gen. y.6Qag
neben dem Akkus, naida Anstoß, da beide sich auf die gleiche
Person beziehen ; xo'^ag ist vermutlich im Anschluß an enl oäfjaTL
aus xo'(>aj' entstanden; zu -/.ogav nalda vgl. Aristoph. Lys. 595.
Demosthen. 21, 79.
X 7, 7 wünscht Preisendanz otJ' hy.aTc^tßi]g, das er noch
von ETtiÖEvi] (V. 5) abhängen lassen will; das wäre nach dem
Zwischensatz : alV alel ^voEvia /ml e/.(nvQOv sehr hai't, zumal
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 73
da oid^ exazoi^ißtjg allein stände, ohne irgendwelche weitere Stütze.
Es wird im Anschluß an tfunvQov ovd^^ fxaTO///?/; zu lesen sein;
Planudes hat iv d^ h/iarof-ißri. — 15, 2 ist iXlog mit der Eand-
bemerkung ei überiiefert. Preisendanz ändert i'Aaog; aber dann
hat d^eX^nöoio kein Beziehungswort. Planudes hat dem Sinne nach
richtig HOQOQ. Ich vermute BXh]q „Sonnenwärme", wie Aristoph.
Vesp. 771 f. und sonst.
XII 50, 7 ist nioutvov yaq ^'Eqioq überliefert, worin ein
schweres Versehen liegen muß, sei es infolge Unleserlichkeit der
Vorlage oder aus sonst einem Grunde. An Stelle von nioiitvov
erwartet man urj (.ieXItio^ dem Zusammenhang entsprechend. —
165, 4 liest Koßbach recht ansprechend (fXl^Eiv st. nXe^eiv,
wozu er V 122, 6 und 287, 4 vergleicht.
XIV 71 stellt Wilamowitz wieder her, indem er im 1. Vers
mit Beibehaltung von v-ad-agog das überlieferte ayvog in ayvrjg
ändert, dem Versmaß und Sinn angemessen.
Appendix 165. 191. 205 == Preger 153 ist nach Weber bei
Plut. Cimon 7 in älterer Fassung erhalten als bei Äschines III 184.
Nach Äschines waren es die Inschriften dreier Hermen, die, vor
der Halle des Befreiers Zeus aufgestellt, demselben Sieg galten.
Von der rhetorisch gefärbten Geschichtschreibung wurden die Epi-
gramme zu ähnlichen Zwecken verwandt wie von Äschines und
Plutarch.
An Übersetzungen aus der Anthologia Pal. wurden
mir bekannt:
1. Meleagros von Gadara. Der Kranz. Auswahl und
Übertragung von A. Oehler.
2. R. Hopp, Love, Worship and Death. Some
Eenderings of the Greek Antholog}-. [Sappho, Erinna u. a.]
3. P. H. C. A 1 1 e n , Übersetzung von Gedichten der griechischen
Anthologie. Athenäum 4657 S. 680. [Strato, Rufinus, Paulus
Silentiarius, Agathias.] 4658 S. 713. [Meleager, Nossis.]
An anderen Arbeiten über griechische Epigramme erwähne ich:
L. Weber, Steinepigramm und Buchepigramm.
Hermes 52. S. 536 f.
Weber behandelt einige Epigramme, die in doppelter Form
vorliegen, einer kürzeren und einer längeren ; die erstere hält er
für das Stein-, die letztere für das Buchepigramm. Das erste ist
das Midasepigramm Anthol. Pal. VII 153 = Preger 233. Die
Steininschrift bestand aus einem Vers und befand sich auf dem
74 J- Sitzler.
Grab eines Midas in Phrygien, das mit einer Sirene oder Sphinx
geschmückt war. Am Ende des 7. oder zu Beginn des 6. Jahrh.
wurde sie erweitert, und aus dem Midas wurde der König Midas.
Die erweiterte Form, die sich schon bei Piaton Phaedr. p. 264 c
findet, schrieb man dann dem Kleobulos zu. — Dann stellt er
Anth. Pal. VII 512 und 442 = Simonides 102 u. 103 unter Ver-
gleichung mit Geffcken, Griech. Epigr. 152, zusammen; das
erstere stammt nach ihm von einem Kriegerkirchhof in Tegea, das
zweite ist eine Variation da.zu auf Papier , vgl. Wilamowitz,
Sappho und Simonides S. 215 f. — An dritter Stelle führt er die
Epigramme auf Solon Anth. Pal. VII 86 und 87 an, von denen er
86 für das Stein-, 87 für das Buchepigramm hält. „Mit der
Restauration der Demokratie im 4. Jahrh. wurde vermutlich die
Statue Solons mit dem Epigramm auf dem Markte Athens und
sein Heroon auf Salamis errichtet." Vgl. auch Preger 242. — Das
letzte Paar bilden die Epigramme Anth. Pal. 464 und 465 ; die
Verse 465, 5 f. stammen nach Weber vom Grabstein, aber der
Anfang des Epigramms ist epideiktisch. Das Epigr. 464 setzt
Kenntnis des Grabdenkmals mit seinem Gemälde voraus.
TJ. V. Wilamowitz-Möllendorff, Lesefrüchte.
Hermes 54 S. 168 erklärt das Epigramm Plut. Aemil. Paul. 15
aus NaaiTiag mgl rov üegatyiov TtoMf-iov = Cougny III 75 über
die Höhenmessung des Olympos.
J. Geffcken und G. Herbig, Na^og. Glotta IX S. 97
behandeln das Epigramm auf dem Koloß des Kypselos = Preger 53.
Das Adjektiv va^og^ das sich nach ^ArceXkag 6 IIovTLY.6g im
1. Vers der Inschrift fand, leitet Herb ig von vdoao) ab, also
„festgestampft, vollwichtig". Geffcken vermutet, daß der 1. Vers
ursprünglich lautete: sl jatj syw va^og acpvQ^}.aT6g sl/^ii xoXoGOog
v.%X. Vgl. Geffcken, Griech. Epigr. 36.
E. Preuner, Aus Heinrich Nikolaus Ulrichs Nach-
laß. Rhein. Museum 73 (1920) S. 273 f. veröffentlicht Ulrichs
Originalzeichnung des ßto^bg diövi-iog in Krissa, vgl. Kaibel,
Epigr. Gr. 742 = Ho ff mann, Sj^lloge epigr. Gr. 287, die Ab-
schrift des Epigramms Kaibel 849 = Homolle Bull. Corresp. Hell.
XXIV (1900) S. 170, sowie die des Epigramms Kaibel 103, wo
Preuner V. 5 a]Xla ah /u[rj Xeiß](jüv, V. 6 [uoiag irj^tde, V. 7
^Qo[avd^]aag, V. 8 7raQ[rjyoQlt]]g ergänzt,
L. Radermacher, Kritische Beiträge. Wiener Studien
39 S. 67 f. Nr. XIII verbindet im 5. Verse des Epigramms Kaibel
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 75
555 = CJG 6223 = JG XIV 1550 das Partiz. di^cov mit zööe
or^f-ia und ETskeaae mit red^rrjOTi d^ea/Aov.
L. Weber, ^YK^EOEPMHI. III. Rest einer Herme vom
Staatsmarkte von Athen (JG I 333). Philologus 76 S. 60 f. ver-
teidigt gegen E. Bormann, vgl. vor. Jahresb. Bd. 178 (1919. I)
S. 201, die von Kirchhoff und Wilhehn gegebene Erkläi'ung, daß
es sich um die Schlacht bei Marathon handle. Der Stein ist nach
ihm der Rest der Basis, auf der die zur Feier des Sieges über
die Perser auf dem Markte Athens errichteten Hermen standen.
W. Bannier, Zu griechischen Inschriften I. Berl.
phil. Wochenschrift 1917 Sp. 1440 f., bespricht folgende Inschriften:
JG IX 1, 868 = Hoffmann SyUoge 47, JG XII 9, 287 (vgl. Berl.
phil. Wochenschr. 1916 Sp. 1228. 1917 Sp. 511 f., 1281), JG VII
1880 = Hoffmann 56 = Kaibel 486, wo er ^ETtoliyEidi^ st. ht^
^Olr/eidci lesen will, JG IX 2, 255 = Hoffmann 55, JG IV 561.
Gegen Banniers Lesung JG VII 1880 ^E7ioliy£iöa erhebt
E. Loch, Zur böotischen Grabinschrift JG VII 1880.
Berl. phil. Wochenschr, 1918 Sp. 167 f. Einspruch; er hält an
Itt' ^OXiyeidi^ fest, indem er (xväi.ia {in:i)Tid^ivai BTtl tivi als
böotische oder äolische Ausdrucksweise nachweist. Bannier, Zu
griechischen Inschriften II. Berl. phil. Wochenschr. 1918 Sp. 977 f.,
verteidigt seine Lesung, indem er bemerkt, es sei sehr fraglich, ob
das, was für einfache Grabschriften gelte, auch auf metrische, in
daktylischem Versmaß abgefaßte, die aus dem engen Kreis ihres
eigentlichen Sprachgebiets heraustreten, anwendbar sei; übrigens
sei Ti^ivaL ejii xivl gar nicht speziell böotisch; denn es fände
sich auch auf der euböischen Grabschrift JG XII 9, 285. Außer-
dem behandelt er an dem genannten Orte JG XIV 1474 = Kaibel
611 = Cougny II 537 und 516. In der Ergänzung der beiden
letzten Verse weicht Bannier von Kaibel ab; er wünscht (paidiixu)
vlw st. xal Jibg vlco und (xivEi d^ävarog coli. Eurip. Herc. für. 307.
Weiter bespricht er JG IV 177, IX 2, 1098 und IV 1611.
F. Hiller v. Gärtringen, Kallimachos von Aphidnä.
Hermes 54 S. 211, behandelt JG I 350 b Suppl. p. 153 = Hoff-
mann Sylloge 212, eine Weiheinschrift auf einer Hermesstatue,
die nach dem Tode des KalHmachos in der Schlacht bei Marathon
vom Demos durch einen ehrenvollen Zusatz erweitert wurde. Die
Inschrift besteht also aus zwei Teilen, und dementsprechend ver-
fährt Hill er bei der Ergänzung, die er gibt. — Ein attisches
Epigramm aus dem Perserschutte. Ebenda S. 328. Die
Bruchstücke JG I Suppl. p. 41, 373 b und p. 79, 373^ = Hoff-
76 J- Sitzler.
mann 210 und 208 werden von Hill er im Anschluß an Lolling
im KataXoyog xov iv ^&^vaig ^E7tiyQaq)iKov Movoeiov, hrsg. von
P. Wolters 1899 Nr. 237, ergänzt und zu einem Epigramm ver-
einigt. — Weiter wird das Epigramm von Julis JG XII 5 611 =
Geffcken, Griech, Epigr. 74 = Hoffmann 371 von Hill er her-
gesteUt.
H. Pomptow, Delphische Neufunde III. Klio 15
S. 303 f., veröffentlicht eine Anzahl Epigramme, die sich auf Weihe-
geschenke an Asklepios beziehen oder sonst mit ihm in Beziehung
stehen.
E. Preuner, Honestos. Hermes 55 S. 388 f., bespricht
die Epigramme dieses Dichters, der als BvtavTiog oder KoQiv&iog
bezeichnet wird. Zuerst betrachtet er das Epigramm Bull. Corr.
Hell. XXVI (1902) S. 153 Nr. 4, das für die Statuen der Tochter
des Augustus Julia und ihrer zwei Söhne C. und L. Julii Caesax'es
bestimmt war, die im J. 3 oder 2 v. Chr. im helikonisohen Musen-
tale errichtet wurden. Dann stellt Preuner im Anschluß an ein
Epigramm des Honestos auf ein Weihegeschenk des 3. Jahrh.
V. Chr. einen Stammbaum der Attaliden auf. Darauf behandelt er
die Gedichte, die Honestos um dieselbe Zeit wie die auf Julia und
ihre Söhne auf die neun Musen verfaßte. Zu diesen gibt er einige
Verbesserungen und Ergänzungen. Dem Honestos weist Preuner
auch das zweite Epigramm auf Euterpe zu sowie das auf Mnemo-
syne, die Mutter der Musen. Die erste Weihung der Musengruppe
setzt Preuner in den Anfang des 2. Jahrh. v. Chr.; das Stand-
bild der Mnemosyne und der zu ihr gehörigen zweiten Musengruppe
gehört nach ihm einer späteren Zeit an. Zum Schlüsse würdigt
Preuner noch den Honestos als Dichter.
0. Fiebiger, Die Grabschrift des Lakoniers
Epaphrys. N. Jahrb. f. d. klass. Altertum 1916 S. 395 f., ver-
öffentlicht und bespricht die Grabschrift, die aus Hexameter, zwei
immittelbar aufeinander folgenden Pentametern und zum Schlüsse
zwei Hexametern besteht. Epaphrys gehörte nach ihm zu den
Seesoldaten, die im J. 254 n. Chr. von dem Kaiser Gallienus den
von den Herulern bedrängten Athenern zu Hilfe geschickt wurden
und so für die Freiheit Griechenlands kämpften,
Guiel. Vollgraff, Ad epigramma Graecum uuper
in Aegypto repertum (Rev. des etudes grecques 1915 S. 55).
Mnemosyne 47 S. 54, weist auf die Synizese im 5. Verse ^t]f.i7]TQiov
hin und verbessert V. 8 el yovv st. riyovv. — Epigrammata
emendata. Ebenda S. 251, verbessert und ergänzt zwei Epi-
Bericht über die griechischen Lyriker usw. für 1917 — 1920. 77
gramme, die im American Journal of Archaeology 1913 S. 171 und
185 veröffentlicht sind,
Ch. Chariton f. Charitonidis, Epigramma emen-
datum, Mnemosyne 47 S. 116, liest in einem von A. Arvanito-
pulos, OBoauXiAo. ixvr]fxeia p. 123 bekannt gemachten Epigramm:
ipvxijv fxEv iv Eiöof.i£vr] [== TVoXei MaKeöovrKfj] nQoeXivTtaveVj
oGTsa ÖS xtX.
Th. Rein ach spricht in Academie des Inscriptions 1920,
20. Februar, über ein griechisches Epigramm; aber nähere Angabe
darüber kann ich nicht machen, da mir die Zeitschrift nicht zu-
gänglich ist.
Bericht über die in den letzten Jahrzehnten üher Piaton
erschienenen Arbeiten.
Von
Coustantiii Kitter in Tübingen.
(Fortsetzung; s. Bd. 187, 1 ff .)
4. Inhaltliche Einzelbetrachtung.
A. Der älteren Schriften Ms znm Phaidou.
(Pr — Hp II — La — Ch — Eu — Ap — Cr — G- — Me — Eus — Cra —
Hp I — Mx — Ly — Sy — Phn.)
[Die schon im letzten Bericht angewandten Abkürzungen sind bei-
behalten: PI. = Piaton, Sokr, = Sokrates, Ap = Apologia, Ch = Char-
mides, Cr = Kriton, Cra = Kratylos, Cs = Kritias, Eu = Euthyphron,
Eus = Euthydemos, G = Gorgias, Hp I u. 11 = Hippias I (maior) u. IE
(minor), La = Laches, Ly = Lysis, Me = Menon, Mx = Menexenos,
N = Nomoi, Pa = Parmenides, Po = Politikos, Phi = Philebos, Phn ==
Phaidon, Phs = Phaidros, Pr = Protagoras, Rp == (Respublica) Politeia,
So = Sophistes, Sy = Symposion, Ti = Timaios, Th = Theaitetos. Bei
Zitaten aus den Dialogen sind die Hunderter dreisilbiger Seitenzahlen
weggelassen.]
Ich beginne mit dem Protagoras.
Bei Frachter (Überweg) S. 206 sind folgende neueren der Er-
klärung dienenden Schriften nachgewiesen :
Band II von Piatons ausgewählten Dialogen erklärt von H. Sauppe.
4. Aufl. Berlin (Weidmann) 1884.
., IV von Piatons ausgewählten Schriften, für den Schulgebrauch
erklärt von Ch. Cron u. J. Deuschle, 6. Aufl. neu bearb.
V. W. Nestle. Leipzig (Teubner) 1910.
In größerem Zusammenhang ist der Dialog gewürdigt von
Pfleiderer^), Sokrates und Plato, 1896, S. 142. 148. 150 (u. sonst).—
Lutoslawski, Plato's Logic, 1897, S. 205 — 207. — Th. Gomperz,
Griechische Denker II 2, 1903, S. 250—263. — Natorp, Piatos
Ideenlehre, 1903, S. 10 — 18. — Räder, Piatons philosophische Ent-
^) Die hier in zeitlicher Folge aufgeführten Schriften sind auch bei
den andern platonischen Dialogen immer gemeint, wenn nur der Name
der Verfasser, Pfleiderer usw. — Prächter, angegeben wird.
80 Oonstantin Ritter.
Wicklung, 1905, S. 106—111. — Ritter, Piaton I, 1910, S. 309
bis 342. — Windelband-Bonhöffer, Gesch. d, antiken Philos.^, 1912,
S. 150 f. — Pohlenz, Aus Piatos Werdezeit, 1913, S. 77—112. —
V. Arnim, Piatos Jugenddialoge, 1914, S. 1—14. 18—26. 90—94. —
Wilamowitz, Piaton, 1919, S. 187—150. — Überweg - Prächter,
Grundr. d. Gesch. d. Phüos. I^\ 1920, S. 140—144.
Die Echtheit wird heute von keinem vernünftigen Beurteiler
mehr angefochten. Daß es ein Jugenddialog ist, darüber herrscht
auch Einstimmigkeit, v. Arnim will beweisen, es sei überhaupt
Pl.s erste Schrift. Für ganz unmöglich halte ich das zwar nicht,
jedoch V. A.s Beweis hat für mich keine Kraft. Er geht aus von
der Vergleichung mit dem La. Da eine Untersuchung über das
Wesen der Tapferkeit sowohl hier wie dort angestellt wird, meint
er (S. 3): „es muß möglich sein, durch methodische Analyse und
Vergleichung beider Darstellungen zu ermitteln, welche von beiden
früher geschrieben ist. Denn wir glauben nicht, daß ein Schrift-
steller wie PL bei der Ausarbeitung einer zweiten Behandlung des-
selben Gegenstandes die frühere Darstellung ganz unberücksichtigt
lassen kann." Das bestehende Verhältnis ist nun zu beurteilen aus
folgendem (S. 24) : „Daß die avögeia = i7tiGzi]f.ir] tcov öeivwv y.al
fit) öeivcov sei, wird im Pr weitläufig bewiesen ; was aber PI. unter
dieser srciGTiif-iri versteht, bleibt zweifelhaft. Im La dagegen wird
diese Definition der Tapferkeit von Nikias gleich am Anfang seines
dialektischen Gesprächs mit Sokr. wie etwas Bekanntes und aus
der Lehre des Sokr. sich Ergebendes eingeführt. Eine positive
Begründung dieser Definition wird aber nirgends gegeben."
(25) „Schon diese einfache Erwägung kann uns lehren, daß der La
nach dem Pr geschrieben ist. Denn es ist PI. nicht zuzutrauen
und entspricht nicht seinen methodischen Grundsätzen, die Wahr-
heit eines Satzes schon für erwiesen zu halten, wenn sich einige
dagegen erhobene Bedenken als nicht stichhaltig erwiesen haben . . .
Als bekannt setzt PI. in seinen Dialogen, soweit es sich um wissen-
schaftliche Sätze handelt, nur das gelegentlich voraus, was er in
einer früheren Schrift genügend erledigt zu haben glaubt. — Es ist
ferner unverkennbar, daß der La die im Pr gegebene Definition
der Tapferkeit nur mit Vorbehalt billigt; denn es wird gegen sie
von Sokr. selbst ein Bedenken erhoben, das unerledigt bleibt";
nämlich es „ist in dieser Definition die differentia specifica noch
nicht enthalten, welche die Tapferkeit als eine Spezies der Tugend
von ihren übrigen Spezies, wie Gerechtigkeit und Besonnenheit,
unterscheidet. (Daß PI. diesen Einwand für berechtig ansieht und
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten, gl
eine Modifikation der Definition für nötig hält, hätte nie bezweifelt
werden sollen.)" Der Verfasser des La ist in der Erkenntnis weiter
fortgeschritten. Nur seine Dialogperson (27) „Laches steht auf dem
Standpunkt, dem im Pr alle Anwesenden zustimmen, daß das Gute
im Grunde mit dem Angenehmen identisch sei ; Nikias hingegen
meint ein höchstes Gut, das nicht auf einer günstigen Lust-Unlust-
Bilanz beruht und auf äußeren Erlebnissen, die der Seher voraus-
sagen kann, sondern auf der Beschaffenheit der Seele selbst. Gut
und heilsam ist nach dieser Auffassung dem Menschen vor allem,
was seine Seele aus moralischer Verderbnis rettet". Das Furchtbare
und Nicht-Furchtbare bekommt damit einen Sinn, „den man im Pr
nur ahnen kann, aber nirgends mit Händen greift". Und so muß
denn eben „der La nach dem Pr geschrieben sein, weil er das,
was wir als Pl.s spätere Lehre kennen, klarer macht". Besonders
lehrreich ist der Abschnitt des La, der Beispiele einer qtQoviftog
'/.aQTEQia anführt, die nicht avögeia ist. Das erste, eY zig •/.agregEl
araXloy-iüv agyigiov cpQOviuwg, elöcbg ort uvaXiöaag rcXtov Iv.xxfiE-
xai (31), „richtet sich direkt gegen die hedonistische Tugendlehre
im Pr, welche das Wesen des tugendhaften Handelns im Voraus-
wissen des äußerlichen sinnlichen Vorteils erblickt (56 b)". Eben
„diese Theorie der Tugend will PI. durch seine Beispiele lächerlich
machen". Das Bezeichnende der ganzen Reihe von Beispielen ist,
„daß PI. den im Pr gemachten Unterschied von d'UQQaXeoi cctto
Ttyj')]g und dvögeioi f-iexa /.teTQrjTr/.rig 8Tiiozyji.n]g nicht mehr auf-
recht erhält, sondern beide Erscheinungen unter einem einheitlichen
philosophischen Gesichtspunkt zusammenfaßt". Man soll sehen, daß
er es aufgegeben hat, die fachliche eV/ ff r/y7^/; xtov dsivwv von der
allgemeinen f.ieTQf^tf/,ij zu unterscheiden. „Diese Betrachtung", meint
V. A., „muß jedermann überzeugen, daß der La geschrieben ist, um
das Rätsel zu lösen, das PI. seinen Lesern im Pr aufgegeben hatte."
Freilich ist er gar nicht der Meinung, daß PL, wie er den Pr
schrieb , von der Tugend wesentlich anders gedacht habe als zur
Zeit, da er ihm den aufklärenden La nachschickte. Der Beweis,
urteilt er, den Sokr. gegen Pr führt, um zu zeigen, auch die Tapfer-
keit, wie jedes andere Stück der ageirj, sei ihrem Wesen nach
W^eisheit, könne nicht ernst gemeint sein. Er erklärt zwar selbst :
„in gewissem Sinn hat PI. immer das sokratische Paradoxon, daß
Tugend Wissen ist, vertreten", in dem Sinn nämlich, daß er „ein
Wissen , gegen das sich die Triebe auflehnen , nicht als echtes
Wissen gelten lassen will". Er erkennt auch an, daß der Satz aus
Pr 58 c ov'K loTL tovzo ev avd^gwrcov cfvoei, stcI a oilezai y.axa
Jahresbericht für Altertumswissenschalt. Bd. 191 (1922. I). 6
82 Canstantin Ritter.
elvai ed^iXeiv levai avil ayad^iov „ein Kardinalsatz der platonischeii
Ethik" ist. Dessenungeachtet vertritt er die Ansicht, PL spiele
im Pr nur mit dem hedonistischen Gedankengang, um den Sophisten
in Verlegenheit zu bringen, der nicht imstande sei, eine Theorie
der Ethik aufzustellen, die über die verworrenen Meinungen der
Menge hinausführe. Er mahnt (11), zu beachten, wie im Streit
überall nur bewiesen wei'de, daß die noXXol auf seine Fragen nach
der Begründung des Guten stets schließlich auf das Angenehme
zurückgreifen und unfähig seien , ihm eine selbständige Bedeutung
zu geben , „und Pr ist in diesem Punkte elq tcov ttoXXiöv. Daß
aber auch Sokr. selbst diese Unfähigkeit teilt, ist mit keinem Worte
angedeutet". Und indem er andere Dialoge heranzieht, behauptet
er, im G werde „auf einen ziemlich eristischen Beweis hin die
Verschiedenheit des Angenehmen vom Guten konstatiert", und das
erkläre sich eben am leichtesten daraus, daß „dieser Gegensatz von
vornherein das jtou öTw des platonischen Philosophierens gebildet
hatte". Vom Ph aber urteilt er, daß dort genau die hedonistische
Theorie des Pr bekämpft werde, in einer Weise, durch die PL sich
selbst beschimpft und herabgewürdigt hätte , wenn diese Theorie
früher ein Stück seiner eigenen Überzeugung gebildet hätte.
Ich bin über diesen wichtigen Punkt ganz anderer Meinung:
Das Verständnis wird dadurch erschwert, daß der junge PL starken
Widerwillen hegt gegen die Prägung fester Wortbezeichnungen
wegen der Gefahr , daß sie zu gedankenlosem Nachsprechen der
Worte eines Meisters verleiten. So kritisiert er zwar oft mit aller
Schärfe die in der gemeinen Sprache üblichen Bezeichnungen, um
darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht scharf und klar sind,
aber er verschmäht es doch nicht , sie vorher und nachher im
üblichen Sinn zu verwenden. Für den Verstand des gemeinen
Manns sind rjdc, dyad-ov, -/.aXov getrennte Begriffe und steht das
rjdv oft im Gegensatz zum ayaS-ov. Jeder — dies legt uns PL im
9. Buch der ßp dar — fühlt von Kind an die Süßigkeit der sinn-
lichen Lust ; viele lernen bald auch die schmeichelnde Befriedigung
des Verlangens nach Anerkennung und Bewunderung durch andere
kennen; nur wenige machen, sich selbst überlassen, allmählich die
Erfahrung, daß es eine Befriedigung gibt, die weder sinnlicher Art
noch von dem Zoll der Zustimmung anderer Personen abhängig ist.
Und doch ist diese, den meisten wenig bekannte, Befriedigung die
nachhaltigste und beglückendste. Das ist Pl.s Glaube, den er von
Sokr. übernommen und sein ganzes Leben hindurch festgehalten
und verkündet hat, mit besonderem Nachdruck im G, in der Ep
Ber. über d. in d. letzten Jalirzeliiiteii über PI. erschienenen Arbeiten. 83
und den N. Ich fühi-e zu der vom Verf. selber (9 f.) aus N 689 a
angezogeneu nur 3 weitere Stelleu au. An der ersten , Rp IX
80 b c, spricht PI. mit auffaUeuder Feierlichkeit und legt, nur durch
einen ganz leichten Schleier verhüllt, ein persönliches Bekenntnis
zum Eudämonismus ab (o ^QiOTOJVog v\dg tbv agiaror '/.al dr/.aio-
xaiov eiSaif.ioi'eotazov k'/.Qire). Der Wortlaut der zweiten, 583 a,
gibt uns die Berechtigung, den Standpunkt des Verfassers der ßp
genau mit der Kennzeichnung zu versehen, die v. A. der im Pr von
Sokr. entwickelten Theorie gibt, nämlich „hedonistischer Utilismus".
Die dritte aber, die über mehrere Kapitel in den N sich erstreckt
(Buch 2 K. 7 — 11), zeigt, daß auch der greise PI. diese ethische
Theorie noch festgehalten hat, und ist besonders geeignet, den Sinn
der G-Beweise, die man dagegen kehren will, aufzuhelleu. Ich ver-
weise auf meine Inhaltsdarstellung der N (Leipzig 1896, S. 13 f.),
deren Sätze ich hier vollständig abschi-eiben müßte, um aUes deut-
lich zu machen, außerdem auf meinen Piaton I S. 319 ff,, 333 f.,
447 ff., wo ich zu zeigen gesucht habe, daß weder die Beweis-
führung des Pr noch die des G von den sie bekrittelnden Gelehrten
richtig verstanden wird. Mit der aUerstrengsten Strafe wird in
jenem Abschnitt der N der Dichter bedroht, der sich herausnähme
zu sagen, wg elol rivsg avd^QWjioi rror« novr^Qoi fiei', t^idicog ös
CtovTEg, ij XvoixEXoirxa (.lev alXa iavl v.al yiegöaXta, öiÄaiOTBQa ds
aX?M-, der dixaioTazog ßiog ist zugleich r^dioxog, der aöi/.og ßlog
oc (.lovov aloxiiov xal jiiox^rjQoieQog aXXa xal ca^öeazEgog t^ ah]-
^eia Tov öi/miov xe xai boiov ßiov. Kein Vater kann seinen Kindern,
kein wohlmeinender Gesetzgeber den Bürgern etwas vorschreiben
und anempfehlen, wovon er überzeugt wäre, daß es ihr Glück be-
einträchtigte. Und woUte einer das, so wäre es umsonst, ovöelg
yccQ av hvMV sd'eloi nei&eadai Ttgdxxeiv xovxo, oxcp /.aj x6 ^ß/^fitv
xov XvTiEiadai nXeov euexai. Und es läßt sich rein nicht finden,
was an dem ayad^öv oder y.a?<,6v lockend und rühmenswert sein
soUte als eben die rjöovij, die drinnen steckt (xl yag dr^ öi/iai(L)
XCüQitofiEvov rjöovr^g ayai^ov av yiyvoixo;) Wer diese Kapitel der
N (und dazu die Ep und den Phi) beherzigt , kommt mit dem
üblichen Versuch, den Piaton von dem Vorwurf des „Hedonismus"
zu entlasten, wirklich nicht aus und verrät nur, daß er die Frage
nicht in ihrer ganzen Tiefe erfaßt hat. Daß die iiexQ)^xr/.ij r£/v//
im Pr, die v. A. (14) für ein „unsinniges Projekt' erkläi't, wiiklich
ernst zu nehmen , das dürfte auch aus Vergieichung zwischen
Pr 56 b ff. und Phi 41 e, N 663 b (nebst Rp VII 23 b) sich ergeben i).
') Man vergleiche auch Cicero Off. in, 8, 11.
84 Constantin Ritter.
Im einzelnen möchte ich noch verschiedene Sätze beanstanden.
S. 5 sagt V. A., im La werde bewiesen , daß wer ohne fachliche
Ausbildung im Schwimmen oder im Reitergefecht mutig ausharrt,
„mehr Anrecht auf den Namen eines Tapferen hat , als wer dies
auf Grund seiner Fachkenntnis tut". Und diese Ansicht, erklärter,
sei nicht nur e\'ident richtig, sondei'n stimme auch, im Gegensatz
zu dem , was der Pr über die Sache bemerke , mit Pl.s späterer
wohlbekannter Auffassung überein. Ich vermag in den Ausführungen
des Pr und La so wenig einen sachlichen Gegensatz zu finden, daß
ich vielmehr meine , nur durch ihre Vereinigung könne Pl.s Auf-
fassung beschrieben werden. Mutig oder tapfer sind durchaus nicht
alle Leute, deren Verhalten der Menge Bewunderung abnötigt. Wer
die Lebensgefahr gar nicht kennt , in die er sich begibt und des-
halb vor dem Tod, den andere für ihn fürchten, keine Angst hat,
legt mit seinem Bestehen der Gefahr keine wirkliche Probe von
Mut ab. Das betont der Pr. Und anderseits, das belehrt uns der
La: wer so gut auf die Bestehung einer Gefahr eingeübt ist, daß
er sich so ziemlich darauf verlassen kann, in ihr nicht unterzugehen,
für den ist es auch keine Heldentat, wenn er sich ihr aussetzt.
Demnach: nur wo wirkliche Gefahr droht und von dem Bedrohten
klar erkannt ist, ist überhaupt der Boden für die Bewährung von
Tapferkeit. Und da gilt dann allerdings : je größer die Gefahr ist,
desto größer die Tapferkeit. Für den Ungeübten aber ist sie größer
als für den Geübten. Auch mir scheint es absichtliche Zurück-
haltung, daß der Pr nur eine einseitige Auffassung gibt. Aber
ich meine , auch der La ist einseitig und verlangt vom Leser Er-
gänzungen. Auch sein Sokr. ist „mehr Elenktiker, der den Leuten,
am liebsten den sich weise düukenden, ihren Mangel an echtem
Wissen nachweist, indem er sie in Widersprüche mit ihren eigenen
Behauptungen verwickelt". Denn wenn La 93b nach Gegenüber-
stellung eines, der dem Gegner Stand hält, weil er weiß und q^go-
vt[.icog loyiLo/uevog sich vorhält, er selber sei tüchtiger zum Kampf
tind habe alle möglichen Vorteile für sich, und eines anderen, der unter
ungünstigen Verhältnissen gleichfalls aushält, uns sagt : affQOVEOvtQa
ya 7j zovTOV r; 7^ xol iitqov Kagzegia, so gilt das doch nur, so lang
man außer Acht läßt, was das wirklich Furchtbare ist. Das ist
eben nicht der Tod, und auch Wunden und Gefangenschaft sind es
nicht. Denn sie gehen den Zustand der Seele nichts an, treffen
nur den Körper. Die f.iETQr^Tiy.Tq des S7tiOT7]i.uov läßt sie , an den
Gütern und Übeln der Seele gemessen, zu voller Bedeutungslosigkeit
zusammenschrumpfen. Wenn also jeder der beiden Dialoge aus
Bei", über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 85
dem andern seine Ergänzung erhält, so ist über ihr zeitliches Ver-
hältnis von da aus nichts zu entscheiden.
Habe ich mit diesen Ausführungen Recht, so fallen die meisten
chronologischen Folgerungen um , die v. A. über das Verhältnis
zwischen Pr, La, G und Rp I aufgestellt hat. Sehen wir aber
nach weiteren Einzelheiten.
S. 14 knüpft V. A. an die Erklärung des Sokr. im Pr, atoTrjQia
lur ßiov könne nur eine Meßkunst bringen, die offenbar eine
Wissenschaft sein müsse, die Frage an, ob PI, über die Schwierig-
keiten der Begründung der geforderten Wissenschaft so leicht
hiuweggleiten könnte, „wenn er eine für die Ethik grundlegende
Erfindung gemacht zu haben glaubte". Würde er dann nicht, wie
in Rp V, beflissen sein , die Durchführbarkeit seines Planes zu
beweisen? Ich erinnere ihn daran, daß er selber im Vorwort (V)
uns belehrt: .,Die erste Schriftenreihe ist bestimmt, durch Kritik
der im Volke verbreiteten oder von anderen Philosophen vertretenen
ethischen Ansichten die Leser schließlich auf den Punkt zu treiben,
von dem aus der Grundgedanke der platonischen Philosophie , die
Realität der Ideen, begriffen werden kann. Darin liegt ihre große
Bedeutung. Sie sind Prolegomena zur Ideenlehre." Das soll gelten.
Aber sollte dann nicht die Bedeutung des Pr darin liegen, daß er
Prolegomena zur Ethik geben will?
Daß ich so ziemlich mit allem, was v. A, S. 15 — 23 über das
Verhältnis der Lehre vom Guten oder der Tugend, die der Phn
und die Rp geben, zu den Ausführungen des Pr nicht einverstanden
bin, ergibt sich aus dem schon Bemerkten.'
S, 28 behandelt v, A. die Worte d^gaoig und d^aggaliog als
gleichsinnig. Dann allerdings ergibt sich ein Gegensatz zwischen
Pr und La. ., Während bei Protagoras die avÖQsloi eine besondere
Spezies von d^aQQa?JoL bilden, schließen sich bei Nikias die Begriffe
d-gaacg und ardoelog gegenseitig aus. Bei ihm ist die d^QaavTr]g
immer mit a7tQ0i.ir]&ia verbunden, während es bei Protagoras d-agga-
?Joi aitb Tix^'r^g gibt, ein Fall, der im La nur in dem Laches-
gespräch 93 b berücksichtigt wird. Die O^Qaaeig des Nikias umfassen
nur die ^aQQa?Joi cctto S^vf^ov y,al ano [.laviag des Protagoras. Es
ist also klar, daß die Distinktion der Begriffe im La eine andere ist
als im Pr. Nur die im La ist platonisch. Zu ihr stimmt die Stelle
im Me 88 b, nach welcher diejenige avögela, die nicht ^^ovrydtg ist,
alX^ oiov d-aoQog ti, bald schadet, bald nützt. Um zu nützen, muß
sie sich mit dem vocg verbinden," Ein i^oQQog, das schadet oder
schaden kann, ist keine agezrj, verdient also, trotz der Bewunderung,
86 Constantin Ritter.
die die noXXol dem d^gaavg, dem tollköpfigen Draufgänger, zollen
mögen , den Namen avÖQEia nicht. Auch im Pr sind die Begriffe
■i^gaovg und avögtlog unvereinbar und der Me ist mit ihm so gut
in Übereinstimmung wie mit dem La.
S. 35 ergeht sich v. A. in allgemein gehaltenen , voi-wiegend
psychologischen Beti'achtungen , die zeigen sollen , „wie geeignet
der Pr ist, als der erste sokratische Dialog Pl.s zu gelten": „Es
ist unwahrscheinlich, daß PL sein erstes Werk, durch das er den
sokratischen Dialog als Kunstform der philosophischen Literatur
kreierte, nicht dazu benutzt haben sollte, die philosophische Schrift-
stellerei , die er plante und begann , im Gegensatz zu allen schon
vorhandenen philosophischen Werken hinsichtlich ihrer formalen
und inhaltlichen Eigenart zu rechtfertigen. Zweierlei müssen wir
a priori von dem ersten philosophischen Dialoge Pl.s erwarten:
1. daß er die dialogische Kunstform als die beste für philosophische
Untersuchungen erweise, so daß der Leser deutlich erkennt, warum
PL dieser Form vor dem zusammenhängenden dogmatischen Lehr-
vortrage und überhaupt vor allen übrigen Lehrformen den Vorzug
gibt, 2. daß er den Leser über die Aufgaben, die sich PL als Philo-
soph stellt, unterrichte. Wir erwarten, daß der erste sokratische
Dialog in Ansehung der Kunstform sowohl wie des philosophischen
Inhalts einen programmatischen Charakter zeige." Erwarten wii*
das wirklich ? Und müssen wir, wie v. A. meint, die Hauptabsicht
des ganzen Dialogs darin erkennen, daß PL „seine eigenartige philo-
sophische Methode und seine eigenartige Auffassung von den Auf-
gaben der Philosophie veranschaulichen" wollte, „indem er sie den
Methoden und Auffassungen der anderen Philosophen so gegenüber-
stellte, daß ihr Vorzug in die Augen sprang" ? Und wenn dem so
wäre, sollte der jugendliche Künstler, der seine Tragödien ver-
brannte und zur dramatischen Gesprächsbehandlung der Fragen
überging, die ihm durch Sokr. die wichtigsten geworden waren, vor
allem das Bedürfnis empfunden haben, die Leser möglichst genau
über seine schriftstellei'ischen Absichten aufzuklären? Zur Ein-
führung in eine ganze Reihe sachlich zusammenhängender Dialoge
— des La Ch Eu samt Rp I und Eus und Me — , meint v. A.,
„eignet sich kein anderer Dialog als der Pr, weil er das Thema
aufstellt, zu dem die anderen einzelne Beiträge liefern". Ja wohl.
Allein wenn v. A. fragt: „Oder wäre es angemessener gewesen,
wenn PL mit einer Spezialuntersuchung über eine einzelne Tugend
seine Schriftstellerei begonnen hätte?", so meine ich, wir kommen
mit dem Gesichtspunkt der Angemessenheit nicht durch. Und die
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 37
Antwort befriedigt mich darum gar nicht , die er selber sich gibt
mit den Worten: „Gewiß nicht! Denn immer gibt uns in der
Wissenschaft der Ausblick in weite Gefilde und der Aufblick zu
hohen Zielen erst den Mut und die Kraft zu der mühsamen Arbeit
im einzelnen und kleinen." PI. sucht wohl von Anfang an wissen-
schaftliche Klarheit und dringt, nach Sokr.' Vorgang, auf die Not-
wendigkeit, sie zu schaffen. Aber sein erstes Anliegen ist, diesen
seinen Meister uns zu zeigen. In diesem Sinn ist sowohl der Pr
geschrieben als der La. Und wenn man fragt, welcher der beiden
Dialoge eben dieser Absicht am besten entspreche, so möchte ich
urteilen : der La. So habe ich ihn in meinem Piaton dem Pr voraus-
gestellt mit der Begründung (S. 294:) „Es ist recht, als ob hier
Sokrates seinen Mitbürgern , die ihn noch verkennen und seine
schlichte erzieherische Arbeit übersehen, zum erstenmal vorgestellt
werden sollte als der Mann, der stets mit den Fragen des Jugend-
unterrichts sich beschäftigt und am zuverlässigsten über das, was
not tut , belehren kann , obgleich er es ablehnt , als Lehrer und
Autorität anderen gegenüber aufzutreten."
Auch Wilamowitz stellt den Pr dem La voraus, nur stellt
er ihn nicht ganz an den Anfang der Schriftstellerei Pl.s. Er
schreibt (I 144): „Die Exposition gibt uns ganz deutlich an, was
der Dialog will, die Weisheitslehrer vorfühi-en, wie sie sind, damit
wir uns ein Urteil über den Wert ihrer Ware bilden." Aber aus-
gesprochen wird das Urteil nicht. „Sokr. traut sich das ja selbst
nicht zu. Er ist zu jung, sagt er. In der Tat. PI. führt seinen Lehrer
in den Jahren ein, da er noch kein bekannter Mann war ; er macht
ihn sogar mit Absicht etwas jünger, als er war, da Protagoras sein
Vater sein könnte, 17 c. Damit ist ausgeschlossen, daß es auf die
Lehren ankommt, die Sokr. vortragen wird ; die Verkehrtheit springt
in die Augen, wenn uns zugemutet wird, PI. hätte den Dialog ge-
sclii'ieben, um seine Ansicht über das Verhältnis der Tugenden zu-
einander oder über ihre Lehrbarkeit auseinanderzusetzen; da hätte
ja der größte Teil der Schrift nur den Wert eines hübschen aber
entbehrlichen Beiwerks . . . Wenn der Dialog eine praktische Folge
haben soll, kann er nur dazu auffordern, statt der Sophisten den
Umgang mit Sokr. zu suchen; denn eine Lehre, die auch von dem
Toten herstammend empfohlen werden könnte, gibt es nicht von
hm. Schon darum ist der Dialog notwendig geschrieben, als Sokr.
noch lebt. — Die Eingangsszene lehrt uns noch mehr: sie lehrt
uns, wie PI. dazu gekommen ist, den Pr zu schreiben. Wer ist
denn der wässenshungrige Jüngling eigentlich, den Sokr. davor be-
88 Constantin Ritter.
wahrt, sich eleu Sophisten unbesehens gefangen zu geben? Spüren
wir nicht des Jünglings PI. eigene Erfahrungen ? So leidenschaft-
lich ist er noch kürzlich hinter allem hergewesen, das zu lernen
war: so unbesinnlich, wie er sich jetzt eingestanden hat. Wer hat
ihm zur Einsicht verholfen? Bei Sokr. hat er es gelernt; den hat
er in den Gymnasien mit den weisen Männern disputieren gehört
und sich gefreut, wenn er sie abtrumpfte; der hat ihn unter vier
Augen cemahnt, bei allem an das Heil seiner Seele zu denken.
Das also drängt es ihn darzustellen. In ihm aber ist die echte
Gestaltungskraft des Dichters. Darum erfindet er sich einen Zu-
sammenstoß des Sokr. mit Protagoras selbst, in dem er mit Recht
den Fürsten der Sophistik erkennt; die anderen stehen neben und
hinter ihm, weil die ganze modische Bildung als solche abgelehnt
werden soll. PI. ist mit dieser Phase seines eigenen Lebens fertig;
er schreibt sie sich von der Seele. Daß er sie los ist, dankt er
dem Sokr., und auch das muß er schreiben." (150 f.) Der Pr und
die „kleinen Schriften, die als Trabanten diese Sonne umkreisen"
— W. versteht darunter den Hp II und den lo — „sind die
Zeugnisse für die Jahre 403 — 400, die Zeit, da er sich im Um-
gange mit Sokr. bildet, ohne doch recht zu wissen, wohin er sein
Leben richten wird. Aber in der Ahnungslosigkeit ist er glücklich ;
in übermütiger Laune wirft er die Bilder des dummstolzen Virtuosen
und des geckenhaften Professors hin. Er hat das Feld gefunden,
auf dem er sein dramatisches Talent frei tummeln kann und los-
werden, was er auf dem Herzen hat ... In keuscher Verhüllung
kommt auch die Verehrung und Liebe zu Sokr. , seinem Seelen-
führer, zur Erscheinung. Aber das scharfe Auge des Satirikers hat
auch die charakteristischen Züge an ihm bemerkt , über die zu
lächeln verstattet ist, und sie dürfen nicht fehlen, wenn auch leise
angedeutet." In der Hauptsache finde ich mich mit diesen Darlegungen
in Übereinstimmung. Nicht ebenso mit den Bemerkungen, die W.
über die philosophischen Gedanken des Pr macht. Bezüglich der
Lehrbarkeit der Tugend meint er (149): „PI. ist mit sich selbst
nicht im reinen; es dauert noch lange, bis er imstande ist, im Me
die Lösung zu geben." Weiter bemerkt er — hierin z. B. mit
V. Arnim übereinstimmend — : „Daß die Behandlung der Tapferkeit
ihm selbst nicht genügte, hat PI. durch die erneute Darstellung im
La eingestanden. Der ganze Beweis ruht auf der Gleichsetzung
des Angenehmen mit dem Guten, d. h. Zuträglichen . . . Auf dem
Wege wird erhärtet, daß die Tugend Wissen, also lehrbar' ist, also
auch die Sophisten als Lehrer berechtigt sind. Kein Wunder, daß
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 89
sie begeistert zustimmen (58 a). So redet dieser Soki\ Wir mögen
immer sagen, er wii'd wissen, daß das wahrhaft Angenehme nur das
sittlich Gute ist, so daß dieser Hedonismus nicht sittlich schädlich sein
wird: dann bleibt es doch dabei, daß von dieser Hauptsache hier nichts
steht, und daß kein Leser sich mehr daraus entnehmen konnte, als daß
Sokr. sich auf den Standpunkt der Sophisten stellt, um den Protagoras
zu besiegen, also den Sophisten in ihrer Kunst überlegen ist. PI. hat
es sich angelegen sein lassen , diese seine Gleichsetzung von An-
genehm und Gut (Nützlich) immer wieder zu berichtigen, im G und
noch im Phi. Er war ehrlich. Dagegen täuscht sich selbst jede
Exegese, die darauf aus ist, ihm hier das unterzuschieben, was er
später einmal wissen und sagen wird . . . Auch wenn Sokr. nicht
mehr sein sollte, als hier gezeigt wird, empfinden wir die Mahnung
als berechtigt, die wir empfaugen, laßt ab von den Sophisten, folgt
dem Sokr. Nun ist das hier noch der junge Sokr. ; er konnte als
Pl.s Lehrer dazu fortgeschritten sein, wirkliches Wissen zu über-
mitteln. Sei dem so ; dann hat PI. es darzustellen entweder nicht
gewagt, oder er hat es nicht gekonnt. Sein Pr zeigt nur den
Sokr. , der die Sophisten mit ihren Waffen schlägt ; was sonst in
ihm steckt, läßt das Eingangsgespräch erkennen. Darin sehen wir,
was er dem PI. gewesen war, der Retter von dem falschen Bilduugs-
weg, der Führer zur Sorge um die eigene Seele."
In der Beurteilung der entwickelten Lehre vom Guten berührt
sich mit v. Arnim Natorp (S. 17): „Auf welche Erkenntnis ... es
ankommt, das bleibt hier noch ganz unbestimmt. Nur aus Voraus-
setzungen des Gegners, die denen des Sokr. selbst (52 b ff.) schnur-
stracks entgegengesetzt sind, wird die Folgerung hergeleitet, daß es die
messende Erkenntnis der größeren und kleineren, näheren und ent-
fernteren — Lust und Unlust sei . . .. endgültig aber soll unbedingt
nicht diese Erkenntnis es sein, mit der die Tugend eins ist, sondern
es wird die Frage, welche Erkenntnis es sei, ausdrücklich noch
als offen bezeichnet (57 b) und jene Folgerung fort und fort nur
auf die Voraussetzungen des Gegners gestützt , der dadurch ge-
nötigt wird, sogar von seinen eigenen Prämissen aus zuzugeben,
daß Tugend Erkenntnis sei." Für die Zeitbestimmung des Dialogs
aber stellt N. eine eigentümliche Berechnung an: „Die zeitliche
Stelle des Pr" erklärt er S. 15 für „fraglos bestimmt. Er liegt
voraus dem Me und überhaupt allen übrigen Schriften außer der
Ap und allenfalls dem Cr, den man von der Ap ungern trennt.
Denn er ist die einzige Schrift, welche die in der Frage der Lehr-
barkeit der Tugend schroff' verneinende Haltung der Ap festhält,
90 Constantin Ritter.
wenngleich schon zum Problem macht. Das Thema selbst aber
legt die Vermutung nahe, daß die Schrift mit der Eröffnung des
platonischen Wirkens in Athen ungefähr zusammentrifft . . . Sind
nun Ap und Cr als Denkschriften, die auf die Ereignisse des Jahres
399 den unmittelbarsten Bezug haben, jedenfalls diesen Ereignissen
möglichst nahe zu rücken ; ist andrerseits für den Me, dem der Pr
jedenfalls vorangeht, an dem meist angenommenen, ganz wohl halt-
baren Termin 395 festzuhalten, so darf man den Pr füglich als die
Schrift ansehen, mit der sich PL, nach nicht zu langer Abwesenheit
398 oder 397 heimkehrend, in seiner Vaterstadt wieder einführte
und sein Wirken daselbst eröffnete. — Jedenfalls passen in dies
Stadium die unscheinbaren Ansätze des Pr zur eigentlich logischen
Forschung ..." Für mich ist dieser Ansatz ganz unannehmbar. Ein,
zwei Jahre nach dem Tod des Sokr. soll PI. den leichten Ton des Pr
angeschlagen haben? Dann müßte man weiter gehen und wie Pfleiderer
erklären, die A^erstimmung, die im G und anderen späteren Dialogen
zutage tritt, kann nicht von der Verurteilung des Soki\ herrühren.
Räder gibt als „sokratische Dialoge" Ap lo Hp II La Ch Cr.
Dann läßt er in einem neuen Kapitel Hp I Pr (und weiter G)
folgen. Er erklärt, der Pr bezeichne „einen direkten Fortschritt
in der Entwicklung von Pl.s Philosophie". (107) Früher sei wohl
die Bedeutung der Sachkunde öfters betont worden. Jetzt werde
die Frage erhoben, ob es auch in der Staatsleitung eine eigentliche
Sachkunde gebe, und ob die Politik eine Kunst sei, die sich lernen
lasse. Ferner (110 f.) „im Pr werden die im La und . Ch ge-
wonnenen Ergebnisse zusammengefaßt und generalisiert. In diesen
beiden Dialogen war gezeigt worden , daß Tapferkeit und Sittsam-
keit das Wissen vom Guten und Üblen voraussetzen; jetzt wird
gezeigt , daß dieses Wissen der Tugend überhaupt gleichkommt.
PI. hat einen Schritt über den Standpunkt des La und des Ch
hinaus getan ; denn dort wagte er es noch nicht , die genannten
Tugenden mit dem Wissen vom Guten und Üblen geradezu zu
identifizieren. Im La wurde es als ausgemacht betrachtet , daß
die Tapferkeit ein Teil der Tugend sei; hier wird mit größerer
Bestimmtheit gefragt, ob die verschiedenen Teile gleichartig oder
ungleichartig seien. Die Antwort lautet, daß sie als gleichartig
betrachtet werden müssen." Er findet übrigens: „Die Beweis-
führung des Sokr. ist in mehreren Punkten recht mangelhaft; PL
hat sie jedoch wahrscheinlich als in der Hauptsache zureichend
angesehen." Dem 30b ff. geführten Beweis für die Identität von
Gerechtigkeit und Frömmigkeit glaubt er zwei logische Fehler
Ber, über d. in d. letzten Jahrzehuten über PI. erschienenen Arbeiten. 91
nachweisen zu können, von denen der zweite auch im Hp I stecke :
„1. eine Verwechslung kontradiktorischer und konträrer Gegensätze
(eTSQOv und iravTiov)., indem das Nicht-Gerechte dem Ungerechten
gleichgesetzt wird; 2. eine Verkennung der Bedeutung der logischen
Kopula, die so aufgefaßt wird, als ob sie die Identität von Subjekt
und Prädikat beweise." „Ebenso unglücklich" sei der nachherige
Beweis für das Zusammenfallen von Weisheit und Sittsamkeit.
Ich habe Piaton I S. 317 ff. und S. 332 ff. die Schlüsse des Pr
näher untersucht und bin zu dem Ergebnis gekommen: „Ich finde
hier die modernen Erklärer völlig im Unrecht, die dem PI. logische
Fehler schuld geben." Das wei'den mir die Betreffenden zwar übel
nehmen , denn auf dem Gebiet der Logik läßt sich niemand gern
zurechtweisen, nur bin ich damit nicht widerlegt.
Freilich auch Th. Gomperz gehört zu denen , die bei aller
Bewunderung für die Feinheit der Gesprächsführung und Personen-
zeichnung im Pr als Logiker seinen Verfasser glauben meistern zu
müssen. (254:) „Die Argumente," schreibt er, „die Sokr. dem
Sophisten zunächst entgegenhält, sind von auffallender Schwäche.
Er fragt ihn , ob die Gerechtigkeit gerecht sei , was dieser nicht
leugnen zu dürfen glaubt, da er sie sonst für etwas Ungerechtes
erklären müßte. Eine völlig analoge Frage wird in betreff der
Frömmigkeit gestellt und in gleicher Weise beantwortet. Sokr.
fährt zu fragen fort; und die Scheu vor der Behauptung, daß die
Gerechtigkeit etwas Unfrommes oder die Frömmigkeit etwas Un-
gerechtes sei, führt zur Bejahung auch der Fragen, ob die
Gerechtigkeit fromm und die Frömmigkeit gerecht sei. Damit
scheint aber zwischen diesen zwei Tugenden wenigstens ein Band
geschlungen zu sein, das ihre Wesensverschiedenheit ausschließt."
— Aber „so wenig es einen Sinn hat, zu sagen: Die Rundheit ist
rund oder die Röte ist rot , ebenso wenig können wir die Ge-
rechtigkeit gerecht oder die Frömmigkeit fromm nennen. Die Ab-
lehnung solch eines Urteils schließt keineswegs in sich , daß wir
der Gerechtigkeit das Prädikat 'ungerecht' oder der Frömmigkeit
das Prädikat 'unfromm' zuerkennen . . . Ebensowenig selbst-
verständlich ist es , daß der Gerechtigkeit das Prädikat 'fromm'
oder umgekehrt zukomme. Die Frömmigkeit gerecht zu nennen,
erscheint geradezu als sinnlos . . . Von noch gröberer Art ist
der zweite in diesem Zusammenhang begegnende Fehlschluß. Die
Wesensgleichheit von Weisheit und Sophrosyne soll daraus er-
hellen, daß ein griechisches Wort, welches wir durch 'Unbesonnen-
heit' widergeben dürfen (Aphrosyne), bald als Gegensatz der
92 Constantin Eitter.
Einsicht (der 'Besonnenheit' im rein intelleJituellen Sinne), bald als
Gegensatz der Sophrosyne (der 'Besonnenheit' im moralischen Sinne)
gebraucht wird. Durch den Hinweis darauf, daß jeder Begriif nur
einen, nicht aber zwei Gegensätze besitze , wird jener Beweis er*
bracht. Hier dient, wie wir kaum zu sagen brauchen, der Mangel
einer scharfen Umgrenzung jenes Wortbegriffes dazu, einen Beweis
zu schaffen, der sofort hinfällig wird, sobald wir uns der schwankenden
Gebrauchsweise oder des Doppelsinns des Wortes bewußt werden.
Derartiges könnte PI. vielleicht von Prodikos lernen, wenn er dessen
'Weisheit' mit minderer Geringschätzung betrachtet hätte. Hier
begeht er trotz all seines Genies ganz eigentlich einen Fehlschluß
von jener Art, welche die Kunstspi^ache der Logiker als Äquivokation
bezeichnet. Obgleich PI. mitunter schwache und selbst trügerische
Argumente mit Bewußtsein anwendet, so kann doch davon unseres
Erachtens diesmal nicht die Kede sein. Denn es fehlt im folgenden
an jedem Winke, der den Leser darüber aufklären konnte, daß ent-
weder ein Fehlschluß zu scherzweiser Verwendung gelangt ist oder
doch wenig besagende Beweisgründe gleichsam als Plänkler den
ernstgemeinten und schwerwiegenden vorangeschickt wurden. Nichts
Derartiges findet statt. Vielmehr wird die Ratlosigkeit des Protagoras
als eine wohlbegründete dargestellt, und sie ist es, die alsbald
zu einer ganz eigentlichen Krise des Gespräches führt."
Leider läßt uns Lutoslawski, bei dem man wegen des
Titels seines Buches eine genauere logische Würdigung erwarten
sollte , bezüglich des Pr fast ganz im Stich. Er gönnt ihm nur
etwa zwei Seiten und speist uns auf diesen mit ziemlich nichts-
sagenden Bemerkungen ab: „Auch in diesem Dialog werden logische
Fragen nur gelegentlich gestreift , und es ist klar , daß der Ver-
fasser vorwiegend für ethische Probleme Interesse hat. Diese
sind in einer W^eise behandelt, die die Einzeluntersuchungen der
kleineren Dialoge" — gemeint sind die vorher von L. besprochenen
Eu, Ap, Cr, La, Cha — ,, schon voraussetzt, auch scheint das
logische Vermögen gesteigert. Daß das allgemein bejahende Urteil
nicht umkehrbar ist, wird (50c — 51b) mittels verschiedener Ana-
logien zum Bewußtsein gebracht . . . Die volle Erkenntnis , die
im Ch umsonst gesucht wird , ist auch jetzt von PI. noch nicht
gefunden . . . Als eines der logischen Mittel, um zur Erkenntnis
zu gelangen , stellt PI. den Grundsatz auf, daß es für jeden Be-
gi'iff nur einen zu ihm gegensätzlichen gebe, und er belegt diesen
Satz mit Beispielen , jedoch ohne irgendwelchen Unterschied zu
machen zwischen Konträr und Kontradiktorisch. Diese Beobach-
Ber. über d. in d, letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 9.3
tungen scheinen eine Stufe der logischen Entwicklung zu verraten,
die höher ist als in den kleinen Dialogen. Im Ch war der Gegen-
stand, freilich beschränkt auf eine einzige Form der Tugend, zum
guten Teil derselbe wie im Pr, und es scheint eher annehmbar,
daß das größere Werk keine Anspielung auf das kleinere enthalte ^),
als daß PI. den Ch hätte nach dem Pr schreiben können, ohne
irgendwelche Bezugnahme auf die allgemeiner gehaltene Erörterung
des nämlichen Problems. Auch der besondere Gegenstand des La
ist im Pr enthalten, und die Definition der Tapferkeit, zu der wir
im La erst nach langer Erörterung kommen und von der Sokr.
zeigt, daß sie nicht bloß für die Tapferkeit, sondern für jegliche
Tugend gelte , wird im Pr (60 d) wiederholt und bleibt uuwider-
legt (vgl. auch Rp 429 cV" — Daß es übrigens Lutoslawski ganz
fern lag, gegen die Anlegung der üblichen logischen Schablone au
Beweisgänge Pl.s Verwahrung einzulegen , und daß er demnach
wohl mit Gomperz und v. Arnim einverstanden war, sieht mau
aus einigen Bemerkungen, die er (S. 203) zum Ch macht: „Be-
zeichnend für die Stufe des logischen Fortschritts, die PI. erreicht
hatte, als er dieses kleine Werk schrieb, ist, daß seinem Sokr. der
Fehlschluß begegnet, weil Mäßigung und Schnelligkeit beide schön
sind, sei die Schnelligkeit mäßig (59 d). Solche logischen Schnitzer
begegnen uns auch in anderen kleinen Dialogen, und wir haben
kein Recht anzunehmen, PL sei sich ihrer bewußt gewesen. So
lange das logische Interesse nicht wach gerufen war, mochte selbst
ein Denker wie PI. unbewußt logischen Irrtümern verfallen 2)."
Schon mehi' der Beachtung wert scheinen mir Pfleiderers
Bemerkungen über die Anfangsdialoge insgesamt, deren „krönenden
Abschluß der Prachtsdialog Pr bildet", dem „in schönem Gleich-
maß zum Inhalt die reichste, wahrhaft meisterhafte dramatische
Belebung und ein kostbarer kraftschwellender Humor eignet" :
(S. 142) „Schließlich ist . . . ruhig zuzugestehen, daß PI. in diesen
früheren Schriften trotz allem Kampf gegen die Sophisten selber
ab und zu ziemlich sophistisch angehaucht erscheint. Die Sprünge
in seinen Schlußfolgerungen z. B. mit der Vertauschung von did
und ersyM oder von konträrem und kontradiktorischem Gegen-
satz u. dgl. sind manchmal etv/as kühn und sein Verfahren keines-
^) Daß z. B. Pohlenz Anspielungen auf den La im Pr findet, werden
wir nachher sehen.
^) Im Gegensatz hiezu möchte ich doch auch hier auf Urteile von
E. Zeller und 0. Apelt verweisen, die ich in meinem Aufsatz über Piatons
Logik Philologiis A. 73 S. 51 öder Piaton H S. 232 A. angeführt habe.
94 Constantin Ritter.
wegs immer ganz frei von den logischen Auswüchsen der Zeit.
Auch derartiges nur für Spott und Vei'höhnung der bekämpften
Sophisten zu halten , dünkt mich wenig natürlich. Warum sollte
nicht auch er (wie Sokr.) durch die allgemeine Luft der Zeit
wenigstens leicht angesteckt worden sein , zumal gerade bei ihm
die so starke dialektische Ader dem einigermaßen entgegenkam?
Hatte er doch auch später wieder seine liebe Not, sich gegen eine
Verwechslung seiner abstrakten Dialektik mit der sophistischen
Eristik zu verwahren, womit sich u. a. der Dialog Eus und seine
Nachbarn herumschlagen." Von dem mehrgliedrigen Beweis über
die Einheit der Tugend im Pr schreibt PI. dann (S. 150): es „läßt
sich nicht leugnen, daß derselbe ziemlich über Stock und Stein geht
und entschieden sophistisch gefärbt ist, wie u. a. besonders in dem
Umspringen mit konträrem und kontx'adiktorischem Gegensatz 31 de.
Sollen wir das nur als dialektisches Spiel mit dem nichts merkenden
Gegner ansehen, der ohne Zweifel mehrfach das Richtigere vertreten
dürfte? Ich glaube nicht. PI. steuert so sicher auf das von ihm
beabsichtigte Ziel los, daß wir seine Beweisführungen in allweg für
wesentlich ernst gemeint halten müssen, nur daß er eben, wie in den
früheren Dialogen , selbst einigermaßen sophistisch angesteckt ist
und es im Eifer für das ihm feststehende Ziel mit dem Beweis weniger
genau nimmt. Wenn wir übrigens tiefer zwischen den Zeilen lesen,
so bemerken wir auch hier wieder, wie bei der Wissensnatur der
Tugend, daß er gleich im Eingang den Hauptpunkt dennoch treffend
berührt ... Es ist der Blick auf den Gipfel des Ideals , der ihn
die Lehre von der unteilbaren Geschlossenheit der Tugend in
sich und in diesem Sinne ihre strenge Einheit aussprechen läßt.
Und dagegen läßt sich in der Tat abermals kaum etwas einwenden."
Recht gut scheint mir, was P. S. 148 über die „Lustarithmetik",
die hedonistische ij.eTQrjTi-K^ und aQi^i^t]Tr/,i^ des Pr ausführt.
Lassen wir uns auch noch einiges von Po hie nz sagen. „Der
Pr knüpft unmittelbar an Hj) II und La an." Aus 12b, 13 äff.
hört P. starken Anklang an La 85 — 86 und wieder 87 b heraus.
Aus dem La, meint er, überträgt doch wohl PI. die Vergleichung
des Sophisten mit einem Arzt der Seele in den Pr, indem er noch
das Bild vom Händler hinzufügt. Die Untersuchung über das
Wesen der Tugend (93) „setzt genau bei dem Punkt ein, wo der
La haltgemacht hatte". Die Erörterung 49 e — 51b ist „teilweise
wörtlich aus dem La entnommen". Zunächst werden dessen Aus-
führungen 92c — 93 d rekapituliert — „neu ist dabei nur, daß der
Begriff ^aggaleog eingeführt und als Oberbegriff zu avÖQSiog gleich
Ber. über il. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 95
zu Anfang bezeichnet wird". Und wie die Frage nach dem Ver-
hältnis der Einzeltugenden den durch den La bedingten Ausgangs-
punkt bildet, so ist „das Ziel der dort auch schon angedeutete
Satz, daß alle Tugenden im Wissen vom Guten beschlossen sind".
Auch verläuft der Dialog ganz ähnlich wie der La, Was den
Sokr. am Schlüsse hindert, das positive Ergebnis hinzustellen, daß
die Tugend ein Wissen ist, ist nur die Voraussetzung, von der
er ursprünglich ausgegangen ist. Im La „war das ähnliche Er-
gebnis , daß die Tapferkeit ein Wissen vom Guten sei , allseitig
wissenschaftlich gesichert worden und wurde nur deshalb als
problematisch hingestellt , weil die ursprüngliche H3'pothesis , daß
die Tapferkeit nur ein Teil der Tugend sei, dagegen sprach. Diese
unbewiesene Hypothesis blieb also zu prüfen, und im Pr wird sie
als unberechtigt erkannt". „Ein leidlich verständiger Leser . , muß
sich . . sagen, daß PI. von ihm verlangt, er solle sich an den
Anfang" des Dialogs „erinnern und sich die Frage vorlegen, ob
denn die dort geäußerten Bedenken gegen die Lehrbarkeit der
Tugend wirklich ausreichen , das Ergebnis der wissenschaftlichen
Untersuchung zu erschüttern , ob diese Bedenken wirklich Sokr,'
tiefster Überzeugung entsprechen". Das ist offenbar nicht der
Fall, Und wenn ein großer Abschnitt des Pr „eine genaue
Parallele des La ist und dasselbe Beweisthema hat, daß die Tapfer-
keit ein Wissen vom Guten ist", so muß PI, „den dort gegebenen
Beweis selbst für nicht ausreichend erachtet haben. Tatsächlich
haben wir auch beim Lesen des La diese Empfindung, Denn
gerade das, was für uns das Bedenklichste ist, die rein intellektuelle
Auffassung der Tapferkeit, wird dort einfach zugrunde gelegt
(95a). . . . Dabei ist es selbstverständlich, daß dieser Intellek-
tualismus dem Volksempfinden durchaus widersprach . , . So
pflegte ja das Volk von einem kqsittcov eavvov, r^ticov yaozQog
oder rjdovi^g , , . zu sprechen. Wenn PI. im La diese Anschauung
ganz ignoriert, so tut er das offenbar, weil er sich die Auseinander-
setzung für ein anderes Mal aufspart." Freilich, die ergänzende
Untersuchung, die der Pr anstellt, kann uns nicht befriedigen.
Doch ist nicht daran zu zweifeln, daß er selber „im Pr geglaubt
hat, die vulgäre Anschauung vollkommen zu widerlegen und den
intellektuellen Charakter der Tugend zu erweisen" (S. 104). —
Und dann das Verhältnis des Pr zum Hp betreffend (S. 79): Mit
der programmatischen Erklärung, die Protagoras 18dff. über seinen
Unterricht gibt, tritt er in allerschärfsten Gegensatz zu Männern
vom Schlage des Hippias mit ihrer lächerlichen und gegen die
96 Constantin Ritter.
sittliche Haltung gleichgültigen Polyhistorie. PI. verweist damit
geradezu „auf seinen Dialog Hp und deutet an, daß durch diesen
für ihn die Auseinandersetzung mit der Richtung, die Hippias inner-
halb der Sophistik vertritt, erledigt ist und er nun daran gehen will
zu prüfen, ob der Begi'ünder der Sophistik selber das geleistet hat
oder zu leisten vermochte, was er versprach." Und die hiedurch
erweckte Erwartung, daß wir im Pr eine Art Gegenstück zum Hp II
erhalten, bestätigt sich in überraschendem Maß, wie auf drei Seiten
gezeigt wird. Ja, „der Hp und der Pr sind formell so eng mit-
einander verwandt wie kaum zwei andere platonische Dialoge".
Ich möchte hier meinerseits nur wieder die Zwischenerinnerung
geben , daß man ein zwischen zwei Dialogen bestehendes Ver-
wandtschaftsverhältnis chronologisch meist so oder in umgekehrter
Weise deuten kann, Z. ß. jener Satz von S. 101 : „Wenn PI. im
La diese Anschauung ganz ignoriert , so tut er das offenbar, weil
er — " könnte abgeschlossen werden mit den Worten „darüber an
anderer Stelle schon gesprochen hat". Sowohl dies als was P. folgert
ist annehmbar, leider keines von beiden „offenbar". Und so kann
wohl auch die zuversichtliche Erklärung, die P. S. 112 A. 1 abgibt:
„Darüber, daß K. Fr. Hermann Recht hatte, wenn er gegen Schleier-
macher den Pr als Fortsetzung des La ansah , brauche ich wohl
kein Wort mehr zu sagen," nicht alle Bedenken niederschlagen^).
Auch das Zugeständnis kann ich nicht machen, daß (109)
„die zwischen Ap 19 e und Pr 16 c, zwischen Ap 24 f. und Pr 25c ff.
bestehenden Beziehungen sich ungezwungen psychologisch nur er-
klären lassen, wenn die Ap vorangegangen ist." Und dem Neben-
grund für diese Chronologie: „es wäre nicht übermäßig geschmack-
voll gewesen , wenn PI. bei Lebzeiten des Sokr. seinem Lehrer
attestiert hätte, er sei ein durch seine Klugheit berühmter Mann",
^) Frachter, dem ja Pohlenz vorlag, äußert sich S. 244 über den
Schluß des Pr wie folgt : „Die bisherige Untersuchung wird im Hinblick
auf den Widerspruch, in den jeder der beiden Gesprächführenden mit
sich selbst geraten ist, als Wirrnis verworfen und die Wiederaufnahme
des Problems der Lehrbarkeit der Tugend nach Betrachtung ihres Wesens
als wünschenswert bezeichnet. Wir erkennen darin einen deutlichen Hin-
weis auf die nächstfolgenden Dialoge, in denen die Wesensbestimmung
zwar nicht der einheitlichen Tugend als solcher, wohl aber einzelner ihrer
Erscheinungsformen, der Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit,
die Aufgabe bildet, bis endlich im Me das Problem der Lehrbarkeit in
Verbindung mit der Frage nach dem Wesen der einheitlichen Tugend
wieder auftaucht. Die Reihe eröffnet der La. Im Grunde überein-
stimmend ist die Sachlage im Cha ..."
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 97
wird niemand gi'oßes Gewicht zuerkennen , der daran denkt , wie
viel die Philologen mit ästhetischen Urteilen und darauf gegründeten
Machtsprüchen sich an den alten Schriftstellern versündigt haben.
Er ist schon deshalb nichtig, weil die erklärende Ausführung der
beigegebenen Anmerkung verkehrt ist. Nicht besser steht es mit
dem von P. versuchten Beweis dafüi-, daß der Cr dem Pr voraus-
gegangen sei. P. hat sich ein Verdienst damit erworben, daß er
die engen Beziehungen einzelner Dialoge zueinander mit scharfen
Augen verfolgt und dargelegt hat. Er hat auch wirklich glaublich
gemacht, daß der Hp und Pr „gleichzeitig von PI. konzipiert"
worden seien , und man mag sogar den Anfang des Satzes gelten
lassen, mit dem er (S. 112) das Kapitel über den Pr abschließt:
„Der Pr ist nur denkbar als eine Parallele zum Hp, als eine Fort-
setzung des La und kann deshalb wie dieser erst nach 399 ent-
standen sein." Aber daß in seiner ganzen chronologischen Argu-
mentation ein Fehler steckt, das wird eben aus dem Schluß dieses
Satzes ganz augenfällig. Daß der La nach 399 verfaßt sei, ist
reine petitio principii, und daß der Hp II nach 399 überhaupt nicht
mehr hätte von PI. geschrieben werden können , das ist mir aus
psychologischen Gründen sicherer als mir je irgend etwas von dem
werden könnte, das P. uns einreden möchte.
Sein Ansatz des Pr wird übrigens auch von einem anderen
Punkt aus anzufechten sein, nämlich vom G aus. P. selber er-
klärt (S. 129), es „falle in die Augen, daß der G an den Pr an-
knüpfe", (130) „der ganze Aufbau des 1. Teils sei durch den Pr
beeinflußt", (die Stelle Pr 12 d sei „die Keimzelle, aus der sich
die Erörterung im 1, Teil des G entwickelt", S. 132) und sein
2. Teil setze sich mit der im Pr vorgetragenen Auffassung der
Rhetorik auseinander (S. 134), ganz abgesehen davon, daß die
hedonistische Theorie des Pr durch den G korrigiert werde. Er
kommt (S. 164) zu dem Schlüsse: „Der G ist durch so viel Fäden
mit dem Pr verknüpft, ist eine so deutliche Berichtigung dieses
Dialogs, daß man schwerlich fehlgehen wird, wenn man annimmt,
daß er die erste oder jedenfalls eine der ersten Schriften gewesen
ist, die auf den Pr folgte." Daß sich gegen diesen Schluß die
schwersten psychologischen Bedenken erheben, fühlt er selbst. Er
fährt fort: „Andrerseits ist der Unterschied in Stimmung und An-
schauung so groß, daß man zwischen beiden Dialogen eine längere
Pause annehmen muß." Gar viel Raum bleibt uns aber nicht füi-
diese beanspruchte Pause. P. ist von Gerckes Ausführungen (wir
werden sie unten , beim G, näher kennenlernen) überzeugt , daß
Jahresbericht für Altertumswissenechaft. Bd. 191 (1922. I). 7
98 Constantin Kitter.
der „Sokrates" des Polykrates und der platonische G in engster
Beziehung zueinander stehen und glaubt für die Broschüre des
Sophisten die Jahreszahl 393 oder 392 angeben zu können. Aller
Wahrscheinlichkeit nach will dieselbe auf den G Antwort geben.
Also wäre dessen Zeit etwa 39'1 oder 393. Und erst nach 399
soll PI. mit seiner Schriftsteller ei begonnen haben. Da wären also
von ihm innerhalb 6 Jahren die Schriften Ap Cr La Ch Hp II Pr
(ob auch Eu, darüber kann ich bei P. nichts finden, bezüglich des
Cr muß ich mich mit der Angabe von S. 111 „bald nach 399" be-
gnügen) und G hintereinander drein in die Welt geschickt worden.
Legen wir versuchsweise zwischen den Pr und G, auf dessen Aus-
arbeitung doch mindestens ein volles Jahr zu rechnen ist, um „eine
längere Pause" zu bekommen, auch nur 2 Jahre, dann bleiben für
Ap Cr La Ch Hp Pr zusammen noch 3 Jahre ! Und wir sollen
uns im Ernste vorstellen, daß PL, der von der ungerechten Ver-
urteilung seines Meisters, „avÖQog wg ?}/U€<g cpatf.iev av nZv tote
cbv insiQccd^ijl^ev aglocov x«t allcog q^govif-itoTaTOv yial dixaiOTccTOv,"
sa tief erschüttert war, wie die Ap es uns bekundet, und sich
gedi'ungen fühlte, seinem Volke die schwersten Anklagen entgegen-
zuschleudern, • — daß er fast unmittelbar darauf die Gemütsruhe und
-heiterkeit gefunden habe, um mit der künstlerischen Ausgestaltung
für uns so ergötzlicher szenischer Kleinigkeiten sich genug zu tun,
wie sie namentlich der Pr enthält und zwischenhinein im ge-
lassensten Tone ohne irgendwelche Bitterkeit die ethischen Pro-
bleme zu erörtern, auf welche die Unterhaltungen mit Sokr. hin-
zuführen pflegten, und gar ein Werk der ausgelassensten, mut-
willigsten Laune, den Hp, hervorzubringen? — während er dann
wieder 2 oder 3 oder auch 5 Jahre später der düsteren , an der
schlechten Welt fast verzweifelnden Stimmung des G verfallen
wäre! Nein, das verstehe ich nicht. Und keinem Psychologen,
nur einem Pliilologen dürfte die Erklärung genügen , die sich P.
(S. 129) aus Aristoteles holt. Der hat den PI. zu den /uekay-
XO?.iy.oi gerechnet. „Das sind nicht etwa unsere Melancholiker,
es sind die tveqlttoI avögeg, bei denen die schwarze Galle in der
Mischung der körperlichen Säfte überwiegt und eine Neigung zur
Anormalität bedingt, die zum Genie wie zum IiTsinn führen kann
und sich beim einzelnen Menschen in starkem Stimmungswechsel
äußert." Nun kommt die Anwendung: „Daß PI. solchem Stimmungs-
wechsel unterlag, das können wir noch bei so mancher seiner
Schriften feststellen , nirgends deutlicher , als wenn wir mit der
sokratischen Schriftengruppe den G vergleichen" . . . „Gern würde
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 99
man sich die Stimmung der 'Tragödie' im Gegensatz zur 'Komödie'
dadurch verständig machen, daß man das Jahr 399 zwischen beide
treten ließe. Das ist für uns nach unseren früheren Ergebnissen
nicht möglich. So müssen wir nach einer anderen Erklärung suchen."
Mir scheint diese „andere Erklärung" völlig mißlungen. Also
werden wohl^) die „früheren Ergebnisse" umzustoßen sein.
Zum Verständnis des Inlialts des Pr hat P. manchen wert-
vollen Beitrag geliefert. Einzelne seiner polemischen Bemerkungen
gegen andere Gelehrte , namentlich H. Gomperz , halte ich für
treffend. S. 95 A. wendet er sich gegen mich, gibt aber dabei
eine Erklärung , von der ich meine , sie komme so ziemlich auf
dasselbe hinaus, was ich an der betreffenden Stelle (S. 333 meines
Piaton I) behauptet habe. Für wichtig und wertvoll halte ich, daß er
(ganz in Übereinstimmung mit mir und anderen) bei verschiedenen
Anlässen so stark betont, daß PI. mit verständigen Lesern ge-
rechnet habe , und daß er diesen absichtlich vieles zu ergänzen,
Unebenheiten und Widersprüche in „selbständigem Durchdenken"
auszugleichen überlassen habe. Anstoß nehme ich besonders an
der Art, wie S. 103 f. die hedonistischen Gedanken Pl.s lo-itisiert
werden : „PI. setzt ohne weiteres voraus , daß auch der tjttiov
rjdovr^g der Lust nur deshalb fröhnt, weil er sich verstandesmäßig
für die Lust entscheidet. PI. nimmt also das eigentliche Beweis-
thema, daß hier der Intellekt das Handeln bestimmt, einfach vor-
weg und führt auf dieser Basis die Untersuchung. Daß hier ein
psychologisches Problem vorliegt, sieht er überhaupt nicht. Ver-
wundern kann uns das nicht, denn seine Zeitgenossen sehen es
ebensowenig . . . und wir beobachten ja bei PI. selber, wie erst
aUmählich ihm die Bedeutung des Problems aufgeht." Ich verstehe
einfach nicht, was das heißen soll, es habe sich jemand nach PL
„verstandesmäßig für die Lust entschieden", während PI. doch nach
seiner Gefühlserfahrung es für die Grundtatsache alles Wertens und
Strebens erklärt, daß der Mensch wie überhaupt jedes Lebewesen
Lust und Glück suche, und nun die allerdings verstandesmäßig zu
lösende Aufgabe eben darin erkennt, daß man von jeder einzelnen
bestimmten Lustempfindung messend und abwägend feststelle, wie
groß ihr wirklicher positiver Gehalt sei, nach Abzug aller Unlustwerte,
die mit in Rechnung genommen werden müssen. Welches andere
psychologische Problem hier voi'liegen soll, sehe ich wahrhaftig auch
nicht. Jedoch ich glaube auch nicht, daß PI. später, von der Rp an,
^) Entsprechend dem 80 e ausgesprochenen logischen Grundsatz?^
xuxiivK XiTtov T] TßJf (iväyxt) ovfjßa(vHV, cf. 32c.
100 Constantin Ritter.
es gesehen habe, wie ihm das P. bezeugt, und daß sich darin eine
„gewaltige Entwicklung in Pl.s psychologisclier Ei'kenntnis" kundgebe.
Und nun zu den erklärenden Einzelausgaben und Sonder-
schriften. Zuerst die Bearbeitungen von Nestle und Sauppe.
Beide sind gut und für einen Lehrer, der sich auf das Lesen des
Pr mit einer Gymnasialklasse vorbereiten will, gleich empfehlens-
wert. Sauppe hat mehr Aufmerksamkeit an das Sprachliche ge-
wandt; er gibt ziemlich ausführlich Rechenschaft über die Text-
behandlung und über alles Grammatische; bei Nestle tritt das
Kulturgeschichtliche, Literargeschichtliche und Antiquarische mehr
in den Vordergrund. Nebenbei nimmt Nestle noch auf den Schüler
Rücksicht. Er hat sich bemüht, diesem „an schwierigen Stellen
das sprachliche Verständnis und die Übersetzung des griechischen
Textes noch mehr, als es bisher schon geschehen war, zu erleichtern,
so daß derselbe auch ohne vorhergehende Präparation vom Durch-
schnittsschüler deutsch sollte wiedergegeben werden können". Er
ist sich selber der „unangenehmen Lage bewußt, in die er durch
diese zweiseitige Rücksichtnahme gerät, und man wird darüber
verschiedener Meinung sein können, ob er immer das rechte Maß
gehalten habe. Winke für die deutsche Übersetzung, wie S. 87, 10
„TQV(fag: du bist verwöhnt," 88, 2 „xov ellrjviuiv im Griechischen",
94, 22 ^dva^SQüig l'xeiv 7VQdg TaiTu: da dir diese Frage unbehag-
lich (heikel) zu sein scheint", durften doch wohl wegbleiben. Auch
könnte der nachdenkhche Schüler selber finden, was 88, 8 zu 28a
agsTp^g — rcdviiov über die Konstruktion bemerkt wird. Auch von
dem, was Nestle zur Beleuchtung des Inhalts beibringt ist manches
m. E. gar zu weit hergeholt, wie z. B. das Heraklitfragment 67
zu xaiQEig — ovo^iaZojv in 58 b S. 143, 10 oder die Stelle aus Phs
67 b zu xb fievQiov ^^y.og in 38 b S. 106, 12. Mit Kopfschütteln
habe ich die Worte gelesen, die Nestle hier beifügt, „Hippias
scheint somit anzudeuten, man möge den Prodikos zum eniOTdTtjg
wählen". Da und dort vermisse ich auch etwas. 55 d bleibt ev
vf.th' ohne Erklärung, während Sauppe dort nicht für überflüssig
erachtet, zu bemerken: „bei euch, vor eurem Richterstuhl 37b:
ev rj^lv-döomi-iolTE. G 64d: sl ötov h naiai diayiovluGd^ai
6\l>onoi6v TS '/.ai iaxQov." Zu 33 de dyad^d = d sariv ü)cpehf.ia
Tolg dv^Qcojtoig hätte gesagt werden sollen, daß diese Gleichung
jedenfalls für die Meinung der nollol zutrifft, die zu verteidigen
Protagoras sich erboten hatte, und daß es bloß Ausflüchte sind,
die er nun macht, weil er fürchtet, von einem überlegenen Gegner
in die Enge getrieben zu werden. Mir scheint es überhaupt, daß •
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 101
Nestle in seinem Bemühen , den Vertretern der Sophistik gerecht
zu werden, da und dort zu weit gehe, und in dieser Hinsicht bin
ich mit Sauppe mehr einverstanden. Ich fühi-e von diesem folgende
Bemerkungen an: (81, 21:) „Der Beweis, daß ooffia und acocpgo-
OLVi] eins sein müssen, weil sie beide dem einen Begriff affQoavvv^
entgegengesetzt seien , beruht doch mit auf der Unbestimmtheit
des Begriffs acpQoavvi;. Und man muß annehmen, daß PI. dessen
wohl bewußt war, aber absichtlich Sokr. den Sophisten mit den-
selben Mitteln verwirren und besiegen lassen wollte, die sie selbst
anwendeten." — (100, 17:) „Schüler des Prodikos nennt sich Sokr.
auch Crä 84b, Me 96 d, Ch 63 d, immer mit spezieller Beziehung
auf die Synonymik , aber nie ohne ein schalkhaftes Hindeuten auf
die pedantische Wichtigtuerei, mit der Prod. seine Lehre be-
handelte. Hier treibt Sokr. mit ihm und seiner Liebhaberei ein
übermütiges Spiel , indem er ihn erst verleitet xcüxttov durch
'Aayf.6v zu erklären und dann ihm auf den Kopf schuld gibt, daß er
das nur zum Scherz und um Pro tag. zu versuchen getan habe."
— Nestle bemerkt zu der zweiten Stelle: „//ai^JyT/}g IJQodixov:
Das ist nicht im Sinn eines wirklichen Schüiei'verhältnisses zu
verstehen. Soki-. hat nur gelegentlich öffentliche Vorträge des
Prod. gehört, keinen fortlaufenden Kurs bei ihm genommen (Cra
84 b). Nicht mehr besagen die Stellen im Ch 63d und Me 96 d.
Dagegen ist es ernst zu nehmen, wenn Sokr. Th 51b sagt, er
habe dem Prod. zuweilen Schüler zugewiesen, die für seinen eigenen
Umgang nicht paßten." Auch ich zweifle nicht, daß das Sokr. im
Ernste getan hat. Aber was werden es für Leute gewesen sein,
die für seinen Umgang nicht paßten? Höhlköpfe und Gecken,
denke ich, die er leicht durchschaute und von denen er sah, daß
sie nicht ehrlicher Erkenntnisdi-ang ihm zugeführt hatte , sondern,
wenn nicht bloße Langeweile und Neugier , bestenfalls das ehr-
süchtige Begehren , im Umgang mit ihm sich zu tüchtigen Wort-
fechtern zu bilden. Solcher Leute, die nach dem eitlen Schein der
ooq>la und öeip6it]g trachtete , mochte er sich dadurch entledigen,
daß er sie an die Meister wies , die ihre Wünsche wirklich be-
friedigen konnten. Und wenn er dabei den Prod. etwa vor anderen
bevorzugte (Th51b sagt Ttollovg f.i€v di] e.^tdoyv.a ngodUij), tioI-
Xovg de alXoig oocpolg xe xal ^eOTiEGioig uvögaai), so ist das für
diesen kein besonderer Ruhm. Mitbestimmen mochte ihn , daß er
Wortunterscheidungen nach dem Vorgang des Prod. wirklich selber
oft treiben mußte. Denn obgleich ihm PI. im Po durch einen tüch-
tigen Lehrer die Mahnung geben läßt, 61 e : ^ar öiacfvld^ng to
102 Constantin Ritter.
^trj OTCovddteiv eni xdig ovofxaai^ nXovaiojTeQog elg xb ytJQccg ava-
q)avr,OEL cpQOvy^OEcog, so fand er doch pünktliche Unterscheidungen,
die weiter gingen als in der gewöhnlichen Alltagssprache, oder min-
destens das sichere Festhalten von Unterschieden , die auch sie
schon gemacht hat , wie zwischen 1'f.i^erai und yEvead^ai , für die
sichere Verständigung manchmal unerläßlich.
Auch Sauppe möchte ich hier eine sachliche Ausstellung machen.
„Nur Prodikos u. a.", schreibt er S. 99, 18, „schreibt er diese Ansicht
zu" — nämlich daß Simonides sich, richtig verstanden, gar nicht
widerspreche — , weil ihm schon seine spätere Erklärung im Sinne
liegt. Zugleich liegt darin eine Hindeutung auf Prod.s Herakles am
Scheideweg , dem auch Xenoph. Denkw. 2.1, 20 die Stelle des
Hesiodos zur Seite stellt." Nein, Simonides widerspricht sich
wirklich nicht und es gehört nur zu den höflichen Umgangs-
formen des Sokr., daß er mit seiner Meinung hinter andere zurück-
tritt; jene Hinweisung aber ist keineswegs sicher.
Ich habe gesagt, daß Sauppe im Sprachlichen sorgfältiger sei.
So macht er allein zu dem xb de in 44 d S. 110, 2 eine erwünschte
Bemerkung. S. 57 bemerkt er: „Im 1. Teil des Vortrags, dem
M3^thos, läßt Piaton durch den ganzen Ton der Erzählung die ein-
fache Satzbildung, gewählte, sonst nur dichterischer Rede gewöhn-
liche Worte und Wendungen (y^g l'i'öov, ao/tXov cpvoiv^ OjAi/.Q6xrixi
TJfXTtioxe, TVXTjvbv cpvyt^v^ aiaxwd^eirj^ aXXr^Xocpd^OQUuv, oy6f.iEvog,
TToXeiov •A.oOf.ioL x£ y.al dea/Aoi, q)iXiag Gtvayioyoi, vooor TtöXeiogn. a.),
öfteres Fehlen des Artikels (namentlich bei avO-QOJTtog), Protagoras
den Ton alter Mäi'chen nachahmen, wie dieser es wohl bei ähn-
lichen Erzählungen wirklich getan haben mochte. Gleich der An-
fang war bei Märchen herkömmlich. Stasinos Kypr. Frg. 1 : t^v
oxE {.ivQict cpvXa — . Kritias bei Sext. Empir. 9 § 54 : r^v ygovog,
or Tjv — . Theokrit 7, 1 : r'jv XQOvog, avi/C iytov — ." Nestle S. 69
sagt hier bloß zu rjv-xgövog: „Märchenstil" und gibt noch einige
weitere Belege ähnlicher Einleitung. Zu wc: ös in 26 e gibt er
mehr als Nestle. Aber oft sind auch seine Angaben zu unbestimmt.
Z. B. genügt es nicht, wenn er zu oYead^ai ys %qti'j in 25c sagt:
„Pl.s sehr geläufige Formel zur Antwort auf eine von dem
Sprechenden selbst oder einem Zwischenredner gestellte Frage."
Nestle gibt wenigstens die Parallelstellen an, die man auch bei
Ast finden kann: Cr 53 d, 54b, Phn 68b. Es darf darauf auf-
merksam gemacht werden , daß die Formel etwa einem etxdg,
eiyiÖTtog oder tOL-KE yE gleichwertig ist und es wäre zu prüfen, wie
sich diese Formeln über die platonischen Dialoge verteilen.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 103
Die englische Bearbeitung des Pr von Adam ist mir nicht
zugänglich. Nach der später zu besprechenden Ausgabe des Rp
von demselben Gelehrten zweifle ich nicht, daß sie wertvoll ist.
In Nestles Vorrede finde ich das Urteil, dem Bedürfnis einer
einfachen Schülerausgabe „genügen die in ihrer Art ganz vortreff-
lichen Arbeiten von Petersen, Bertram-Lortzing und Olsen
vollständig". Das darf ich wohl unbedenklich nachsprechen, ohne
sie selber zu kennen. Vor mii' liegt A. Th. Chris ts Ausgabe.
Sie hat klaren schönen Druck, eine gute Einleitung von 18 Seiten,
der eine Inhaltsübersicht von 8 Seiten sich anschließt, und ein
erklärendes Namensverzeichnis von 15 Seiten und am Schluß noch
2 Seiten über die Textgestaltung. Sie wird wohl hinter jenen
anderen Schulausgaben nicht zurückstehen.
Einige gute erklärende Bemerkungen gibt C. Nohle in seiner
Staatslehre Piatos, 1880, z. B. S. 54: „Wenn Sokr. vermittelst der
gezwungensten Deutungen Ansichten aus dem Gedicht [des Simo-
nides] herausliest, die, wie jedermann wußte, von ihm zuerst und
allein ausgesprochen wurden . . ., so mußten die Zeitgenossen Pl.s
darin eine Persiflage der bei den Sophisten üblichen Behandlungsweise
von Dichterwerken sehen. Wie die Aufklärung zu jener Zeit in
die Mythen die allermodernste Weisheit hineinzulegen verstand,
wie sie aus der Sprache ein ganzes System der Naturphilosophie
herauspreßte, so waren auch die Literaturerzeugnisse die unglück-
lichen Opfer einer Kunst, welche sie zwang, bald dieses, bald jenes
auszusagen. Gegen diese Sitte wendet sich Pl.s Ironie."
Vom Hippias minor (HpII) ist 1895 eine neue englische
Bearbeitung erschienen, von G. Smith. Ich kenne sie nicht.
Behandelt ist der Dialog bei Räder S. 94 — 96, Gomperz
S. 236—240, Pohlenz S. 57—72, Eitter S. 297—308, Wilamowitz I
S. 133—137, Prächter S. 268—270, M. Hoffmann in d. Ztsch. f.
d. GyWs. 1904 S. 279—283, E. Horneffer, PI. gegen Sokr., 1904,
S. 3—29, 0. Apelt, Platonische Aufsätze, 1912, S. 203—237, die
beiden Dialoge Hippias u. Einl. zur Übers. (Philos. Bibl. 172 a)
1921, S. 1 — 15, 0. Kraus, Piatons Hippias minor, 1913.
Räder setzt den Dialog als 2. (oder, da er den lo mit-
rechnet, 3.) zwischen Ap und La. Nachdem er seinen Inhalt kurz
angegeben und besprochen , wendet er sich mit Recht gegen
Horneffers „seltsame Deutung", daß PI. hier gegen die sokratische
Lehre polemisiere, nach der die Tugend im Wissen besteht — er
erklärt: „nicht eine Widerlegung, sondern eine Vertiefung der
sokratischen Lehre findet man im Hp II" — und gegen Dümmlers
104 Constantin Rittei*.
Meinung, die Polemik des Dialogs ziele auf Antisthenes. Bezüglich
der Abfassungszeit meint er: „Man könnte sich versucht fühlen,
den Hp II für älter als die Ap zu halten," weü die Lehre, freiwilliges
Fehlen sei unmöglich, „in dieser Schrift mit größerer Klarheit vor-
getragen wird ; aber mit Unrecht : die Paradoxie, die im Hp II aufge-
stellt wird, setzt vielmehr voraus, daß der Satz schon für PI. feststeht".
Pohlenz zeigt zuerst, daß die Echtheit mit Fug nicht be-
zweifelt werden kann. Abgesehen von einer Aristotelesstelle wird
sie dadurch bezeugt, „daß die vom Scholion zum 1. Verse der
Odyssee aufbewahrten Ausführungen des Antisthenes in engstem
Zusammenhange mit dem Hp II stehen". „Aber offenbar ist es
nicht etwa , wie Dümmler und Joel annehmen , Plato, der gegen
Antisthenes polemisiert . . . Die Sache liegt vielmehr so, daß die
bei PL vorgetragene Deutung von Anthistenes kritisiert und abgelehnt
wird." — „Darüber, daß der Hp ein naiyvLOV ist, in dem PI. bewußt
■Fehlschlüsse anwendet, um zu einem absurden Ergebnis zu gelangen,
kann . . . kein Zweifel sein. Aber ist es nun ein reines Spiel oder
verfolgt PI. doch bestimmte Absichten? Wollen wir diese Frage be-
antworten, so müssen wir zunächst eins beachten. Das ist die große
Rolle, die hier die Persönlichkeit von Sokr.s Gegner spielt . . ."
„Tatsächlich ist der ganze Dialog, äußerlich angesehen, nichts als eine
i^tiaatg 'iTtniov ..." „Wenn man den Abschnitt 66 c — 69 b liest,
so muß an sich die Ausführlichkeit verwunderlich erscheinen, mit
der hier der einfache Satz, daß auf jedem Gebiete der Sachkundige
am ehesten imstande ist, zu lügen wie die Wahrheit zu sagen,
durch die verschiedensten" Fächer" — es sind genau die , auf
welche nach Pr 18e sich der Unterricht des Hippias in erster
Linie erstreckt hat — „illustriert wird . . . Damit erhält der
Abschnitt eine ganz persönliche Spitze. Und wenn nun Sokr.
jedesmal untersucht, wer der größte Lügner auf jedem Gebiete ist,
so muß Hippias darauf gefaßt sein , daß nicht bloß die allgemeine
Antwort 'der Sachkundigste' erfolgt , sondern daß sein eigener
Name fällt . . . Den wirklichen Polyhistor Hippias muß man sich
also vor Augen halten , wenn man den Humor dieser Stelle ver-
stehen will. Das ist wichtig, damit man sich vor den Über-
treibungen der modernen Maskenforschung ^) bewahrt. Wer an
^) Diese „Maskenforschung" ist nach Teichmüller und Dümmler in
ausgiebigster Weise von Joel betrieben worden, namentlich in seinem
„echten und xenophontischen Sokrates". Ich werde auf dieses bisher von
mir übersehene Buch, da es den Pr La Eu Eus und Phn in seine Unter-
suchungen hereinzieht, teils in einigen Anmerkungen, teils in einem
Nachtrag noch eingehen müssen.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 105
unserer Stelle hinter Hippias einen anderen Gegner Pl.s wittert,
wer etwa gar an Isokrates oder Antisthenes denkt , die nie mit
Mathematik und Astronomie sich beschäftigt haben, der verzichtet
darauf, Pl.s künstlerische Absichten zu verstehen . . . Wir sollen
den Eindruck erhalten, daß der berühmte Vielwisser Hippias über
die einfachsten sittlichen Begriffe nicht nachgedacht hat und daß
er die paradoxesten Behauptungen wohl zu leugnen, aber nicht zu
widerlegen vermag, daß er wohl imstande wäre, eine Epideixis im
entgegengesetzten Sinne zu halten (09 c) , aber aus Mangel an
logischer Schulung in der Dialektik jedem Trugschluß wehrlos aus-
geliefert ist. Und dieser Eindruck wird natürlich dadurch verstärkt,
daß das Problem, das PI. hier behandelt, und die Art, wie er es
behandelt, vollkommen dem Unterrichtsbeti'iebe der Sophisten ent-
nommen scheint." Der Leser aber „nimmt aus der Komödie, die
er miterlebt hat, eine ernste Mahnung mit". Er „mag sich wohl
fragen, ob er sich diesen Sophisten anvertrauen darf, ob es nicht
besser ist, zu den Männern zu gehen, die wirklich über Erziehung
und Sittlichkeit nachgedacht haben. Die Mängel der herrschenden
Richtung in der Jugendbildung will also PI. aufdecken , indem er
einen ihrer Hauptvertreter lächerlich macht, und die Überlegenheit
des Sokr. tut er dar."
Das alles kann ich durchaus bilhgen und finde ich in wesent-
licher Übereinstimmung mit den von mir selber gegebenen Dar-
legungen. Aber über den Zeitansatz sind wir uneinig. Da schreibt
P. : „An sich wäre es recht wohl denkbar, daß noch bei Leb-
zeiten des Sokr. PI. diese Szene entworfen hat. Aber dagegen
spricht entschieden die enge Beziehung zu den Schriften, die wir
in die Zeit nach 399 verlegen mußten. Mit der Ap. verbindet den
Hp . . . die i^ezaaig, die Sokr. hier anstellt, mit dem La die
Frage nach der absoluten oder relativen Geltung des Begriffs
(fQ6vii.iog, mit dem Ch die Erörterung über Langsamkeit und
Schnelligkeit iind ihr Vei-hältnis zu den sittlichen Werturteilen."
Nun scheinen auch mir die Beziehungen zum La und namentlich
zum Ch recht eng zu sein. Aber ich kann die Gründe nicht an-
erkennen, die PL dazu vermögen, diese zwei anderen Dialoge nach
399 anzusetzen. Und da P. selber auch erklärt: „Der Hp ist der
Dialog, in dem sich P. zum ersten Male gegen die hochgelehrten
Herren wendet, die die Erziehung des Volkes beherrschen. Es
ist bezeichnend für sein Siegesgefülil, daß er glaubt, das mit einer
Komödie tun zu können," so bitte ich ihn nochmals ernstlich zu
tiberlegen, ob es nicht gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit
206 Constantin Ritter.
ist, daß PI. kurz nach dein erschütternden Ereignis von 399 —
„viel später wird man ihn gewiß nicht ansetzen" meint er ja selber
vom Hp — sich in der Stimmung gefunden habe , seinem Sieges-
gefühl in so übermütiger Weise Ausdruck zu geben. Ich setze
dagegen die Worte , die ich selber in meinem Piaton I S. 308
gebraucht habe : „Die hiemit vorgetragene Auslegung des Dialogs
hat sich nur durch ziemlich weitgehende Folgerungen gewinnen
lassen. Ein mit Sokr. und PI. noch nicht näher bekannter Leser
wird sie nicht ziehen können und durch das ganze Beweisverfahren
irregeleitet werden. Daß Sokr. an logischer Sicherheit und Ge-
wandtheit der Gesprächsführung dem Sophisten weit überlegen ist,
lieo-t ja am Tage. Dennoch wäre er selber nichts als der Erz-
sophist, als den ihn Aristophanes einst kennzeichnen wollte, wenn
er diese Überlegenheit ohne tiefere sittliche Hintergedanken nur
dazu benützte, den Gegner zu einem Zugeständnis zu drängen, an
dessen Richtigkeit er selber nicht glaubt. Nur eben der Umstand,
daß hinter der den Gegner mit selbst angezweifelten Beweisen
foppenden Disputierkunst eine positive Überzeugung steht, die alle
Unsicherheit und sophistische Grundsatzlosigkeit aufhebt, kann
ihn rechtfertigen. Und wenn es zu viel verlangt ist von dem
Durchschnittsleser, dem damaligen ebenso wie dem heutigen, daß
er nachdenkend diese positive Überzeugung auffinde, so glaube ich
eben darum nicht, daß der Dialog von Anfang an zur VeröflPent-
lichung bestimmt gewesen sei, womit er üblen Mißdeutungen hätte
ausgesetzt sein müssen: und noch weniger kann ich glauben, daß
er, auch nur als vn6fAvr]i.ia für PL allein, nach Sokr.s Tod noch
könnte geschrieben sein."
Und wenn P. erklärt (S. 69), PI. habe ja ohne weiteres vor-
aussetzen können, daß die jungen Leute, die Sokr. kannten, wenn
sie den Hp lesen , genau wissen , daß dessen dort geschilderte
Überlegenheit über seinen Gegner „in Wirklichkeit nicht auf der
Trugdialektik, sondern auf positiven Überzeugungen beruhe", so
entgegne ich darauf: Ja wohl, die jungen Leute konnten das
wissen. Aber die Richter, die den Sokr. verurteilt hatten, und
seine Ankläger, konnten und wollten die es wissen? Ich meine,
sie hätten mit Genugtuung eine volle Rechtfertigung ihres Ver-
fahrens aus dem Dialog heraus gelesen: *Da seht ihr's! Ein so
bösartiger, heimtückischer Mensch ist dieser Sokr. gewesen! Sein
bester Schüler hat ihn nicht anders geschildert als wir ihn beur-
teilt haben. Die heiligsten sittlichen Grundsätze hat er verleugnet,
so daß es sogar dem Sophisten, mit dem er sich streitet, zu bunt
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 107
geworden ist'. Und diesen Trumpf sollte PI. den Leuten in die
Hand gegeben haben? Unmöglich. Nach dem Tod des Sokr. kann
der Hp überhaupt nicht mehr geschrieben worden sein. Und weiter
folgt daraus : wenn enge Beziehungen zwischen ihm und anderen
Dialogen bestehen , so werden eben auch diese anderen dem
Jahr 399 vorausgehen.
Ich freue mich zu bemerken, daß ich mich hier ganz in Über-
einstimmung mit Wilamowitz befinde. Er schreibt (S. 136):
„Die Sokratiker wußten freilich, daß Sokr. auf dem Standpunkte
stand, niemand ist mit Absicht schlecht, sondern er tut immer,
was er immer für das Gute, d. h. für ihn subjektiv Beste hält;
solchen Lesern war die Einschränkung, die Sokr. in dem letzten
Satze macht , ein Wink für das Ganze , 'wer freiwillig sündigt,
wenn es einen solchen gibt'. Aber ein unvorbereiteter Leser
müßte sagen, Sokr. vertritt im Gegensatze zu Hippias die Unsitt-
lichkeit, und soviel sollte jeder einsehen, daß kein Sokratiker nach
dem Urteil des Gerichtes denjenigen so etwas sagen lassen konnte,
der als Verführer der Jugend verurteilt war."
Von feinen Einzelbemerkungen, die W. über den Inhalt des
Dialogs noch macht , hebe ich heraus : offenbar hat eine persön-
liche Begegnung den Anstoß gegeben. „Geckenhafte Eitelkeit hat
den PI. gereizt. Er versteht es ganz prächtig, den Renommisten
vorzuführen , der reinweg alles kann , gleich geschickt mit den
Händen und dem Munde . . . Nun war Hippias ohne Frage ein
kenntnisreicher Mann", namentlich auf historischem Gebiet, aber
„Gedanken hat er schwerlich gehabt; die ihm von den Modernen
beigelegt werden, machen sie ihm zum Geschenk ^) • • • Mit einer
Allwissenheit, wie sie dieser Hippias besitzt, sind Gedanken nicht
wohl vereinbar." — „Ganz ohne Einmischung des Moralischen
konnte PI. den Sokr. noch einführen, lediglich durch seinen Scharf-
sinn . . . den Hippias auf den Sand setzen lassen , Behauptungen
vertreten, mit denen es< ihm unmöglich Ernst sein konnte, deren
schwache Stellen dem PI. unmöglich entgingen ... Es charakterisiert
die Weise des Sokr., mit den Sophisten umzuspringen; es läßt ihn,
etwas sehr anfängerhaft, sogar in breiterer Rede, als sie hier der
Sophist führt, seine eigene Unwissenheit, aber auch seinen Gegen-
satz zu den Weisen auseinandersetzen (72 b) . . . Imponierend ist es,
wie dieser Sokr. die Leute schlägt ; aber mehr als dies Negative gibt
^) „Auf den bloßen Namen hin ihm mathematische Verdienste bei-
zulegen, ist offenbare Willkür; der Name ist viel zu gewöhnlich."
108 " Constantin Ritter.
er niclit. Wir ahnen es vielleicht, PI. wußte es sicher, daß in der
sittlichen Haltung des Mannes das Positive lag; aber das zeigt er
nicht , der Leser kann es wirklich nicht herausfühlen ; hüte sich
also der Erklärer , es hineinzutragen. Als Satire , in der Hippias
getroffen werden soll, ist die Schrift allein ganz voll befriedigend."
G 0 m p e r z , der es zwar nicht für unmöglich hält, daß einige
Frühdialoge noch zu Lebzeiten des Sokr. entstanden seien, aber
doch für recht wenig wahrscheinlich erklärt, hilft sich aus der
Verlegenheit, die ihm dabei der Hp doch bereitet, hei'aus mit der,
wie er meint, „bei dem Werk eines Anfängers nicht eben gewalt-
samen Annahme, daß es für einen engeren Kreis geistesverwandter
und mit den sokratischen Grundlehren wohlvertrauter Leser be-
stimmt war. Diese werden den Widerspruch zwischen dem Schein-
ergebnis und der Willenstheorie ihres Meisters leicht durchschaut
haben". Ich halte die Gegenbemerkungen, die Pohlenz S. 69 f.
gegen mich und Gomperz richtet , nicht für beweiskräftig und
mache darauf aufmerksam , wie PL sich im Pa 28 d e den Zenon
dafür entschuldigen läßt, daß seine Schrift veröffentlicht worden sei,
die nur zum Überfluß wiederhole was Parmenides selber in anderer
Form gelehrt habe. Er habe an Veröffentlichung der -in jugend-
lichem Alter von ihm verfaßten Streitsätze gar nicht gedacht, sondern
diese sei zuerst hinter seinem Rücken durch andere erfolgt. Daß
diese Erklärung nicht als historische Angabe über das Buch Zenons
genommen werden darf, ist selbstverständlich. Was sie aber für
einen Sinn haben sollte, wenn sie nicht auf Pl.s eigene Schriftstellerei
anzuwenden ist und für welche andere Schrift sie eher passen könnte
als für den Hp II, das wird schwerlich jemand sagen können.
Horneffer entwickelt folgendes (S. 6 f.): „Man war aus-
gegangen von dem Gegensatze des wahrhaften und lügnerischen
Menschen. Dann wurden dem Lügnerischen der Reihe nach ver-
schiedene Attribute beigelegt, die aUe irgend ein Können, ein Wissen
in sich schließen. Zuletzt wurde der Gegensatz des Wahrhaften
und Lügnerischen wiederholt. Ich kann diesen Abschnitt nur so
verstehen, daß im Hintergrunde der Satz steht: 'Tugend ist Wissen';
und dieser Satz soll widerlegt werden . . . Auch dem Nicht-
tugendhaften, dem Schlechten, in diesem Falle dem Lügner, kommt
ein Wissen zu. Also kann das Wissen für den . . Tugendhaften . .
nicht das bestimmende Merkmal sein. Denn sonst dürfte es nicht
auch seinem Gegensatze zukommen. — Diese Auslegung, die die
Worte ganz ungezwungen nimmt, wird durch das Folgende bestätigt.
(S. 17:) Sokr. fragt den Hippias, ob nicht die di7,aioavvi] eine
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 109
Fähigkeit, ^der ein Wissen sei oder beides . . Ob sie eines davon
sein muß . ., das scheint mir , zieht der Verf. selbst in Zweifel.
Wenigstens folgert er daraus . . absurde Konsequenzen, die diese
Voraussetzung widerlegen müssen . . (20) Der Verf. glaubt . . an
das Vorhandensein von Leuten, die absichtlich Böses tun, und er
hält einen Satz, der zu der Konsequenz führt, daß die absichtlich
Sündigenden besser sind, damit für widerlegt. — Was die Berufung
auf den . . Satz eiTteg Tig eoviv ovzog anlangt, so, glaube ich . .
heißt . . dieser . . auf deutsch: . . da es ja bekanntermaßen einen
solchen gibt." (?) . . (22:) „Was . . den Umstand betrifft, daß Sola*,
hier seine eigene Lehre widerlegt, so ist . . dies nur auf den ersten
Blick sehr auffällig . . . Die piaton. Dialoge sind völlig freie
Dramen." Daß der Vielwisser Hippias dem Sokr. entgegengestellt
wird, der seinerseits „an Wissen und Gelehrsamkeit hinter vielen
seiner Zeitgenossen zurückstand", während „seine Tugend nichts
zu wünschen übrig ließ", ist wohl bedacht. „Mir will es scheinen,
als wenn der Verf. hier dem Sokr. vorhielte, daß er ja selbst mit
seiner Persönlichkeit die lebendige Widerlegung seines eigenen
Satzes sei.'" . . (28) „Der Hp II. wie ich ihn auslege, ist freilich
mit den späteren Hauptwerken Pl.s nicht in Einklang zu bringen.
Aber mir scheint das noch kein Einwand gegen meine Interpretation
zu sein." Am Schluß bemerkt H., Gercke habe ihm erklärt, eigene
Untersuchung des Hp II habe ihn „zu derselben Überzeugung ge-
bracht. „Diese Übereinstimmung hat mich begreiflicherweise sehr
in meinem Urteil bestärkt" — mich erschüttert sie nicht in meinem
entgegenstehenden Urteil.
Apelt schreibt (Einl. zur Übers. S. 1 f.) : „Der moralisch
destruktive Standpunkt , den Sokr. [in dem kleinen Dialog] ein-
zunehmen scheint, konnte kaum anders als verwii'rend und ver-
blüffend auf den Leser wirken." . . . „Sokr. ist hier nach unserem
Gefühl der Sophist und Hippias der nur dialektisch übertölpelte
Vertreter des gesunden Menschenverstandes."
Zur Erklärung des Inhalts will ich noch einiges anführen, was
Heinrich Mai er, Sokrates , . . . S. 345 ff. schreibt: „Die ganze
Argumentation ist ein sprühend geistreiches , stark eristisches
Spiel, das die Wahrheit mit voUem Bewußtsein auf den Kopf
stellt . . . Fast sieht es darnach so aus , als hätte der Autor die
Absicht, zu zeigen, wie Sokr. den Hippias niederdisputiert. AUein . . .
auch dem Sophisten gegenüber verfolgt Sokr. eine protreptische
Absicht; er will eine bestimmte sittliche Wirkung erzielen. Der
Satz , um den sich die Diskussion dreht , ist ein Paradoxon, das
wo Constantin Ritter.
eine ernste sittliche Wahrheit auf die Spitze treibt. Wer absicht-
lich d. h. wissentlich böse handelt, kennt doch das sittliche Ideal.
Und diese Kenntnis kann nur das Ergebnis sittlicher Selbstbesinnung
sein. Wer aber so weit ist, der hat den entscheidenden Schritt
bereits getan. Er ist aus dem Schlaf des gewohnheitsmäßigen
Lebens aufgeweckt ... Ob es möglich ist, wissentlich Unrecht
zu tun , bleibt dahingestellt . . . Die Absicht ist durch die Para-
doxie, die einen allgemein anerkannten Satz umdreht, im Partner
oder vielmehr im Leser das sittliche Nachdenken anzuregen und
nach einer bestimmten Richtung zu lenken. Und die Wahrheit,
auf die die These aufmerksam machen will, ist: daß das Wissen
um das Ideal der Anfang alles sittlichen Lebens ist."
Aus meiner eignen Darstellung (Piaton I, S. 307) nehme
ich die Sätze heraus: „Sokr. teilt mit den Sophisten die intellektua-
listische Überzeugung, daß Bildung den Menschen gut mache oder,
was nur ein anderer Ausdruck für dasselbe Verhältnis ist, daß die
Tugend im Wissen bestehe imd lehrbar sei, ja diese Überzeugung
steht ilim viel fester und sicherer als jenen , die sich über ihre
Konsequenzen nicht ganz klar sind. Aber indem er den Begriff
des Guten und der Tugend viel tiefer und innerlicher faßt als
jene, versteht er auch unter Bildung etwas wesentlich anderes.
Er sieht, daß diese nicht mit bloßer Anhäufung beliebiger Kennt-
nisse und Fertigkeiten hergestellt wird, sondern daß ihr von vorn-
herein die Richtung gegeben werden muß auf das Ziel der sittlichen
Vollkommenheit. Sobald man die Bildung auf dieses Ziel der
a^Btri-, so wie eben Sokr. und PI. diese verstehen, bezieht, wird
auch der Einspruch verstummen, den bei äußerlicherer Fassung das
gesunde sittliche Bewußtsein erheben muß gegen den Satz : je
gebildeter, desto tüchtiger, desto besser."
Von reichem und gutem Gehalt ist Kraus' Arbeit. Er zeigt
zuerst, wie ältere und neuere Autoren über den Hp II dachten.
„Die einen erklären ihn für ein unwürdiges Produkt und unecht,
die anderen für das Werk eines Schülers, die anderen für ein un-
reifes Werk, jedenfalls für ein Jugendwerk." Aber was soll der
jugendliche Verfasser mit dieser Schrift bezweckt haben? Nach
Eckert hätten wir in ihr nur einen dialektischen Scherz zu sehen,
den sich PL als Humorist und Satiriker geleistet habe , nach
Dümmler eine Parodie auf die Homerstudien des Antisthenes ; da-
gegen Gilbert, M. Wundt und andere finden in ihm die Fixierung
unlösbarer Aporien, die dem jugendlichen Denker zur Qual geworden
waren. „Ihm schienen die Schlüsse entsetzlich ernsthaft, obwohl
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 1 1 1
er sich bei ihnen nicht beruhigen konnte", schreibt H. Nohl. Die
verbreitetste Auffassung ist die von Schleiermacher begründete, es
handle sich im Hp II um einen indirekten Beweis für die sokratische
These : 'daß die Tugend im Wissen vom Guten bestehe oder, was
wesentlich dasselbe besagt, daß niemand mit Wissen und Willen
sündige.' Im Gegenteil meinen Horneffer und Gercke, die soki-atische
Tugendlehre werde von dem Verfasser der Schrift bekämpft. —
Um den Streit der Meinungen zur Entscheidung zu bringen, nimmt
K. eine eingehende Analyse des Dialogs vor. Er findet als Grund-
gedanken des 1. Teils: aA>;^j^'g muß im Sinn des „Wahrspruch-
mächtigen", ifjevdr^g im Sinn des „Falschspruchmächtigen" verstanden
werden. Dann sind die beiden in der Tat gleichwertig und ist nichts
einzuwenden gegen die These: „wer der Vermögendste ist, in einem
Fache die Wahrheit zu sagen, sei auch der Vermögendste, die Un-
wahrheit zu sagen." Eine einwandfreie Auslegung hat schon
Aristoteles geliefert, „wenn auch in gewohnter Wortkargheit." Ja
es zeigt sich, „daß Aristoteles die Erklärung des Dialogs und hie-
mit die Auflösung der täuschenden Redewendungen als Schulgut
von PI. übernommen hat." Es ist seltsam, daß die neueren Er-
klärer die aristotelische Deutung teils kaum beachtet, teils (wie
Arnold und Hofmann) mißverstanden haben. „Für den, der die
Relativität der sekundären ethischen Maximen erkannt hat, ... ist
. . . kein Zweifel möglich,, daß, wie schon Steinhart und neuestens
Ritter bemerkt, unter Umständen eine . . . Täuschung von der
Sittlichkeit selbst gefordert ist . . . Stellt sich doch Sokrates selbst
nicht selten und wird auch so in unserem Dialoge gezeichnet, als
wüßte er nichts und jedenfalls weniger als der Sophist, während das
Gegenteil der Fall ist: Es wird also vorausgesetzt, daß man unter
Umständen die Unwahrheit sprechen, selbst täuschen und irreführen
dürfe" (S. 15). — Auch dem befremdlich klingenden Satz des zweiten
Teiles, daß wer mit Willen Unwahrheit sagt, besser sei als jener,
der es wider Willen tut, läßt sich ein Sinn abgewinnen, bei dem
er richtig erscheint. Ja er ist eigentlich im 1. Teü schon ent-
halten und (S. 21) „die kurze Verweisung (71 e und 92 e) auf den
1. Teü des Gesprächs ist eine der vielen logischen Feinheiten, die
dieser sorgfältigst und einheitlichst gearbeitete Dialog aufweist." —
Die 2. Hälfte des 2. Teils beginnt bei 75 d mit einer Definition der
Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist entweder ein Vermögen oder
ein Wissen oder beides. Auch diese Definition ist, in bestimmter
Weise aufgefaßt, völlig richtig und der sokratisch-platonischen
Lehre gemäß. Über die Vieldeutigkeit des Wortes 'Vermögen*
212 Constantin Ritter.
{dvva(.ag) hat uns Aristoteles in derselben Abhandlung unterrichtet,
der über den Sinn der Wörter i^ievör^q und aXr]d^7]g Aufschluß gibt
(S. 24). Die Gerechtigkeit ist eine S7tiOTr'^f.ir], welche die övrai-iig
zum rechten Wollen in sich schließt. „Die Definition der Ge-
rechtigkeit (Tugend) als eine övvaf^ig ist von Aristoteles über-
nommen worden . . . Nachdem Aristoteles selbst vor der Viel-
deutigkeit des Wortes" {dvvanig) „gewarnt hat, heißt es seine
Warnung in den Wind schlagen, wenn man" (was z. B. Wilamowitz
vorzuwerfen ist) „nicht jedesmal sorgfältig untersucht, in welcher
der vielen Bedeutungen er sich des Wortes bedient". . . . (S. 26)
Die Tugend ist „eine öuva(.iig nicht im Sinne der Macht des Willens,
sondern im Sinne eines zum rechten Wollen bestimmenden Prinzips,
das auch von PI. gelegenthch f§ig genannt wird (Rp 443 e, vgl.
411 e). Bei Aristoteles in einer gewissen mittleren Beschaffenheit,
einer im Unbewußten liegenden Qualität {jtoiov ti) bestehend, die
vom Wissen lediglich mitbedingt ist, bei PI. noch in sokratischem
Sinne dem Wissen vom Guten allein zugeschrieben." Apelt sieht
in der Nikom. Ethik 1129 a 14 mit Recht eine „ziemlich deutliche
Beziehung auf Hp II 75 d f. Denn wenn da gefragt wird: *Die
Gerechtigkeit, ist sie nicht entweder eine öivafug oder eine
£7Tioir^{.iri oder beides?', so gebe Aristoteles hier darauf die richtige
Antwort, während im Hp. eine 'schiefe Antwort' erfolge. Weder
dvvai-iig noch hriOTrifit] macht nämlich nach dieser Stelle das Wesen
der di-aaioavvrj aus, sondern e'^ig. Darauf ist jedoch zu entgegnen,
daß die im Hp gegebene Antwort höchstens — so weit die Zwei-
deutigkeit des Wortes dvvaimg reicht — schief genannt werden
darf. Die Gerechtigkeit (= Tugend) ist nach PI. erstens zweifel-
los eine STTiaTt'^urj'^ und mag auch das vollkommene Wissen vom
Guten nichts sein, was einem Sterblichen eignet, so wird eben auch
die vollkommene Tugend ihm nicht zukommen. 'Niemand ist gut,
denn der eine Gott.' Dieses Wort Christi könnte auch PI. ge-
sprochen haben . . . Die Tugend ist aber zweitens für PI. auch
eine dvvaf.iig. Freilich nicht im Sinne einer Willensmacht, sondern
im Sinne einer Wissensmacht, d. h. einer aktiven Kraft, die dem
Wissen vom Guten zukommt. Sie ist ihm im vollen Sinn des
Wortes 'des Menschen allerhöchste Kraft' . . . Der Tugendhafte
muß auch nach Aristoteles das Wissen vom Guten und Schlechten
besitzen. Die Definition im Hp II ist schief nur sofern sie zwei-
deutig ist ; richtig verstanden ist sie nicht schiefer als die platonische
Lehre überhaupt, welche dem Wissen vom Guten eine determinierende
dvvaixig zuschreibt." (S. 29:) „Eine Induktion, welche das, was von
Ber. über d. iu d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 113
der dcrai-Ui: des TVilleus etwas zu wirken gilt, übei-trüge auf die
övva/.iig, welche den Willen wiikt, wäre verfehlt. Eckert behauptet
gegen Gouiperz und andere, eine solche Induktion sei richtig. Denn
die Ungerechten seien (65 d) udvvaioi xi noiüv wojceq o'i xctjuvoi^eg.
Allein eben dies ist eine völlige Verkennung des platonischen Ge-
dankens . . . Daher ist es auch falsch, wenn Eckert behauptet, der
Gute habe die Fähigkeit zu fehlen, nur mache er von ihr keinen
Gebrauch. Der Gute hat nach PL zwar die Macht, wenn er will,
das Schlechte zu tun, aber es fehlt ihm gerade die Fähigkeit zu
unrechtem Wollen bestimmt zu werden, da er ja das Prinzip besitzt,
das ausnahmslos zum rechten Wollen determiniert. Die Wichtigkeit
der beiden Bedeutungen von övraf-ng und die Wichtigkeit ihrer
Scheidung kann nicht genug betont werden. Sie ist nicht etwa
nur wichtig zur Erklärung des Hp II, sie ist von fundamentaler
Bedeutung für die Ethik ..." Es „ist aber das Große an der
platonisch-aristotelischen Ethik, daß sie Determinimus und praktische
Freiheit zu vereinen wußte". — Ganz einvei-standen. — Seite 31
faüc K. nochmals zusammen: „Ich glaube gezeigt zu haben, daß
die Bestimmung der Gerechtigkeit, die 75b gibt, im sokratisch-
platonischen Sinne durchaus nicht falsch, sondern höchstens, sofern
sie das Wort divaf.ag enthält, zweideutig ist." Er fügt bei: „Er-
innert man sich, daß auch der vorangehende Teil des Dialoges
dui'chweg mit äeiuivoken Ausdrücken arbeitet und darauf augelegt
erscheint, auf diese Weise den Hörer oder Leser in die Irre zu
führen, so wird man auch hier eine gleiche Absicht vermuten."
Und schheßlich, nach einem Überblick über den ganzen Dialog wird
festgestellt (S. 35) : „daß er auch nicht einen einzigen Satz ent-
hält, der so verstanden werden muß, daß sich eine vom sokratisch-
platonischen Standpunkt unrichtige oder überhaupt schlechthin
absurde Lehre ergibt,"
(S. 36 :) „Aus dem positiven Resultate unserer Untersuchung
ergibt sich das negative : Der Dialog ist außerstande, den Satz
^Tugend ist Wissen' zu beweisen oder zu stützen." Wer darin seine
Absicht sieht, beweist nach K., daß er selbst „in die peirastische
Falle geraten" ist und die 'Macht, Übles zu wollen' mit der 'Ge-
neigtheit, Übles zu wollen' zusammenwirft. Zum Beweise führt er
Bonhöffers Urteil an: „Aus dem oberflächlichen Begriff des
Wissens und der Bildung , wie ihn eben der Sophist allein kennt,
deduziert Sokr. mit grausamer Folgerichtigkeit das lästerliche Para-
doxon, daß nur der ali]d^i'^g zugleich auch i^ievd/^g sein kann, daß
der lügnerische Odysseus besser, weil wissender, ist als der ehrliche
Jahregbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (19"i'2. I). 8
1]^4 Constantin Ritter.
bzw. unwissentlich lügende Achilleus, daß überhaupt der freiwillig
Sündigende besser als der unfreiwillig Sündigende, d. h. identisch
mit dem aya^oc. ist." Er bemerkt dagegen: „Wir sehen leicht,
wie diese für die herrschende Auffassung typische Widergabe zu
widerlegen ist. Das lästerliche Paradoxon . . ist richtig verstanden
ein vollkommen einwandfreier Satz, und Odysseus kann mit Recht
als der Bessere erklärt werden, sofern er ein nur mit Willen Un-
wahres Sagender (nicht aber ein Luggeneigter) ist, und auch dem
Satz, daß der freiwillig Sündigende der Bessere sei, kann . . ein
Sinn abgewonnen werden, der ihn der Absurdität entkleidet."
Jedoch ich meine, damit drücke K. nur Bonhöffers eigene Meinung
in freilich abweichenden Worten aus. Auch B. will das Paradoxon
als „lästerlich" nur bezeichnen für den an der Oberfläche des her-
gebrachten Wortsinnes sich haltenden Beurteiler, der gar nicht
imstande ist, das sittliche Problem in seiner Tiefe zu erfassen. Voll
begründet scheint mir im folgenden die Ablehnung der Auffassung
Horneifers (s. u.). Nicht voll einverstanden aber bin ich mit dem Satz
(S. 41) : „Die einzige Tendenz, die verfolgt werden kann, ist, den
Sophisten vermöge einer fortlaufenden Kette kunstvoll angelegter
Fallstricke zu einem höchst absurd klingenden Satze zu verführen,
dessen Absurdität nur derjenige vermeiden kann , der die övrafiig
im Sinne der sokratischen Kraft von der övvafALg im Sinne der
Macht des Willens zu scheiden vermag." Diese Absurdität, kann
man ebensogut sagen, vermag zu vermeiden wer über den wahren
Sinn der Bildung und Erkenntnis, deren Ziel das unbedingte ayad-ov
ist, ins klare gekommen ist. Und die letzte Tendenz dürfte nicht
sein, den Sophisten zu beschämen, indem die Verworrenheit seines
Bildungsbegi'iflfs an den Tag gebracht wird, sondern überhaupt zum
Nachdenken darüber anzuregen, was wertvolles Wissen und wirk-
liche echte Bildung sei. —
In der kritischen Auseinandersetzung mit den Ansichten anderer
Forscher macht K. als Schüler von Brentano und Marty reichhche
Anwendung von logischen Schemata, die ich nicht immer pünktlich
nachgeprüft habe. Im ganzen scheint mir jedenfalls richtig, was
er aus ihnen gewonnen hat. Doch möchte ich glauben, man könne
auch ohne sie aus"kommen. Mit vollem Recht wendet sich K. S. 43
gegen die in Met. 1025 a 9 enthaltene Bemänglung der Ausführungen
des Hp II, die auch Eckert zurückweist. Aber ob er Recht hat
mit seiner Erklärung? Aristoteles, meint er, der in den voraus-
gehenden Ausführungen ein so richtiges Verständnis des Hp be-
kundet, kann die fehlgehenden kritischen Ausstellungen nicht ge-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 115
macht haben. (S. 46:) „Den Fehler, den Eckert herausgefunden,
hat Aristoteles nicht begangen, sondern der Zusatz stammt von
fremder Hand." Und (S. 47) wir „gewinnen . . durch das Ver-
ständnis für die eigentlichen Zwecke Pl.s auch eine Erkenntnis für
die Kritik des Textes der überlieferten aristotelischen Metaphysik
und eine unabweisbare Athetese nicht der ganzen über den Hippias-
dialog handelnden Stelle , sondern nur eines unorganisch mit ihr
verbundenen Adnexes". — S. 49 f. bespricht K. meine eigenen
Darlegungen, die, wie er selber findet, „im Resultate" den seinigen
nahekommen — ich glaube : wirklich noch näher , als er selber
meint — ; dann setzt er sich noch einmal kurz mit Bonhöffer,
Gomperz, Natorp, Zeller auseinander.
Auf den letzten 10 Seiten ent^vickelt er folgendes: „'Wir
haben', sagt Hoffmann ^), 'ein logisch-ethisches Übungsstück vor uns,
wie PI. es öfters seinen Schülern vorlegte , um sie zum Selbst-
denken zu veranlassen. Die logischen Fehler , die zu einer ver-
kehrten ethischen Ansicht führen, müssen aufgefunden werden.'
Ich stimme mit dieser Grundauffassung Hoffmanns überein , wenn
ich auch seine Analyse in allen Punkten für verfehlt erklären mußte.
Der Dialog will zunächst zeigen, wie wichtig die Nominaldefinition
für die wissenschaftliche Forschung ist. Wer über il'evdTJg und
aXrjd^r^g Aussagen machen will, hat sich zuerst über den Sinn der
Worte klar zu werden . . Und der Dialog wül ferner zeigen, wie
wichtig es ist, die Bedeutungen des Wortes 'Vermögen' auseinander-
zuhalten, . . und wie durch Vermengung dieser Bedeutungen die
Ethik in ihren Fundamenten bedroht zu werden scheint. Der Dialog
demonstriert aber nicht nur die Gefährlichkeit der Äquivokation
und die Wichtigkeit der Definition, er zeigt auch die Verwendung
der Induktion. Der Dialog bietet aber noch mehr. Er geht von
der Induktion zur Deduktion, zur Folgerung, insbesondere zur
conversio simplex über , die an mehreren Beispielen geübt wird
und deren Berechtigung zu prüfen eine der Aufgaben ist, die PI.
an seine Leser stellt^). Der Dialog setzt nicht nur diese logische
Lehrtendenz seines Verfassers, sondern auch eine gefestete ethische
1) S. unten S. 117.
2) Gegenüber diesen vielen logisch bedeutsamen Punkten befremdet
der Satz Lutoslawskis (Plato's Logic S. 75 A.): „Dialogues . , of no logical
importance (Hp 11, So, Mx, Ly) are omitted", und (S. 194) wir müssen,
8o lange sie nicht mit sprachlichen Mitteln in die chronologische Reihe
eingefügt sind, „abstain from all attempt to fix this order from the few
logical hints which thev contain".
8*
XIQ Constantin Ritter.
Lehre ^■ol•aus , die keine andere ist als der bekannte 'intellektua-
listische Determinismus' Pl.s ... Er ist nicht nur ein 'logisches
Yademecum', wie Apelt den Hp I nennt, sondern auch ein ethisches.
Endlich zeigt er die metaphysisch belangreiche Lehre über die
verschiedenen Vermögen bereits ausgebildet. Ein nicht unreifer
Denker" — NB! — »und ein nicht unerfahrener Lehrer hat — wenn
mich nicht alles täuscht — diesen Dialog geschrieben." . . .
(S. 55:) ,.In einer wertvollen Abhandlung hat Hambruch den
Versuch gemacht, den in der aristotelischen Topik niedergelegten
Schatz für die Erkenntnis der Lehrweise Pl.s nutzbar zu machen,
über die, wie Döring bemei'kt, so gut wie gar nichts bekannt ist . .
Der Grundstock der dialektischen Regeln, so führt H. . . aus, stammt
von PI. selber und 'wurde im Anschluß an die Praxis der Schul-
disputationen und in sorgfältigster Benutzung der in Pl.s Schriften
gegebenen Anregungen weiter ausgebaut' . . . Die Darlegungen H.s
erhalten durch unsere eine Stütze, wie andererseits durch die Schrift
H.s unsere Auffassung gestützt wird, derzufolge der Hp II sowohl
für das Lexikon der Aquivokationen als auch für die Topik mitbenutzt
worden ist . . H. Maier . . hat schon vor H. bemerkt, es sei an-
zunehmen, 'daß Aristot. viel von PI. gelernt hat, daß er nicht wenige
seiner Regeln aus der Praxis der platonischen Dialoge abstrahiert
hat. Insbesondere hat er ja zweifellos beim jtelQav ?Mf.ißdveii' den
piaton. Sokr. zum Muster genommen'. Für diese Behauptung bietet
der Hp II einen schlagenden Beleg. Denn nach unserer Über-
zeugung ist dieser Dialog das tyjjische Exemplar einer peirastischen
Unterredung, die PL unter Benutzung eines sokratischen Gespräches
zum Zwecke der Abstraktion dialektischer und logischer Regeln
und ethischer Wahrheiten verfaßt hat" . . . (57:) „Für die Durch-
arbeitung in der Akademie selbst war das Werk zunächst bestimmt,
zur Erörterung im philosophischen Seminar des Meisters 5 dieser
selbst drückte den Schülern den Ariadnefaden in die Hand , der
sie aus dem Irrgarten herauszuführen bestimmt war; und nur wer
den verloreneu wiederfindet — in den Sammlungen seines größten
Schülers etwa — , kann auch dem heutigen Leser gleiche Dienste
leisten.'" (60 f. :) „Was den Pieberzustand anlangt, in dem sich
Sokr. augeblich befindet, sein 'ruheloses Hin- und Herschwanken',
von dem Pfleiderer spricht, so glaube ich: den eigenen Zustand hat
PI. hiemit nicht geschildert. Denn das Gespräch zeugt vielmehr
in seiner 'auf das Schlußergebnis sicher zusteuernden Führung',
die Gomperz ebenso richtig hervorhebt, wie die Anmut und Würze
eingestreuter Zwischenspiele, von der olympischen Ruhe des Ver-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. U 7
fassers. Von einem geradezu 'übermütigen Tone' zu sprechen, wie
das Ritter tut, oder mit Apelt von einer Ironie, die es doch etwas
zu bunt und toll getrieben habe , oder gar mit Eckert das Ganze
als ein bloßes dialektisches Spiel aufzufassen , sehe ich freilich
keinen Grund. Die maßlose Eitelkeit des Sophisten trägt ihren Teil
davon. Daß aber PI. hier den Tausendkünstler historisch treu dar-
stellt , daran zu zweifeln haben wir keinen Anlaß . . Ritter findet
es nnglaublich, daß ein so lustiger Dialog von PI. nach dem Tode
des Sokr. könne geschrieben worden sein. Ich gebe zu : nicht
unmittelbar nach seinem Tode. Aber ich habe der Überzeugung
Ausdruck gegeben, daß er ein auf alten Notizen beruhendes Werk
des Akademievorstandes PI. ist ^), und ich glaube, daß PI. auch nach
dem Tode des Sokr. das Lächeln und wohl auch das Lachen wieder
gelernt haben muß . . (62) Die Annahme , auch Schwierigkeiten
ethischer Natur könnten Anlaß geboten haben , sie in Form eines
Dialoges — der dabei seinen peirastischen Chai'akter durchaus
wahren konnte — der Ofi'entlichkeit vorzulegen . . scheint . . um
so weniger von vornherein verwerflich, als ja der historische Sokr.
auch dort , wo er peirastisch verfuhr , seine Unwissenheit betonte
und nicht selten 'aufrichtig', nicht bloß ironisch meinte. Dennoch
wird wohl unsere Hypothese mit dieser erfolgreich konkurrieren
können. Denn alles deutet darauf hin , daß es sich weniger um
Aporien handelt, die dem jungen PL zur Qual geworden sind, als
um solche, mit denen er seinen lernbegierigen Schülern harte Nüsse
zu knacken gab und die noch heute, wie Bruns bemerkt, manchem
Leser Unbehagen verursachen."
Alles ist wohldurchdacht und mit Geschick vorgetragen. Ich
selber bin längst von der Meinung abgekommen, daß der Eus, Cra
und Mx mit ihrem derben Spott vor Sokr.' Tod verfaßt sein müßten.
Allein den Hp II etwa so weit wie diese Schriften abzurücken von
dem tragischen Ereignis, durch das PI. aufs tiefste erschüttert worden
ist, — das scheint mir trotz v. Arnim , auf den sich K. S. 59 A.
beruft, durch den sprachlichen Befund als unmöglich erwiesen.
Als Probe aus Hoffmanns Behandlung soll dienen (S. 281 f.):
^) Die hier vorgetragene Annahme erinnert mich an Quintilian Inst,
or. pr. 7: .,duo . . sub nomine meo libri ferebantur . . neque editi a me
neque in hoc comparati. namque alterum sermonem . . pueri, quibus id
praestabatur, exceperant, alterum . . quantum notando consequi potuerant
interceptum boni iuvenes, sed nimium amantes mei, temerario editionis
honore vulgaverant." Sie kann damit vielleicht noch gestützt werden.
Vgl. auch Pa 28 de.
118 Constantiu Ritter.
„Wir haben ein logisch-ethisches Übungsstück vor uns usw. (s. oben
S. 115). Da ist zunächst jener Trugschluß, daß der Wahrhafte
und der Lügner eigentHch derselbe sei (69 b). Er ist dadurch
entstanden, daß das Urteil der Möglichkeit, der Wissende könne
sowohl lügen als die Wahrheit sagen, als Urteil der Wii'klichkeit
genommen und dann umgekehrt worden ist, das Prädikat zum Sub-
jekt gemacht: der Lügner und der Wahrhafte ist derselbe, näm-
lich der Wissende. Solche Veränderung verbietet die Aristotelische
Logik, die aus Pl.s Schule stammt."
An neueren erklärenden Sonderausgaben des Ladies (La) finde
ich bei Frachter verzeichnet die von Bertram -Nusser, Gotha 1903,
und von A. v. Bamberg, Bielef./Leipzig 1903 (zusammen mit Eu)-
von Cron, 5. Aufl. ; behandelt ist er von M. Hoifmann in der Ztschr.
f. d. Gymn. Wf. 1903 S. 525—532, von Eäder S. 95—97, Gomperz
S. 241—44, Pohleuz S. 23—39, Arnim S. 24—34 u. 94—97, Ritter
S. 284—97, Wüamowitz S. 181—84, Prächter S. 244 f., Windel-
band-Bonhöffer S. 145 f., Horneffer a. a. 0. S. 30—51.
Ich gehe diesmal aus von Wilamowitz. Dieser nimmt den
La in Kapitel 7 zusammen mit einer Anzahl von Schriften, die nach
seiner Überzeugung der Rechtfertigung des vom Volk verdammten
Sokr. dienen sollen. Unmittelbar vorausgehen läßt er jenem Ap
und Cr, nachfolgen Ly, Ch, Eu. Es ergab sich bei der Absicht
der Verteidigung von selbst, „daß Sokr. im Verkehr mit jung und
alt vorgeführt werden mußte , um die Vorwürfe der Anklage zu
entkräften und seine Unsträflichkeit nicht nur , sondern seinen
fördernden Einfluß auf alle andern ins Licht zu setzen". Auffallend
ist dabei, daß PI. es durchaus vermieden hat, seinen Meister auch
„mit den Handwerkern zusammenzubringen , die er doch immer in
seinen Reden heranzieht", wie auch die Ap des Verkehrs mit ihnen
gedenkt. Wir finden bei PI. „nur die Gesellschaft, der er selbst
angehörte. Am deutlichsten ist die Absicht, Sokr. gesellschaftlich
und persönlich zu heben , im La . . Hier erscheint er neben den
ersten Feldherren Athens, Nikias und Laches, und wenn die Söhne
der berühmten Parteiführer Aristeides und Thukydides , Melesias'
Sohn, auch selbst nichts weiter als dies sind, so gehören sie doch
eben zu der vornehmsten Schicht, und es will etwas besagen, daß
sie dem Vater des Sokr. aus eigener Erinnerung ein lobendes Zeugnis
ausstellen (81a)". Wir lernen Sokr. kennen als „den tapferen, den
tugendhaften, den rechten Jugendlehrer. Wenn eins, ist klar, daß
dies Buch zu seiner Verteidigung, seiner Rehabilitierung, geschrieben
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 1 1 9
ist". Ebenso die anderen, in denen Sokr. als Träger einer der
Kardinaltugenden erscheint , deren Verknüpfung in seiner Person
hergestellt ist. „Schriftstellerisch wird . . der La an den Pr ge-
knüpft, dessen Aufstellungen PI. berichtigen will."
Von Pohlenz haben wir schon gesehen, daß er sich den
La gleichfalls erst nach dem Tode des Sokr. geschrieben denkt.
Er ^) ist ihm „das schönste Zeichen für die Pietät Pl.s , der in
Fortsetzung der Ap das Bild des Meisters von allen Schlacken
reinigen will". Wir sehen PI. übrigens „bei dem Versuch, aus der
Lehre des Meisters neue Probleme zu gewinnen und sie weiter zu
bilden". Zwar die Definition der Tapferkeit als eniGxr^ui] deivcov
y.ai f.irj deivtdv dürfen wir gegen Joel, der sie dem Antisthenes zu-
eignen wollte, nach 94 c ruhig als sola-atisch hinnehmen. „Dagegen
spricht nichts dafür , daß Soki-, selber die Konsequenzen gezogen
und das Problem der Einheitlichkeit der Tugend so formuliert hat,
wie es bei PI. geschieht, und wir werden hier Pl.s eigene Hand
um so Heber sehen , weil er jenes Problem selber dann in einem
anderen Dialoge -) in Angriff genommen hat. Man wird sich fragen,
ob PI. an dieser Weiterbildung bei Sokr.' Lebzeiten sich versucht
hat." Auch andere Stellen erregen Bedenken, wenn man sie vor
399 geschrieben denkt. 86 b erklärt Sokr. : „Solange wir uns nicht
als Erzieher schon bewährt haben, solange v/ir nicht die Sicherheit
haben, guten Einfluß üben zu können , so lange wollen wir lieber
zurückhalten y.al f.(ij ev ixaiQiov avÖQcov vtoiv '/.irSirsieiv diaq>d^ei-
Qovrag tyjv fjeyiavrjV alxiav tyuv vtco xdv oh^uoxäxLov (86 b).'"
„Wann hat PI. diese Worte geschrieben?" fragt P. „Ist wohl an-
zunehmen, daß ihm, sagen wir im Jahre 402, der Gedanke kam,
Sokr. könne beschuldigt werden, die Söhne seiner Freunde verführt
zu haben, und sollte er zufällig den Gedanken mit dem Worte aus-
gedrückt haben, das später die Ankläger brauchten, Sokr. zu ver-
derben? Nein, die Worte sind geschrieben, als tatsächlich Meletos
Sokr. das öiarfd^eigeiv rovg vlovg schuld gegeben hatte. Sie sind
geschrieben , als der platonische Sokr. bei seiner Verteidigung als
letztes und wichtigstes Argument das Verhalten der Angehörigen
seiner Schüler angefühi-t hatte." — Ferner findet es P. auffallend,
wie ausführlich 86 äff. „das Motiv der Menschenprüfung durch
Sokr." behandelt wird, da PI. es doch für seinen Hauptzweck nicht
notwendig braucht. „Die Antwort ero-ibt sich , wenn wir daran
^) Den „heute wohl niemand mehr für unecht hält''.
^) Gemeint ist der Pr.
;120 Constantin Ritter,
denken , daß dieselbe i^eraaig in der Ap eine große Rolle spielt.
Dort gibt . . der ganze erste Abschnitt den Nachweis, daß diese
l^etaaig es gewesen ist, die ihm Haß und Feindschaft zugezogen und
schließlich seine Verurteilung bewirkt hat. Hier erhalten wir das
freundliche Gegenbild der Männer, die sich diese Prüfung gern ge-
fallen lassen, weil sie wnssen, daß Sokr. nur ihr Bestes will und
jene Prüfung nur zu nötig ist. Wieder ruft PI. seinen Lesern zu :
'So handelten die von euch so hoch geachteten Männer der letzten
Generation, und ihr — ?' Wieder ist die Tendenz des Abschnitts
nur verständlich, wenn der La auf die Ap folgt und der Recht-
fertigung des Verstorbenen dient." Und „Wer den La vor 399
verfaßt sein läßt, muß PI. die Geschmacklosigkeit zutrauen, daß er
als Schüler es für richtig hält, seinen Lehrer als geeignetsten Er-
zieher zu empfehlen."
Einige Zwischenzeit müßte ja auch nach P.s Empfinden zwischen
dem Ereignis von 399 und der Abfassung des La verflossen sein.
Denn die ruhige Objektivität der Personenzeichnung und eine ge-
wisse schalkhafte Munterkeit sind nicht zu verkennen. „ Wer so
zu schaffen vermag, des Herz ist jedenfalls nicht mehr ausschließ-
lich von Grimm und Schmerz erfüllt. Die sonnige Heiterkeit, die
das Leben des Meisters auch in den ernstesten Stunden verklärte,
die ihn auch im Kerker als Sieger, als Schützling der Götter, als
evdaif.nov erscheinen ließ , sie ist im Jünger zu neuem Leben er-
wacht" (S. 39).
Es ist wirklich Gefühls- und Geschmackssache , ob man an-
nehme, daß solche „sonnige Heiterkeit" bald nach der Hinrichtung
des unschuldig verurteilten Meisters im Gemüt seines treuen Jüngers
sich ausbreiten konnte. Ich bin darüber anderer Meinung als P.
und auch als Wilamowitz. So leidenschaftlos und ruhig kann ich
mir den jungen PI. nicht vorstellen. Und die Bedenken, die P.
äußert, scheinen mir dem gegenüber von geringem Gewicht. Der
Frage, ob PI. wohl bei Sokr.' Lebzeiten versucht habe, „aus der
Lehre des Meisters neue Probleme zu gewinnen und sie weiter zu
bilden", stelle ich auch eine Frage gegenüber: Warum denn nicht?
Zu 86 b erinnere ich, daß Sokr. doch immer (auch nach Xenophon)
bei jeder Gelegenheit betont hat, die Aufgabe des Jugenderziehers
sei viel schwieriger und verantwortungsvoller, als die Leute denken;
weder die gewöhnlichen Lehrer, die Sophisten, noch die Eltern,
die diesen ihre Söhne anvertrauen , pflegen sich klarzumachen,
um was es sich eigentlich dabei handle. Es ist nicht einzusehen,
warum Ausführungen darüber, die der La und der Pr gibt, nicht
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 121
sollten zu einer Zeit niedergeschrieben sein , da noch auf Sokr,
aufmerksam gemacht werden konnte als den einzigen Mann, dessen
Umgang den jungen Leuten mit bestem Gewissen empfohlen werden
könne. Und gar daß es eine „Geschmacklosigkeit" wäre, wenn der
begeisterte Jüngling , der in diesem Umgang mit Sokr. gefunden
was er überall sonst vergebens suchte, auf diesen hinwiese? Offenbar
hat P. selber nie für einen Lehrer geschwärmt, sonst könnte er so
etwas nicht behaupten. (Für recht beachtenswert auch heute noch
halte ich, was K. F. Hermann, Gesch. u. Syst. d. plat. Ph. S. 451
gesagt hat.) Und wieder, daß es befremdlich sein solle, wenn die
i^haaig eingehend geschildert wird in einem der Ap voraus-
gehenden Dialog? Als ob diese nicht eine der hervorstechendsten
Eigenheiten im alltäglichen Gebaren des Sokr. gewesen wäre. Oder
das Zusammentreffen des Ausdrucks dinfpd^eloeiv mit dem von den
Anklägern gebrauchten? Dieser Ausdruck war nun eben einmal
der übliche und nächstliegende. Nicht bloß als eitler Schwätzer,
als ctöo'kioyrc, sondern auch als „Jugend verderber" ist Sokr. gewß
Jahrzehnte vor seiner Anklage oft gescholten worden von all den
Leuten, die sich über seine l^txaaig und die Anregung, die er
den jungen Leuten zur Kritik gab, ärgerten, ebenso wie Anytos im
Me 91c die Sophisten schilt als eine (paveoa Aoj.'?/; t£ /.ni öiarpd^oqa
xiüv avyyiyvofuvwv. Also auch hier ist kein Anlaß zum Verwundern,
und da öiafpdeiQEiv entschieden gebräuchlicher ist als Xcißaai^ai,
so darf man keine Anspielung auf die Anklageschrift wittern, wo
eben zur Bezeichnung des oft erhobenen Vorwurfs dasselbe Wort
gewählt wird, dessen jene sich bedient^).
Gomperz entnehme ich die wertvollen Bemerkungen: „Das
Verhältnis der Einzeltugenden zu der ihren Wesensgrund aus-
machenden Einsicht galt PI. als ein Problem, das sein Nachdenken
noch lange beschäftigt und das er erst in der Rp endgültig zu
lösen vermocht hat. Auch hier bereits erschöpft sich ihm der
Begriff der Tapferkeit nicht in der Betätigung der Einsicht gegen-
über von Lebensübeln. Darauf deutet die beiläufige Erinnerung
') Auch einen Gedanken, der sich mir immer aufdrängt, möchte ich
hier laut werden lassen: falls es geschichtliche Tatsache ist, was Xeno-
phon Mem. 1, 2, olff. erzählt, daß Kritias dem Sokrates untersagen wollte,
mit jungen Leuten Unterredung zu pflegen, so sollte es mich wundern,
wenn Piaton das ohne Gegenerklärung hätte hingehen lassen. Ist nicht
der La diese Gegenerklärung? Damit wäre in der Tat Wilamowitzens
Urteil bestätigt (vgl. oben S. 119), daß die Schrift zur „Verteidigung", ja
meinthalb zur „Rehabilitierung" des Sokr. geschrieben sei.
122 CoDstantin Ritter.
an 'Lüste und Begierden' hin , die in der Lösung des Problems
gleichfalls eine Stelle finden. Ob PI. diese, als er den La schrieb,
schon gewonnen hatte und nur zurückbehielt, oder ob er mit den
Schwierigkeiten des Problems noch rang, kann zweifelhaft scheinen;
doch ist die letztere Voraussetzung die wahrscheinlichere." . . .
„Nicht die Größe der Gefahr und nicht die Kleinheit der zu ihrer
Abwehr verfügbaren Mittel . . . soll den richtigen Maßstab der
Tapferkeit abgeben. Von den zwei beispielsweise namhaft ge-
machten Kriegern , die ihre Position mit gleicher Standhaftigkeit
verteidigen, gebührt der Preis der Tapferkeit nicht notwendig dem-
jenigen , dessen Lage die ungünstigere ist. Denn da Tapferkeit
nichts anderes ist als die vorzugsweise drohenden Übeln gegenüber
betätigte Einsicht in das Wertverhältnis von Lebensgütern , so
kommt jener Preis nur dem zu, der diese Einsicht in vollstän-
digerem Maße besitzt-, unter Kriegern z. B. (so dürfen wir Pl.s
Andeutungen ergänzen) jenem, der die klarere und sicherere Über-
zeugung hegt, daß der Tod einem ehrlosen Leben, der eigenen
Knechtschaft oder der Erniedrigung des Vaterlandes vorzuziehen sei."
Auch aus V. Arnim will ich noch einige Sätze ausziehen
(S. 95 ff.): „Sokr. selbst bekennt, daß er die geforderte Qualifikation
in der Erziehungswissenschaft, trotz seiner Bemühungen um sie,
bisher nicht besitze , und dasselbe müssen auch die beiden Feld-
herren bekennen. Diese Wissenschaft existiert eben noch gar
nicht; sie muß erst geschaffen werden. Der Ausdruck ijivyijV
'dsganevaat war uns auch schon im Pr 12 b begegnet. Die
Wissenschaft von der Seelenbildung erscheint hier zunächst nur
als das Vermögen, über den erzieherischen Wert der verschiedenen
fachlichen Lehrgegenstände zu urteilen. Li Wahrheit aber ist sie
nach Pl.s Meinung von jener höchsten Wissenschaft , auf der die
Tugend des einzelnen und die AVolilordnung von Staat und Gesell-
schaft beruhen müßten, nicht zu trennen. So müssen wir ver-
stehen, wenn es auch hier nicht ausdrücklich ausgesprochen wird.
Denn ^ivyj^v ifEga^reveiv bedeutet: die Seele gut machen. Das
kann aber nur wer die Wissenschaft vom Guten hat, von welcher
die Lehre von der Güte der Seele einen unabtrennbaren Teil bildet.
Wer aber dieses Wissen besitzt, der ist selbst gut und besitzt die
Tugend und vermag dieses Wissen und diese Tugend seinen
Schülern durch Lehre mitzuteilen." — Wenn man den Pr und den
La zusammen nimmt, so kann man „aus diesen beiden Dialogen
entnehmen, daß für jede xeyvr^ erforderlich ist: 1. Kenntnis des
Wesens, dem die rlyvr^ nützen soll (im Fall der Erziehungswissen-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 123
Schaft: der Seele), ... 2. Kenntnis der Form und Beschalfenheit,
die dem betreffenden Wesen, um ihm zu nützen, mitgeteilt werden
soll, 3. Kenntnis der Methode , mittels welcher die Übertragung
dieser Torrn und Beschaffenheit auf das zu verbessernde Wesen
am leichtesten und besten erfolgen kann [tug äv rig avvb Qaara y.al
aqiora y.T/^aaiTo) . . . 4. Kenntnis des Vorteils, der dem verbesserten
Wesen durch die Verbesserung zuteil werden soll."
Von der Unsicherheit des zwischen La und Pr bestehenden
Zeitverhältnisses war schon oben die Rede. Eins sei noch nach-
getragen. Zu den Gründen, die v. Arnim für die Priorität des Pr
geltend macht, gehört der, daß die soki-atische Definition der
Tapferkeit von Nikias ohne Begründung eingeführt werde. Er
bemerkt dazu, (S. 25) : „Niemals nimmt PI. sonst ein sokratisches
Dogma zum Ausgangspunkt der Untersuchung, als ob es für wahr
gelten müßte, wenn es nicht widerlegt wird." Das ist richtig.
Aber wenn der La eine der frühesten Schriften ist, wenn er gar, wie
mir wahrscheinlich ist , (nach dem nicht zur Veröffentlichung be-
stimmten Hp II) der erste von PI. verfaßte Dialog sein sollte,
dann dürfte ein gewisser methodischer Mangel desselben nicht
stark betont werden.
Windelband-Bonhöffer schreibt u. a. (S. 146): Schon
in dem La „treten dem PI. . . . die zwei ethischen Probleme ent-
gegen, die ihn sein ganzes Leben lang beschäftigt haben, nämlich
inwiefern es auch eine natürliche, nicht auf Erkenntnis, sondern
auf Instinkt und Anlage beruhende Tugend geben könne und wie,
falls die Tugend Wissen ist, die einzelnen Tugenden voneinander
zu unterscheiden sind. — So wenig aber die Untersuchung an-
scheinend zu einem Ziel gelangt , so wenig ist dieselbe nach Pl.s
Sinn wirklich ergebnislos : vielmehr blickt ganz deutlich als seine
wahre Meinung durch, daß die Tapferkeit allerdings auf Erkenntnis
beruht, aber nicht auf der technischen Erkenntnis, ob etwas dem
äußern Wohl gefährlich ist, sondern auf der sittlichen Erkenntnis,
daß, wo es sich um eine Pflicht oder um die Reinhaltung der
Seele handelt, es gar kein öeivov gibt, das davon abschrecken
könnte. Darum kann Tapferkeit und jede andere Tugend nur der-
jenige beibringen, der Texvi/.og tteqI i/'i^/Jg dEQaneiav ist (85 e),
— eine Aufgabe , die sich PI. in seinem ganzen Wirken und
Schaffen bis zu den N hinaus gestellt hat."
„Wenn ii-gendein platonischer Dialog noch zu Lebzeiten des
Sokr. verfaßt wurde, so ist dies der La, in welchem recht eigent-
lich PL seinen von vielen noch nicht gekannten oder in seiner
]^24 Constantin Ritter.
Bedeutung noch kaum erkannten Lehrer einem weiteren Publikum
erstmals vorstellt, was später, wo nach dem an ihm begangenen
Justizmord jeder Gebildete Stellung zu ihm genommen haben mußte,
kaum mehr einen Sinn hatte,"
Endlich einige Sätze aus der sorgfältigen Inhaltsdarstellung
M. Hoffmanns: „Nikias . . . weiß, daß Sokr. keinen, der mit
ihm in Berührung kommt, losläßt, ohne ihn geprüft zu haben, aber
er hat dies schon öfter durchgemacht und will gern seine Einsicht
vermehren. Laches, eine mehr praktische Natur, stimmt zu, indem
er versichert, ihm sei es eine Freude, wenn die Rede eines Mannes
in echt griechischer Harmonie mit seinem Leben übereinstimme ;
er kenne zwar die Reden des Sokr. nicht, aber nach seinen Taten
halte er ihn für tüchtig . . . Jenes Lob des harmonischen Mannes,
welcher die mit ihm Verkehrenden zu Freunden der Untersuchung,
(fiXöXoyoL, macht, klingt im Munde des Laches etwas fremdartig;
hier spricht PI. selbst seinem Lehrer seine Verehrung aus. Das
Gespräch ist vielleicht . . . schon bei Sokr.' Lebzeiten verfaßt." . . .
„Auf die Frage, was die Tapferkeit sei, gibt Laches zuerst eine zu
enge Definition , indem er nur an den Krieg denkt , dann eine zu
weite ; Sokr. führt durch seine Einwände allmählich auf das Richtige
hin. Tapferkeit zeigt sich nicht nur im Kriege, sondern auch in
Seegefahr, Krankheit, Armut, ferner im politischen Leben, endlich
in der Bekämpfung der eigenen Gefühle und Begierden. Wenn sie
nun aber als Beharrlichkeit der Seele in allen diesen verschiedenen
Lagen gelten soll, so greift das zu weit; denn nicht immer ist die
Beharrlichkeit etwas Schönes , was doch die Tapferkeit sein muß,
da sie ein Teil der Tugend ist." . . .
Horneffer findet wie im Hp II so auch im La Polemik des
Verfassers gegen die sokratische Gleichsetzung von Tugend und
Wissen. Bei der Tugend der Tapferkeit scheint die Fehlerhaftigkeit
dieser Gleichung besonders auffallend. Und um sie zutage treten
zu lassen, ist die ganze kunstvolle Komposition erdacht: (S. 51)
„Wenn die .Tapferkeit . . ein Wissen sein soll, so müßte sie vor
allem durch die Künste erlernt und hervorgerufen werden, die zu
ihr am meisten Beziehung zu haben scheinen, wie die Fechtkunst . . ;
aber . . jener Fechtmeister, dem die Gesprächführenden zugeschaut
haben, hat sich im Kampf traurig bewährt^). Sokr. hingegen, der
keine Schule zur Erlernung der Tapferkeit durchgemacht hat, hat . .,
') Aber, möchte ich erinDem: nicht feig hat er sich gezeigt, sondern
■ungeschickt. Und nicht um einfache kriegsgemäße Fechtkunst handelt
es sich, sondern um einen angepriesenen neuen Waffensport.
Ber. übex- d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 125
wie erzählt wii'd , glänzende Tapferkeit gezeigt. Und die Lake-
dämonier , die eingestandenermaßen die . . tapfersten unter den
Hellenen sind , lieben die Fechtkunst und ähnliches nicht. Die
beiden Feldherren aber , die offenbar als tapfer gelten , sind ver-
schiedener Ansicht , ob Fechtenlernen ^) zu empfehlen oder nicht
zu empfehlen sei. Und beide wissen, obgleich sie doch die Tapfer-
keit besitzen -), sie nicht . . zu definieren. Scheinen diese Bilder,
die Darstellung der Persönlichkeiten , die im Dialog vorkommen
oder ihn führen, nicht . . dasselbe zu beweisen, wie sein Inhalt?
Sind sie nicht alle greifbare, lebendige "Widerlegungen des Satzes,
Tugend und in diesem Falle Tapferkeit ist Wissen?" Was den
Streit um den Begriff der Tapferkeit betrifft, so meint H. (S. 43) :
„Der Verf. läßt Sok. seine eigene" (durch Nikias vorgetragene)
„Lehre angreifen. Sokr. treibt . . den Nikias zu der bedenklichen
Behauptung^), daß den Tieren jede Tapferkeit abgehe, er treibt
ihn zu spitzfindigen" (?) „Unterscheidungen zwischen avö^eia und
■d^QaaiH]g . . . Die Vorwürfe , welche hier dem Nikias gemacht
werden , auch hinsichtlich seines Zusammenhangs mit Prodikos,
gelten, glaube ich, in Wahrheit dem Sokr. selbst. Deshalb ist der
Verf. darauf bedacht, die sachlichen Einwände mit einer Verbeugung
vor der Persönlichkeit, gegen welche sie sich richten, zu verbinden."
Diese Verbeugung besteht in einer „Lobpreisung und Verherrlichung
des Sokr., die sich", wie H. richtig bemerkt, „durch den ganzen
Dialog zieht" und wohl ihren besonderen Grund haben muß. Ich
suche ihn nur in ganz anderem, als H. *).
Cliarmides (= Ch)^), behandelt von Eäder S. 97 — 99, Gom-
perz S. 244—50, Pfleiderer S. 136 f., Pohlenz S. 40—57, v. Arnim
S. 109—23, (127 f.), Ritter S. 342—59, WÜamowitz S. 188—94,
197 ff. , Frachter S. 245 f. , auch H. Maier, Sokrates S. 389,
^) S. vorige Anmerkung.
2) Richtiger wäre: obgleich jeder auf seine Art „tapfer" idt.
^) AV^arum „bedenklich"? ich halte sie nicht bloß für sokratisch,
sondern für richtig.
^) Der unglückliche C4edanke eines gegen Sotr. polemisierenden PL
rührt von Joel her, der wo er ihn verwirklicht finden kann, dann immer
Bezugnahme nicht auf den wirklichen, sondern auf einen von anderen
Sokratikern gezeichneten, in der Regel einen antisthenischen Sokr. vv^ttert;
vgl. z. B. D. echte u. d. xenophont. Sokr. II, 1 S. 408 oder die am Schluß
der Besprechung des Eu unten S. 147 angezogenen Ausführungen.
^) Neuere erklärende Ausgaben nach Prächtcr von: Schmelzer (Berlin,
Weidmann), v. Bamberg (Bielef. u. Leipzig), Th. Christ (Wien).
12'd Constaiitin Kitter.
Kühnemann, Grundlekren der Philosophie (Studien über Vorsokra-
tiker, Sokr. und PL) 1899, S. 257—63, M. Hoffmann, Ztschr. f.
Gy.-Ws. 1903, S. 535 ff., Horneffer a. a. 0. S. 52—82 ; chrono-
logisch von H. Mutschmann, im Hermes 1911 (46), S. 473 — 78.
Troost, Inhalt und Echtheit der platonischen Dialoge auf
Grund logischer Analyse, Berlin 1889 hat, wie früher Ast, Socher,
Suckow , Schaarschmidt , den Ch PL absprechen wollen. Damit
brauchen wir uns zum Glück nicht aufzuhalten.
Ich beginne hier wieder mit dem Chronologischen.
Mutschmann führt aus: Es ist befremdlich, daß PL, „der doch
sonst die eigene Person so diskret in den Hintergrund ti'eten läßt,
im Ch an zwei Stellen (55 a und 57dff.) dem Sokr. eine hohe
Lobpreisung seines Geschlechts in den Mund legt". Was bestimmt
ihn dazu ? Bedenken wir , daß der Ch , der dem La gleicht wie
ein Zwillingsbruder dem anderen, jedenfalls auch zeitlich ihm nahe
stehen muß, und daß beide jedenfalls der Jugendperiode Pl.s angehören ;
beachten wir, daß die Hauptakteure des Dialogs neben Sokr. eben
Charmides und Kritias sind, die mit PL, wie auch Epist. VII, 24 c ff.
zeigt, nicht bloß als Oheime durch Bande des Bluts verbunden waren.
„Von der tiefen Verehrung, die er für sie hegte, zeugt der warme
Ton des Ch und eine jede Stelle seiner übrigen Werke , an
der er ihrer Erwähnung tut." Sie sind beide im Frühjahr 403 in
dem Verzweiflungskampf der Dreißig gegen die siegreichen Demo-
kraten gefallen. „Was Wunder, wenn PL nach dem schweren
Verlust , der die Familie , die Partei , ja das Vaterland betroffen
hatte, sich entschloß, den Vielgeschmähten ein Denkmal zu setzen.
Dies ist der Ch, also ein £yx,ojf.iiov , oder besser ein ejcirdquog.'^
Als solcher kann er „nur im Jahre 403, höchstens 1 oder 2 Jahre
später verfaßt sein." Der La aber wird ihm kurz vorausgegangen
sein. Dort hatte PL sich um eine Definition der avögeia bemüht,
„jetzt schickte er sich an, die awcpQOOvvrj in gleicher Weise zu
behandeln. Zu dieser Zeit nun gerade wurde in ihm durch den
Tod der geliebten Verwandten der Wunsch rege, ihr Bild, so wie
es ihm vor der Seele stand, der Nachwelt zu überliefern. Beide
Absichten sind im Ch verwirklicht, das persönliche Motiv und das
sachliche Interesse zu einem Kunstwerk voll höchster Harmonie
verschmolzen."
Zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit dieser Vermutung möchte
ich auf den Th hinweisen. Er oder genauer seine Einleitung ist
doch wohl auch ein BJiixdq)iog und ganz gewiß recht kurze Zeit nach
dem 369 erfolgten Tod des Freundes niedergeschrieben. Freilich
1
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 127
kann ich Pohlenz nicht "widersprechen, der (S. 45) betont, daß
wir es eben mit keiner wü'klichen Leichenrede zu tun haben, und
fragt, ob wir glauben sollen, „daß für eine Idealisierung, wie sie Pl.s
Dialog bringt, zehn Jahre nach dem Tode des Charmides keine Auf-
nahmefähigkeit im Publikum bestanden hätte". Dagegen wundere ich
mich, wie P. fortfahren mag: „Tatsächlich erscheint es mir psycho-
logisch ganz undenkbar, daß unmittelbar nach den Bluttaten der
Dreißig , die PI. selber abgestoßen hatten , dieses liebliche Bild
des jungen Charmides entstanden sein sollte. Erst mußten die
Eindrücke der letzten Zeit beim Publikum wie bei PI. selber etwas
blassere Farben angenommen haben." Eine Seite vorher sagt er
richtig: „Im 7. Brief spricht er noch mit Bitterkeit davon, wie sehr
ihn das Treiben der Dreißig . . . empört hatte (24de)." Also auch
nach 50 Jahren waren die Eindrücke jener Gewaltherrschaft bei PI.
noch nicht verblaßt, und trotzdem hat er den Charmides geliebt. Auf
die Gefühle des „Publikums" aber hat er nie sonderliche Rücksicht
genommen, am allerwenigsten in der schäumenden Jugendzeit.
Den Ausdruck, daß Ch der Zwillingsbruder des La sei — er
rühi't wohl von Natorp her (S. 20) — , läßt P. als „vollkommen
berechtigt" gelten (S. 56). „Schon das Thema, das Wesen einer
Einzeltugend, und der ganze äußere Aufbau, die Hinlenkung von
einer Einzelheit auf den Kernpunkt, die Teilnahme zweier Partner am
Gespräch, die Art, wie hier Charmides, dort Nikias eine von einem
anderen gehörte Definition vorbringt und diese Definition diskutiert
wird, der Abschluß des Gesprächs durch das Anerbieten der Teil-
nehmer, Sokr, weiter zu hören — das alles weist auf engste
Verwandtschaft hin. Dazu kommen Einzelheiten," Berührungen
zwischen La 01b und Ch 61a, von La 81a und Ch 56 a, La97d
und Ch 63 d, La 94 c und Ch 61 b, La 95 c und Ch 64 b, La95e
und Ch 73 c e. Ja, „der ganze Abschnitt des Ch, in dem wir diese
Ausführungen finden , hat . . . die Tendenz , die positive Lösung
anzudeuten, daß die owcfQOOvviq mit dem Wissen vom Guten und
Üblen eng verwandt, wenn nicht identisch ist. Am besten aber
wird diese Andeutung verstehen wer die Lösung aus dem La kennt.
Ch und La müssen annähernd zur selben Zeit bald nach
Sokr.' Tod entstanden sein." — Ähnhch spricht sich Natorp (S. 22)
aus. Ich bin ganz einverstanden, wenn die Worte „bald nach
Sokr.' Tod" als zweifelhaft gestrichen werden. Denn auch die
folgende Betrachtung (von S. 56) reicht nicht aus , um sie zu
sichern: „Der Ch führt uns mitten hinein in Debatten der Sokra-
tiker über die Frage , worin denn die Eigenart des Sokr., seine
128 Constantin Ritter.
IJberlegeulieit über die Mitmeusclieu besteht oder bestanden hat.
Unmöglich können diese Debatten bei Lebzeiten des Meisters ge-
führt oder gar hterarisch ausgefochten sein."
Wilamowitz behandelt nicht den Ch und La, sondern den
Ch und L}^ als „Zwillingsdialoge", „in Aufbau, Inhalt und Tendenz
ganz eng verwandt". Ähnlich schon v. Arnim, der dies weit ins
einzelne ausführt. (S. 69 ff. :) „Der Ort ist beidemal eine Palaistra,
in der Jünglinge und Knaben versammelt sind. Beidemal erkundigt
sich Sokr. nach dem Schönsten unter den Knaben und gewinnt in
ihm einen Gesprächsteilnehmer. Beidemal sucht Sokr. auf diesen
Knaben ethisch erziehend einzuwirken. Beidemal schildert er in
anmutiger Weise das Leben und Treiben der Jugend in der
Palaistra" usw. (71) . . . „Das Gesagte wird genügen, um klarzumachen,
daß Ly und Ch in demselben Stil geschi-ieben sind." — S. 38 hat
sich V. A. auf die erst von ihm richtig angewandte (!) Sprach-
statistik berufen, die das Ergebnis habe, „daß Eu, Ch, ßp I dem Ly
am nächsten stehen". — „Beide sind auch von einer gewissen
Spitzfindigkeit erfüllt, die es mit der logischen Korrektheit nicht
allzu streng nimmt und nach Art der Sophisten mit Virtuosität im
avTikiyeiv prunkt. Hinter diesem eristischen Schleier werden
aber bereits positive platonische Gedanken sichtbar , die über den
sokratischen Standpunkt hinausfiihi-en. l^y und Ch bilden in dem
gleichen Sinne ein Dialogenpaar wie G und Me, Sy und Phn, So
und Po. Sie sind von PL als Zyf:illingsdialoge mit Bewußtsein
und Absicht konzipiert, ohne darum ihrem Gedankengehalt nach zu
einem Ganzen zusammenzuschließen. In allen 4 Fällen deutet
dieses Verhältnis auch auf zeitliche Nachbarschaft."
V. A. glaubt aber zeigen zu können , daß der Ch später sei
als der Ly. (S. 109 :) „Enthält er doch ... in deutlichen Worten
die Forderung einer Wissenschaft vom Guten und Bösen als der
allein möglichen Grundlage der Tugend sowohl als der Staats-
ordnung , also das Schlußergebnis , auf welches . . , Pr, La, ßp I
und Ly den Leser allmählich vorbereiten." Insbesondere, meint
V. A. (S. 117), werde das Zeitverhältnis zwischen Ch und Ly klar,
wenn man die Argumentation Ch69d — 72 a aufmerksam lese. Sie
wollte dartun, „daß, selbst wenn man die Möglichkeit einer
EniOTi^{.iij £7iiottjfxijg zugeben wollte, diese doch nicht wissen
könnte, was einer weiß und was er nicht weiß. Kritias ist der
Meinung, wer die i/ciovy/x)] besitzt, die sich selbst erkennt
(e7tiaT}'ji.njV ij avzrj avzijv yiyvojoyfet.), der sei notwendig selbst so
beschaffen, wie das beschaffen ist, was er besitzt. Daß Ej-itias
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 1 29
hier von der . . . Stelle des Ly 17c Gebrauch macht: evia (.liv
olov av fj To TTagov, Toiaird iavi y.al avrct, Ivia de ov, zeigt die
Übereinstimmung des Ausdrucks ! Im Ly mrd der Begriff der
Parusie der Idee (denn um diese handelt es sich hier) von Sokr.
selbst als etwas Neues eingeführt und ausführlich erläutert und
von einer anderen Art der Parusie unterschieden; im Ch benutzt
Ki'itias diesen als bekannt vorausgesetzten Begriff zu seiner Argu-
mentation. Also ist der Ch nach dem Ly geschrieben. — Kritias
schließt also : 'Wer die Ex'kenntnis besitzt, die sich selbst erkennt,
der ist notwendig ein sich selbst Erkennender.' Daß hier ein
grober Fehlschluß vorliegt, bedarf für uns keines Beweises. Denn
korrekt hätte der Schluß lauten müssen : Wer das Wissen besitzt,
das um das Wissen weiß, der ist selbst ein um das Wissen (nicht
etwa um sich selbst) Wissender. Sokr. aber erhebt keinen Ein-
wand gegen dieses Sophisma . . . Daß PL dieses Sophisma selbst
gebilligt haben sollte, ist unwahrscheinlich. Er will aber auf diesen
Punkt nicht eingehen."
Mir ist hier v. A. leider ganz unverständlich. Erstens bezweifle
ich, ob hier überhaupt ein Sophisma vorliegt. Wenn einer eine
Erkenntnis besitzen sollte , deren Eigentümlichkeit es wäre , daß
sie auf sich selbst als das erkennende Subjekt sich zurückbeziehe,
so wird er mit dieser Erkenntnis sich auf sich selbst beziehen.
Weiter aber ist mii' unklar, was das Gerede von der Parusie der
Idee für Ch 69d — 72 a für eine Bedeutung haben soll. Und die
ganze Bezugnahme jener Argumentation auf Ly 17 c scheint mir
erträumt zu sein. — Die Stützen , welche sich v. A. für seine
chronologische Konstruktion damit schafft, daß er auch das Ver-
hältnis von Ch und Eus, Ch und Rp I, Ch und Eu, La und Ly
usw. untersucht, sind vielleicht weniger gebrechlich, aber nirgends
habe ich eine gefunden, die mir stai'k genug scheint, um den ganzen
Bau der v. Arnimschen Chronologie zu tragen. Daß ich ihm
namentlich bezüglich des Ly, auf den für ihn so viel ankommt,
Unrecht geben muß, werden wir später sehen. Auch das muß ich
noch bemerken , daß mir doch wahrhaftig die Verwandtschaft des
Ch mit dem La viel enger zu sein scheint als mit dem Ly. Eine
ähnliche FüUe von Parallelstellen, wie sie Pohlenz für jene beiden
nachweisen konnte, ist jedenfalls für Ch und Ly nicht aufzubringen.
Und wenn man mit Wahrscheinlichkeiten kommen darf, die auf
Analogien aus der Literaturgeschichte gegründet sind , so glaube
ich: gerade die große Ähnlichkeit der szenischen Einkleidung, die
in der Tat zwischen Ch und Ly besteht und aus der notwendig
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 9
130 Constantin Eitler.
auch in der Schilderung der Einzelumstände manche Gemeinsam-
keiten sich ergeben mußten , spricht eher dagegen als dafür , daß
sie zeitlich einander ganz nahe liegen.
In der Erklärung des philosophischen Gehalts des
Ch gehen die Meinungen der Gelehrten noch so weit auseinander,
daß ich mich begnügen muß, eine Auswahl derselben ziemlich un-
vermittelt nebeneinander zu stellen. Gomperz schreibt: „Wie
sollen wir über den unbefriedigenden Schluß des Gesprächs urteilen?
Ist er ganz und gar auf Rechnung jener ersten platonischen Manier
zu setzen , welche die verschlungenen Gedankenfäden nicht voll-
ständig zu entwirren, sondern den Geist des Lesers dabei zu selbst-
tätiger Mitarbeit heranzuziehen liebt? Nicht ganz und gar, so
meinen wir. Ein Hauptpunkt freilich wird genügend aufgehellt.
Den Wesensgrund aller Tugend, den Urquell der Glückseligkeit
bildet das Wissen von den Lebenszwecken, die Einsicht in Güter
und Übel und ihr Wertverhältnis. Darin stimmt der Ch mit
seinem Zwillingsbruder, dem La, genau überein. Doch nicht
minder darin, daß die spezifische Eigenart der Einzeltugend, hier
der Sophrosyne, dort der Tapferkeit, nicht mit gleicher Sicherheit
und Deutlichkeit hervortritt. Auch hierüber fehlt es nicht an
orientierenden Winken; allein sie weisen eher auf die Richtung
hin, in welcher die Gedankenarbeit des Verfassers sich bewegt,
als auf ein von ihr schon erreichtes Ziel. In diesem Betracht ist
der 3. Definitionsversuch : 'Sophrosyne heißt : Das Eigene tun'
nicht wenig bedeutsam. In der Rp nämlich gewinnt das Prinzip
der Arbeitsteilung, das Vermeiden jedes Eingriffs in fremde Rechts-
und Wirkungssphären, die hervorragendste Bedeutung. Dort wird
dieser Grundsatz nicht ohne alle Gewaltsamkeit mit dem Wesen
der Gerechtigkeit in eins gesetzt. Daß auch schon im Ch die
wirtschaftliche Seite desselben Prinzips berührt wird , trägt dazu
bei, der Übereinstimmung den Charakter des Zufälligen zu nehmen.
Auch den Kern der mit der Gerechtigkeit, zumal in Pl.s Auf-
fassung, eng verwandten Sophrosyne erblickt die Rp in der rich-
tigen Abgrenzung verschiedener Wirkungskreise, und zwar in der
angemessenen Koordinierung der zum Befehlen und der zum Ge-
horchen bestimmten Seelenteile. Die Vermutung läßt sich kaum
abweisen , daß derartige Gedanken dem Geiste Pl.s zur Zeit,
da er den Ch schrieb, bereits aufgedämmert, aber noch nicht zu
völliger Klarheit und Reife gediehen waren."
Natorp schreibt (S. 24): „Bonitz kam auf den offenbar miß-
lingenden Versuch , in der Definition der Besonnenheit das nicht
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 131
bloß nominelle Thema zu sehen, nur weil er die anscheinend gänz-
liche Vernichtung des Begriffs der Selbsterkenntnis , die den erst
befremdenden Schluß des Gesprächs bildet, für endgültig nahm
und bei einem so ausschließlich negativen Ergebnis sich begreiflich
nicht beruhigen mochte. Das Bedenken fällt weg, wenn sich be-
weisen läßt, daß die Selbsterkenntnis doch bestehen bleiben soll
und es in der Tat nur der (absichtliche) Fehler der Untersuchung
war (75 e) , wenn es in ihr anders herauskam. Merkwürdig ist
nun allerdings, wie PI. das Problematische dieses Begriffs empfindet,
den doch keine Philosophie entbehren kann , mit dem die sokra-
tische steht und fällt ; mit welcher Freiheit er, der echteste Sokra-
tiker, durch den Mund des Sokr, seine Schwierigkeit aufdeckt, bis
zur scheinbar gänzlichen Selbstaufhebung dieses Begriffs . . . Ein
Ding, das seine eigentümliche Kraft in Richtung auf sich selbst
und nicht auf ein anderes ausübt? Müßte nicht das Hören, um
von sich selber gehört zu werden, wiederum Schall sein, und so
fort? Sokr. getraut sich nicht, eine so große Frage zu entscheiden.
Nur das Wunder, das heißt die völlige Unvergleichbarkeit des Selbst-
bewußtseins" (vgl. S. 27!) „ist damit eindringlich gekennzeichnet.
Aber sicherlich nicht wird darum der Begriff selbst etwa preis-
gegeben. (S. 25) . . . Aber allerdings der nicht von Sola-., sondern
vom Mitunterredner aufgestellte Begriff der Selbsterkenntnis, wo-
nach sie , im Unterschied von aller Erkenntnis eines bestimmten
Objekts und abseits von dieser, nur die Erkenntnis bedeuten soll,
ob man erkennt oder nicht, dieser wird nicht etwa bloß zweifel-
haft gemacht, sondern gänzlich vernichtet. Eine Selbsterkenntnis
dagegen, die von der Erkenntnis des Objekts, nämHch des Guten,
nicht getrennt, sondern mit ihr eins wäre, würde nicht angefochten,
und das hohe Lob , welches der Selbsterkenntnis gezollt wird,
wenn sie nicht unter den aufgezeigten Schwierigkeiten litte, soll
offenbar gelten von dieser richtiger definierten Selbsterkenntnis,
die in der Tat den dargelegten Schwierigkeiten nicht unterliegt . . .
Die Selbsterkenntnis wird mit der Erkenntnis des Guten dann eins
sein, wenn das Gute eins ist mit dem wahren Selbst des Menschen . . .
Die Rechenschaft von unserem Tun , wiefern es gut ist , ist
Rechenschaft von sich selbst und vor sich selbst, ist praktisches
Selbstbewußtsein, weil die Norm, das Kriterium des Guten in nichts
als der Einheit des praktischen Bewußtseins , der Einstimmigkeit
mit dem eigenen Gesetz des Bewußtseins liegt. Das Gesetz des
Guten ist das Gesetz des praktischen Bewußtseins, mithin Selbst-
erkenntnis eins mit Erkenntnis des Guten. Also die zu einem
9*
132 Constantin Ritter.
befriedigenden Verständnis des Dialogs notwendig zu postulierende
Auflösung des Problems ist so echt sokratisch , wie der Begriff
der Selbsterkenntnis es ist; ein Sokratiker konnte sich die sokra-
tische Selbsterkenntnis nur so auslegen ; somit sciieint es un-
bedenklich , eben diese Lösung als die von PI. gewollte anzu-
nehmen . . ." (S. 27:) Es ist „die unvergleichliche Eigentümlich-
keit des Bewußtseins , daß es zugleich Bewußtsein seiner selbst
und des Objekts ist. Auch hat das Selbstbewußtsein, so ver-
standen , nicht den leeren Sinn der Tautologie , daß es sei das
Bewußtsein des Bewustseins , und folgerecht so weiter ins Un-
endliche ; es besagt vielmehr das Bewußtsein der Gesetzlichkeit
der dabei , ja eben dadurch stets auf ein Objekt gerichteten Er-
kenntnis.'' So weit etwa komme ich mit meinem Verstände nach.
Dann folgen Sätze , die mir nur dämmerhafte Vorstellungen er-
wecken, und von denen ich manches nur mit stillem Widerspruch
abschreiben kann. Sie sind aber kennzeichnend für Natorp und
die ganze M a r b u r g e r Schule. Und es wäre unverantwortlich,
wenn ich sie unterdrückte: „So fragt sich nur noch: hängt etwa
gerade die Erkenntnis des Guten innerlich zusammen mit dem
Bewußtsein der Erkenntnisform , nämlich der Form der Gesetz-
lichkeit überhaupt? Nach Pl.s Denkweise unzweifelhaft ja. Nach
seinen späteren Darlegungen, vom G an, ist es genau der Charakter
der Gesetzlichkeit, der eine Handlung als gut unterscheidet. Aber
schon der Rationalismus der sokratischen Ethik war notwendig zugleich
Formalismus — jedenfalls nach Pl.s Auffassung; und so erklärt
sich die Zurückführung des Guten nicht bloß auf Erkenntnis über-
haupt, sondern auf Selbsterkenntnis, d. h. auf diejenige Erkenntnis,
welche die gesetzliche Form des Erkennens selbst zum Inhalt hat,
auch schon aus der eigenen Begriffswelt des Sokr., wie wenigstens
PI. sie aufgefaßt hat. — Dies mußte nun aber weiter darauf hin-
führen, daß ganz allgemein die Form der Erkenntnis es ist, welche
den Inhalt bestimmt. Dieser Gedanke aber führt schon in das
Herz der Ideenlehre . . . Die Form der Erkenntnis überhaupt ist
Gesetzlichkeit; diese Form aber ist es, welche den Inhalt, den
reinen Inhalt der Erkenntnis konstituiert; denn es ist allgemein
das Gesetz, welches in der Erkenntnis und für sie den Gegenstand
schafft. Das ist der letzte Sinn der 'Idee' ; und eben dies ist die
Lösung der Rätsel, die der Ch im Begriff der Selbsterkenntnis
aufdeckt, allerdings ohne die Lösung direkt zu geben."
Pohlenz sagt (S. 48): „Das negative Ergebnis des Ch ist . . .
nicht wie beim La dadurch hervorgerufen, daß PI. ein Problem for-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 133
muliert, sondern dadurch, daß er Kritik an fremden Ansichten übt und
diese als unhaltbar erweist. Es ist der Elenktiker Sokr., in dessen
Spuren PL wandelt." Bewußt beschränkt er sich darauf, falsche
Lehren aus dem Weg zu räumen, aber man merkt, „daß ihm eine
positive Lösung durchaus vorschwebt", für die er „unzweideutige
Fingerzeige gibt. Verstehen mußte sie jedenfalls der ohne weiteres,
der mit dem Gedankengange des La vertraut war". — Daß die be-
sprochene Lehre von der E7tiOT^i.u] hriOTi]t.u]g von einem Sokra-
tiker stammt, darüber .,kann kaum ein Zweifel sein". Und daß
PI. den Fehlschluß bemerkt, der in der Vertauschung der i^iortj/^n]
eavTOc mit der ircioir^f-ii] favxT]g liegt, zeigt wohl Sokr.' Bemerkung
69 e ov zovro af-iq^iaßr^rcu, tog ovx oxuv xb avxo yiyvcöay.ov xig l'xjj,
aixog avxov yvwoexai. Aber wer ist der Mann, „mit dem PI. sich,
übrigens in durchaus freundschaftlicher Weise, auseinandersetzt?"
P. gibt die Antwort: „Ich weiß es nicht, und viel kommt auch
nicht auf den Namen an , denn die Definition der GiOfpQoavvi] als
irriöxriti] erTiaxr'^i.ir^g wird später nie wieder erwähnt. [Die Frage
an sich, ob es eine e^riaTijfirj t7iiaxr^ni]g gebe, wird bekanntlich
Th 00 b von ganz anderem Gesichtspunkte aus berührt, sicher ohne
Zusammenhang mit Ch 69 d.] Sie war ein ephemerer Einfall, den
PI. wohl endgültig beseitigt hat." In einer Anmerkung, die das
Verhältnis von Xen. Mem. IV, 2, 25—29 und Ch 71 d beleuchtet
und freie Benützung Pl.s durch Xenophon für möglich erklärt,
fügt er noch bei: „Im übrigen kann der Gegner Pl.s hier Anti-
sthenes sein, aber einen Beweis sehe ich auch hier bei Joel nicht
erbracht." Die vorsichtige Zurückhaltung, die P. hier übt, dürften
sich andere zum Muster nehmen. Eine ganz unglückliche Ver-
mutung, die nicht bloß von P. mit Entschiedenheit abgelehnt wird,
war die Hörn eff er s ^), PI. polemisiere hier und in anderen Früh-
^) Ich hatte im Sinne, Horneff er, dem ich zum Hp II und La etwas
länger das Wort gelassen, hier mit dieser ganz kurzen Bemerkung ab-
zutun. Aber ich möchte nicht unbillig sein. Und nachdem ich soeben
seinen ganzen Aufsatz nochmals durchgelesen, will ich wenigstens aus-
sprechen, daß ich ihn immerhin für geeignet halte, gut einzuführen in
die schwierigen Probleme des Ch. Meine Zustimmung muß ich ihm frei-
lich versagen. Die Gründe wird H. in den Sätzen finden, die aus meinen
eigenen Arbeiten sogleich folgen. Doch noch einiges zur Ergänzung:
H. schreibt (S. 62): „Die Untersuchung über die Selbsterkenntnis bildet
den Höhepunkt, das eigentliche Ziel des Dialogs . . . Und . . diese Unter-
suchung läuft auf eine Widerlegung der Selbsterkenntnis hinaus." Ich
meine, wie z. B. Natorp (s. oben), mit der Anfechtung der Möglichkeit
der Selbsterkenntnis und der Bestreitune; ihres Nutzen? kann es dem
134 Constantin Ritter.
dialogen gegen Sokr. (Im Gegenteil, meint P., dieser wird uns, wie
im La als Verkörperung der avdQsia, so hier als Verkörperung der
richtig gefaßten OLOcpQoovvi] vorgestellt.) Ich möchte die Frage
aufwerfen: kann denn die fragliche Person nicht Kritias sein?
Das scheint mir am nächsten zu liegen. Aber allerdings, es kommt
auf den Namen nichts an. Und zwar auch dann nicht, wenn wir
es nicht mit einem bloß „ephemeren Einfall" zu tun haben. Gewiß
wird im Th die Frage nach der MögHchkeit einer hcLGni]i.n] hm-
aT'ijf.ir]g von ganz anderem Ausgangspunkt und unter ganz anderem
Gesichtspunkt aufgeworfen. Aber ich kann mir nicht vorstellen,
daß PI. bei jenen späteren Erörterungen gar nicht an das gedacht
hätte, was er im Ch geschrieben hatte. Und der von P. aus 67 a
herausgehobene Satz ist doch nicht ganz ohne inhaltliche Ver-
wandtschaft mitThöObc (xeytotov ds %ovt tvi Trj r^i-ieiiQa zi^vT}^
ßaaavlteiv övvazbv eivai 7iavTL tqotk^, Ttovegov eidiolov -/.al ipeuöog
anoiLxvu rov vaov ij didvoia rj y6vi(.iov re y.ai aXtid^lg. Immerhin:
die e;7tiOT7Jf.nj hiioiri^i]g im Th hat erkenntnistheoretische, die im
Ch in erster Linie ethische Bedeutung. Es verleugnet sich nicht,
daß sie eben aus der iTiioitju)] eavvov umgebogen ist. Aber das
praktische Handeln des Menschen muß von einem Sokratiker stets
in Abhängigkeit von seinem Erkennen gedacht werden.
Der philosophische Gedankengang des wichtigsten Abschnitts
läßt sich doch wohl (vgl. meine Darstellung P]. I S. 346 ff.) in
aller Kürze mit folgendem widergeben : Kritias hat die Gleichung
aufgestellt: oiocpQoavrr] = »^ tiov ayaO^iov jiqä^ig oder jton^aig.
Er will es aber nicht für möglich gelten lassen, daß jemand die
Eigenschaft der otocpQOOvvi] besitzen könnte, ohne das selbst zu
wissen. Daraus müssen wir folgern: ococpQoavvi] ist Tun des Guten
Verf. nicht Ernst sein. Seine Absicht ist nur, den Leser dazu zu nötigen,
daß er scharf zvisehe, in welchem Sinne die sokratische Forderung zu
verstehen sei. Manche, die sie vernommen hatten, stimmten ihr wohl
zu, ohne sie tief genug zu fassen. Auch der Eitelkeit eines Kritias be-
hagt sie. Er war auch darin mit Sokr. einig, daß dadurch der höchste
Lebensinhalt vind Lebenszweck erkannt werden solle. Jeder müsse wissen,
was für ihn otxeiov sei, und darnach handeln. Aber er ist nicht dazu
vorgedrungen, in wissenschaftlichem Forschen sich klar zu machen, daß
eben das Zusammenwirken mit anderen Menschen in geordneter Gemein-
schaft dem tiefsten Seelenbedürfnis entspreche; er hat so wenig wie
Kallikles im G eine Ahnung von der ysco/uiTQtxtj iaoTTjg, welche die Rechte,
auf die er als Geistesaristokrat pochen mag, in Beziehung setzt zu
Pflichten. Es ist, nebenbei gesagt, entschieden unrichtig, was H. S. 73
über die Rolle des Kritias im Dialog und besonders sein Verhältnis zu
Sokr. ausspricht. — Das mag genügen.
Ber. über d. in d. letzteii Jahrzeknten über PL erschienenen Arbeiten. I35
aus richtiger Einsicht. Und wenn Sokr. dem Kritias einwendet,
daß es Leute gebe, die Gutes vollbringen, ohne es zu wissen, und
dafüx' das Beispiel des Arztes anführt, der bei einer glückhchen
Kur nicht wissen könne, ob für seinen Patienten die zurückgegebene
Gesundheit ein Gewinn sei, so ist daraus eben weiter zu schließen,
daß das Werk, um das es sich hier handelt, an und für sich kein
ayaiyöv ist. Die Erkenntnis, aus der heraus der atöq^Qiov handelt,
ist nicht irgendwelche beliebige Fachkenntnis, wie sie z. B. der
Arzt besitzt. Doch kann uns dessen Beispiel immerhin lehren,
daß die Ausführung des Guten im Einzelfalle auch Fachkenntnisse
erfordert. Denn wer genau wüßte, der Tod eines Menschen be-
deutete einen schweren Verlust, weil sein Wirken Gott wohlgefälhg
und gesegnet ist, besäße aber die Kenntnisse nicht, durch deren
Anwendung dieses Leben erhalten werden könnte, wäre im Besitz
seiner otocfQooivri hilf- und machtlos. Trotzdem ist sie dyad-öv.
Sonst verdiente sie nicht als ccqeh] anerkannt zu werden. Ja, es
ist klar, daß erst durch sie alles andere Wissen sicheren positiven
Wert erhält. Dieser Gedanke wird in späteren Dialogen , wie
Eus, E,p und Po, deutlicher ausgeführt. Und während es sich
dabei zeigt, daß selbst die Wissenskunde (die e;ciaTrji.irj tri ianjf.ir^g),
die als rein formale die Merkmale der Wahrheit und Falschheit
jedes Satzes liefert und damit die Möglichkeit zu kritischer Ent-
scheidung bietet, der höchsten Erkenntnis des absolut Guten und
unbedingt Wertvollen untergeordnet werden muß, wird anderseits
klar, daß diese Erkenntnis des höchsten Inhalts selber sich nur in
wissenschaftlicher Form vollenden und nur dadurch dem denkenden
Geiste zum unerschütterlich sicheren Besitz gemacht werden kann.
Die Probleme sind hier im Ch nur angedeutet. PI. hatte erst
angefangen, mit ihnen zu ringen. An Andeutungen aber ist dieser
Dialog erstaunlich reich. Und keinen seiner Sätze möchte ich als
„ephemeren Einfall" behandeln.
Zur Ergänzung seien aus meinem Piaton I noch folgende
Bemerkungen ausgezogen (354): „Es wird zu folgern sein, daß bei
der problematischen Erkenntniskunde ein Unterschied zu machen
wäre zwischen dem erkennenden Akte und einem schon früher
vollzogenen Erkenntnisakt, der jetzt als vollzogener für die Be-
trachtung gegenständlich geworden ist. Wenn Sokr. diese Unter-
scheidung scheinbar abweist und damit die Erkenntniskunde als
ein Unding erscheinen läßt, so dienen die Analogien, deren er sich
zu diesem Behufe bedient, zum Teil eher dazu, sie zu stützen, als
gründlich abzutun ... (355) Weiter läßt sich folgern, daß die Form
136 Constantin Ritter.
des Wissens ohne einen bestimmten Inhalt, der als solcher irgend-
einer einzelnen Fachwissenschaft angehört , gar nicht bestehen
kann. Umgekehrt scheint es, daß jede bestimmte Wissenschaft,
die diesen Namen verdient, z. ß. die ärztliche, gegi'ündet sein
muß auf die bewußte Anwendung der Prinzipien und Bedingungen
alles Erkennens. (Ohne diese Grundlage wäre sie bloße Routine.)
Jede Einzelwissenschaft schlösse dann die Erkenntniskunde in sich;
und es ließe sich daraus wieder ein Beweis dafür ableiten, daß
sie verschieden ist von dem, was wir mit acücpQoocvrj etwa be-
zeichnen Avollen . . . Anderseits aber ergibt sich . . . , daß die
aiücfQ. als Wissen von dem Guten eben auch streng erkenntnis-
mäßige Form haben muß, und wenn wir die aioq^Q. beschreiben
wollen, was Sache der Ethik sein wird, so ergibt sich für diese,
daß sie an der Erkenntnistheorie ihre notwendige Ergänzung und
Grundlage habe. — Daß PL im Ch über die einseitige Betrachtung
ethischer Probleme hinausstrebt, verrät sich auch in der Ausfülir-
lichkeit, mit der er den Sinn der Reflexbegriffe" (d. h. von Be-
griffen wie hiLOzr](.n] aniavTJiiirjg, eavrr^g vmI tcov aXXcov oxpscov
oij.iig, a-^o^ airrjg y,al riöv a?Mov a/.oc~jv, do^cc do^cov y.ai aii^g)
„erörtert. Überhaupt tritt ein logisches Interesse neben dem
ethischen bedeutsam hervor" . . . (357) „Daß die GioqiQOGvvi] im
Tun des Guten sich äußert und Kenntnis des Guten zu ihrer
Wurzel hat, wird als positives Ergebnis dem Ch entnommen
werden dürfen. Das Beispiel vom Wirken des Arztes ist dazu
angetan, deutlich zu machen, daß der gute Erfolg, den ein Mensch
mit seinem Handeln erzielt, jedenfalls nur dann ihm als Verdienst
angerechnet werden darf, wenn er ihn als Erfolg vorausgesehen,
also bei Beginn seines Handelns beabsichtigt hat," worin der Keim
der Erkenntnis steckt, .,daß nur der Wille sittlich zu beurteilen ist".
Auch V. Arnim soll noch einmal zu Wort kommen. Er
schreibt (S. 114 f.) über die in 67c ff. behandelten Reflexbegriffe:
Es wird „für jedes seelische Vermögen der ihm entsprechende
Gegenstand angegeben , auf den sich seine spezifische Energie
richtet. Wie der Sehkraft die Farbe, dem Gehör der Klang, so
entspricht der S7Tidij.iia die Lust (J^dovi^, der ßovXrjOig das Gute,
dem iQcog das Schöne. Nur bei der öö^a und e7iiGTtj(.u] vermeidet
PI. aus leicht begreiflichen Gründen, ihre spezifischen Gegenstände
anzugeben. Er hätte sie nicht angeben können, ohne sich in tief-
gehende philosophische Untersuchungen einzulassen, welche den
Gang der vorliegenden Untersuchung unterbrochen und die künst-
lerische Einheit des Ch aafirehoben hätten . . . Ein aufmerksamer
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 137
Leser konnte diese Lücke nicht übersehen und mußte sich fragen :
was ist denn der spezifische Gegenstand der öo^a, und was ist
der von ihm verschiedene spezifische Gegenstand der smaTijf.ir^?
Diese Frage wollte PI. dem Leser nahelegen, die Antwort aber
nicht aussprechen, die er selbst für sie bereit hielt. Diese konnte
nur lauten, daß die Idee der bnioirjin] und die im Werden be-
gi-iffene Körperwelt der öota als ihr eigentümliches Objekt ent-
spreche. Mit anderen Worten: PI. hätte diese Ch-Stelle nicht in
dieser Form niederschreiben können, wenn er nicht bereits die
Ideenlehre konzipiert gehabt hätte. Mit der Stufenleiter der Er-
kenntnisvennögen : ai'oi^r^oig., dö^a, eTTiOTr^ui^ und der Lehre vom
spezifischen Gegenstand jedes derselben ist die Ideenlehre ipso
facto gegeben." — Ich hoffe, daß kein unbefangener Leser die
von PI. ihm nahegelegte Frage so wie v. A. beantworten wird.
Oder ist denn gegen die erkenntnistheoretische Stufenleiter : Sinnes-
wahrnehmung, Vermutung, Wissen etwas Vernünftiges einzuwenden?
Und wenn auch wir sie gutheißen, haben wir damit etwa die
„Ideenlehre" ? Vielleicht ja. Doch nur, wenn man etwas ganz
anderes darunter versteht, als was die Erklärer, die die Sprüchlein
des Aristoteles über Piaton nachsagen, darunter verstanden wissen
wollen. Auch die übrigen philosophischen Erklärungen v. Arnims
zum Inhalt des Ch scheinen mir unbrauchbar, eben weil er alles
dui'ch die üblichen aristotelischen Brillen betrachtet.
Hören wir auch noch einige nicht philologische Erklärer.
Pfleiderer S. 138: „Neben der leichten Anstreifung vor-
sokratischer Philosopheme" in den „Anfangsdialogen", sind „be-
sonders bedeutsam die Ansätze zur späteren Vornahme gewisser
tieferer Fragen aus der Erkenntnislehre und Psychologie. Hieher
gehört die merkwürdige Abschweifung im 2. Teil des Ch über das
'Wissen des Wissens', seine Möglichkeit und seinen Wert, auf
was in leichter Anlehnung an das eigentlich ethische Thema der
Gioq^oooiv)] durch das altsokratische yvcjd^i aacTor übergeleitet
wird. Aber während Sokr. seinen Leibspruch teils praktisch ver-
steht und auf die Erkenntnis des Maßes und der Art der eigenen
Begabung bezieht, teils mehr nur allgemein theoretisch mit dem-
selben die Klärung und Verständigung in der geistigen Begriffswelt
verlangt, gibt ihm erst PI. auf der Grundlage jener ursprünglichen
Bedeutungen die zugespitztere Wendung, daß es sich in letzter
Hinsicht um die Erfassung des eigenen Geistes, seiner Gesetze
und Erkenntnisbedingungen handle. Wenn auch noch ohne weiteren
. Verfolg und völlige KJarheit, blitzt also erstmals die Grundlage
138 Constantin Ritter.
einer feineren Erkenntnistheorie auf, welche namentlich Fichte
später beinahe wörtlich wie PI. 67 cd als das 'Sehen des Sehens'
im Unterschied von dem harmlos einfachen und unreflektierten
Gebrauch desselben bezeichnet hat. Auch die bekannt schwierige
Frage der Ethik, ob es ein WoUen des Wollens, ein vouloir vouloir
gebe, wie Leibniz es bekämpft, taucht im gleichen Zusammenhang
einen Augenblick auf. Wie aber schon bei Soki*. derartiges
Formale nie bloß Übung der Dialogik und Dialektik am vile corpus
der sich zufällig darbietenden sittlichen Gegenstände gewesen war,
so teilt PI. ganz jene Grundüberzeugung des Meisters von der
Wissensnatur der Tugend und umgekehrt, also daß sich auch ihm
Dialektik und Ethik zu unteilbarer Einheit verknüpfen und das
Formallogische mit Materialethischem Hand in Hand geht.'^
Dann Kühne mann (S. 258): „Daß . . . besonnen sei, wer
sich selbst kennt und prüfen kann, was er weiß und was nicht
und was ein anderer weiß und nicht weiß oder zu wissen glaubt:
das ist genau die Umschi-eibung dessen, was Sokr. tat und wollte.
Sein gesamtes Tun erscheint hier zusammengefaßt als die eigent-
liche Darstellung der griechischen IJrtugend. Das sokratische
Wissen wäre die eigentliche Besonnenheit. Der verwaschene
Tugendbegriff hat durch sein Tun Inhalt und Bestimmtheit ge-
wonnen. Ein Lebenssinn ist mit ihm erschienen. Aber PI. geht
über Sokr. hinaus, indem er an dieser Stelle die Idee und das
schwierige Problem einer ganz neuen Art von Wissenschaft ent-
deckt. Er stellt eine neue Frage, mit der neue Arbeiten gefoi'dert
sind. Weißt du denn, wer du bist? Oder bist du denn gewiß,
daß, wenn du dich gut weißt, dies Wissen auch wirklich ein
Wissen ist? Das ist die Frage des Sokr. Wenn er ihre Er-
örterung erzwingt, so kommt die erste Vorahnung heraus von dem
Bewußtsein, wie es sein müßte, um Wissen und zwar praktische
Vernunft zu sein." (260) „Sofern die Philosophie unser Weissen
der Welt enthalten soU und mit dieser Idee erst Gewißheit ge-
geben wäre, daß wtr Wissen haben, insofern wäre die ausgeführte
Idee vom Wissen die Grundlegung der Philosophie, und mit dem
Problem der Wissenschaft vom Wissen ist das Problem der Philo-
sophie gestellt . . . Ein Höhepunkt der Entwicklung ist hier er-
reicht . . . Was Pl.s Meinung vom Nutzen oder von der Tugend
dieses Wissens sei, blickt kenntlich genug durch die absichtlich
resultatlosen Gedankengänge hindui'ch. Mit jenem Wissen würde
jeder sich begrenzen in der Sphäre seiner Sachkenntnis . . . Daher
wäre jeder bewußt des Gesetzes, dem er in seinem Handeln zu
Ber. Ober d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 139
folgern hat . . . Wir begreifen, wie in einem letzten Zielgedanken
alle , . . Bemühungen zusammengehen. Wenn wir mit dem Wissen
uns beschäftigen und den Begriff der Tugend suchen, so recht-
fertigt sich das alles in unserer letzten positiven Idee : der Herr-
schaft der Vernunft im Staat.''
Endlich H. Maier: „Daß die Formel za eaiTol TzqäTieiv auf
Antisthenes zurückgeht, hat schon Zeller 11, 1* S. 304, 1 gezeigt
(vgl. Joel I 490). . . . Kritias im Ch 61 b ff. übernimmt die anti-
sthenische Formel, ist aber selbst noch so weit Junker, daß er
dem Proletarier Antisth. nicht bis in die äußersten Konsequenzen
folgt . . . Aus Xenophon wird deutlich, daß in der antisthenischen
Vorlage das xa laizoov rrgövreiv zunächst den Sinn hatte : in
seinem Tätigkeitskreis tätig sein. Aber wii" sehen nun im Ch,
wie diese Formel in die Bedeutung übergeleitet wird, die sie dann
später bei Antisth. definitiv erhalten hat : das ra eavtov /rgdzTeiv
ist einwandsfrei , soweit es ein xaPaöi^ xat XQ)]oiuiog vi rcoiEiv
ist, d. h. soweit die noiovciEva auf das Gute, auf das sittliche
Ideal bezogen werden. Alles aber, was auf das Ideal bezogen,
dem sittlichen Zweck untergeordnet ist, ist des Menschen Eigenes,
das seiner Natur Entsprechende (oiy.eia)', dagegen sind die /covijqcc
aUe aXXözQia. So ergibt sich zä eavroc ttqcczzeiv = das in die
Machtsphäre des sittKchen Willens Fallende tun = tugendhaft
leben . . . Antisth. hat die Formel von Sokr. übernommen. Bei
diesem aber hatte sie den Sinn: das in dem eigenen natürlichen
Tätigkeitskreis Liegende lücpslluwg (im sittlichen Sinn, /.leid zov
'/mIov) tun. Hiezu vergleiche man nun die platonische Haupt-
tugend, die di/Mioairij, in Rp 433 a.'-
Euthypliroii (= Eu) , behandelt von Räder S. 129 — 30,
Pfleiderer S. 257 ff., v. Arnim S. 141—54, Ritter S. 359—68,
Wilamowitz S. 200—205, Frachter S. 249 — 51. M. Hoffmann,
Ztschr. f. Gy.-Ws. 1904 S. 87—92, Windelband-Bonhöffer S. 147,
Gomperz S. 289 — 93. Dazu G. Schneider, Der Begriff der Frömmig-
keit in Lessings Nathan und in Pl.s Eu bei Fries & Menge, Lehi'pr.
1905 S. 1—13, Fr. Falbrecht, Pl.s Eu im Jahrb. d. V. f. wiss.
Pädag. 1906 S. 40 — 116, A. v. Kleemann, Die Stellung des Eu
im Corpus Platonicum, J.-Ber. d. Akad. Gy. Wien 1908 (S. 3—19).
Neuere erklärende Ausgabe von M. Schanz, Leipzig^).
^) Aul3erdem nach Frachter von Cron-Uhle, Schmelzer-Petersen 1912,
Th. Christ, v. Bamberg.
140 Constantin Ritter.
Prächter setzt nach dem Ch das erste Buch der Rp an,
darauf Eu und nach diesem Ly. Er sagt (S. 251), diese Stellung
habe er dem Dialog „nach den Resultaten der Sprachstatistik und
seinem Gesamtinhalte bestimmt" und gibt dazu die nähere Aus-
führung: .,Die Frömmigkeit ist im Pr und G der Gerechtigkeit
koordiniert, in unserem Gespräche (11 e ff.) steht sie zu ihr im
Verhältnis der Subordination, und in der Rp erscheint sie nicht
mehr unter den Haupttugenden. Man hat daraus geschlossen, daß
die Abfassungszeit der Schrift zwischen die des Pr und des G
einer- und der Rp anderseits falle (Gomperz, Gr. D. II, 1 S. 289,
93, 95). Mit Unrecht , wie mir scheint. Beide Auffassungen,
die koordinierende wie die subordinierende, wurzeln in volkstüm-
lichen Anschauungen (L. Schmidt, Ethik d. a. Gr. I S. 303 f., 08,
R. Hirzel, Themis, Dike u. Verw. S. 180 f.), und PI. konnte im
Eu die subordinierende um so unbedenklicher herausgreifen, als
sie ihm zwar für die Einführung eines Definitionsversuches einen
brauchbaren Anknüpfungspunkt bot, für den Inhalt der Definition
aber belanglos war, da es sich bei diesem nur um die 'Götterpfiege'
als solche, nicht um ihr logisches Verhältnis zur Gerechtigkeit
handelte." Durch diese kritische Bemerkung halte ich den Streit
über den betreffenden Punkt für völlig erledigt und Ausführungen,
wie sie z. B. Räder S. 129 und Kleemann S. 5 geben, nach denen
der G dem Eu vorausgehen müßte, für endgültig abgetan. Freilich
Gomperz erklärt (S. 295): „Es bleibt dabei, daß die Unter-
ordnung eines Begriffes unter einen anderen und ihre Nebenordnung
verschiedene Dinge sind und daß das Volksbewußtsein entweder
die im G vorausgesetzte Koordination oder die im Eu geheischte
Subordination, nicht aber die eine sowohl wie die andere als an-
nehmbar erachten konnte." Doch auch v. Arnim hat sich diesen |
Folgerungen nicht gefügt. (S. 152:) „Auch im Me wird die oOLOTVjg \
neben der ör/Mioavvrj genannt, so daß der Eu, wenn nach dem G,
aus demselben Grunde auch nach dem Me geschrieben sein müßte.
Mit Recht hat schon Shorey . . , diese Schlüsse als 'utterly
fantastic' bezeichnet. Daß PI. die boiozr.g im Eu nicht eliminieren
wollte, geht aus der Stelle N 67 d — 68 a hervor." Auch das gebe
ich Prächter zu, daß die in 14 abbiegende Beweisführung leicht
richtiggestellt werden kann von einem Leser, der mit den Ergeb-
nissen des La und Ch vertraut ist, und daß hiedurch die Ver
mutung sehr nahe gelegt wird, diese anderen Dialoge gehen dem
Eu voraus. Weiter möchte ich mit ßonhöffer sagen: „Be-
achtenswert ist, daß im Eu für die Einheitlichkeit des logischen
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 141
Begriffs, die auch in den vorangehenden Dialogen'^ — gemeint
sind La und Ch — „deutlich gefordert war, bereits die auf die
Ideenlehre hinweisenden Ausdrücke löea, et Sog, .ragadety^ua auf-
treten, die vielleicht dafür sprechen, daß der Dialog nicht zu den
frühesten gehöi-t, sondern in der Zeit zwischen G und Me ent-
standen ist." Bestimmteres sollte nicht behaujitet werden, ehe die
sprachlichen Untersuchungen erweitert sind, die vielleicht vollends
über die Unsicherheit des Zeitansatzes hinweghelfen können. In-
zwischen möchte ich aufrechterhalten , was ich PI. I, 368 ge-
schrieben habe : die künstleiische Ruhe, mit der nicht bloß Sokr.,
sondern auch sein Gegenspieler, der eifernde Fanatiker Euthvphron,
gezeichnet ist, lasse die Vermutung Schleiermachers richtig er-
scheinen, daß die Abfassungszeit der Verhandlung der Anklage
gegen Soki\ voi-ausliege ^). Andernfalls müßte der Eu ,,um erheb-
liche Zeit von dem Prozeß abgerückt werden und dürfte dann
wohl erst nach dem G anzusetzen sein, wogegen doch gar manches
einzuwenden wäre" 2).
Ich glaube mich aber verpflichtet, wenigstens einiges von
dem anzuführen, was andere noch haben ermitteln wollen.
v. Arnim meint (S. 141): Der Eu bilde „einen integrierenden
Bestandteil der Dialogreihe, in welcher PI. beweisen will, daß auf
der eniOTri(.ii] tov ctyad^ov alle Tugenden beruhen". Deshalb muß
er „vor dem Eus geschrieben sein, in dem diese Dialogreihe ihren
Höhepunkt erreicht". (143:) Durch die Ausführungen über das
Gerechte in 7 c ff. „fühlen wir uns an Ep I erinnert, wo sowohl
die Gerechtigkeit als die Unmöglichkeit friedlichen Zusammenlebens
der Ungerechten 51b c dargelegt wird. Man wird zugeben müssen,
daß die Eu-Stelle demjenigen Leser mehr bietet, der die Ep-Stelle
schon kennt. Auch die Worte Eu 7 c aviEQ v.ala tjyovviaL —
HioovoL erinnert an Ep I 34 c uv.bg f.iev — novr^QOcg f^iioelv".
Ferner (144), die Definition S ar TtävzEg 01 d^eol /.iiawaiv, avoaiov
EOTiv, o ö av (piXwaiv oaiov ist „gewissermaßen die Grundsäule
der idealistisch-intellektualistischen Philosophie Pl.s . . . Ohne
die hier entwickelte Grundüberzeugung, daß das Gute geliebt wird,
weil es gut ist, und nicht etwa gut ist, weil es geliebt wird, ist
der gacze Piatonismus undenkbar. Daß PI. den L}-, der diese
Frage als Aporie behandelt, so nicht hätte schreiben können, wie
er ihn geschrieben hat, nachdem er die Frage im Eu dogmatisch
entschieden hatte, gehört zu den absolut sicheren Ergebnissen der
*) Wilamowitz freilich (S. 201 A.) findet das „unbegreiflich".
2) Obgleich z. B. Schanz (3. Jahr.-Ber. 1895 S. 58) diesen Ansatz macht
142 Constantin Ritter.
vergleichenden Analyse" [??]. — (145) „Das logische Verhältnis
der Spezies (f^oQiov) zum Gattungsbegriff wird mit einer Breite
und Ausführlichkeit erläutert, die uns zeigt, daß dieser Punkt Pl.s
Lesern noch nicht geläufig war, und daß er ihnen, abgesehen von
dem besonderen Gegenstand, eine allgemeine logische Belehrung
erteilen will. Vergleicht man diese Erörterung mit der im Pr
29 c — 30 a, so sieht man auf den ersten Blick, daß im Pr das
Verhältnis der Einzeltugenden zur Gesamttugend nicht mit der-
selben logischen Schärfe wie im Eu dargestellt wird ... Es ist
klar, daß „die Formulierung im Pr zum Teil hätte anders gegeben
werden müssen", wenn die Erörterung des Eu schon vorgelegen
hätte." — (146) „Pr 31b iyw y.ev yäq avrbg vtvsq ye sfiavtov .
(falijv av xal zfjv diY.aiooivrjv oaiov eivai v.al ttjv oGiÖTtjTa diy.aiov.
Zu dieser Stelle steht der Satz des Eu: tÖ /UfV ooiov Ttäv diy.aiov,
ro di dty.aiov ov jcav oaiov in einem nicht wegzuleugnenden
Widerspruch. Es muß aber der Satz im Eu als nachträgliche Be-
richtigung der Pr-Stelle und nicht umgekehrt aufgefaßt werden,,
weil er der in der E,p vorgetragenen Form der platonischen'
Tugendlehre näher steht." (146 f.:) „Ohne daß die Formulierung,
Euthyphi'ons dazu streng genommen die Berechtigung gibt, wird
von Sokr. die d^egaTteia als eine TS%vrj oder STtiorrj^r] tov d^eqa-\
TtBvuv gedeutet . . . Offenbar erklärt sich das nur daraus" [?],
„daß Pl.s Leser schon gewohnt sind, die Tugenden als STTiGT^juai,:
aufgefaßt zu sehen. Das ^egoTteveiv, auf das sich die boiorrjg alsi
e7tLGtr'jf.iiq bezieht, wird dann weiter als ctiq^eXelv = ßeXxiovg rcoisTv
aufgefaßt . . . Der Übergang . . . entbehrt jeder Begründung."
Ich glaube, er bedarf einer solchen nicht, v. A. dagegen bemerkt:
„Ganz anders verfährt PI. an der Parallelstelle Ep I 35 b. Da
läßt er sich die Identifikation von ßXdnreod^ai und xbiqovq yiyveaS-ai,
erst ausdrücklich von dem Mitunterredner zugestehen . . . Die
Eu-Stelle konnte nur deswegen so leicht über die keineswegs
selbstverständliche Identifikation hinweggleiten, weil sie bereits in
Rp I eine Rolle gespielt hatte . . . Die Gleichung d^egaiteveiv =
ßsXriovg ^toielv kennt auch . . . der La." Eben deshalb genügte
schlimmstenfalls die Annahme, der niemand widerspricht, daß der
La dem Eu vorausgegangen sei.
Gomperz: Die Analyse des Gesprächs im Eu liefere „gute
Gründe zu der Annahme, daß er dem Pr und dem G nachgefolgt
und der Rp vorangegangen ist". Die Gründe bezüglich des G
kennen wir schon , ich habe sie aber nicht gut gefunden. Bezüg-
lich des Pr aber wird niemand Widerspruch erheben.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. I43
Der Gedankengehalt ist so kurz und gut von Bonhöffer
widergegeben, daß ich ihn hier ausschreiben kann: „Im Eu wird . . .
der Begriff der Frömmigkeit, des oaiov und avoaiov, behandelt.
Der wegen Asebie angeklagte Freigeist Sokr. möchte von dem
Wahrsager Euthyphron, der in frommem Eifer seinen Vater auf den
Tod ^) angeklagt hat, sich über das Wesen der Frömmigkeit be-
lehren lassen. Die Hauptbedeutung des Dialogs liegt . . . eben in
diesem gelungenen Kontrast zwischen dem beschränkten Orthodoxen,
dessen unklare und unwürdige Vorstellungen von Frömmigkeit
deutlich zutage treten, und dem ernsten Philosophen, dem es um
eine autonome und eben damit sittliche Begründung derselben zu
tun ist. Man mag der im 2. Teil gegebenen Bestimmung des
ooiov als einer Art des ör/.aiov, nämlich des auf die tiov d^eiov
d-EgaTTEia bezüglichen, einen positiven Wert beimessen und auch
diesen Dienst der Götter im höheren Sinne, der gewiß derjenige
des PI. war, nämlich als Mitwirkung an der Erfüllung des heiligen
Gotteswillens verstehen ; aber der philosophische Höhepunkt des
Dialogs besteht in der Diskussion über den Satz ooiov = rölg
d^eoiq TTQoaq^iXtg^ deren wenn auch nicht direkt ausgesprochener
Ertrag der ist, daß wü' nur das als oatov anerkennen, was alle
Götter — und zwar nicht zufällig, sondern notwendig, kraft ihres
göttlichen Wesens lieben (9e): das ooiov ist nicht von dem will-
kürlichen Wohlgefallen der Götter abhängig, sondern etwas an sich
Gutes, und es wird von den Göttern geliebt, weil sie nichts anderes
als das wahrhaft Gute lieben können, weil der Wille Gottes zu-
sammenfällt mit dem, was der Mensch kraft seiner Vernunft als
den wahren Zweck der Welt und des Lebens erkennt."
Natorp (Pl.s Ideenlehre S. 38 A) wül die Echtheit der
Schrift 2) . nicht gelten lassen: „Sie scheint in zu auffallender Weise
ihren ganzen wesentlichen Inhalt anderen, echten Schriften Pl.s zu
entnehmen; und sonst hat sie viel Befremdliches. Sie bedürfte
zum wenigsten erst einer befriedigenderen Erklärung, als sie bisher
gefunden hat,"* — ? „wenn man sie als platonisch gelten lassen
sollte. Wenn echt, gehört sie unbedingt in die nächste Nähe des
Me" — nämlich, weil „gleichsinnig" mit dessen Ausführungen in
^) Das wird zu berichtigen sein. Hoffmann (S. 89) erklärt: „Die
KHage kann nur auf unabsichtliche Tötung gehen, worauf Verbannung
für einige Zeit als Strafe stand."
-) Von der Schneider urteilt: „nach meiner Überzeugung gehört sie
zu dem Wertvollsten und Bedeutendsten, was jemals Menschen gedacht
und geschrieben haben".
144 Constantin Ritter.
Eu 4d, 6d „die Idee'" auftritt; „keinesfalls mit Ap und Cr zu-
sammen".
Mit Eecht wii-d gewiß auch betont, daß die Logik im Eu eine
bedeutendere Rolle spiele als in manchen anderen der kleinen
Dialoge; sogar den Ch eingeschlossen, meine ich. Einige Sätze,
von V. Arnim und von Gomperz , die darauf Bezug haben , sind
•oben ausgeschrieben. Bei Gomperz trägt S. 295 die Überschrift
„Logische Gewaltsamkeiten des Eu". Belehrung über diese Dinge
wird man zuerst bei L u t o s 1 a w s k i suchen , dessen Buch durch
seinen Titel The origin and growth of Plato's Logic bestimmte
Erwartungen erregt. Beim Eu wird man sie durch das, was Luto-
slawski bietet , kaum voll befriedigt finden. Wir lesen : PI. stand
noch ganz unter dem Einfluß des Sokr. Übrigens sehen wir ihn
vertraut mit der Regel , daß ein Begriff zu definieren sei durch
Unterordnung unter einen höheren mit Angabe der differentia speci-
fica: 12 c el /.teQog to oaiov tov dr/.aiov, dei . . i^svQelv ib Ttoiov
f-itQog. Von Induktion und Analogie macht er häufigen Gebrauch.
Dabei dringt er auf TTnveränderlichkeit der Begriffe, zeigt, daß zu
ihrer Erfassung die Aufzählung von Beispielen nicht genüge, und
sucht das kennzeichnende Merkmal. Dieses heißt hier elöog, mit
demselben Wortgebrauch, den auch Thukydides hat (sidog vöoov
2, 50). Auch die Verwendung von Idea in 6 e weicht von dem
Gebrauch älterer Prosaiker nicht ab. Zu chronologischen Schlüssen
bieten also beide keinen Anhalt. Auch TiaQccdsiyfAa nicht. — „Eine
wichtige logische Unterscheidung macht der Eu zwischen Tätigkeit
und Eigenschaft: die Eigenschaft ist Wirkung einer bestimmten
Tätigkeit, aber niemals Ursache oder Grund dieser Tätigkeit (10 c).
Das wird hier durch eine Anzahl von Analogien deutlich gemacht,
bevor es in allgemeiner Form zum Ausdruck kommt.'"
Gomperz (S. 296) macht „auf die überraschende Parallele
aufmerksam , welche Kants 'Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft' zu dem Grundgedanken des Eu darbietet". In
der Tat sind die von ihm angezogenen Sätze eine treffliche Be-
leuchtung des platonischen Gesprächs.
Auch die Sätze, mit denen Hoffmann seinen Aufsatz ab-
schließt, halte ich für beachtenswert: „Der ungerechte Mensch
kann nicht fromm sein; der gerechte wird es, indem er sein ganzes
Tun in den Dienst der Götter stellt: die Frömmigkeit ist also die
Vollendung der menschlichen Gerechtigkeit . . . Zwar erhebt sich
das Bedenken, daß auch der gerechteste Mensch nicht vollkommen
ist und deshalb auch der Gnade der Götter bedarf. Darauf geht
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. I45
die platonische Ethik nicht näher ein; doch wird im 10. Buch der
Rn, am Schlüsse dieser großen Darstellung der Gerechtigkeit das
Vei'trauen ausgesj^rochen (13 a), daß die Götter den nicht ohne
Fürsorge lassen, der entschlossen ist, sich gerecht zu zeigen und
die Tugend zu üben , soweit es dem Menschen möglich ist , gott-
ähnlich zu werden. Das Bewußtsein der Sündhaftigkeit ," welches
in den hebräischen Psalmen so ergreifenden Ausdruck findet , ist
der griechischen Philosophie fremd; sie findet die Frömmigkeit in
dem Streben nach Gerechtigkeit, die christliche Lehre in dem Gebet
um Erlösung von der Sünde, damit unser Handeln gerechtfertigt sei."
Eitel Faselei finde ich in einem Aufsatz E. Höttermauns,
Pl.s Polemik im Eu und Cra, Ztschr. f. d. G.-Ws. 1910 S. 65 ff.
Ich werde zur Kennzeichnung desselben beim Cra einige Sätze an-
führen. Manches Gute enthält dagegen der Aufsatz Kleemanns.
Seine „Analyse der Lehren des Dialogs" auf S. 5 — 13 kann dem
Lehrer, der den Eu in der Schule zu erklären hat, neben der von
G. Schneider zur Beachtung empfohlen werden. Er zeigt, mit welch
künstlerischer Sicherheit und psychologischer Feinheit hier der
Kampf zweier Weltanschauungen dargestellt wird, deren eine, von
dem Seher Euth^-phron vertreten, sich als feige und selbstsüchtige
Deisidämonie kennzeichnet und darauf hinausläuft , daß die jeder
Fessel entkleidete Willkür der Götter für den Menschen höchstes
Gesetz sein soll , während Sokr. als Vertreter der anderen zum
Bewußtsein bringen will, daß auch die Götter eine höchste Macht
über sich anerkennen, deren Gebote für sie bindend sind, nämlich
das Gute (im Sinn der „Idee" des Guten), und daß darum die
Menschen dieses Gute um seiner selbst willen zu erstreben haben,
womit sie dann eben auch ihre Pflicht gegen die Götter erfüllen.
Mit Scharfblick deckt er auch die Fäden auf, die den 1. und 2. Teil
des Dialogs zusammenhalten, und läßt uns (S. 9) erkennen, daß die
begriffliche Unterordnung der Frömmigkeit unter die Gerechtigkeit
als Resultat der bisherigen, scheinbar ergebnislos verlaufenen Unter-
suchung zu betrachten ist und deshalb Gomperz Unrecht hat mit
seiner Behauptung (394 f.), daß die Zustimmung Euthyphrons zu
der von Sokr. vorgeschlagenen Fassung des Begriffsverhältnisses
nur durch einen „logischen Gewaltakt" zustande komme.
Freilich die chronologischen Schlüsse K.s, aus denen sich ihm
die Folge (G — ) Sy — Eu — Me — Rp ergibt , muß ich ablehnen.
Ihre Stützen sind alle gebrechlich. Z. B. sagt K. (S. 19): „Es
wäre . . unverständlich, wenn PI. erst im Me die wahre Ursache
der Verurteilung des Sokr. dargelegt und sodann im Eu gezeigt
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 10
146 CoKstantüi Eitter.
hätte, wer den Prozeß nicht veranlaßt hat" — als ob es die vor-
nehmste Absicht des Eu wäre, eben das zu zeigen. — Oder: Aus
Sy Ole soll zu ersehen sein, daß der Begriff des Mittleren hier
zum erstenmal untersucht werde ; dagegen dem Eu sei dieser schon
vertraut, wie lleff. zeige. Aber in der Tat handelt es sich dort
nicht um den Begriff des Mittleren; jedenfalls ist der logische Prozeß
in den beiden verglichenen Stellen ein erheblich verschiedener. —
Aus dem, was über die Unsterblichkeit im Me gesagt oder an-
gedeutet, im Eu nicht gesagt wird, läßt sich so wenig schließen,
wie die viel auffallenderen Unterschiede zwischen Sy und Phn in
diesem Punkt einen sicheren chronologischen Schluß ermöglichen.
Nicht einmal was K. gegen den für mich recht bestechenden Schleier-
macherischen Ansatz des Eu auf die Zeit des schwebenden Pro-
zesses im Jahr 399 vorbringt, scheint mir von Bedeutung. Ja, ich
begreife nicht, wie K., der doch (S. 18) ausspricht: „Deutlicher",
als er es durch den Mund des Euthyphron 3 a tut, „konnte es PI.
wohl nicht sagen , daß die Anklage auf Asebie nur ein Yorwand
war, daß die Rechtgläubigen in Sokr. vielmehr einen wackeren
Mann verehrten und mit jener Anklage durchaus nicht einverstanden
waren," vorher (S. 3 f.) zur Unterstützung Überwegs schreiben kann:
„hätte PI. den Eu als Flugschrift während des Sokr. -Prozesses er-
scheinen lassen, so hätte dies für den Angeklagten um so schlimmere
Bedeutung gehabt, je mehr Leser sich dafür gefunden hätten. Die
Behauptung der Ankläger, Sokr. habe die Staatsreligion nicht an-
erkannt, wird ja durch den Dialog schlagend bestätigt."
Ganz ausgezeichnet ist Schneiders kurzer Aufsatz. Ich
empfehle ihn namentlich jedem Lehrer, der den Eu in einer Schul-
klasse zu behandeln hat. Auch Falbrecht verweist auf ihn.
Dessen eigene Behandlung des Dialogs ist aber hölzern und lang-
weilig: ein wenig ermutigendes Beispiel dafür, was herauskommt,
wenn man einen platonischen Dialog nach Herbart - Zillerischer
Methode traktieren will. Einiges Gute findet sich ja auch auf den
langen 77 Seiten, aber die Körner sind recht spärhch zwischen
der Masse der Spreuhülsen und die Schulmeisterweisheit gibt sich
gar zu breit und aufdringlich.
Schließlich noch eine kritische Bemerkung zu v. Arnims
Ausführungen auf S. 149. Ich meine, er legt viel zu viel hinein in
die Worte des Sokr. 14c: ov 7tQüdv(.iög ^e ei öidd^ai' drjXog W
ytal yag vvv STteLÖr^ hz avzi^ tjod-a, aTtsrQanov' o el anexQivco,
txavcög av r^ör] Ttaga oov ri^v oaioTrjza if.iEfia&^-/.i]. Ich erinnere
an 12 e f.: Kakcug yi /noi (paivEL Xäyuv aXXä afiii<QOÜ rivog s'vi>
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 147
evÖEijg el(.ii und an \-iele ähnliche Wendungen in anderen Dialogen,
z. B. Pr 28 6 vvv TteTieio^iai. TrXriv OfAi/.QOv ti fiot i/^tTtodcov, 0
dr^lov Ott ngcüTayogag gadiiog i7t€y.did(i^si, snEidt] xat ra noXXä
Tatra i^ediöa^e und ebendort 29b, oder Ch 73 d, So 49 de, Phi 20 c ^).
^) Auch Joel wollen wir noch hören über den Eu. Anknüpfend
an seine unten abgedruckte Bemerkung fährt er fort: „Ich finde,
daß PI. den Kyniker mit seiner Forcierung des &(o(fi^g und seinem"
— angeblichen — „Fehler, die Substanz aus dem Accidens zu begründen,
noch ausführlicher kritisiert, und zwar im Eu, den ich bei dieser Ge-
legenheit" — man höre.' — „als eine satirische Recension des Antisthenes
deuten möchte." — Wirklich? im Ernst? Ein schönes Beispiel, wie kluge
urteilsfähige Menschen durch eine Hypothese fasciniert werden können.
Es ist mir, als sähe ich einem in Hypnose auf fremde Eingebungen
blindlings aber sicher Handelnden zu, wenn ich die Einzel ausführungen
der These lese, aus denen ich mit folgendem einen Auszug gebe: „Muß
wirklich ein PI. eine besondere Schrift loslassen, um einen Dummkopf
lächerlich zu machen? Ist es nicht würdiger der platonischen Kunst
und fast selbstverständlich" (?) .,für sie, daß in der Maske des Lächer-
lichen ein ernsterer Gegner steckt und der Kritik erliegt? Trägt nicht
das ganze Gespräch den sichtbarsten Stempel der Fiktion? . . Glaubt
irgend jemand ernstlich, daß Euthyphro seinen eigenen Vater dem Blut-
richter überwies? . . Das ist burleske Phantasie, wie sie PI. z. B. im Ion
spielen läßt" — dieser Ion bietet sich immer bequem dar, wenn man PI.
irgendeiner Ungeschicklichkeit überführen will ; und wer nun gar, gleich
Joel, auch den Clitophon und Alcibiades I als echt nimmt, der hat schon
eine ziemlich breite Grundlage für Folgerungen, die einen Nebelschleier
aufsteigen lassen — n^^^ in den Fechtern des Eus, die Eristiker werden,
und wie man bereits in diesen beiden satirischen Dialogen raehr oder
minder deutlich als kritisches Objekt Antisthenes erkannt hat, so wird
es bald auch im Eti ergehen. . . . Antisthenes fühlt sich als Prophet . .
PI. kann Ant., den er auch Phi 44b 51a mit einem Seher vergleicht," (!)
„nicht schwerer treffen, als wenn er ihn als gewöhnlichen Mantiker be-
handelt, wie er ihn als Dichterinterpreten mit den ihm verhaßten Rhap-
soden zusammenwirft . . . Die platonische Satire läßt nun auch Euthyphro
ganz mit antistheuischen Allüren auftreten'" — wirklich? hat irgendein
unbefangener Leser den Eindruck, daß er es mit einem Kyniker zu tun
habe? — „Aber nun der eigentliche Gesprächsinhalt und vor allem das
Motiv des Dialogs? Was soll die tolle Anklage des Sohns gegen den
Vater? Als konkreter Fall ist sie unverständlich . . . Der Fall ist so
verschmitzt, daß die Anklage des Euth. gegen seinen Vater möglichst
närrisch erscheint. Aber die These des Euth. ist garnicht lächerlich. Er
sagt . . : ich behaupte . . , daß es fromm ist, den Täter jedes Verbrechens
zu verfolgen, und wenn es der Vater oder die Mutter ist. Das ist nicht
die These eines abergläubischen Dummkopfs wie Euthyphro , sondern
eines Doktrinärs." — Kann denn der abergläubische Dummkopf, der be-
schränkte Fanatiker keiner doktrinären These folgen? Man denke an
den tollen Agostino in K. F. Meyers Jürg Jenatsch. — „Gab es eine
10*
148 Constantin Ritter.
Apologia (= Ap) behandelt von M. Schanz in der Einleitung
seiner Ausgabe mit deutschem Kommentar, Leipzig 1893. S. 1 — 112,
solche Doktrin? Ich meine, m.an wird hier an die bekannte These der
Stoa denken müssen, daß es dieselbe Sünde ist, ob man seinen Vater oder
einen Sklaven ungerecht töte." — Warum soll man nicht an religiöse
Sühn Vorschriften denken, die doch auch zwischen den unrein gewordenen
Personen im allgemeinen nicht unterscheiden? — „PI. bekämpft . . in Euth.
einen Vorläufer der Stoa, nnd als Zeitgenosse bietet sich nur Antisth. . .
Ist der Fall Eu nicht nur eine Anwendung des Satzes, daß vor der Sixr]
die Familienbande zurücktreten müssen, die der Kyniker doch auch sonst
mißachtet? Und tatsächlich lesen wir als Satz des Antisth. L. D. 12:
öCxacuv ntoi nXti'ovog noitityO^ui, tov avyysrovg. Kann nun PI. die These
des Kynikers boshafter satirisch treffen, als wenn er aus dem vom
Kyniker gebotenen Extrem Ernst macht und wirklich einen Narren als
Ankläger des eigenen Vaters vorführt? . . 'HQaxhigl ruft Sokr. (4a), als
er von der Anklage hört, — dieser Ausruf ist bei PI. wie bei Xenophon
immer das Signal, daß eine Paradoxie des Kynikers citirt wird . . ." So
geht's noch Seitenlang — 4 enggedruckte Seiten — ich möchte sagen,
mit geistreichem Gewitzel: aber nein, mit bitterem durch Scharfblick
und fleißige Sammeltätigkeit unterstütztem, jedoch m. E. von einer
Wahnidee geleitetem Ernste fort. — Aus der Erörterung der im Dialog
aufgestellten Definitionen muß ich noch einige bezeichnende Sätze ent-
nehmen, die mir in der Tut beachtenswert scheinen (.512 f.): „Zum
folgenden Definitionsversuch muß der v,'eisheitgeschwollene Euth. erst
geschoben werden. Was soll es bedeuten, daß Sokr. ihm eine Definition
in den Mund schiebt, vim sie ihm wieder zu nehmen? . . Es ist wieder
klar, daß sie von einem anderen geboten ist, der hinter Euth. steht . .
Die Definition . . lautet : das oatov ist das äi'xaiov, soweit es sich auf die
Pflichten gegen die Götter bezieht, im Unterschied vom übrigen Ji'xuiot . .
Die Definition ist . . dieselbe wie die des xenophontischen Sokr. . . Die
Übereinstimmung erklärt sich nur so , daß beide die Definition des
Antisthenes aussprechen ... Es ist nicht das einzige Mal, daß bei PI.
eine Definition des xenophont. Sokr. einem andern in den Mund gelegt
und von Sokr. gerade widerlegt wird: es geschieht auch z. B. im La
und Ch und ist eben nur so zu verstehen, daß PL eine andere, die
antisthenische Sokratik widerlegt, der Xenophon folgt." Was Joel weiter
anschließt, verliert sich wieder in dämmerhaftes Dunkel, wo frei spielende
Phantasie kaum vom kritischen Verstand zurechtgewiesen werden kann. —
In anderem Zusammenhang, im 2. BanJ, kommt J. noch einmal auf den
Eu zu sprechen. Er will da zeigen, daß der „Sophist" Antiphon, den
Xen. Mem. I, 6 mit Sokr. disputieren läßt, keine andere Person sei, als
der bekannte Eedner und Staatsmann aus Rhamnus. Zum Beweis dafür,
daß mit ihm Antisth. einen Strauß gehabt habe , führt er u. a. ff. an
(S. 647): In seiner Rede xarrc Tfjg firjToviäi läßt Antiphon „einen Sohn als
Ankläger den Mord seines Vaters sühnen , den seine . . Gattin getötet
haben soll. A. behandelt da die Frage, ob es (vafßf'i ist, seine Eltern
wegen Totschlags anzuklagen, — das ist aber die Frage des platonischen
Eu, der, wie sich zeigte, gegen Antisth. gerichtet ist. [Selbst das Landlos
Ber. über d. in J. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. I49
Gomperz S. 79 ff., Eäder S, 89—92, Wilamowitz S. 153 ff. und
179 f., Pohlenz S. 18—23, Windelband-Bonhöffer S. 148 f. Apelt
in der Einleitung zu seiner Übersetzung S. 1 — 16. Als neuere er-
klärende Ausgabe liegt mir vor ^) Piatons Verteidigungsrede des Sokr.
und Kriton, für den Scliulgebrauch erklärt von H. Cron, 12. Aufl.
von H. Uhle, Leipzig (Teubner) 1912. Dazu kommt I. Bruns, Das
literarische Porträt der Griechen im 5. und 4. Jahrh., Berlin 1896-
R. Pühlmann, Sokrates und sein Volk. Ein Beitrag zur Geschichte
der Lehrfreiheit (Histor. Bibl. 8) 1899. Fr. Beyschlag, Die An-
klage des Soki'. Progr. Neustadt a. H. 1900, 08 S. Ad. Menzel,
Untersuchungen zum Sokr.-Processe, Wiener Ak. Sitz.-B. ph.-h. Kl.
1902 (145) II, S. 1—64. A. E. Taylor, Varia Socratica, St. Andrews
University Publications N. IX, 1911, insbes. S. 1 — 39, H. Maier,
Sokrates, 1913, Kap. 7, insb. S. 463—498, E. Horneffer, Sokr. und
die Ap , mit Einem Beitrag : Das delphische Orakel als ethischer
Preisrichter von R. Herzog, 1922.
Bei der Ap ist die alte Streitfrage noch nicht entschieden,
wie eng sie sich anschließe an die von Sokr. selber gehaltene
Verteidigungsrede. Die Frage des zeitlichen Ansatzes hängt damit
eng zusammen. Natürlich. Denn wer mit Schleiermacher an-
nehmen wollte, „daß wir an dieser Rede von der wirklichen Ver-
teidigung des Sokr. eine so treue Nachschrift aus der Erinnerung
haben, als bei dem geübten Gedächtnis des PI. und dem notwendigen
Unterschiede der geschriebenen Rede von der nachlässig ge-
sprochenen nur möglich war", mußte sich die Niederschrift und
Veröffentlichung fast unmittelbar nach dem Prozeß erfolgt denken.
Umgekehrt, je auffallender man sich die Abweichungen vom wirk-
lichen Hergang denkt , desto längere Zwischenzeit muß man an-
nehmen, weil doch gewiß kein Zug der Darstellung dem lebendigen
Gedächtnis vieler Zeugen der Verhandlung Hohn sprechen durfte.
Besonders gründlich, freilich nicht eben glücklich ist alles
Einschlägige erörtere worden von Schanz. Ich habe mir einst
einen Auszug aus seiner Einleitung gemacht und seine Sätze beim
auf Naxos, Eu 4 c, ist bei Antiphon gegeben ... Es bestätigt sich wieder,
was man" (?) .,längst erkannte: daß PL im G von der Eigorosität des
Kynikers angesteckt ist. und der Eu zu jenen Dialogen gehört, in denen
PI. gegen die bisherige Autorität die Waffen kehrt".] ,,Xun klärt sich der
Sachverhalt ganz: der Eu kritisiert eben diese antisthenische Apologie
Orests, die selbst wieder durch Antiphon kritisch angeregt ist" . . .
') Außerdem verzeichnet Prächter: Schmelzer-Petersen, Th. Christ,
V. Bamberg, Bertram-Koch (zusammen mit Kriton).
150 Constantin Ritter.
Abschreiben durch Einwände unterbrochen, die sich mir unmittelbar
aufdrängten. Mit diesen durchsetzt, will ich sie auch hier geben.
(S. 69): „Es fragt sich, ob wir die Ap als eine Reproduktion der
vor Gericht gehaltenen, oder als eine freie Schöfung Pl.s zu halten
haben. Die Entscheidung ist absolut notwendig, wenn wir das Werk
richtig würdigen wollen." (S. 71): „Eines dürfte unbestritten sein,
daß. das Ziel jeder Verteidigung vor allem sein muß, die Anklage
zu entkräften, um dadurch die Freisprechung zu erreichen." —
Das eben möchte ich für den vorliegenden Fall aufs allerentschie-
denste bestreiten , und Schanz selbst nimmt es eigentlich zurück
damit, daß er der xenophontischen Apologie folgen will, nach der
Sokr. sich gar nichts anderes wünschte, als jetzt vom Schauplatz
des Lebens abtreten zu dürfen. — „Steht die Sache des Au-
geklagten auf schwachen Füßen, so wird er wenigstens den Schein
der Widerlegung zu erzeugen versuchen. Aber kein Angeklagter
wird die Anklagepunkte noch erweitern oder sie so verändern, daß
er sich die Verteidigung wesentlich erschwert. Und doch ist
beides von der Ap geschehen . . . Die Verteidigung mußte um
jeden Preis zeigen , daß Sokr. an die Gemeindegötter glaubt, und
daß er keine anderen Götter einführen will. Ist dies bewiesen
und damit der erste Anklagepunkt entkräftet, so fällt damit auch
die Verderbung der Jugend weg ; denn die Annahme , daß Sokr.
anders glaubt und anders lehrt, muß doch von vornherein abgelehnt
"werden." — Sehr schlechte Begründung! Seinen Glauben an die
Götter der Stadt , als innere Herzensüberzeugung , hätte der An-
geklagte niemals beweisen können ; nur daß er ihnen äußerlich alle
schuldigen Ehren erweist. Dabei hätte doch ganz wohl der Ver-
dacht bestehen können , daß er sie im vertraulichen Kreise vor
seinen Schülern heruntersetze. (S. 72:) „In der Ap tritt uns
das Ungeheuerliche entgegen, daß der Angeklagte den Klagegrund
zu seinen Ungunsten verschiebt. Während er nur der Einführung-
neuer Gottheiten beschuldigt wird, läßt er sich von Meletos die
Anklage dahin erläutern, daß er zum Atheisten gemacht wird, und
verteidigt sich daraufhin gegen den Atheismus." — Darauf haben
andere schon sehr verständig das Nötige geantwortet. [Und es
werden nachher solche Antworten folgen.] — „Solche Erscheinungen
finden nur dadurch ihre Erklärung, daß unser Schriftstück nicht
eine gerichthche Verteidigung, sondern eine Rechtfertigung des
Sokr. ist, daß es sich nicht um die Widerlegung einiger Anklage-
punkte , sondern um die Erkenntnis und die richtige Erfassung
eines großartigen Lebens handelt." — Gewiß! aber warum soll
Ber, über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 151
Sokr. nicht eben die Gelegenheit, da er vor so vielen Männern
öffentlich sprechen mußte, dazu benützt haben, sein ganzes Leben
und Streben zu beleuchten? Das eben scheint mir die fueyaXr,-
yoQia, die ja auch der Verfasser der „xenophontischen" Apologie an-
erkennt. Und ist es denn nicht Sokr. , dessen Bild PL auch im
Th noch vor Augen hat an der bekannten Stelle, wo er den Philo-
sophen schildert, der vor Gericht gezogen alles das übersieht und
mißachtet , was der gewiegte Weltmann als selbstverständliche.
Klugheitsregel für sein Verhalten befolgt und was der gewöhnHche
Richter an Ehrerbietung und Rücksichtnahme auf seine Person
verlangt? Eben an Schanzens Kritik bestätigt sich der Satz
Th 72 c C0g etxorwg 0/ sv raig cpi).ooo(fiaig no}^vv xqovov diaTQiif.iavT€g
eig ra dr/MOvtJQia lorreg ye'LoloL (faivovvm o/jzoQeg, denn rot;,'
Xoyoig SV eiQ^vrj eni axol^g rtOLOvvzai und (74 c) ?.r]Qc6Ö£ig öo'/.oiaiv
elvai — ov uorov Qqaziaig, aXXa %al zw aXXto oxlqj. (73 :) „Eine
Unmöglichkeit daun die Angabe, daß Sokr. durch den delphischen
Orakelspruch erst zu seiner Menschenprüfung veranlaßt wurde . . .
Die Folge ist damit zur Ursache gemacht. Dies kann ein Schrift-
steller tun, der jene Elenktik auf den göttlichen Ursprung zurück-
führen will, nicht aber Sokr., der kurz zuvor erklärt hatte, nur die
volle Wahrheit sagen zu wollen, und jetzt die Deutung eines Vor-
gangs vorbringt , die alle Richter sofort als eine falsche erkennen
müssen und durch die er sich nur schaden mußte." — Nach
„Xenophon" sind die Zuhörer sehr ungehalten gewesen, wie Soki*.
von diesem delphischen Orakel erzählte. Aber so pedantisch, wie
Seh., braucht man wirklich die Versicherung der strengen Wahr-
heitstreue nicht zu nehmen , daß eine durchsichtig ironische
Begründung damit ausgeschlossen würde. — (74 :J „Auch die
1. Rede gibt sich den Anschein einer Improvisation . . . Nun hat
aber die Disposition gezeigt , daß wir ein künstlich aufgebautes
Ganze haben, das von der Improvisation so weit als möglich ent-
fernt ist." — ? Muß denn die Improvisation eines Sokr., der täg-
lich die Kunst des lebendigen Wechselgesprächs übt und darin
anerkannter Meister ist, ungeschickt sein?^) — „Bekannt ist die
Eigentümlichkeit der Anrede in der Ap. Mit peinlicher Strenge
wird (ij avÖQCg öi/.aoiai vermieden; erst nach dem Urteil werden
^) Freilich Joel (I S. 477) sekundiert Schanz und behauptet: „Es hieße
doch die wunderbar durchdachte Kunst gerade in der scheinbaren Schlicht-
heit und Natürlichkeit der Ap gänzlich verkennen, wenn man glauben
wollte, es könne jemand so aus dem Stegreif sprechen" — „jemand"?
ja, ein Sokr., obgleich auch Busse, Sokrates, 1914, S. 5 das verkennt.
152 Constantin Ritter.
die aTtox^jr^cpiödi-iEvoi mit diesem Namen angeredet ... Es dürfte
feststehen, daß dieses Kunstmittel nicht in einer improvisierten Rede
zur Anwendung kam." — Geradezu unbegreifliche Behauptung! —
„Wäre die Ap die wirkliche Bede des Sokr., so müßten wir an-
nehmen , daß PI. erst diesen Zug derselben beifügte. Allein in
diesem Fall hätte er einen fremdartigen Zusatz gemacht, dem die
Pointe fehlt. Denn das Kunstmittel konnte, bevor der Ausgang
des Prozesses vorlag, ja nicht in Anwendung kommen." — Hier
scheint der gelehrte Kritiker wirklich mit Blindheit geschlagen.
Wem , als eben ihm , brauche ich zu sagen , daß Sokr. nur sein
eigenes Gewissen und Gott als Richter über sich anerkennt, jeden-
falls nicht das durch den Zufall des Loses gebildete Volksgericht? —
S. 76 ff. bespricht Seh. die „xenophontische" Apologie. Er
zweifelt gar nicht an ihrer Echtheit und geht schweigend hinweg
über die Tatsache, daß der Verfasser der Schrift nicht bloß , wie
auch ihm klar ist, die platonische Ap, sondern auch den frühestens
um 385 entstandenen Phn benützt hat. In § 28 ist das ganz un-
verkennbar. Sollte wirklich Xenophon der Verfasser sein, so zeigte
er sich da in recht üblem Lichte. — Seh. erklärt: „Die xenophon-
tische Apologie ist ein Protest gegen die platonische , und zwar
schon im Eingang : wenn Xen. seine Apol. damit beginnt , daß er
nachweist, daß Sokr. auf jede Vorbereitung verzichtet habe und
diesen Verzicht sogar auf eine göttliche Mahnung zurückführt, so
liegt darin, daß Sokr. improvisiert habe." — Ich schreibe wieder
meine Zwischenbemerkungen mit ab : Bei PI. ist es ja auch so
dargestellt, daß Sokr. improvisiert habe! — (S. 80:) „Würden wir
in der Ap die wirkliche Rede des Sokr. haben, so hätte natürlich
Xenophon die Reproduktion Pl.s nicht bemängeln können und nicht
bemäugelt." — Jener Xenophon, der sich frühestens IV2 Jahr-
zehnte nach den Ereignissen, deren Zeuge er selber gar nicht ge-
wesen war, bemüßigt fühlte, mit der platonischen Ap und dem Phn
in Wettbewerb zu treten, hätte sich „natürlich" mit Pl.s Wider-
gabe der „wirklichen" Rede zufrieden gegeben? Woher wollte er
überhaupt wissen, wie weit PI. von der „Wirklichkeit" abgewichen
war? — n^ß^i- vermißt eine Motivierung der fisyaXrjyoQia, mit der
Sokr. den Tod dem Leben vorzog." Er „will die Todesverachtung
des Sokr. erklären. Während PI. zunächst auseinandersetzt, daß
einer göttlichen Mission gegenüber der Tod gar nicht in die Wag-
schale gewoi'fen werden darf", — das ist ja wirklich das Ent-
scheidende, und eben damit verwahrt er sich am besten gegen den
Vorwurf der aoißeia; wenn er dann noch erwähnt, daß der
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 153
delphische Apollon ihm Anerkennung und Aufmunterung habe zuteil
werden lassen, so erhellt daraus, daß es eben die in Athen selbst
verehrten Götter sind , denen er dient — „dann aber durch Be-
trachtung des Zustandes nach dem Tod dem Sokr. ein günstigeres
Los in Aussicht stellt, hat Xen. eine viel einfachere Erklärung
zur Hand: der Tod befreit ja Soki*. von den Leiden und Be-
schwerden des Alters, welche im Anzug sind, und naht sich in
der leichtesten Form". So steht es gedi-uckt auf S. 78. 80 f.! Und
mit ähnlichem Gerede fährt Seh. fort: „Einen Vorteil gewährt
uns dieser zweite Bericht besonders dadurch, daß er uns die plato-
nischen Angaben in das rechte Licht rückt und das, was wir oben
aus inneren Gründen erschlossen haben, bestätigt. So haben wir
erkannt, daß die Anklageformel bei PI. willkürlich verschoben ist
— Xen. bestätigt diese Annahme. Wir haben behauptet, daß
Sokr. sich unmöglich so auf die Anklagepunkte verteidigt haben
konnte — wir finden in der Tat bei Xen. eine Verteidigung , die
sich an die Anklage anschließt und in den Rahmen einer Gerichts-
verhandlung paßt." — 'Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
nicht mir!' Den Verfasser der angeblichen xenophontischen Apo-
logie kann Schz. verstehen, PI. nimmermehr. Aber auch den Sokr.
nicht. — Doch weiter : „Wir erachten es für ausgeschlossen, daß
Sokr. statt einer Strafe eine Belohnung für sich beantragte" —
damit vergleiche man den Satz von Ed. Schwartz (Charakterköpfe
S. 47): „er wäre mit einer Geldstrafe davongekommen, wenn er
nicht, nach attischem Bechtsbrauch aufgefordert, anzugeben, auf
welche Strafe er sich einschätze , geantwortet hätte , daß ihm die
Speisung am Herde des Staates, im Prytaneion, zukäme, eine der
höchsten Ehren, die die Gemeinde vergab. Das erboste das Volks-
gericht, und es verurteilte ihn zum Tode" — ; „wir staunten über
die Inkonsequenz, daß er sich schließlich zu dem Antrag auf eine
Geldstrafe herbeiließ, obwohl er versichert (37b), .toAAol' deto
fuavTov ye adt'/.r^O£iv -/.al xai £(.iavTOv egeiv avTog, wg a^iog slf-tl
Tov TiaKOv'^ — Seh. glaubt es dem PI. nicht, daß Geldeinbuße
für Sokr. kein xazoV war. Auch Polos hat es dem Sokr. nicht
geglaubt, und keiner ix tov noXkov ox^ov wird es glauben. — „Xen.
berichtet uns das, was zu dieser Äußerung stimmt, nämlich daß
Sokr. auf Stellung eines Strafantrags verzichtete ; er gibt uns auch
die Motivierung dazu : ein Strafantrag involviere ein Bekenntnis
der Schuld." — Das kann sogar aus Pl.s Darstellung geholt sein. —
Man höre hiei' aber auch Pöhlmann (S. 108 A. 2): „Allerdings
sagt die pseudo-xenophontische Apologie (§ 23), Sokr. habe sich
154 Constantin Ritter.
zu keinem avTLTif.iri(.ia herabgelassen, weil dies ein Schuldgeständnis
gewesen wäre. Allein schon die unmittelbar vorhergehende Be-
merkung über die '^ovvayoQevovceg cfiloi^ des Sokr. beweist eine
so völlige Unkenntnis des Prozeßganges , daß diese wesentlich
jüngere und nicht von einem Augenzeugen herrührende Quelle (vgl.
Wilamowitz, Hermes 1897, S. 99) von vornherein verdächtig v>'ird^).
^) Hätte ich hier die Schriften über Xenophon zu besprechen anstatt
denen über PI., so müßte ich genauer auf den Streit über die Echtheit
der xenophontischen Apologie, und namentlich auch auf die darüber in
den N. Jb. f. d. kl. Alt. V (1900) S. 389—405 von M. Wetze 1 vorgelegte
Untersuchung nebst 0. Immisch s Deuterologie S. 405—415 ebendort,
eingehen. Hier bemerke ich nur, daß mir beide den Beweis der Echt-
heit keineswegs erbracht zu haben scheinen. Ich stimme Ad. Menzel
zu, der in Wetzeis Abhandlung „Übertreibung und unlogische, wider-
spruchsvolle Argumentation" findet (S. 5 A. 3). Im einzelnen wäre gegen
W. so ziemlich alles zu wiederholen, was oben gegen Schanz gesagt
worden ist. Und wenn Immisch, auf sprachlichen Beobachtungen fußend,
gegen Kai b eis im Hermes 1890 (25) S. 581 gefälltes Urteil „in der Apo-
logie Xenophons Stil und Art wiederzufinden , ist mir nicht gelungen"
die Erklärung setzt: „Wäre die Apologie ohne V'erfassernamen da, man
könnte auf Grund der sprachlichen Kennzeichen kaum anders als sie
eben dem Schriftsteller zuzuweisen, dessen Namen sie eben jetzt in der
Überlieferung trägt", so behaupte ich dagegen wieder: es ist nicht anders
zu erwarten, als daß ein Mann, der sein Machwerk für xenophontisch
ausgibt, sich in Xenophon so eingelesen hat, daß er ungefähr in seiner
Art sich ausdrücken kann oder mindestens eine Anzahl von Wörtern und
Wendungen aus ihm sich angeeignet hat. (Passend zieht Fr. Beyschlag
in der sogleich anzuführenden Abhandlung die Worte Lessings heran:
„Ich weiß, daß man Schreibarten nachahmen kann ; ich weiß, daß es eine
wahre Unmöglichkeit ist, alle .kleinen Eigentümlichkeiten eines Schrift-
stellers so genau zu kennen, daß man den geringsten Abgang derselben
in seinem Nachahmer entdecken soUte.") Ich glaube, wenn man z. B.
das Schlußkapitel der Memorabilien, das Immisch für gefälscht hält, in
derselben Weise wie die Apologie auf seine Sprache prüft, so wird das-
selbe Ergebnis herauskommen, wahrscheinlich auch bei den Stücken aus
angeblichen Briefen Xenophons. Daß in der umstrittenen Apologie der
Phn benützt ist, und zwar in sehr ungeschickter plumper Weise, sollte
wirklich kein Philologe verkennen. Ob dem Xenophon solche Ungeschick-
lichkeit zuzutrauen ist, darauf wage ich keine Autwort. Als sicher könnte
diese nur gegeben werden auf Grund so peinlicher Stiluntersuchungen,
wie sie für die platonischen Schriften durchgeführt sind. Die Ansätze
zur Prüfung des xenophontischen Stils sind noch viel zu dürftig. Und
einige Doktorarbeiten der üblichen Art würden auch nicht viel Förderung
bringen. — Ganz ähnlich meinen Ausführungen finde ich die von Bey-
schlag im Philol. 1901 (37) S. 496—517 entwickelten. Auch weitere von
diesem gegen die Echtheit geltend gemachte Gründe stimmen völlig mit
Bedenken, die mir aufgestiegen sind, überein. Ich zitiere noch, was B.
II
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. I55
Auch die Voraussetzung der Angabe ist falsch. Denn aus PI.
sehen wir, daß Sokr. eine Form des ai'TiTi/iir^i.ia wählen konnte,
welche gerade das Gegenteil eines Schuldbekenntnisses war." —
Einen anschließenden Abschnitt über „die Anytosepisode im Me"
habe ich hier nicht zu berücksichtigen. Nach ihm wird die Kom-
position der Ap besprochen. Daraus noch einiges : (S. 93 :) „PI-,
der keine Gerichtsrede , sondern ein für die Nachwelt bestimmtes
Lebensbild seines Lehrers schreibt, konnte gar nicht den Vorwurf
des Meletos, daß Sokr. nicht an die Götter der Gemeinde glaube,
sondern neue Gottheiten einführe, widerlegen, wenn er den Meister
richtig zeichnen wollte." — "Was folgt daraus für die Rede des
gegen den Schluß seines Aufsatzes S. 518 f. sagt: „So stehen wir vor
folgendem chronologischen Ergebnis: Die angeblich xenophontLsche Ap
folgt zunächst zeitlich der platonischen Ap, gibt ein Resume aus dem Cr
und eine Parallele aus dem Eu Pl.s . ., ahmt ferner . . den . . Me . . mit
emem dabei unterlaufenden Mißverständnis nach, schließt sich an die
Memorabilien an , die_ frühestens nach 393 verfaßt sind , kopiert außer
sonstiger Verwertung eine Scene ai;s Pl.s Phn.'" Sie kann nicht echt sein.
Und „jedenfalls aber kann sie als primäre Quelle für den sokratischen
Prozeß und die Sokratik überhaupt nicht länger gelten; ja auch als
Quelle zweiten Grades wird sie stets nur mit größter Vorsicht zu ver-
■ werten sein." „Auch wäre ihre Authentizität im Zusammenhang mit
ihrer alsdann gegebenen zeitlichen Stellung nur geeignet, auf das aus
anderweitigen Zeugnissen feststehende Charakterbild unseres Schrift-
stellers den dunkelsten Schatten zu werfen.'' Auch TaA^lor spricht aus
(S. 37), daß die Schrift nicht bloß aus der platonischen Ap, sondern auch
aus dem Phn geschöpft habe, will aber trotzdem Xenophon als Verfasser
festhalten, der ja auch bei Abfassung der Mem. und der Cyrop. den Phn
offenbar habe vor sich liegen gehabt (S. 32 f.) und seine ganze Kenntnis
der letzten Lebenstage des Sokr. eben den Dialogen Pls. verdanke.
Joel, der sich ja überhaupt von Schanz hat mächtig imponieren lassen,
schreibt {I S. 479 f.): ..Zeller will die doch weit natürlicher klingende An-
gabe der xenophont. Ap., daß Sokr. jede Abschätzung abgelehnt, gegen-
über den piaton. Äußerungen nicht gelten lassen. Aber diese wider-
sprechen auch der Notiz Diog. 11 41 f. und man müßte nicht nur den
nichtxenophontischen , sondern auch den späten Ursprung der unter
Xenophons Namen gehenden Ap. nachweisen, um deren objektive Angabe
zu bezweifeln. Doch die Athetese der xenophont. Ap. ist ein Überrest
aus einer h^-perkritischen Periode der Altertumswissenschaft und sie
scheint jetzt von immer mehr Forschern zurückgenommen zu werden . . .
Ist aber die xenoph. Ap. echt oder nur von frühem Ursprung, so verliert
mit dieser die platonische Verteidigungsrede wegen ihrer mannigfachen
Differenzen den historischen Charakter und behält nur den literarisch
fiktiven. An sich ist es kaum denkbar, daß Lysias und noch weit Spätere
Verteidigungsreden des Sokr. schrieben, wenn man die platonische Ap
historisch nahm,'"
156 Constantin Ritter.
Sokr. selbst, wenn er den Riclitern „nichts als die lautere Wahr-
heit" sagen wollte? — (S. 97:) „Wir erwarten, daß Sokr. jede
Straf be Stimmung ablehnt." — Konnte er das, wenn er sich, nach
Sch.s Vorstellung, im üblichen Geleise hielt? Wäre doch, wenn
er keinen Gegenvorschlag machte, mit der Verurteilung auch schon
der Strafantrag des Klägers angenommen gewesen. — „Und so
berichtet uns auch eine Quelle , deren Authentizität wir keinen
Grund haben anzufechten." — ? „Anders PI. Auf der einen Seite
überbietet er durch seine Dichtung den historischen Vorgang . . .,
auf der anderen unterbietet er ihn in kläglicher Weise" — ? der
tölpische PI.! — „indem schließlich sein Sokr. mit einer Geldstrafe
kommt. Wie ist die ungeheure Kluft zu überbrücken?" — Nun,
Seh. gelingt es. Er entdeckt : „PI. wollte in der Ap nicht bloß
seinen Lehrer rechtfertigen ... Es werden Stimmen laut geworden
sein, daß die Jünger ihrem Meister hätten beispringen und ihn
durch ein materielles Opfer retten sollen , . . PI. läßt seinen Sokr.
den Antrag auf Geldstrafe stellen, und trotzdem wird er von den
Richtern zum Tod verurteilt. Der erdichtete Vorgang spricht
deutlich genug. Der Antrag auf eine Geldstrafe hätte nichts ge-
holfen. Die Stimmung gegen Sokr. war zu erbittert; mau wollte
seinen Tod. In diese Beleuchtung gerückt, verliert der Antrag
des Sokr. auf Geldstrafe einen großen Teil des Anstößigen." —
Für Seh. wenigstens. Tatsächlich ist seine Beleuchtung recht un-
geschickt. Eine verhältnismäßig geringe Zahl von Stimmen —
wie viele, wird nacher untersucht werden — soll gefehlt haben
und es wäre Freispruch erfolgt. Jetzt handelte es sich um die
Abschätzung der Strafe. Es ist mir undenkbar, daß, wenn Sokr.
einfach 30 Minen beantragt hätte, den etwa 6 fachen Betrag seines
ganzen Vermögens, nun mit großer Majorität die Todesstrafe ver-
hängt worden wäre, d. h. daß viele der Richter, die ihn für unschuldig
erklärt hatten, jetzt sich denen angeschlossen hätten, die den Tod
wollten. Nur allein der Antrag auf Speisung im Prytaneion, der
von ihm zwar nicht förmlich eingebracht, aber doch angedeutet
wurde , erklärt das Verhältnis der Stimmen bei der zweiten Ent-
scheidung i). — (S. 99:) „Wir können nicht von vornherein als un-
1) Auch hier schließt sich J o e 1 (478 i.) wieder an Schanz an : Aller-
dings „müssen sokratische Äußerungen vor der Strafbestimmung die
Richter derart empört haben, daß die Verurteilung zum Tode mit weit
größerer Majorität erfolgte. Aber muß darum Sokr. die Ehrenspeisung
im Prytaneion sich zuerkannt haben , genügt nicht jene Ablehnung
jeglicher Straieinschätzung, welche die xenophont. Ap. berichtet und die
den verwöhnten Richtern als empörender Trotz erscheinen konnte?"
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 157
möglich hinstellen, daß wirklich Sokr. im Prozeß noch zum dritten-
mal sprach, zumal auch bei Xenophon eine solche 3. Rede er-
scheint. Allein selbstverständlich ist es nicht möglich, daß Sokr.
in einer so langen Rede sich erging und eine i^hilosophische Dispu-
tation zum besten gab." — Die lange Rede nimmt, ausdrucksvoll
gesprochen, 11 Minuten in Anspruch; ihr erster Teil, der zu den
Richtern im allgemeinen als Nachwort gesprochen ist, -t Minuten.
Ich glaube, hier namentlich wird PI. etwas erweitert haben. Daß
jedoch die Richter allgemein noch 3 — 4 Minuten ausgehalten hätten,
wenn sie sahen , der Verurteilte möchte ein Schlußwort an sie
richten, kann mir niemand unglaublich machen. Und weiter er-
scheint es mir gar nicht unmöglich, daß jenem noch die erforder-
liche Zeit von 5 — 7 Minuten vergönnt wurde, um denen einiges
ans Herz zu legen , die für ihn sich erklärt hatten. Aber natür-
licli gebe ich zu , daß hier PI. einiges de suo beigefügt haben
wird. Menzel (S. 50) äußert sich hier folgendermaßen: „Die letzte
Rede fällt aus dem Rahmen der eigentlichen Prozeß Verhandlung
heraus. Dennoch liegt absolut kein Grund vor, die Tatsache einer
8, Rede zu bezweifeln. Nach attischem Prozesse blieb der Ver-
urteilte bis zur Abholung durch die Vollstreckungsorgane — die
Eilfmänner — an der Gerichtsstätte unter der Bewachung der
Justizsoldaten (Skythen). Niemand hinderte den Verurteilten, diese
Zwischenzeit zu einer Rede zu benützen. (Meier-Schömann-Lipsius
S. 957, Note 550); ob die Richter noch verbleiben, hing natürlicli
von ihrem Belieben ab." S. 101 f. handelt es sich um „die Grund-
idee der Ap". „Leitstern muß die von uns festgestellte Tatsache
sein, daß die Ap nicht die wii-kliche (sei es mit größerer oder mit
geringerer Treue nacherzählte) Rede des Sokr. vor Gericht, sondern
die erst nach dem Tode des Sokr. von PI. fingierte ist. Daraus
hat sich uns die unabweisbare Folgerung ergeben, daß der Zweck
der Ap nicht die Lossprechung von Schuld und Strafe vor Gericht,
sondern vielmehr die Rechtfertigung des Meisters vor dem gebil-
deten Publikum ist." — Recht sonderbar dargestellt! Der Beweis,
den Seh. uns vortrug , ging doch den umgekehrten Weg : Er hat
gefunden, daß der eigentliche Zweck der Reden nicht Verteidigung
gegen die Vorwürfe der gerichtlichen Ankläger, sondern Recht-
fertigung der ganzen Lebensführung des Sokr. ist, — und das
findet natürlich jeder aufmerksame Leser. Aus diesem Befund
schließt er: Die Rede kann nicht die vor Gericht gehaltene sein.
Jetzt aber behauptet er: Die Einsicht, daß wir nicht die wirkliche
Gerichtsrede vor uns haben , ist die erste Voraussetzung und
158 Constantin ßitler.
Grundbedingung des Verständnisses ! Nur so erscheinen freilich
seine so gar wortreichen, bei diesem EJreisgang der Beweisführung
das Meiste 2 — 3 mal uns vorhaltenden Erörterungen von besonders
großem Gewicht gegenüber den Behauptungen der meisten anderen
Erklärer, die sagen : wie eng sich PI. an Sokr. angeschlossen habe,
darauf kommt es für das Verständnis der vorliegenden Schrift
wenig an. — S. 104, nach Herausstellung von „Ergebnissen der
platonischen Ap" geht Seh. sogar so weit, zu ei'klären: „Ob
der eine oder der andere Gedanke aus der Rede des Sokr. ver-
wertet wurde, läßt sich nicht feststellen, ist überdies wenig wahr
scheinlich."
S. 104 — 110 bemüht sich Seh. „das Wesen der Sokratik in
der Ap" zu kennzeichnen. Ich habe schon kundgegeben, daß ich
der Meinung bin, dieses zu erfassen, sei Seh. nicht fähig gewesen.
Es würde aber zu weit führen, wollte ich seine Behauptungen, die
mir schief und verkehrt scheinen, einzeln vornehmen. Schließlich
lehnt er mit Recht jeden Zweifel an der Echtheit der Ap ab und
gibt über die Abfassungszeit einige Aufstellungen. „Wir bekommen
folgende chronologische Reihenfolge: 1. die platonische Ap ; 2. die
xenophontische Ap 5 .3. die Rede des Polykrates; 4. die Memora-
bilien Xenophons ; 5. die Gegenrede des Lysias und 6. der Busiris
des Isokrates." Da Lysias um 380 gestorben ist, haben wir dies
Jahr als untere , 399 als obere Grenze. Aber man darf weiter
behaupten: „Die Ap fäUt in den Anfang der schriftstellerischen
Tätigkeit Pl.s" und ist „bald nach dem Tode des Sokr. geschrieben".
Der Cr nimmt 45 b auf Ap 37 c d Bezug, ist also später. So
wahrscheinlich auch der Eu. Für den Me ist Abfassung nach der
Ap wahrscheinlich. Dagegen darf für den G aus der in Ap 39 b
enthaltenen Prophezeihung wohl gefolgert werden, daß er ihr vor-
ausging. — Die ganze Berechnung ist schon deshalb sehr mangel-
haft, weil Seh. die Abhängigkeit der „xenophontischen" Apologie
vom Phn nicht bemerkt hat.
Schleiermacher also meinte, wir haben an der Ap eine „so
treue Nachschrift von der wirklichen Verteidigung des Sokr., als
nur möglich war" ; Schanz meinte, es sei wenig wahrscheinlich, daß
in ihr auch nur „der eine oder der andere Gedanke des Sokr. ver-
wertet wurde". Die meisten Beurteiler werden überzeugt sein, daß
wir es, um einen Ausdruck von Gomperz zu brauchen, mit „stili-
sierter Wahrheit", mit künstlerisch gestalteter Widergabe zu tun
haben. Die Einzelausführungen neuerer Erklärer nehmen vielfach auf..
Schanz Bezug, auch wo dieser nicht genannt wird, und so gebührt
i
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 159
ihm jedenfalls die Anerkennung, daß er durch Hervorlockung
kräftigen Widerspruchs das Seinige zur Klärung beigetragen habe.
Wilamowitz spricht (S. 163) von freier Nachdichtung, in
der die zwei ersten Reden , vor und nach dem Schuldigspruch,
widergegeben seien, und erklärt die dritte, das Schlußwort, für
Pl.s Erfindung. Er sagt, PI. habe mit künstlerischer Meisterschaft
die Verteidigungsrede so ausgeführt , daß sie den wahren Grund
der Verurteilung an das Licht zieht, (ß. 180:) „So ist in freiestem
Anschluß an das , was Sokr. wirklich gesagt hatte und was bei
vielen noch in frischem Gedächtnis leben mußte, doch etwas weit
Größeres herausgekommen, als die wirkliche Rede des Sokr. oder
die Verteidigungsschrift eines Schülers erreichen konnte." Er
rechnet die Ap zusammen mit Cr, La, Ly, Ch und Eu als den
Schriften, deren jede das Bild des Lehrers, dessen Gedächtnis PI.
zu Ehren bringen will, von einer anderen Seite beleuchtet, und
sieht sie als deren früheste an.
Ähnlich äußert sich Gomperz. (S. 81:) „Die Ap ist kein
buchstabengetreuer Bericht. Sie schildert auch die äußeren Vor-
gänge des Gerichtsverfahrens in einer Weise , die ich stilisierte
Wahrheit nennen möchte." Er bewundert (S. 83) „den außer-
ordentlichen Aufwand an sachwalterischer Kunst", der die ganze
Schrift „bei aller Unscheinbarkeit der Darstellung und aller an-
gebhchen Planlosigkeit der Anordnung auszeichnet". Auch hegt
er „nicht das leiseste Bedenken", „den Ton der Reden für den
echten und ursprünglichen zu halten. Mit nicht geringerer Zu-
versicht möchten wir dies von dem Geist behaupten , in welchem
die Verteidigung geführt wird. In diesem wie in jenem Betracht
könnten Abweichungen von der historischen Wahrheit nicht als
1 künstlerische Freiheit gelten, man müßte sie zugleich ungeschickt
und pietätlos heißen. Auch steht der Geist und die Absicht der
Verteidigung mit allem , was wir vom historischen Sokr. wissen,
ebenso wie mit der durch die Anklage geschaffenen Lage im besten
Einklang. Wer möchte es von vornherein für irgend wahrschein-
lich halten, daß Sokr. um jeden Preis sein Leben retten wollte?
Aber auch das gilt uns als eine Wiilkürbehauptung , wenn man
meint, er habe um jeden Preis sterben wollen , sei es aus Scheu
vor den Gebrechen des Alters, sei es, um seine Laufbahn durch
den Märtyrertod zu krönen. Die Wahrheit scheint uns vielmehr diese.
Das Leben besaß für ihn nur dann irgendeinen Wert, wenn er es
^ in der bisherigen Weise fortführen und den eigenartigen Beruf,
den er ergriffen hatte, ungehindert ausüben konnte. Innerhalb
IQQ Constantin Ritter.
dieser Grenzen zeigt ihn uns die Ap sogar zu dem Zugeständnis
bereit, das in der Leistung einer Geldbuße gelegen ist. Von dieser
Linie weicht er jedoch um keines Haares Breite ab; hier ist er
jedem Kompromisse feind, auch jedem stillschweigenden Pakt aufs
äußerste abhold". G. gibt auch zu bedenken (S. 87), daß „kein
antiker Schriftsteller Bedenken getragen hat, die Reden seiner
Helden umzubilden, zu verschönern, dem, was ihm als Vollkommen-
heit galt, näher zu bringen'\ „Es wäre einem Wunder gleich zu
achten, wenn PL, in dessen Staatstheorie die 'heilsame Unwahr-
heit' eine so große Rolle spielt, in der schriftstellerischen Praxis
es anders gehalten und den Strom seiner Beredsamkeit von der-
artigen Skrupeln hätte eindämmen lassen. Andrerseits wäre es
ihm und vor allem seinen sokratischen Genossen sicherlich als
pietätlose Anmaßung erschienen, wenn er die in Wirklichkeit ge-
haltenen Verteidigungsreden des Meisters einfach über Bord ge-
worfen und ganz und gar durch Erzeugnisse seines eigenen Geistes
ersetzt hätte. Darum durften wir mit Fug von Wahrheit und
Dichtung sprechen , auf deren durchgängige Sonderung wir ver-
zichten müssen. Nur daß der gesamte künstlerische Aufbau Pl.s
Werk ist, möchten wir mit einiger Zuversicht behaupten; nicht
minder, daß die zugleich kürzeste und mit dem Vex'lauf des Pro-
zesses am engsten verknüpfte zweite Rede am meisten von echtem
sokratischen Gut enthält'".
Pohlenz hält mit seinem Urteil vorsichtig zurück, zeigt sich
aber immerhin stärker, als billig ist, von Schanz beeinflußt. (S. 20:)
„'Ich weiß, daß ich viele Feinde habe, und will euch zeigen, wie
die Feindschaft entstanden ist, obwohl ich mir dadurch neuen Haß
zuziehe' — so kann der Angeklagte sprechen, aber nur, wenn ihm
am Freispruch nichts liegt." Und „war es denn notwendig und
klug, dieses Thema so genau auszuführen, obwohl ein Verschweigen
keinesfalls Mangel an Offenheit bedeutet hätte?" Und so, wie in
28 a „spricht überhaupt nicht der Angeklagte". Doch zweifelt P.
nicht, „daß auch in diesem Abschnitte PI. sehr viel aus Sokr.'
wirklicher Rede herübergenommen hat", ja er erklärt sogar zwischen
hinein, er sei „natürlich weit entfernt zu leugnen, daß Sokr. an
sich so gesprochen haben kann". Ich betone: es lag ihm wirklich
nichts am Freispruch. Aber daran lag ihm , den zahlreich ver-
sammelten Mitbürgern , die ihm hier eine Stunde lang wirklich
Gehör schenken mußten und nicht weglaufen konnten, recht gründ-
lich einmal als Warner und Mahner ins Gewissen zu reden. Man
vergleiche, wie sich bei Shakespeare Coriolan gegen die Menge
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 161
benimmt , deren Zustimmung er brauchte , damit seine Wahl zum
Konsul, die der Senat vollzogen hat, giltig sei. Seine f.teyaXt^yoQia
ist ja freilich Dichtung, aber ihr mächtiger Eindruck beruht auf
der treffenden Zeichnung eines stolzen unabhängigen Charakters.
Trefflich finde ich, von einigen Kleinigkeiten abgesehen, die
Ausführungen Apelts. (S. 6:) „Dem Auftreten des vielleicht
volkstümlichsten Mannes Athens vor Gericht eine ganz andere
Färbung zu geben, als ihr tatsächlich zukam, konnte selbst ein PI.
nicht . . . wagen. Daß die Ap wohl nur wenige Jahre nach dem
Tode des Sokr. abgefaßt ist, darüber herrscht ziemliche Überein-
stimmung. Bei dem großen Aufsehen aber , das der Prozeß er-
weckt, und der Teilnahme, die er gefanden, war es selbstverständ-
lich, daß ein wenn auch mit den Rechten literarischer Widergabe
ausgerüsteter Berichterstatter sich keiner groben Verstöße gegen
die Tatsachen schuldig machen konnte." (7) „Auch der Umstand,
daß Sokr. sich ab und zu auf Dinge einläßt , die nicht un-
mittelbar den Wortlaut der Anklage zum Gegenstand haben, gibt
keinen Grund zu der Annahme , das sei ein dem Sokr. nicht zu-
zutrauendes Hineintragen ungehöriger Dinge in die an die Anklage
gebundene Verteidigung ; denn neben der eigentlichen Anklage
stehen doch im Gerichtsverfalu-en die Beden der Ankläger, die
manches enthalten mochten, was, ohne im strengen Sinn zur An-
klage zu gehören, eine Entgegnung forderte." Und „ganz ab-
gesehen von der Frage , ob es nicht doch zuweilen im Interesse
eines Angeklagten liegen kann, die Anklage nach dieser oder jener
Seite hin zu erweitern , ist es gewiß bei niemandem weniger an-
gebracht als bei Sokr., ihn zum achtsamen Befolger juristischer
Technik und Taktik zu machen. Wenn irgend jemand, so war er
der Mann, sich nicht an vermeintliche Regeln zu binden, sondern
frank und frei den Eingebungen seines Geistes zu folgen. Aber
liegt denn die Sache hier wirklich so, daß Sokr. sich einer starken
Sünde wider den Geist der Eechtspraxis schuldig macht? Durch
nichts kann mau sich vor Gericht eine bessere Position verschaffen
als dadurch, daß man den Gegner in recht ernste Widersprüche
mit sich selbst verwickelt. Man macht ihn dadurch mundtot. Und
das ist es, was Sokr. vollständig erreicht durch die an die Spitze
gestellte Frage nach seinem Gottesglauben überhaupt. Die Anklage
beruft sich zum Beweise ihrer Eechtsgültigkeit ledighch auf das
daLnoviov des Sokr. Es war also ganz richtig und sachgemäß,
wenn Sokr., um den Gegner in Widerspruch mit sich selbst zu
bringen und ihn dadurch matt zu setzen, sich zunächst nur streng
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 11
162 Constantin Ilitter.
an dieses Argument hielt. Auf Grund desselben konnte er schlagend
beweisen, daß er alles andere eher als ein Atheist sei. Damit hatte
er dem Meletos eine entscheidende Niederlage beigebracht: .der Vor-
wurf des Atheismus, der zwar nicht einen Teil der gerichtlichen
Anklage bildete, aber von Sokr. dem Meletos klugerweise abgelockt
worden war, war in sich zusammengebrochen mit Hilfe gerade des
einzigen Beweismittels, dessen sich der Gegner in der Anklage be-
dient hatte . . . (10) Man kann sich ohne Bedenken alles, was
Sokr. in der Ap vorträgt, recht wohl als von ihm erwähnt denken,
mag es auch in anderer Form geschehen sein. Jedenfalls wird
man dem Sachverhalt nicht gerecht, wenn man mit polizeimäßigem
Spürsinn angebliche Sünden nach dieser Seite hin aufzudecken be-
müht ist. So könnte es scheinen, als hätte Sokr., wie man das
tatsächlich aus der Stelle herausgelesen hat, seine die Menschen
zur Selbstkenntnis anregende Tätigkeit erst von dem Zeitpunkt ab
begonnen, wo ihm Chairephon den Spruch des delphischen Gottes
mitgeteilt hat. Allein näher zugesehen, handelt es sich von da ab
um das absichtliche Aufsuchen von Männern, die in dem Rufe be-
sonderer Tüchtigkeit in irgendwelchem Fache stehen. Das schließt
doch nicht aus , daß Sokr. schon vorher wie auch nachher seine
Kraft und seine Zeit oft genug aufldärenden Unterhaltungen mit
ihm sich beliebig zugesellenden Leuten gewidmet hat. Tut er doch
selbst (23c) des Umstandes Erwähnung, daß er bei Prüfung und
Verhör der von ihm aufgesuchten Zelebritäten gewöhnlich eine Schar
von Jünglingen als Gefolge um sich gehabt habe , denen diese
Menschenprüfung, diese Demaskierung, nicht wenig Vergnügen be-
reitet habe. Es werden also hier seine gewöhnlichen Begleiter
hinreichend scharf unterschieden von jenen vermeintlichen Größen,
die er eigens für seine besonderen Zwecke aufsucht". (13:) Die
Darstellung der Ap „mag im einzelnen nicht jede Äußerung des
Sokr. mit aktenmäßiger Genauigkeit widergeben , mag nicht jedem
kleinen Wechsel in der Szenerie des gerichtlichen Dramas folgen,
aber wir sind dessen sicher, daß sie uns den Eindruck widergibt,
den des Sokr. Auftreten vor Gericht . . machen mußte . . . Die
etwaigen Abweichungen, die sich PI. . . gestattet, sind, wenn ich
recht sehe, nur dazu bestimmt, Ersatz zu schaffen für den not-
wendigen Nachteil, in dem die literarische Widergabe ihrem Wesen
nach gegen den unmittelbaren Eindruck der wirklichen Aktion stehen
mußte." — Zu den Kleinigkeiten, von denen man absehen könne,
rechne ich die Bemerkung (S. 3), daß sich „auffallenderweise immer
noch Kritiker finden, welche" die andere Apologie dem Xenophon
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 163
absprechen ; ebenso den verkünstelten Erklärungsversuch zum Aus-
gleich eines Unterschieds zwischen den beiden Apologien (S. 71) :
„es ist wohl denkbar, daß Sokr. die stolze Bemerkung über Speisung
im Prytaneion als der einzig würdigen Erwiderung des Staates für
seine Verdienste um die Bürgerschaft in seine Rede zwar habe ein-
fließen lassen, aber als bloße Gewissensschärfung für die Richter,
ohne sie zu einem eigentlichen Antrag zu formulieren, und daß die
darüber entstehende Unruhe eine irrtümliche Auffassung bei PI. vind
vielleicht aixch bei anderen hervorrief."
Demgegenüber sehe ich mit Befriedigung, daß Uhle (S. 14)
von meinen Ausführungen (PI. I 370), auf die er sich beruft, über-
zeugt worden ist , nur aus der Tatsächlichkeit dieses Antrags ^)
könne verstanden werden, daß „bei der 2. Abstimmung eine weit
größere Mehrzahl die beantragte Todesstrafe beschloß". Ganz in
Übereinstimmung mit meiner oben gegen Schanz vorgebrachten
Meinung finde ich auch folgende Worte Uhles : „Nach der Ent-
scheidung ergriff Sokr., beiden Apologien zufolge, noch einmal das
Wort zu einer Ansprache an seine Richter. Der attische Rechts-
brauch stand dem nicht entgegen, und die Erklärung bei PL, daß
Sokr. dazu die Zwischenzeit bis zur Abholung ins Gefängnis be-
nutzte , ist ganz glaublich. Bezüglich der Richter aber kann man
annehmen, daß, wie diejenigen, die für seine Freisprechung ein-
getreten waren , den Wunsch hegen mochten , dem nach ihrer
Meinung unschuldig Verdammten noch ein letztes Mal zuzuhören,
so auch von den verurteilenden manchen die Neugier noch zu
kurzem Verweilen veranlassen konnte."^)
Besonders aufmerksam machen möchte ich aber noch auf
Bruns. Was er S. 189 if. unter den Seitenüberschriften „Voraus-
setzungen der platonischen Ap — Methode der Ap — Aristophanes
bei PI. — Polykrates' Klagerede wider Sokr. — Polykrates' Tendenz
und die Gegenschriften — Der Sokr. der 'Wolken' kein Typus —
Aristophanes und Sokr. — Der Sokr. der 'Wolken' und das Publikum"
und dann namentlich S. 203 — 23 in dem ganzen Kapitel, das die
Überschrift trägt „Piatons Apologie", ausgeführt hat, gehört jeden-
falls zum Besten , was darüber gesagt worden ist. Es wird ja
sowieso niemand, der ein anschauliches Bild von Sokr.' Persönlich-
') Vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums V^ S. 227: „Wie man
es für möglich hält, daß PI. gewagt hätte, die Forderung der Speisung
im Prytaneion zu erfinden, verstehe ich nicht. Nur wenn Sokr. das
wirklich gesagt hatte, durfte er es wiederholen."
^) Vgl. noch die unten zu 39 e gemachten Bemerkungen.
U *
154 Constantin Ritter.
keit gewinnen will, die Nachzeichnung seines 'literarischen Porträts'
durch Bruns unbeachtet lassen; aber es sollte auch niemand, der
die Ap, sei es sich selber oder als Lehrer anderen, Schülern, ver-
traut machen will, versäumen, B. nachzulesen. Mit manchem, was
er sagt, bin ich nicht einverstanden. B. glaubt, wie Schanz und
Apelt, an die Echtheit der xenophontischen Ap und gesteht Schanz
zu, er habe bewiesen, die Annahme, daß uns die wirkliche Ver-
teidigung des Sokr. vorliege, sei unhaltbar, obgleich er gerade die
Gründe, auf die Seh. das größte Gewicht legt, verwirft. Aber un-
übertrefflich finde ich die Art, wie B. uns das Sokratesbild der Ap
durch Beleuchtung seiner einzelnen Züge betrachten lehrt; ganz
meisterhaft in allen Einzelheiten auch die S. 213 ff. gegebene Inhalts-
darstellung und ästhetische Beurteilung der Ap. Dabei wird offen-
bar, daß Schanzens Behauptung falsch ist, „die richtige Würdigung"
der ganzen Schrift hänge davon ab , ob wir sie für Reproduktion
oder für freie Schöpfung zu betrachten haben. Die Würdigung von
B. erkenne auch ich bewundernd als richtig an , obgleich er mit
Seh. in jener Frage sich gegen mich entscheidet, während ich die
von Seh. als ganz erbärmlich mißlungen ansehe. Nur einige Sätze
seien hier aus dem schönen Buch hei'ausgegriffen. (S. 189 :) „Man
sieht, PI. vertuscht nichts, erleichtert sich die Schwierigkeit der
Situation nicht , er tut alles , um auf ihren ganzen Umfang auf-
merksam zu machen." (190:) „Es ist nicht wohl möglich, daß so
viele Menschen in Soki\ einen Sophisten , einen Naturphilosopheu
und einen ßeligionsverfälscher sahen, wenn er es nicht war. Diesen
Einwurf zu widerlegen (was er durchaus aufrichtig als äußerst
schwer bezeichnet 19a), ist das erste und Hauptthema, das sich
PI. in seiner Apologie gestellt hat und das er nach Lage der Dinge
nach dem Prozeß sich stellen mußte. Er ist darauf sofort ein-
gegangen und hat es in kurzer einleuchtender Weise erledigt (bis
24 a). Es gab nur einen Weg , er mußte die Entstehung dieser
Mißverständnisse erklären." (191:) „Der Gedankengang ist klar
und verständlich, von einer unleugbaren inneren Wahrscheinlichkeit.
Haben wir Gründe, anzunehmen, daß PI. diese Dinge nicht so
ansah , wie er sie darstellte '? Ich dächte , nein . . . Wie es der
Würde der Sache schlecht entsprochen haben würde , so ist auch
schlechterdings kein Grund abzusehen , der ihn bewogen haben
könnte, in der Darstellung dieser sehr ernsten Vorgänge ein Trug-
bild an Stelle seiner wirklichen Überzeugung zu setzen. Und wenn
diese sich nach Pl.s Auffassung so abgespielt haben, so hat seine
Darstellung für die genetische Entwicklung des sokratesfeindlichen
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 1 65
Urteils sowie für die Beschaffenheit dieses Urteils für uns eine
absolute Gewähr." (209:) „Die Ap ist der erste und jedenfalls
einer der glänzendsten Versuche , die die Literaturgeschichte auf-
weist , die umfassende Charakteristik eines großen Mannes zu
schreiben." (211) „PI. kann . . Fehler gemacht und sich geirrt
haben, es erscheint aber völlig ausgeschlossen, daß er sich absicht-
liche Entstellungen . . erlaubt habe." Er „wußte sehr wohl, daß
man seine Schrift nicht mehr als gültige Verteidigung angesehen
und entgegenkommend geprüft haben würde, sobald man dem Ver-
fasser eine absichtliche Verschiebung der Wahrheit hätte nachweisen
können. Dazu kommt, daß es eine völlige Verkenuung der bei PI.
vorauszusetzenden enthusiastischen Stimmung des im Innern ebenso
erschütterten wie überzeugungsfrohen Schülers ist, wenn man ihm
zutraut, daß er in dieser tiefernsten Zeit mit seinem Meister
literarische Experimente auf eigene Faust gemacht habe. Betrachten
•wir nun unter der Voraussetzung, daß PI. mit der höchsten Pietät
lind dem Streben nach vollständiger historischer Treue an sein
Werk gegangen ist , die Form , die er gewählt hat , so erstaunen
wir über die außerordentliche Kühnheit, mit der er sich das tech-
nische Problem gestellt hat. Es galt , ein ganzes Menschenleben
aufzurollen, es in der Größe und Reinheit seiner Ziele ebenso wie
in seiner Wirkung auf Mit- und Nachwelt zu schildern. Was hätte
hier näher gelegen, als einen das Einzelne zusammenstellenden Be-
richt zu geben, Schlüsse, aus bedächtig gruppierten Tatsachen ge-
zogen, aneinanderzureihen?'' — man denke an die xenophontischen
Apomnemoneumata! — .,P1. verzichtet auf alle Vorteile dieses Ver-
fahrens. In dem Wunsch, die Wahrheit ganz zu geben, wählt er
das Kleid der Dichtung . . . Nicht jede Szene aus dem Leben des
Sokr. vermochte den beiden Zielen gerecht zu werden, die die Ap
sich stellt, den Menschen zu zeichnen, wie er sich im Augenblick
zu geben pflegte , und zugleich den vollen Gehalt seines Lebens-
werkes zu erschöpfen. Aber V\enn eine, so war die gewählte dazu
geeignet." Sie ermöglichte, .,das innere Gleichgewicht des Helden
dramatisch zu schildern, in Augenblicken, v.-o jeder andere mindestens
einer tiefen Erschütterung ausgesetzt gewesen wäre. Zugleich aber
gestattete sie dem Verfasser, seinen Sokr. das aussprechen, zu
lassen, was er von ihm dachte. Denn es hat die vollste innere
Wahrscheinlichkeit für sich , daß in diesen Momenten auch der
wirkliche Sokr. sein ganzes Sein beurteilt und von dem geredet hat,
was er für die Welt bedeute. So verschlingt, unterstützt durch
die Wahl des Augenblicks , die Kunst de.s Verfassers jene beiden
166 Constantin Ritter.
Ziele, die Eechtfertigung und die Selbstdarstellung, zu einer natür-
lichen Einheit'". — Ich bemerke nur noch, daß m. E. mit diesem
Zugeständnis über den Inhalt , den die von Sokr. selbst gehaltene
Verteidigungsrede nach „innerer Wahrscheinlichkeit" gehabt haben
möge, die Frage, ob nun die Ap „Reproduktion" oder „freie
Schöpfung" sei, fast gegenstandslos geworden ist.
Halt ! Eines muß ich noch nachtragen : das Urteil , das B.
über den Antrag auf Speisung im Prytaneion abgibt. Hier sagt
er sich entschieden von Schanz und von der „xenophontischen"
Apologie los. Vor allem sei es unmöglich, PL zuzutrauen, er habe
den Antrag auf die Bezahlung von 30 Minen erfunden. ,.Wo diese
3 Versionen vorliegen : Verzicht auf den Autrag , Antrag auf
Speisung , Antrag auf Geldstrafe , wird ohne weiteres die letzte
unter ihnen als die glaubwürdigste erscheinen müssen, und zwar
deshalb, weil sie den Hergang am wenigsten theatralisch darstellt."
Es war dem Wesen des Sokr. entsprechend, „daß er auch in dieser
letzten Situation jede Pose vermied. Er mrd genügend gesagt
haben, daß er nicht schuldig sei. Dann fügte er sich den Forma-
litäten des Gesetzes , wie er dies immer getan. Wie die Dinge
lagen, kam dieser Antrag auf 30 Minen auf einen Verzicht heraus,
er vermied nur den Anschein eines glänzenden Bühnenabgangs . . .
Den PI. . . . hinderte seine Pietät, das Faktum zu vertuschen.
Aber er schwächte es ab, indem er seinen Sokr. jenes Wort von
dem Prytaneion voranschicken ließ , welches den späteren Straf-
antrag nunmehr als reinen Hohn erscheinen läßt". Hier ,. geht die
jugendliche Begeisterung mit dem sonst so besonnenen Künstler
durch". Hier „charakterisiert der Dichter PI. den Sokr. nicht
mehr realistisch nach dem Leben , sondern der enthusiastische
Schüler läßt die Empfindungen seines jungen Herzens ausströmen.
Hier für kurze Zeit vergißt er, daß er den Siebzigjährigen reden
lassen will, hier spricht der noch nicht dreißigjährige Autor".
Pöhlmanns Schrift scheint mir entschieden das Beste zu
sein, was über den Prozeß des Sokr. geschrieben worden ist; vor
allem sehe ich die Bemerkungen für voll gelungen an , mit denen
Th. Gomperzens Bemühungen um Rechtfertigung der athenischen
Richter abgetan werden. Sie bleiben m. E. in. voller Geltung auch
nach allem, was Menzel gegen sie eingewendet hat. Ich lasse P.
selbst reden (S. 23): „Wenn es nach Gomperz das 'Verhängnis
der Philosophie' gewesen sein soll, daß sie von Anfang an 'auf
die nationale Lebensansicht und Lebensordnung zersetzend ein-
gewirkt hat', so teilt die Demokratie diese 'Schuld' mit den Philo-
I
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 1(57
sophen durchaus. Als die Demokratie um die Wende des 6. Jahrh.
mit ihrem Freiheits- und Gleichheitsprinzip — dem Ei-gebnis der
denkbar subjektivsten Reflexion! — der Gebundenheit der das
ältere Hellas beherrschenden nationalen Lebensansicht und Lebens-
ordnung entgegentrat, hat sie in ungleich höhex'em Grade zer-
störend und zersetzend auf das Bestehende eingewii'kt, als dies
irgendeine zunächst doch immer nur auf Minderheiten wirkende
Philosophie zu tun vermöchte . . . (26) Kein Geringerer als Gom-
perz selbst hat darauf hingewiesen, wie mächtig die demokratische
Neugestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse
den Geist der Kritik entfesselt hat, wie gerade die innere Logik
der demokratischen Entwicklung selbst die Reflexion über eine
'Fülle von Problemen' erzeugt hat, die eben dieser Neugestaltung
'^entsprangen'. Er weist darauf hin, wie die die freie Erörterung
beherrschende Frage nach der Berechtigung der widerstreitenden
Meinungen und Interessen ganz von selbst zu der prinzipiellen
Frage fühi'te : Was kann im Staatsleben überhaupt vor Vernunft
und Gerechtigkeit bestehen? . . . Die 'neue Richtung', als deren
'Stimmführer' Sokr. von der Demokratie Athens mit Recht ver-
urteilt sein soll, wird hier . . . ganz unbefangen ... als eine gerade
dem demokratischen Geist immanente psychische Erscheinung an-
erkannt . . . Das 'Denken des Zeitalters' erscheint hier . . . durch
und durch infiziert mit zersetzender Reflexion ; es charakterisiert
sich durch eine schwankende Unsicherheit, 'übergroße geistige
Geschmeidigkeit' . . . (3-i) : Es ist ja eine komische Übertreibung,
wenn der Euripides der aristophanischen Komödie sich rühmt,
daß, seitdem er 'der Kunst Gedanken und Begriffe geliehen', in
Athen jedermann reflektiere, sinniere und räsonuiere; aber so viel
ist gewiß, daß dem, was auf der Bühne sich abspielte, eine Parallel-
bewegung im Seelenleben weiter Volkskreise entsprochen haben
muß." Auch Thukydides , „der größte Herzenskündiger seines
Volkes" zeigt uns dies ja. Aber „plötzlich, wo es sich um Sokr.
handelt, ist es" bei Gomperz „das gesamte nationale Wesen, welches
sich gegen die auflösenden Tendenzen' aufbäumt ; dasselbe nationale
Wesen, dessen 'reichliche Schwängerung mit Keimen der Skepsis'
vorher so drastisch geschildert ist. Und während wir noch ganz
unter dem Eindruck der 'Ruhelosigkeit und Neuerungssucht' des
Zeitalters stehen, sollen wir uns auf einmal in die entgegengesetzte
Vorstellung hineinleben, nach welcher die vorherrschende politische
Richtung, die Demokratie, von dieser Ruhelosigkeit am wenigsten
ergriffen erscheint." — Unter anderem macht G. dem Sokr. seine
168 Constantin Eitter.
Zurückhaltung vom öffentlichen Leben zum Vorwurf. Die Moti-
vierung bei PI. findet er 'befremdlich'. „Es 'fällt ihm schwer,
sich einer Regung schmerzlichsten Bedauerns zu erwehren', wenn
er hier die 'Uuverbesserlichkeit' eines Volkes behauptet sieht,
welches 'Perikles zu seiner Leichenrede Modell gestanden hat,
das, durch Niederlagen gebeugt , durch schmerzliche Erfahrungen
geläutei't, wahrlich nicht als ein unbrauchbarer Stoff in der Hand
wohlwollender und einsichtiger Bildner gelten konnte\ „Wenn
hier etwas Befremden erregt" entgegnet P., „so ist es nicht Sokr.,
sondern sein neuester Beurteiler! Zunächst, welch eine Begriffs-
verwechslung ! Die Masse , welche die Agora und die Gerichte
füllte, ohne weiteres mit dem ganzen Volke zu identifizieren, welches
einem Perikles Modell gestanden ! Könnte man nicht mit dem-
selben Rechte darauf hinweisen , daß eben diese Masse , in der
Sokr. den gefährlichsten Feind von Recht und Gerechtigkeit er-
blickte, einem Aristophanes für die Zeichnung seines Richterpöbels
und seines schwachen und kindischen Herrn Demos Modell ge-
standen ? Dazu welch hochtönende Phrase ! Diese bunt zusammen-
gewürfelte Menge, 'ein brauchbarer, geläuterter' Stoff in der Hand
eines Bildners wie Sokr. ! . . . Gomperz ... ist sich gar nicht be-
wußt , daß es sich hier um ein großes massenpsychologisches
Problem handelt, daß man sich bei unserer Frage vor allem ver-
gegenwärtigen muß , was es zu bedeuten hatte , daß durch die
immer größer gewordene Unmittelbarkeit der Volksherrschaft
Politik und Rechtsprechung in stetig steigendem Maße von Massen-
aktionen und damit von den Trieben und Instinkten abhängig ge-
worden war, welche das seelische Kollektivleben großer, zu gemein-
samen Machtentscheidungen berufener Massen beherrschen. Der
lebhafteste dieser Instinkte ist das Gefühl der Macht und die
Lust, sie so zu betätigen, wie es dem Machtgefühl am meisten
schmeichelt. Es ist ein Naturtrieb, der gelegentlich geradezu in
der Durchbrechung der Schranken von Recht und Sittlichkeit seine
Befriedigung sucht, weil es sich hier am augenfälligsten zeigt, daß
das 'Volk' Herr über alles, daß des Volkes WiUe Gesetz ist . . .
(53) : PI. . . . hat diese elementare Natur der Masse vortrefflich
geschildert . . . Auch ihm ist ... die Massenpsyche ein Natur-
phänomen ... Er kommt demgemäß zu dem Ergebnis , daß der,
welcher sich in der Gunst der Masse behaupten will, sich ihr
gegenüber ganz so verhalten muß wie gegen Naturgewalten . . .
Jedenfalls entspricht . . . die platonische Charakteristik der Wirk-
lichkeit ungleich mehr als die naive Ansicht, daß eine solche
1
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 169
Masse — der ox^og ayoQalog\ — einen brauchbaren, 'edlen Stoffe
in der Hand eines Bildners wie Sokr. abgeben könnte . . . Wahrlich,
der versteht sich auf die Massenseele schlecht, der es einem Sokr.
ijicht nachempfinden kann, wenn er das todesmutige Ankämpfen
eines hilflosen Einzelnen gegen die elementare Wucht der Volks-
leidenschaft in der extremen Demokratie auf die Dauer für aus-
sichtslos erklärt" . . . Übrigens (73): „in der Ap erscheint ja Sokr.
keineswegs als der passive Theoretiker, der den Dingen ihren
liauf läßt. Er wirkt und lehrt! Und dieses Wirken ist für ihn
ein Dienst, den er seinem Volke und damit auch dem Staat er-
weist." Berücksichtigt man alles, so kann nicht „der geringste
Zweifel bestehen , daß die modernen Versuche , Sokr. und seine
Lehre in einen grundsätzlichen Gegensatz zu Heimat und Vater-
land ^) , zum 'gesamten nationalen Wesen' zu bringen, historische
Phantasien sind , entsprungen aus unklaren doktrinären Begriffen,
falschen Fragestellungen, ungenügender Vertiefung in die Realitäten
geschichtlichen Lebens". Der Widergabe des weiteren Inhalts der
P. sehen Schrift darf ich nur noch wenig Raum lassen. Die Über-
schriften der übrigen Kapitel lauten: „Sokrates als typischer Re-
präsentant der Vollkultur und der Konflikt mit dem Massengeist ^j.
— Der Rechtsspruch der Polis. — Der hellenische Kulturstaat
und die Denkfreiheit." Daraus noch wenige Einzelsätze. „Aller-
dings steht Sokr. in einem ausgeprägten Gegensatz zu dem, was
man so 'die große Allgemeinheit' nennt," ... zu der „großen un-
sichtbaren Gemeinde der Gewöhnlichkeit, die sich weithin über alle
Volkskreise verbreitet, . . . damals wie heute. Denn, wie Grote
treffend bemerkt hat, 'wenn heute ein neuer Sokr. auf dem Markt-
platz an Leute beliebigen Standes und beliebigen Berufs dieselben
Fragen richten würde, würde er demselben arglosen Dogmatismus,
denselben Gemeinplätzen und, in der Diskussion, denselben Wider-
sprüchen begegnen'." Nicht bloß das, meine ich: er würde heute
^) Mit diesem Urteil Pöhlmanns stimmt auch Ed. Meyer überein.
Nur ein paar Worte aus seiner Gesch. d. Altert, sollen das hier be-
zeugen: „So Großes die griechische Nation auf allen Gebieten mensch-
lichen Schaffens geleistet hat, die einzigartige Stellung, die sie in der
Geschichte der Menschheit einnimmt, beruht doch in letzter Linie auf
ihm. Sokr. hat die Summe der ganzen bisherigen Entwicklung ihres
Denkens gezogen und das Ergebnis so hingestellt, daß es der Menschheit
nicht wieder verlorengehen konnte. Daß er das konnte, ist das Werk
seiner Individualität . . ." (V^ S. 461).
^) Auch hiezu sei nochmals an die in der vorigen Anmerkung ab-
gedruckten Worte Ed. Meyers erinnert.
170 Constantin Ritter.
ebenso schlimm verdächtigt, würde bei gebotener Gelegenheit an-
geklagt und bei einer Massenentscheidung als 'Volksfeind' und
'Reaktionär' zu den strengsten Strafen, die unsere Rechtsordnung
kennt, verurteilt werden. Und so geschäftig dann die Presse wäre,
um das Volksgewissen einzuschläfern und zu beweisen, daß dem
Mann Recht geschehen sei , und daß keinerlei parteipolitische
Gründe an dem Prozesse beteiligt seien, daß die Männer, die die
Anklage geführt und die das Schuldig gesprochen haben, höchst
ehrenwerten Charakters seien, — es wäre mit all dem nicht zu
beweisen, was die Gomperz, Schanz, Wetzel und Menzel bezüglich
des Sokr. dartun wollen.
(84) : „Die Konsequenzen der sokratischen Kritik bedeuten . . .
die theoretische Vernichtung der obersten gesetzgebenden und
richterlichen Autorität des Demos ^) . • • Es leuchtet ein, daß diese
geistige Reaktion gegen die Gewaltherrschaft der 'vielen', die
sich . . . vor der breiten Öffentlichkeit vollzog , eine lebhafte
Gegenwirkung erzeugte . . . Wie sehr es die Verletzung vulgärer
Empfindungen war, welche den Sturm gegen Sokr. entfesselte, hat
schon PI. treffend hervorgehoben . . . Die vom Gleichheitsschwindel
erfaßte Masse sieht nun einmal in einer Besonderheit, die von den
Gewohnheiten, dem Tun und Denken der vielen demonstrativ abweicht,
sehr leicht etwas Anmaßendes. Sie empfindet die Existenz einer
solchen Persönlichkeit wie einen steten Vorwurf gegen sich selbst,
wie ein Vergehen an der Majestät der Gesamtheit. Mit dem
Prinzip der Freiheit , welches den anderen auch darin gewähren
lassen sollte, gerät hier der Gleichheitsinstinkt in Konflikt, der es
nicht vertragen kann , daß einer 'etwas Besonderes haben' will
(. . . Ap 20d . . . vgl. o5a . . .), zumal wenn er ein Mann aus dem
Volke selbst ist.'" (106): „Hegel hat den unglaublichen Satz aus-
gesprochen, er könne nichts Entehrendes darin sehen, w^nn Sokr.
sich nach dem Verdikt der Geschworenen in der üblichen Weise
vor dem Gerichte gedemütigt hätte ^j • • • Grote der Advokat des
^) Vgl. Ed. Mb 3'^ er a. a. 0. S. 444: „Seine Lehre ist die schärfste
prinzipielle Absage an die herrschende Demokratie.'"
2) In ähnlichem Sinn äußert sich Menzel (S. 51): „Die B.ichter um
Gnade zu bitten, galt nach attischem Prozeßrechte nicht als ungesetzlich;
selbst der Vorsitzende des Gerichtshofs machte oft davon Gebrauch.
Man darf nicht übersehen, daß das attische Schwurgericht das souveräne
Volk repräsentierte. Das Recht der Begnadigung stand dem Volks-
gerichte zu." Doch verbessert er sich selber mit einer Anmerkung (S. 52):
„Ich gebe übrigens zu, daß Sokr. (bei PI.) einen höheren Maßstab an-
I
Ber, über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. I7I
Demos , findet alle Umstände des Falls für die Richter entschul-
digend . . . (112): Nach Gomperz standen sich in der Sache des
SoliT. zwei gleichberechtigte Ansprüche gegenüber : das 'Recht des
Gemeinwesens, sich zu behaupten und auflösenden Tendenzen ent-
gegenzuwirken,' und 'das Recht der großen Persönlichkeit', der
Staatsgewalt zum Trotz neue Bahnen zu erschließen ... In die
nüchterne Wirklichkeit übersetzt würde . . . jenes "^Recht des Ge-
meinwesens' gleichbedeutend sein mit dem 'Recht' jeder beliebigen
das 'Gemeinwesen' vertretenden Regierungsgewalt . . . Zahllose
Märtj-rer des Geistes, des Glaubens, des Gewissens sind verdienter-
maßen in den Tod gegangen, weil sie dies wohlbegründete 'Recht'
gegen sich hatten ! Wer die Macht hat. der hat auch das Recht,
das ist die logisch unabweisbare Konsequenz und das praktische
Ergebnis dieser Lehre."
Aus Menzels Abhandlung habe ich schon mehrere Sätze
herangezogen. Ich weiß, daß sie auf Philologen bedeutenden Ein-
druck gemacht hat. Mir scheint ihr Verdienst recht mäßig. Immer-
hin ist es gut , daß auch ein Jurist sein Urteil über den Prozeß
des Soki\ abgegeben hat. Und was er gegen die haltlosen Ver-
mutungen von Schanz vorbringt, fällt schwer ins Gewicht. Zuerst
gibt er eine Kritik der Quellen, bei der herauskommt, daß die Ap
Pl.s — wenigstens in ihrem negativen Teil — „einen sehr be-
grenzten Wert für die Erkenntnis des Sokr.-Prozesses besitze,
Xenophons Memorabilien nahezu wertlos seien , hingegen dessen
Apologie des Sokr. höchst beachtenswert erscheine". Im positiven
Teil allerdings , meint auch M. , das heißt in der Schildei'ung der
zulegen berechtigt war, wonach die Begnadigung eines Schuldigen als
unsittlich erscheint." Übrigens möchte ich die Frage aufwerfen: ob nicht
das Volk, das im Prozeß der Feldherrn nach der Arginusenschlacht den
auf das bestehende Recht hinweisenden Sokr. überbrüllte, mehr Gi-und
gehabt habe, auf seine Souveränität zu pochen, als die etwa 500 Heliasten,
die später über ihn zu Gericht saßen. Ich ziehe hierher auch eine Er-
klärung von Ed. Schwär tz: „Der Konflikt mit der siegreichen demo-
kratischen Restauration konnte nicht ausbleiben, die, wie alle Restaura-
tionen, das deutliche Gefühl, das Alte nicht wiederherzustellen zu können,
damit übertäubte, daß sie den kritiklosen Glauben an die Vorzüglichkeit
der wiederhergestellten Ordnung für eine Pflicht des guten Bürgers er-
klärte. Die Anklage, daß er neue Götter einführe und die Jugend ver-
derbe, war leicht zu widerlegen; nur wollte das souveräne Volk, wenn
es richtete, von dem Angeklagten um Mitleid gebeten sein. Dessen
weigerte sich Sokr. ; denn damit hätte er aufgehört das zu sein, was er
sein wollte, das Gewissen seines Volkes: als solches konnte er nicht um
Gnade bitten" (a. a. 0. S. 561).
172 Constantin Ritter.
Wirksamkeit und Mission des Sokr. , sei gewiß die Darstellung
Pl.s ganz zuverlässig. Weiter sucht M. den Wortlaut der Klage-
schrift festzustellen. Er wundert sich über die Unechterklärung
der von Favorinos mitgeteilten Urkunde^). „Vom Standpunkt des
griechischen Strafprozesses" jedenfalls ergibt sich kein Bedenken
gegen die Glaubwürdigkeit des Favorinosberichtes". Noch mehr
wundert er sich darüber, daß Schanz den Punkt der Verführung
der Jugend aus der Anklage streichen will. „Ist ihm nie der Ge-
danke gekommen", fragt er, „daß das Altertum in diesem Punkte
doch vielleicht besser informiert war als ein deutscher Gelehrter
am SchUisse des 19. Jahrhunderts?" „Was die 'juristische Unhalt-
barkeit' betrifft, so traue ich mich als Jurist wohl auch ein Wört-
chen mitreden zu können". Es folgt unter Ziffer III die „Inter-
pretation der Klageschrift". Da heißt es: „Es sind 3 Tatbestände,
wegen welcher die Anklage erhoben wird : die Nichtverehrung der
Staatsgötter, die Einführung anderer neuer göttlicher Dinge und
der Jugend Verderb. Jedoch sind die beiden ersten Teile zu einer
Einheit zusammengefaßt." Beim ersten Punkt „legt PI, dem Sokr.
Ausführungen in den Mund, welche . . . den Anschein wecken, als
handle es sich um den Glauben", nicht um die Gottesverehrung,
die mit rof^illieii' gemeint war. „Wenn Sokr. wirklich in dieser
Weise gegen die Anklage bei Gericht polemisiert haben sollte
— mir erscheint es höchst unglaubwürdig — , so hat er es eben
— um ein dialektisches Kunststück auszuführen — mit dem wahren
Sinn der Beschuldigung nicht sehr genau genommen". Die ganze
Argumentation gegen den 2. Vorwurf in der Ap „ist vermutlich
eine Erfindung Pl.s ; sie zeigt aber jedenfalls , daß die dait-iövia
nicht ohne weiteres als 'Gottheiten aufgefaßt werden müssen", d.h.
nicht notwendig substantivisch. M. ist „der Ansicht, daß sich die
Anklage absichtlich eines zweideutigen Ausdrucks bedient hat, um
') Dagegen schreibt auch Wilamowitz (II S. 47): „Es ist eine starke
Zumutung, zu glauben, daß der Zettel, auf dem Meletos die yoccff q bei
dem Könige eingereicht hatte, fünfhundert .Jahre später im Metroon er-
halten war, wo ihn Favorin gesehen haben will. "Wenn er das Autograph
des Meletos im Aktenschranke des Archivs vorgezeigt erhielt, so werden
wir darin nur die Geschicklichkeit erkennen, die der gläubigen Neugier
der Fremden die kostbare Eeliquie vorzuweisen wußte, auch dem Kelten
Favorin, der hier seine theoretische Skepsis vergaß." — Ich wage immer-
hin in Bescheidenheit die Frage: Wenn doch der Prozeß des Sokr.
starkes Aufsehen erregte und bald auch außerhalb Athens aufs eifrigste
besprochen wurde, sollte nicht wirklich der Schriftsatz der Klage zufolge
davon als 'Reliquie' behandelt worden sein?
Ber. über d. in d, letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 17 3
in der Begründung einen möglichst freien Spielraum zu erlangen" ^).
In gleicher Absicht ist offenbar auch der Ausdruck zovg veovg dia-
(ßO^eigsiv recht „farblos gewählt". Unter IV will M. den „Asebie-
begriff" aufklären. Er folgert „aus dem Wesen der griechischen
Religion," „daß . . . ein Bekenntniszwang nicht geübt, wohl aber
alles geahndet werden konnte, was als Beleidigung der Staatsgötter
und eben dadurch als Gefährdung des öffentlichen Wohles anzu-
sehen war". Dann mustert er die überlieferten Fälle von Asebie-
Anklagen, widerspricht dabei der Meinung Leop. Schmidts , „daß
bei der Verfolgung der Philosophen die Religion nur den Vorwand
abgab 2), das eigentliche Motiv aber ein politisches war", gewinnt
aber dennoch das Ergebnis, „daß die Asebie -Anklage als solche
ohne besondere Zwischenursachen einen so tragischen Ausgang
keineswegs mit sich führte". Dann behandelt er, unter V, „die
Rechtsgrundlage der Anklage". Er findet: „der erste (Doppel-)
Tatbestand läßt sich ohne Zwang unter das Asebie-Verbrechen
subsumieren". Auch der Jugendverderb war „nach attischer Auf-
fassung eine kriminelle Handlung" ^). Pöhlmann irrt sich mit der
Annahme, daß die Klage gegen Sokr. auf Grund des Psephisma
des Diopeithes erfolgt sei. Sie kam ja als Privatklage (nicht als
Eisangehe infolge bloßer Denunziation beim Volk) zustande und
konnte (seit Neuregelung des Rechtswesens im Jahr 403) auch in
keiner anderen Form zustande kommen. Unter VI bespricht M.
das „Verhältnis der Anklage zur Amnestiegesetzgebung". Das ist
' vielleicht der wertvollste Teil seiner Abhandlung; aber ich kann
') Dem entsprechen etwa die Ausführungen Bey Schlags S. 42 f.
„Ist überhaupt in der antiken nöXig, dem 'Stadtstaat', in dem, um einen
modernen Ausdruck zu gebrauchen, 'Staat und Kirche' zu einer so un-
lösbaren Einheit verbunden waren, eine Klage auf Asebie ohne politischen
I Beigeschmack denkbar? Diese Yerqviickung von politischen und religiösen
Momenten war zudem noch durch den Umstand erleichtert, daß dem
attischen Recht eine scharfe Bestimmung der als äof'ßeta zu qualifizieren-
den Verbrechen und Vergehen gefehlt hat, so daß dem Ermessen der
Richter und, wie ich dieser nach dem 'Att. Proz.' S. 368 gegebenen Dar-
stellung beifüge, der Ankläger ein weiter Spielravim gelassen war. Und
diese Verquickung von politischen und religiösen Motiven lag auch im
sokratischen Prozeß vor und führte zu jener eigenartigen Formulierung
der ffjKtf /;, deren wenig scharfe Prägung gerade aus diesem Zusammen-
fließen der beiden Momente sich erklärt."
2) Ahnlich urteilt Schwartz (Charakterköpfe S. 47): „Prozesse
wegen Gottlosigkeit waren in Athen nie ehrlich gemeint."
') Hiezu vgl. auch Taylor S. 4, der mit Recht aus der Einleitung
von Isocrates n. diiiS. argumentiert. Unrichtig scheint mir, was Maier
S. 478 behauptet.
174 Constantin Eitter.
ihn hier übergehen. Dann folgt unter VII „Die Begründung der
Anklage". Wii' lesen: „Der Vorwurf religiöser Neuerung wurde
zweifellos damit begründet, daß Sokr. sich bekanntermaßen auf eine
göttliche Stimme berufe, welche ihm die Zukunft prophezeie. Die
attische Staatsreligion sei damit nicht verträglich . . Der Jugend -
Verderb wurde zweifellos zunächst mit der Verbreitung dieser Ab-
weichungen von der Staatsreligion begründet. Das zweite Argument
bildete wohl die Erschütterung der väterlichen Autorität . . Ein
weiterer Vorwurf . . scheint sich auf die Erziehung zur Untätigkeit
bezogen zu haben . . Wahrscheinlich ist auch . . darauf hingewiesen
worden , daß sich Sokr. vom Staatsleben fernhalte und auf die
Jünglinge in diesem Sinne einwirke , ein solches Verhalten aber
dem öiFentlichen Leben die besten Kräfte entziehe." VIII trägt
die Überschrift: „Die Persönlichkeit und die Motive der Ankläger".
Dabei scheint mir Anytos, wie übrigens von den meisten Neueren,
mit zu schönen Farben gemalt zu sein. Daß er „einer der ver-
dientesten Staatsmänner Athens" gewesen sei, möchte ich M. nicht
nachsprechen. Seine Ehrlichkeit wird ja auch von PI. nicht in
Zweifel gezogen. Aber ein sehr beschränkter Kopf kann er des-
halb doch gewesen sein. Wenn ein solcher sich einer politischen
Partei verschrieben hat , so weiß er selber nicht , wie weit seine
innere Abhängigkeit von deren Schlagworten geht. Und die ver-
letzte Eitelkeit eines beschränkten Menschen pflegt ihre Racheakte
vor sich selber damit zu rechtfertigen, daß sie nicht aus persön-
licher Feindschaft, sondern um des allgemeinen Besten willen unter-
nommen werden. Alle möglichen Umstände, die dem Anj'tos eine
solche Vorspiegelung erleichtern konnten, hat M. S. 46 f. treflfend
bezeichnet. Abschnitt IX bespricht „die Verhandlung und das
Urteil". Daraus greife ich noch ein paar Sätze heraus, die Wider-
spruch herausfordern: „Ob die Meinung des Sokr. über die Nach-
wirkung der alten Verleumdungen objektiv begründet war? Das
möchte ich bezweifeln . . Der Getroffene selbst hat sie natürlich
nicht vergessen und glaubt an einen Zusammenhang, der in Wirklich-
keit nicht besteht." Ich glaube, hier hat wieder Schwartz Recht:
daß die falsche Darstellung der Person des Sokr. in den Wolken
„ein starkes Vorurteil gegen den ohnehin durch sein wunderliches
Wesen die Philister ärgernden Mann zur Folge hatte, müssen wir
PI. glauben". Und wenn M. fortfährt: „Ebenso halte ich die Zurück-
führung der Anklage auf persönliche Feindschaft verletzter Be-
völkerungsklassen , wie sie Sokr. bei PI. vertritt , für eine rein ,
subjektive Auffassung", so meine ich, auch hier sei alle psycho-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 175
logische Wahrscheinlichkeit dafür, daß PI. sich nicht getäuscht habe.
Ja, wie Grote will, man denke sich heute einen Sokr. Unzählige
ehrenwerte Spießbürger würden sich täglich schwer über ihn ärgern
und beklagen als über einen äußerst lästigen, anmaßenden Gesellen^
dem sie einen tüchtigen Denkzettel wünschten. — Es folgen unter X
die „Ergebnisse", und M. will mit ihrer Zusammenfassung eine
„Widerlegung der Pöhlmannschen Auffassung" geben. In dessen
Schrift ist ihm uameutlich der Untertitel anstößig, die „Beziehung"
des Prozesses „zum Rechte der Meinungs- und Lehrfreiheit". Ich
meine aber , er kämpfe hier gegen Windmühlen. Denn von einem
verbrieften Recht solcher in Athen hat auch P. nicht geträumt.
Und einen wertvollen „Beitrag zur Geschichte der Lehrfreiheit" hat
er mit seiner Untersuchung jedenfalls geliefert. Die psj^chologischen
Bemerkungen, die M. gegen P.s Auffassung richtet, um zu zeigen^
daß es sich in dem Prozesse des Sokr. eben nicht um einen
„massenpsychologischen Vorgang von typischer Bedeutung" ge-
handelt habe, scheinen mir fehlzugehen und sich in ziemlich seichter
Oberflächlichkeit zu bewegen ^).
^) Zur Kennzeichnung von Joel sei auch hier wieder etwas nach-
getragen. Unermüdlich nach Antisthenes stöbernd, erhält er glücklich
auch in der Ap von ihm Witterung. Als Vermittlung dient der Clitophon.
Dieser darf dem PI. nicht genommen werden. (Joel hat auch [11 S. 407]
„noch von niemand erfahren" können, „warum die Alten so kurzsichtig
waren, diese antisokratische Schrift stets PI. zuzuweisen".) Und er muß
sich wohl oder übel, obwohl der sprachliche Befund (s. meine Unters,
S. 93 f.) dies einfach verbietet , der ersten platonischen Schriftengruppe
einreihen lassen. Dann hat man den Schlüssel zum Verständnis der
„Beziehungen zwischen PI. und Antisthenes". Es ist ja (U S. 423) „klar,
daß es eine Zeit gab, in der die beiden Sokratiker noch einig waren,
d. h. wohl der jüngere noch unter dem Einfluß des älteren stand, und
weiterhin eine Zeit, in der sie polemisch zueinander standen, wofür
nachgerade Zeugnisse genug erkannt sind. Dazwischen kann der not-
wendige Bruch nicht anders gekommen sein, als es der Clit. ausdrückt :
PI. emanzipiert sich mit einem 'zwar — aber'; er erkennt die antisthenische
Sokratik an als rhetorisch eindrucksvoll , deshalb elementar zur Er-
weckung wirksam, als notwendiges Vorstadiura, aber für die weitere Ent-
wicklung ungenügend, für das Wissen versagend. Er hat naturgemäß
seine Kritik zuerst mündlich verlauten lassen; Antisth. ist, wie immer
in solchen Fällen, von allem nur das Nein zu Ohren gekommen — so-
llest man's auch in der aktuellen Einleitung des Clit. — , und PI. muß
nun seinen neuen Standpunkt, seine Emanzipation rechtfertigen, —
.müßte man nicht einen Clit. hier erfinden, wenn er nicht da wäre?
Nun meint aber Wegehaupt, der Clit. habe den Sokr., den er kritisiere,
aus der Ap . . Die Verwandtschaft . . erklärt sich umgekehrt. Die Ap
■fällt in jene Epoche Pl.s, in der er, wie es Dümmler und Hirzel vom &
176 Constantin Bitter.
Mein Bericht stand schon im Satze fertig, als ich erst Taylors
Varia Socratica zu lesen begann. Das 1. und 4. Kapitel dieser
vortrefflichen, ebenso durch Scharfsinn wie durch Gedankenreichtum
ausgezeichneten Schrift nötigt mich zu einer größeren Einschaltung.
T. meint : Wir haben keinen Grund zu zweifeln , daß die Männer
in ehrlicher Überzeugung handelten, welche die Anklage gegen Sokr.
erhoben haben. Dann glaubten sie also, dieser sei eine Gefahr für
die wiederhergestellte verfassungsmäßige Demokratie, und meinten
Tatsachen aus seinem Leben zu kennen , die diesen Glauben zu
rechtfertigen schienen. Die herrschende Ansicht darüber, worin die
Asebie des Sokr. gefunden wurde, ist nicht haltbar. Der Wortlaut
der EUage wird aus Xenophon zu entnehmen sein, der, eben weil
er der Verhandlung nicht anwohnen konnte, an diesen sich halten
mußte, während dem Angeklagten selber die Freiheit blieb, davon
abzuweichen. Das elaq'tQcov, das Sokr. gar nicht in den Mund
nimmt, ist scharf zu betonen. Es handelt sich eigentlich weder
um Atheismus, noch um Un Sittlichkeit, sondern um Verletzung des
göttlichen Anspruchs: 'Du sollst meine Ehre keinem anderen geben',
um Zugehörigkeit zu einem fremden , vom. Staat nicht gebilligten
'KonventikeP. Meletos freilich, in seiner Ungeschicklichkeit, läßt
sich bei der mündlichen Verhandlung durch die Fragen des Soki*.
in die Falle locken und gibt den guten Sinn der Klageschrift preis,
indem er den Vorwurf des Atheismus erhebt, dessen Grundlosigkeit
leicht zu erweisen ist. Damit gewinnt der Angeklagte den Vorteil,
daß er auf das ihn wirklich Belastende gar nicht einzugehen braucht.
Auch PL, der den wirklichen Gang der Verhandlung schildert, war
dessen überhoben. Xenophon aber führt uns irre, wenn er es so
darstellt, als hätte das 'Daimonion' des Sokr. eine Grundlage für
die Beschuldigung der Einführung neuer Gottheiten gebildet ^). Nein,
was Sokr. davon zu erzählen pflegte , war ganz unverfänglich und
wurde ganz harmlos hingenommen so gut wie irgendwelche gewöhn-
liche Mantik. Man beachte nur , welche Rolle das Daimonion in
der Ap spielt. Hier beruft sich Sokr. auf seine Abmahnung, um
die anstößige Tatsache zu entschuldigen, daß er seine Gaben nicht
erkannt, dem Kyniker zuneigt. Von ihm, obgleich schon einmal ein
leises Lächeln sich regt (20 ab), hat sie den Paränetiker Sokr., der nicht,
wie V. Arnim hieraus noch entnehmen zu müssen glaubt, historisch ist . . .
"Wer begriffen hat, daß die Ap nicht die historische Selbstverteidigung
sein kann, wird dem älteren Sokratiker wenigstens die starke Möglich-
keit des Vortritts einräumen ..."
^) Zur Unterstützung Xenophons dient übrigens die von Taylor
übersehene platonische Stelle Eu 3 b.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über Ph erschienenen Arbeiten. 1 77
in herkömmliclier Weise zu politischer Tätigkeit angewandt habe,
woraus man sonst schließen möchte, er sei ein Feind der bestehen-
den Verfassung und, ähnlich etM^a wie Antiphon, das Haupt einer
antidemokratischen Verschwörung gewesen : nur habe er, während
seine Freunde, ein Elritias und Charmides, mit ihrem Leben büßten,
sein Spiel verdeckt gehalten, um es im gegebenen Augenblick neu
zu beginnen. Wäre das rätselhafte „Zeichen" iro-endwie von Meletos
in seiner Anklage verwendet worden, so wäre es eine Lächerlichkeit
von dem Angeklagten, eben auf dieses sich so zu berufen, wie er
es bei PL tut ^). Erwägen wir alles zusammen, so ergibt sich als
„sicher: nicht Unglaube oder Aberglaube war es, was Soki\ zur
Last gelegt wurde, sondern ordnungswidriges Verhalten in religiösen
Übungen, eine Weise des 'Verkehrs mit dem Himmel in Geben
und Nehmen', welche nicht den Stempel offizieller Genehmigung
trug und darum ganz begreiflicherweise den Verdacht erregte, die
Gottheit gegen die athenische Demokratie ungünstig zu stimmen.
'Gottlosigkeit' dieser Art war natürlich zugleich Hochverrat.'^ Nun
lernen wir aus dem Phn und dem G , daß Sokr. ein überzeugter
Anhänger des orphisch-p3^thagorischen Glaubens war, „nach dem
das gegenwärtige Leben im Leibe das bloße Vorspiel eines wahreren
und endlosen zukünftigen Lebens bildet, das mit der Trennung von
Seele und Leib beginnt, und die erste Pflicht des Menschen darin
besteht , auf diese Erlösung der Seele hinzuarbeiten mittels der
'Philosophie'. Im G insbesondere wird diese Lehre von der Pflicht
des Menschen zur Grundlage eines strengen Gerichts über all die
berühmten Männer des 5. Jahrh. gemacht, die die athenische Groß-
macht geschaffen haben , und Philosophie und Demos werden ein-
ander gegenübergestellt wie Gott und der Mammon als zwei Herren,
denen man nicht zugleich dienen kann." Im Phn aber sehen wir
Sokr. umgeben von einer Gruppe gleichgesinnter Genossen, die eben
durch jenen Glauben geeinigt sind. Dies liefert uns den Schlüssel
für das Verständnis der gegen Sokr. vorgebrachten Beschuldigungen.
Es ist dabei nur noch folgendes zu bedenken: Die lebendige Er-
iimerung an die politische BoUe, welche der pythagoreische Bund
in Unteritalien gespielt hatte, war nicht geeignet, die Wiederher-
steller der athenischen Demokratie von dem Mißtrauen zu befreien,
das sie ohnehin gegen den Philosophen hegen mußten , von dem
bekannt war, daß er diese Staatsform nicht bewunderte. Auch die
^) Xenophon seinerseits scheint getäuscht worden zu sein durch eine
Stelle der Ap, 31 d, deren ironischen Klang er überhörte.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 12
178 Constantin Ritter.
pythagoreische Seelenlehre , an die sich ein Geheimkult knüpfte,
von dem man in Athen nur sehr unsichere Vorstellungen hatte,
konnte von einem antiken Staat nicht leicht genommen werden.
Die Meinung, daß Sokr. ihr anhänge, war ziemlich gleichbedeutend
mit der Überzeugung , daß er die Götter des Staats gering achte
und vernachlässige zugunsten gewisser aus der Fremde eingeführter
daif-iovia. Wir können heute noch beweisen, daß die orphisch-
pythagoreischen Lehren in Athen zur Zeit des Sokr. nicht bloß als
fremde mit Mißtrauen betrachtet , sondern von dem gewöhnlichen
Bürger geradezu als gottlos verabscheut wurden. Bei aufmerksamem
Lesen gewinnen wir Zeugnisse dafür aus Euripides , aus Aristo-
phanes und auch aus PI. Und man wird das auch von unserem
Standpunkt aus verstehen. Der Staatsbegriff der athenischen Demo-
kratie und die daraus sich ergebenden Ansprüche an den Bürger
entsprechen der Auffassung des Pi'otestantismus, der dem Diesseits
und den weltlichen Ordnungen sein eigenes unabhängiges Recht
lassen will; die Orphik ist dem Katholizismus verwandt in ihrem
Bestreben, das Diesseits dem Jenseits unterzuordnen. In diesem
Licht betrachtet erscheint dann die Sünde der Verbindung mit ver-
botenen pythagori sehen Konventikeln zugleich als wichtiger Be-
standteil des umfassenderen Vorwurfs der Jugendverführung , die
in der Einflößung eines der Staatsverfassung feindlichen Geistes
besteht. Schon die Internationalität des pythagoi'ischen Bundes war
verdächtig. Man konnte sich vorstellen, daß die Gebete, die bei
den Zusammenkünften von megarischen, thebanischen, phliasischen
Genossen gesprochen wurden, nicht eben das Gedeihen des athe-
nischen Demos zum Gegenstand hatten. Man denke sich an Sokr.'
Stelle einen Engländer des Jahres 1690, von dem die Leute wüßten,
er käme täglich mit ausländischen Katholiken zusammen : natürlich
wäre er dem stärksten Verdachte ausgesetzt gewesen , selbst ein
'Päpstler' zu sein. Man darf hiegegen nicht mit den eleusinischen
Mysterien argumentieren. Sie standen unter Kontrolle des athe-i
nischen Staats. Außerdem fehlte ihnen jedes Dogma, und so ergab
sich für die Mysten kein Zwiespalt zwischen ewigen und zeitlichen
Pflichten. „Um noch eine andere moderne Parallele anzuwenden:
der Argwohn , den der Demos gegen internationale geheime Riten
hegte, war etwa ebenso natürlich wie heutzutage bei den Leitern;
der römischen Kirche ihr Haß gegen die Freimaurerei." Auch ausi
Pl.s Darstellung des Sokr., die sich dem einsichtsvollen Kritiker
überhaupt in allen Punkten als zuverlässig erweist, ersieht man.,
daß Sokr. entweder geradezu Pythagoreer war oder wenigstens
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 179
ihrem Kreise ganz nahestand. Xenophon schweigt darüber bewußt,
weü er eben die Ungefährlichkeit seines Helden beweisen will.
Aristophanes aber befindet sich, wenn mau die Abzüge und Zurecht-
rückungen vornimmt, die bei dem übertreibenden und karikierenden
Komiker selbstverständlich vorzunehmen sind, in wunderbarer Über-
einstimmung mit PI. „Ja, die Wolken lassen in der Tat die zwei
Teile der Anklage hervortreten, die sich ein Vierteljahrhundert
später dem Sokr. verhängnisvoll erweisen sollte. Ihi- Held ist zu-
gleich ein Verächter der Schutzgottheiten der Stadt Athen und ein
Anhänger von xaiva öai^oria, die ganz natürlich hier mit seinen
kosmologischen Studien in Verbindung gebracht werden. Das Kon-
ventikel der q)QOVTioxai hat eine religiöse Organisation, und die
ersten Anstalten, die getroffen werden bei der Ankunft eines neuen
Schülers , sind darauf berechnet, ihn gleich einem Taufkandidaten
in die religiöse Gemeinschaft aufzunehmen. Der erste Lehrartikel,
den Sokr. dem Strepsiades anvertraut, ist, daß '^die Götter keinen
Kurs haben' im (pQOViiarr/Qiov ... Ob Sokr. wirkliches Mitglied
eines religiösen d^iaoog war oder nicht, ausgemacht ist für mich,
daß ihn Aristophanes dafür hielt und annahm , daß sein Publikum
ebenso von ihm dachte. Der ganze Ton bei ihm ist genau der,
den ein royalistischer Satiriker des 17. Jahrhunderts angeschlagen
haben möchte, wenn er den Glauben und Charakter des puritanischen
'Frommen' angriff."
Im Anschluß soll hier gleich noch die eben erst erschienene
Schrift Hörne ff er s gewürdigt werden. Auch sie finde ich vor-
züglich. Ich war geradezu erstaunt zu sehen, wie seine Ansichten
mit den meinigen sich vielfach völlig decken, namentlich in der
Beurteilung von Schanz und anderen, insbesondere philologischen,
Auslegern der Ap. Die Auszüge , die ich folgen lasse , kann ich
eben deshalb etwas kürzer halten, weil ich ja meine Überzeugung
schon hinlänglich zum Ausdruck gebracht habe. (S. 5 :) „Ein Philo-
soph der Vergangenheit wird immer nur philosophisch zu verstehen
sein. Wer nicht von ganz ähnlichen philosophischen Problemen,
wie der zu erklärende Philosoph selbst, bewegt, ja geradezu heim-
gesucht und gequält wird, wird schwerlich in die tieferen Ursprünge
und das Entstehen der betreffenden Philosophie eindringen können."
H. Maier hat zu Ap 31 a b bemerkt: „Wäre Sokr." (nicht sein
Jünger, PI.) „der Redende, so könnten wir uns etwas Peinlicheres
und Abstoßenderes nicht denken als eine solche Ruhmredigkeit
und Selbstüberhebung." Hiegegen wendet sich H. mit folgendem
(22): „Nur mit dem größtem Befremden kann ich diese Worte lesen.
12*
180 Constantin Ritter.
Maiers Einwand scheint mir aus einem ganz modernen, für die
Antike sclilechterdings nicht maßgebenden, der Antike völlig fremden
Takt- und Anstandsgefühl entsprungen zu sein , das er irrtümlich
und unpsychologi8<;h Sokr. unterlegt . . . Wo es sich um bittersten
Ernst handelt , um . . die Berechtigung seines ganzen hehren Be-
rufs — da soll er nicht mit kühnstem SelbstbewußtseiA sprechen
dürfen? Und Sokr. soll ja nach Maiers eigener Interpretation in
der Auseinandersetzung mit dem . . trägen, schwunglosen Alltags-
menschen seine Hauptaufgabe gefunden haben ! Und dieser Alltags-
mensch fordert ihn nun vor Gericht. In einer solchen Lage soll
Sokr. die Sprache der Bescheidenheit führen müssen? Mir ist diese
Psychologie unzugänglich. Ich lese . . die von M. beanstandeten
Worte . . mit Begeisterung . . . Ich kann mir den geschichtlichen
Sokr. gar nicht andei's redend denken als mit so schlichter Wahr-
haftigkeit, die nichts verschleiert, sondern alles und jedes mit dem
rechten Namen nennt ..." Nachher führt er (25) das in Schanzischem
Geiste gesprochene Urteil Maiers an, Sokr. brauchte sich gegen den
Hauptvorwurf der Anklage, daß er nicht an die Staatsgötter glaube,
„nur auf die Korrektheit (!) zu berufen, mit der er die kultischen
Pflichten des athenischen Staatsbürgers stets erfüllt habe. So läßt
die xenophont. Ap. ihn sprechen. Und er hat auch sicherlich so
gesprochen." Und hiegegen sagt er: „Wieder stehe ich vor einer
Unbegreiflichkeit . . . Aus der ganzen Situation ist zu schließen,
daß Sokr. sicherlich nicht so gesprochen hat." Ein paar Seiten
später sieht sich H. veranlaßt, die Sätze, die Maier über Sokr.'
Erwähnung des Orakelspruchs in der Ap niedergeschrieben hat,
di-eimal durch ! zu unterbrechen. Seine Meinung aber ist : „Die
gesamte bisherige Kritik , die die Orakelerzähiung entweder ganz
ableugnet oder abgeschwächt hat , ist in die Irre gegangen. Die
Orakelerzählung ist absolut ernst zu nehmen. Sokr. hat tatsächlich
an das Orakel geglaubt, hat wirklich auf das Orakel seine ganze
Tätigkeit zurückgeführt und gegründet . . . Ein großer Philosoph
und ein Orakel, das letztere als dessen treibende und bewegende
Kraft — das mag modernen Ohren höchst seltsam und unglaub-
würdig klingen , ist aber als geschichtliche Tatsache einfach hin-
zunehmen. Denn auch im weiteren Verlauf der Ap hält Sokr. diese
religiöse Weihung und Weisung zu seinem Beruf auf das be-
stimmteste aufrecht . . . (41) Die ganze Stellung des Sokr. der er-
erbten Religion gegenüber wird von den ernsteren Forschern des
letzten Jahrhunderts als ein . . vornehmes, überlegenes Geltenlassen
nterpretiert, wie es dieses Gelehrtengeschlecht . . selbst der Rehgion
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 181
gegenüber empfunden hat. Sie beurteilen Sokr. nach sich selbst.
So spricht Wilamowitz — (-10) der einzige Philologe , der die . .
Orakelerzählung echt unl ernsthaft nimmt — davon, daß Sokr. sich
das Orakel ''zurechtgelegt' haben werde. Nein, das Religiöse, das
Irrationale ist nach dem Zeugnis der Ap für Sokr. . . die treibende,
bewegende Kraft gewesen, der Ursprung, Sanktion und Quelle seiner
gesamten Lebensarbeit . . Mit Recht weist AVüam. selbst darauf
hin, daß sich Sokr. noch im Phn einen 'Diener Apollons' nennt . . .
Bei Sokr. ist der delphische Gott noch eine mächtige Realität, der
wirklich geglaubte reale Urheber seiner Philosophie , d. h. seiner
Menschenprüfung. Nur eine religiöse Begeisterung, nur echter
religiöser Glaube können eine so gewaltige sittliche Kraft erzeugen,
wie sie Sokr. nachweislich betätigt hat — das liegt für jeden
Psychologen auf der Hand . . ; Wenn Maier", mit Berufung auf
37 e, „meint, es handle sich nm eine 'ironische Fiktion', — so ist
hier die richtige Interpretation geradezu auf den Kopf gestellt."
Auch mit Bruns, den er mir zum Teil etwas mißverstanden zu
haben scheint, ist H. wenig zufrieden. Mit Recht allerdings fragt er
(47): „Warum soll denn das, was nach B.s eigener Auffassung
durch PI. künstlerisch so vortrefflich verbunden ist, daß man . . die
starken Übergänge kaum bemerkt, nicht auch persönlich, menschlich
in dem wirklichen Sokr. einheitlich verbunden gewesen sein?" Und
völlig einverstanden bin ich mit seinem Satze : „Das gerade ist das
Wunderbare an der Ap und am historischen Sokr., . . daß hier das
Erhabenste, Stolzeste, Kühnste, das höchstgesteigerte Prophetentum
mit größtem Selbstbewußtsein sich dennoch zugleich auf geradezu
geheimnisvolle Weise in die schlichteste Einfachheit kleidet , in
geradezu erquickender und herzbewegender Naivität und Mensch-
lichkeit auftritt. Höchstes Prophetentum und reine offene freie
Menschlichkeit sind hier in unlösbarer Einheit verbunden." Auch
Pohl mann kommt bei H. etwas zu ungünstig weg. Freilich dessen
oben von mir übergangener Aufsatz über das 'Sokrates-Problem'
in den S.-B. d. bayr. Ak. von 1906 fordert in allen den Einzelheiten,
die H. daraus anführt, zum Widerspruch heraus. Und mit H. zu-
sammen verwerfe ich die Behauptung, daß uns in der Ap „eine
gewaltige symbolische Dichtung" vorliege, „eine Art sokratischer
Christologie", in der „die apolHnische Verklärungskraft Pl.s . . die
Gestalt d.es schwärmerisch geliebten Lehrers . . in eine Sphäre er-
hoben habe , in der uns das Bild der menschlich individuellen
Persönlichkeit des Sokr. überhaupt zu verschwinden droht" ; mit H.
erkläre ich mich ..für so gutgläubig, daß icli , was die Charaktpr-
182 Constantin üitter.
Schilderung des Sokr. anbetrifft , bei PI. nicht die leiseste Über-
treibung annehme, daß ich diese sittliche Eo-aft und Größe des Sokr.
für buchstäbliche Wahrheit halte". Ja, (59) „das muß Leben sein!
Mit einer Originalität , mit einer schlechthin einzigartigen , unver-
tauschbaren Ursprünglichkeit steht dieser Sokr. vor uns, daß auch
der größte Dichter niemals etwas Derartiges erfinden könnte."
Auch Pöhlm. muß zugeben, daß die Ap „gespickt ist mit lauter
historischen Daten, mit . . Tatsächlichkeiten, die niemand . . in ihrer
Realitätskraft bestreiten kann". Dazwischen hinein aber soll PL
aufs freieste fabuliert haben. „Das glaube ein anderer!"
Jedoch die Chronologie soll im Wege stehen? Das will Schanz
mit seiner „kurzatmigen Kritik" erwiesen haben. Nun ja. Er weiß
ganz genau , nicht nur wie Sokr. als Angeklagter reden mußte,
sondern auch was er zuvor im Leben treiben durfte. In der Ap
tritt er uns als Bußprediger, „als Paränetiker" entgegen. Allein
„gegen die Auffassung des Sokr. als eines moralischen Paränetikers
müssen wir uns . . von vornherein (!) . . ablehnend verhalten. Die
Geschichte der Philosophie kennt Sokr. nur als Elenktiker." Da
haben wir's. „Das abfällige Urteil von Wilamowitz über Schanz . .
sollte noch viel schroffer sein. Freilich auch „der viel bewunderte
Gomperz . . vertritt seltsamerweise die gleiche irrige Auffassung . . .
Nach G. ist Sokr. nur 'Moralzergliederer'' gewesen , nicht 'Moral-
prediger'. PI. habe die moralische Wirkung des Sokr. 'mittelst
einer überraschenden Metamorphose' zur protreptischen Absicht
des Sokr. umgewandelt ... Es hält schwer, derart verzwickten
Absurditäten gegenüber nicht die Geduld zu verlieren." Ihnen
gegenüber kann sich H. auf Partien in Cr, G, Plm und Rp berufen
und namentlich auf die Rede des Alkibiades im Sy.
Er untersucht dann das Verhältnis der aristophanischen Komödie
zur Ap. Hier steht er hinter Taylor sehr weit zurück. Mit Grund
allerdings widerspricht er der Aufstellung Maiers: „Soki-. war schon
zu der Zeit, als die Wolken aufgeführt wurden, der, den PL kannte."
„Der war er eben damals noch nicht. Mit keinem Worte wird er
als der öffentliche Rechenschaftsforderer, Mahner und Bußprediger,
als der Stachel am athenischen Volke . . dargestellt." Falsch aber
ist jedenfalls und aus Taylor zu berichtigen die folgende Aus-
führung: „Nein, er gleicht in der Komödie ganz und gar dem da-
mals allgemein bekannten und üblichen Typus des gelehrten Mannes,
dem oocpög und aoq>iOTijg'^ usw. Von den Soj)histenschulen macht
sich H. ein unbrauchbares Bild. Und erstaunlich ist angesichts
des Schmutzes und der Armseligkeit im (pQovTiGT^Qiov der Wolken
'
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 183
der Satz (96): „Nicht der populäre, nein, nur der aristokratisch
abgeschlossene Sokr. in seinem Denkerheim wird uns vor Augen
geführt und heruntergerissen." Gelten mag vielleicht, als „merk-
würdige Tatsache" : „Sokr. hatte 2-i Jahre vor seinem Tode diese
öffentliche Protreptik noch gar nicht aufgenommen" — richtiger
wäre wohl : er hatte durch sie sich noch nicht besonders bemerklich
gemacht. Sicher fehlerhaft ist die (101) als „zweifellos richtig" in
Rechnung gesetzte Auslegung des Verses , nach dem die Wolken
„dem Sokr. ihre Reverenz machten mit der Anrede, weil du
'gravitätisch einherstolzierst' und 'die Augen hochmütig seitwärts
wirfst, die Menschen über die Achsel ansiehst'", worin ausgedrückt
liegen soll, „daß er über die Menschen hinwegsieht", so daß er als
hochmütiger 'verschrobener Professor' gekennzeichnet wäre. Die
Verwendung des betreffenden Verses durch Alkibiades im Sy läßt
keinen Zweifel darüber, daß mit Tiocpd^aluio Tta^aßdlleig nicht der
hochmütige , sondern der herausfordernde Blick des zum Kampf
Bereiten, Streitlustigen gemeint ist. Allerdings, „den Volkserzieher
Sokr." kennt der Dichter der Wolken wohl noch nicht, aber doch
wohl die lästige Bremse, vor deren Angriffslust niemand sicher ist.
Ein vornehm zurückgezogenes Wesen fülirt der nicht , der ßqei-
d^vexai SV talg bdolg.
Mit Beleuchtung des „religiösen Charakters des Sokr." glaubt
H. „den stärksten Stein des Anstoßes für die Beurteilung der Ap"
aus dem Wege geräumt zu haben. Damit „fallen auch alle anderen
Einwände, die gegen die Geschichtlichkeit der Ajd erhoben worden
sind, in sich zusammen . . Man ist immer mit den Voraussetzungen
des . . Durchschnittsmenschen an die Beurteilung der Ap und des
dort gezeichneten Sokratesbildes herangecrano-en. Zu o-anz unglaub-
liehen Verirrungen ist man von dieser falschen Voraussetzung aus
gelangt". Davon gibt H. Stichproben, zuerst aus Pohlenz und aus
Schanz, die er beide schroff und, ich meine, gebührend abfertigt.
„Wo steht denn geschrieben, daß alle Menschen in jedem Augen-
blicke nur . . nach dem Gebot der Klugheit handeln müssen.
Religiöse Propheten jedenfalls handeln immer sehr 'unklug'; sie
fragen gar nicht nach ihrem Interesse . . Ein Mann wie Sokr.
denkt gar nicht an seine Ereisprechung . . Der ist nur getrieben
. . von dem göttlichen Geist, der in ihm wohnt. Aber allerdings,
wenn man diesen 'göttlichen Geist' zuvor dem Sokr. ausgetrieben
hat, dann kann man nachträglich auch sein Handeln nicht mehr
begreifen. Es scheint , diese ungläubige , engherzige Zeit vermag
sich große Charaktere überhaupt nicht mehr vorzustellen. Und sogar
184 Constantin Ritter.
zum Schein der Widerlegung zu greifen wird Sokr. zugemutet! . . .
Stets sind es die banalsten , gerade für eine Persönliclikeit wie
Soki*. unmöglichsten, lächerlichsten Zumutungen, die Schanz heran-
trägt . . . Im Grunde kann einem eine derartige historische Kritik,
die des kleinsten Funkens von Psychologie bar ist, nur Heiterkeit
abnötigen. Wenn nur nicht der Gegenstand so unbeschreiblich
groß und ernst wäre!"
Auch Wilamowitz befriedigt nicht. Zwar „steht ihm eine
feinere Ps3'chologie zu Gebote". Und „er läßt der von den meisten
Forschern beanstandeten Wirklichkeit fast durchweg Gerechtigkeit
widerfahren . . Aber dann soll auf der anderen Seite die Ap doch
wieder eine fiktive Schöpfung sein". Und zwar glaubt W., mit
„kaum verständlicher Überschätzung der Macht, die der philologisch-
kritischen Analyse zuzuerkennen ist", ganz genau die Grenzen
zwischen dem Fiktiven und GeschichtHchen ziehen zu können. Das
führt zur „schrankenlosesten Subjektivität, die sich als Objektivität
hinstellt . . . Wo jedenfalls W., ohne Gründe und rein apodiktisch,
aus einer Art visionärer Kritik heraus Abweichungen von der ge-
schichtlichen Unterlage glaubt bestimmen zu können , vermag ich
nur reinste Subjektivität zu erblicken."
Am Schluß (131) stellt H. die Frage: „W^as konnte den jugend-
lichen PL bestimmen, die Ap zu schreiben?" Er urteilt: „Ergriffen-
heit spricht aus jeder Zeile . . . Das Erlebte widergeben, das
Erlebte aussprechen, von sich ablösen — das ist der einzige Zweck
und Sinn der Ap." Und sollte noch ein Nebenzweck anerkannt
werden, so könnte es nur der sein: von dem athenischen Gerichts-
hof aus einen Appell zu richten an das gesamte Athen. „Und die
geschichtlichen Tatsachen beweisen , daß dieser Appell nicht ver-
geblich gewesen ist." Freilich Mai er, den H. befremdlicherweise
stets mit größter Hochachtung nennt, ehe er sich daran macht, seine
verkehrten Behauptungen zu zerpflücken, hat die „seltsame Inter-
pretation" der Ap „als eines Zukunftsprogramms der sokratischen
Jüngergemeinde, speziell des PI. gegen Antisthenes", ausgegeben.
Im Unterschied von der Ap wiU H. die anderen platonischen
Schriften als „rein fiktive Schöpfungen" auffassen (S. 21). Er be-
hauptet sogar, es spreche in der Ap „ein Sokr., der mit dem Sokr.
der Dialoge, der eigentlich persönlichen Schöpfungen PI.s, herzlich
wenig Verwandtschaft hat" (115). Das halte ich für falsch, und
jeden Beweis dafür bleibt H. schuldig. Allein wenn man, um die
Sonderart der Ap zu bestreiten, sich darauf berufen wollte, daß sie
sprachlich eben einfach der Gruppe platonischer Jugendschriften
i
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 1 § o
zuzuzählen sei , so müßte an die S. 148 f. A. gegebene Mahnung
und an das Verhältnis des Stils der Epinomis zu dem der N er-
innert werden. Übrigens will ich doch nicht verschweigen, daß mir
beim Lesen der Ap immer einige Eigenheiten aufstoßen. Auffällig
häufig kommt arexvcjg vor, ebenso cog tnog eItzüv^ di^nov und
oXiyox: (dfZ)'); namentlich aber zeigt sich eine gewisse Vorliebe für
zweigliedrige Wendungen einer besonderen Art, die ich nur aus den
ersten 10 Kapiteln zusammenstellen will: /^ xi ?y oidiv (ah^d^eg) 17b,
YoLog (.itv y^EiQiov, Yocog öd ßeJ.iiwv 18 a, ovte f.ieya ovte Of.iL-x.Q6v 19 c,
V^ Of.ii'/.Q0v ]] filya 19 d, ovte /.leya ovte Of-ir/.Quv 21b, oXiyov xivog
y.al ovöeiog 23a, oX'iya i] ovdiv 23c, ovve f.ieya ovte Of-irAQOP 24a.
Sollten nicht das sokratische Eigenheiten sein, deren Klang PI. im
Ohr lag , als er die Ap niederschrieb ? Vielleicht findet ein auf-
merksam vergleichender Leser noch weitere.
Ein von R. Herzog verfaßter Anhang zu H.s Schrift „Das
delphische Orakel als ethischer Preisrichter" ist geeignet, durch
seine wertvollen Nachweisungen die letzten Bedenken gegen die
Echtheit des dem Chairephon erteilten Orakelspruchs über Sokr. als
den Weisesten der Menschen zu zerstreuen. „Der Bescheid war
nicht eine leicht genommene Gefälligkeit für den schwärmerischen
Frager, sondern ein Bekenntnis zur delphischen Ethik. Auch Sokr.
war für Delphi gewiß kein unbedeutender Unbekannter, sondern
schon durch seine Schüler und durch die Beschäftigung der Komödie
mit ihm als öffentlicher Charakter in weiteren Kreisen bekannt,
und so im Streit der Meinungen herumgezogen, daß das Bekenntnis
zu ihm eine Aufsehen erregende Tat war."
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen soll ein paar Text-
stellen noch besondere Aufmerksamkeit geschenkt sein.
Zu 17 d fiij d^OQvßelv verweist Uhle passend auf Rp 492b,
Schanz auf Stellen aus den Rednern. Zur Sache gehört auch
N IX 76b: iog e.v tcoIel , sv i] di/.aoTt'^Qia qavXa y.al acfcova
vJkiTtTOvia tag avicov öo^ag y.Qvßdriv Tag ygioEig öiadiÄCcCEi, y.al a
TovTov deivoiEQor, oxav /.irjös aiywvTa älla d^oqvßov (.ieotu -/.ad^dnEQ
xHaTQa hcaivoZvTOL te ßorj -/.al ifieyovTa xajv qijTüqcov lyavEQOv iv
LitQEi '/.gh'i], '/^alEjTOP TOTE TtdO^og oXi] Tf] nöXEL yiyvEod^ai cpiXEl.
Zn 21 d OLir/.Qi^ tivl aocptoiEQog wäre es nützlich, die Stellen
anzuführen, wie sie oben S. 143 zu Eu 12 e zusammengestellt sind.
23 e streicht Schanz mit Cobet und nach ihm Uhle /.al ttov
ioXiTiy.tüi'. Er sagt uns; dieser Zusatz „rührt von einem alten
Glossator her (denn schon Diog. Laert. 2, 39 las die Worte in
186 Constantin Ritter.
seinem Exemplar), der den Zusammenhang nicht erkannte. Die oben
aufgeführten Klassen der Politiker, Dichter und Handwerker erhalten
jetzt ihre Repräsentanten ; Lykon erscheint als Repräsentant der
Politiker, denn dies ist tvjv QrjxSocov hier, Meletos ist Repräsentant
der Dichter, Anytos Repräsentant der Handwerker. Der Zusatz
yt,ai Tcov noXiTiy.iov würde Anytos als Repräsentanten zweier Klassen
erscheinen lassen, und Lykon würde Repräsentant einer Klasse sein,
welche oben nicht genannt ist". — Wäre denn das so schrecklich? —
„Daß in dieser Repräsentation eine große Ironie liegt, ist klar.
Besonders Anytos, der hervorragende Staatsmann, wird empfindlich
getroffen, daß er nicht die Staatsmänner, sondern die Handwerker
zu vertreten hat." — Wirklich? Und sollte er sich getroffen fühlen,
wenn dem ganz unbedeutenden Lykon die Ehre widerfährt, anstatt
seiner als Staatsmann geachtet zu werden? So plump ist die
sokratische Ironie nicht. — „Gerade diesen herben Spott zerstört
jener alte Zusatz." — G. Schneider und Apelt urteilen wie ich,
indem sie die verdächtigten Worte ruhig stehenlassen. Auch Bruns
hat sich, obgleich er anerkennt (S. 184 A.), daß die von Schanz
in seiner Ausgabe der Ap von 189'^ geführten Untersuchungen „die
hier behandelten Fragen sehr gefördert haben", nicht draus bringen
lassen, sondern schreibt einfach (S. 189): „Meletos vertritt die
Dichter , Anytos die Staatsmänner und Handwerker , Lykon die
Redner." Wilamowitz stärkt hier einmaL-Schanzens Position,
indem er II, 48 A. 2 erklärt: „Die Politiker sind aus dem Me
eingeschwärzt, wie Cobet und Schanz gesehen haben." Ich meine,
die örji-tiovQy.oi , sofern sie nicht zugleich noXiTr/.oi sein wollten,
wie Anytos , hatten nicht den mindesten Anlaß , Sokr. zu zürnen,
da er ja ihre Handwerkskenntuis durchaus anerkennt (22 d). Zu
meiner Befriedigung sehe ich , daß ich mich hier auch wieder auf
Pöhlmann berufen darf. Er erklärt (S. 97): „Der gefährlichste
der drei Kläger, Anytos, ist einer von den Märtyrern und Führern
der Demokratie. PI. sagt von ihm ausdrücklich: Er klagte, weil er
gekränkt war wegen der Politiker. [Ich sehe keinen Grund , mit
Schanz tcoIiti-mov als Glosse zu streichen.] Er war ferner Gewerbs-
mann (Gerber), gehörte also zu d e r Klasse, die vor allen Trägerin
der demokratischen Idee war.* Und gerade diese Klasse war es ja,
deren Selbstgefühl Sokr. durch seine Kritik mit am meisten verletzt
hatte. Die 'guten Werkmeister', wie ihn PI. mit einem gewissen
Sarkasmus sagen läßt, die sich, weil sie ihr Handwerk verstanden, ■
ohne weiteres auch für befähigt hielten , über die allerwichtigsteni
Fragen abzuurteilen, sie hatten es sich gefallen lassen müssen, daß'
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 187
der lästige Kritiker ihnen immer und immer wieder in drastischer
Weise den Gegensatz zwischen ihrem technisch-praktischen Können
und ihrer sonstigen Unwissenheit vor Augen führte. Kein Wunder,
daß einer aus ihren Reihen als der Hauptankläger auf den Plan
tritt. Und PI. stellt ja dies Klasseninteresse bei Anytos dem des
'Politikers' geradezu voran."
Zu 24 b Tcv ayad^ov re %al cpilonoXiv möchte ich an Rp 558 b
erinnern : Das Volk in der Demokratie kümmert sich nicht darum,
£^ bnouov av zig eTTiTi^dEvitccTCOv STti tcc ttoIati'/.u iojv ngaTTr^y
aX'kä zif-ta, iäv (ff] f.i6vov evvovg eivai riTj nXrjd^ei.
Auf 25 a ceXX aqa, cj Mil)]TE, f.irj ol sv zf] s/./.Xi]oia, oi i/.-
"/.Xr^GLaoiai, öiacpO^eiQOVGi rovg vecoisQOvg-^ r^ y.a/.eh'Oi ßelzlovg
TTOioiGiv a7TavTEg\ fällt Licht aus der Stelle ßp 492b, die Uhle
nur zu 17 d beizieht.
Zu 25c CJ Ttqog z/iög Ma?.r^ve weiß Schanz uns eine genau
entsprechende Parallele anzugeben: Me 71 d (u nqbg d^Ecov Mavojv.
Immerhin ähnlich ist N 662 c cd Ttqbg Ji6g XE v.ai ^ATCoX'kiovog, Co
agiavoi nov avÖQiöv. Gewöhnlich wird einfaches Ttgog Jiog^ nqbg
d^EÖJv u. dgl. dem Vokativ, bei dem to zu stehen pflegt, voraus-
geschickt. Ich kann aus meinen Listen dazu ergänzen, daß w nqbg
zliög noch vorkommt Ap 26 d, Ep 332 c, 459 a, N 683 e (immer
ohne vokativische Anrede), w rcgbg d^Etov Rp 425 c, N 691b, 858 c
(ebenso); über den Vokativ ohne w s. meine Unters, von 1888
S. 82 A. 4, wo Eus 95 d vergessen ist.
26 d ^va^aycQOv oI'ei Y.azrjyoQEh', co (flls MehiTE. Sowohl
von Uhle als von Schneider wird Schanzens Vorschlag zur
Streichung von udva^ayoQOV abgelehnt. Uhle erklärt seine Überein-
stimmung mit meiner Auffassung (PI. I, 375): „Du tust, als hättest
du den Anax. vor dir."
26 e a I^eotiv sviote, el nävv ttoXIov, ÖQayjirjg iy. xrjg oQxtjotQag
ngiaf-teroig ^wngccTOig y.azayEXav, eav TtQOO/roit'^zai iavzov Eivai.
Apelts Erklärung, die neueste, lautet: „Diese vielumstrittene
Stelle bezieht man am natürlichsten auf einen Platz auf dem Markte,
Orchestraplatz genannt, der einen Verkaufsstand für Bücher gehabt
zu haben scheint. Der Preis der Bücher schwankte, wie es scheint,
je nach den besonderen Verhältnissen. Früher ward die Stelle
meist auf das Theater bezogen, also auf irgendein Stück, in dem
auf des Anax. Naturphilosophie angespielt ward." Diese frühere
Auffassung vertritt z. B. Birt; auch Uhle, der dafür anfühi-t:
„In TTgiafiivoig . . -/MzayEXccv liegt der Hauptnachdruck auf nqia-
f^ivoig: "^zu erkaufen und dann den S. auszulachen, wenn er
188 Constantin ßitter.
»solchen Unsinn« als seine Weisheit ausgibt'. Der enge Zusammen-
hang der hier genannten Umstände — erkaufen, S. auslachen, als
eigenes ausgeben — nötigt entschieden an Theateraufführungen,
wie die 'Wolken' des Aristophanes, zu denken ..." (Dazu im
Anhang S. 131:) „Ritter S. 27 denkt an 'Vorlesungen oder auf-
klärende Vorträge' über den Inhalt des Buches des Anax., und
E. Müller, Sokr. 11 S. 233 f. an Verkauf von Schriften im Theater
während der Pausen. — AVie und wo übrigens Sokr. solche natur-
wissenschaftliche Lehre als 'sein Eigentum ausgeben' soll, wenn
das nicht auf Theateraufführungen bezogen wird, hat noch niemand
erklärt." — Es wird das aber wirklich keiner Erklärung bedürfen
für jemand, der daran denkt, daß Sokr. im Gerede der Leute steht
als 'Cr]vwv ta re hiib y^g '/.al za bTTOVQavia, und daß sie, auf-
gefordert zu sagen , was denn seine verderblichen Lehren seien,
za. xuTo. /idi'Tii)}' Tiov (pü.ooocfocvicüv TTQüXEiQa zaZca Xeyovoi); ort
Ta lAETttoQa Kai zu irco yf^g y.il. — Außer dem zu Birts Nach-
weisuugen kontrastierenden Preise, dessen Niedrigkeit Schanz daraus
erklären will, daß damals „vielleicht . . Anax.' Schriften schon nicht
mehr zogen", spricht eiioze entschieden gegen den Buchkauf. Auch
der Annahme eines Ausleihpreises ist iviOTE nicht günstig. Man
beachte auch Phn 97 b, Cra 84 b, Diog. L. VII 2 f., Pa 27 c.
Übrigens kann mau auch an den Preis für Entlehnung des Buchs
denken, vgl. Phu 98 b.
Zu 27 meint Joel (II S. 507), es sei damit vielleicht „die
derbe Bevveismethode der Kyniker persifliert, die wir Diog. L. VI 42
von Diogenes gegen einen Zweifler an seiner Gläubigkeit angewendet
sehen: 'wie sollte ich nicht an Götter glauben, da ich dich für einen
i^Eolg Exd-Qog halte?'" „Oder," fügt er bei, „soll die Sophistik
— wer an öaL^iövia glaubt, glaubt an öaii-iovag (= ■O^eoug oder
7ccuöag d^evjv), folglich an Götter — dort ernsthaft sein?" — 0 ja,
sie soll es, so gewiß wie die Beweisführung Rickerts, daß es eine
„Seele" geben müsse, wenn das Wort „seelisch" einen Sinn haben
soll. Und eben darum ist es verkehrt, hier von „Sophistik" zu
reden. In der Tat , wer von dämonischen Mächten redet , kann
kein „Atheist" sein, so roh und ärmlich seine Gottesvorstellung
immer sein mag ^). I
^) Ich bin auch hier voll einverstanden mitHorneffer, der (S. 27)
schreibt: „Wilamowitz freilich hält die Beweisführung des Sokr. an
dieser Stelle für ein bewußtes Sophisma. 'Das ist ein Sophisma, das
nur scherzhaft genommen werden kann . . So deckt ein Witz, den die
Richter belachen, einen schwachen Punkt.' Ich kann mich dieser Auf-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI . erschienenen Arbeiten. 189
Bei 29a gibt Schanz [zu artEL&ojv rrj (.tavzeicc] eine verkehrte
Erklärung: „Der Ungehorsam gegen das Orakel tritt ein, weil er
den Tod fürchtet; er fürchtet aber den Tod, weil er in einer Sache
ein Wissen zu haben glaubt, in der er es tatsächlich nicht besitzt.
Es sollte also nach strenger Logik die Verbindungspartikel xa/ vor
den Participia fehlen. Allein PI. sieht hier auf den rhetorischen
Effekt. Selbst die Schlußfolgerung, daß ein aTteiO^elv rrj /xavTeia
den Vorwurf des Atheismus begründe , ist eine rhetorische Über-
treibung." Auch Schneider irrt hier, indem er ymI deöicog itavarov
yiat ol6f.ievog y.tX. dem a/tsid^cov untergeordnet erklärt. Dagegen
übersetzt Apelt mit richtiger Auffassung: „Dann könnte man mich
allerdings mit vollstem Recht vor Gericht fordern wegen mangelnden
Götterglaubens , sofern ich dem Orakel nicht folge und den Tod
fürchte und vermeine weise zu sein, ohne es doch zu sein." Man
vergleiche auch 35 d aaq)Cüg yaq av, el TTei&oii.ii cf^ag /.al ti^)
delod^ai ßtaLoif.ü]v 6f.icü/.ioy.6rag, (ysovg av diddo'/.oii.u /ny ijysiGdai
vfxag ehuL, y.al aTiyj'Ojg aTCoXoyovf-iEvog yMvr]yoQoii]v av i(Aai%ov
ütg &€Ovg ov vofii^o) und Cr 53 ab xalva naqaßag . . . ßeßanooEig
laig dr/.aOTalg xyjv do^ar, wate do'/.elv og^cog xr^v öi/.t]p di/iaoai.
Wer wirklich an die Götter glaubt, der glaubt damit an die
sittliche Weltordnung — denn , wie uns der Ti belehi't , Gott
ist gut und allmächtig; er glaubt, daß alles Böse, selbst die
geringste Abweichung von Pflicht und Recht , seine Strafe findet ;
er glaubt, daß sinnliche Dinge von untergeordneter Bedeutung sind,
daß alle schmerzhaften Schädigungen des Körpers und auch dessen
volle Auflösung im Tod keine wirklichen Übel sind. Wenn dieser
Glaube richtig ist , besitzt der Fromme an ihm die S7tioxrji.tri xwv
dsivaJv y.al &aQQaXeioVj die das Wesen der Tapferkeit ausmacht,
aber auch das Wesen der ococpQoavvr] und jeder Tugend, weil unter
allen Umständen das richtige Verhalten aus ihr folgt. Um „rhe-
torischen Effekt" ist es hier dem Sokr. nicht zu tun, sondern um
den Ausdruck seiner Weltanschauung. Und wer den PI. „nach
strenger Logik" kritisieren will, muß ihn zuerst verstehen. Ich
lasse hier auch noch H. Mai er zum Wort kommen. Er schreibt
(Sokrates S. 429): „Das sokratische Evangelium hat auch für das
Problem der Theodicee die Lösung bereit. In ergreifender Schlicht-
fassung durchaus nicht anschließen. Man legt heute gar vieles bei PI.,
zumal in den Jugendschrit'ten , als 'Sophismen' aus . . Bei genauerer
Prüfung aber . . . stellen sich alle diese als sophistisch gedeuteten Scherze
als völlig ernst gemeinte philosophische Beweisführungen dar, die man
nur verstehen muß."
190 Constantin Ritter.
heit ist dieselbe am Schluß der Ap ausgesprochen; 'So viel steht
fest, daß es für den guten Mann weder im Leben noch im Tod
ein Übel gibt, und daß seine Sache in der Götter Hand ist.' Der
sittliche Affekt gibt dem Menschen die Gewißheit, daß das Leben
im Ideal dem Menschen das volle Glück schaffe und ihn über alle
Übel hinaushebe, und daran knüpft sich der ethische Glaube, daß
das menschliche Ideal ein ewiger Wei't, ein absoluter Zweck sei;
das religiöse Empfinden aber gibt dem die Deutung, daß die sitt-
liche Sache Gottes Sache sei." (432:) „In jener schönen Stelle der
Ap, in der der sittliche Optimismus des Sokr. auf einen religiösen
Hintergrund gestellt ist, wird zur Bestätigung dafür, daß die Götter
sich um die Angelegenheiten des guten Menschen sorgen, auf Sokr.'
eigenes Schicksal verwiesen : 'Auch was mir nun begegnet, ist nicht
von ungefähr so gekommen; vielmehr ist mir soviel klar, daß für
mich jetzt tot und erlöst sein das Beste ist.' Das ist ein Be-
kenntnis, das über die Gewißheit, daß denen, die im sittlichen
Ideale leben, Tod und Schicksal nichts mehr anhaben können, zu
dem Glauben an eine Vorsehung fortschreitet, die das Geschick des
sittlich guten Menschen in allen Dingen zu dessen Besten leitet."
29c lesen wir: u4vvt(i) amorrjoavTeg, og tcpi] // t^v agxrjv ov
delv i/ue devgo Eioek&elv rj, eTteidi] eiatjlO^ov, ovx oiov t' elvai, rb
fxr} aTtonzElval i-ie, leytov Ttgog tjuäg wg, el öiaq)ev^OLfurjv, ijöt] uv
vixiüv Ol velg ertixrjdevovzeg a ^wxQdTt]g diddoyiet ndvTeg navTänaoi
diaqjü^agrjaovzai. Was bedeutet hier ov delv e/^ia ösvqo EiaeXd^Elv?
"Wilamowitz gibt (S. 159) den Sinn wider mit den Worten:
„Man hätte Sokr. in Euhe lassen können, wenn er aber einmal
angeklagt wäre, müßte er auch zum Tode verui'teilt werden, sonst
würde die Jugend ganz verdorben. Natürhch , weü die Frei-
sprechung seinen Einfluß mächtig steigern mußte." So nehme ich
jenes Sätzchen auch. Ähnlich Beyschlag (S. 52). Aber Gomperz
(S. 80) erklärt: Anytos „stellte jedes Gefühl der Gehässigkeit gegen
den Angeklagten in Abrede ; er wäre es — so erklärte er — wohl
zufrieden gewesen , wenn dieser der Vorladung nicht gefolgt und
außer Landes gegangen wäre; nunmehr aber, da er sich gestellt
habe , dürfe nicht ein Freispruch erfolgen , der die Jüngeren sein
Beispiel nachzuahmen ermuntern würde". Uhle hat sich (S. 13)
an Gomperz angeschlossen. Schanz (S. 103) findet in den
Worten: „daß ein solcher Handel wie der des Sokr. überhaupt
nicht hätte vor Gericht kommen soUen ; nachdem aber das ge-
schehen sei, müsse unausbleiblich das Verbrechen durch den Tod
gesühnt werden; denn sonst würde die ganze Jugend durch Sokr.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. \ 91
verdorben werden". Nachher, im Kommentar S. 167, gibt Seh.
die erklärende Umschreibung: „am besten wäre es gewesen, wenn
Sokr. sein Verbrechen nicht begangen hätte ; nachdem er es aber
einmal begangen, muß ihn die Strafe treffen". Warum, frage ich,
dann gerade die Todesstrafe und nicht etwa Verbannung? —
Eine ganz sichere Entscheidung ist vielleicht nicht möglich. Doch,
wäre es sonderbar ungeschickt von PL (oder von Anytos), einen
ganz selbstverständlichen und für die Verhandlung jedes Prozesses
gültigen Satz, nämlich daß der Angeklagte seine Sache hätte preis-
geben und außer Landes fliehen können — und gar : daß die
strafbare Handlung am besten unterblieben wäre — , in einer Form.
zum Ausdruck zu bringen, die eine Eigenheit des besonderen Falles
anzuzeigen scheint. Auch das „von vornherein (im ap//;v) nicht"
ließe sich kaum verstehen. Man legt sich die Sache vielfach so
zurecht: eigentlich sei die Anklage von Anytos ausgegangen; Meletos
sei nur als Strohmann vorgeschoben gewesen. Aus den platonischen
Schriften, die in Frage kommen, wird sich diese Auffassung schwer-
lich begründen lassen. Eher finde ich angedeutet, daß Anytos nur
mit Mühe von dem Kläger, dem es allmählich zweifelhaft wurde,
ob sein streberhaftes Bemühen um Volkstümlichkeit ^) ihm nicht
teuer zu stehen komme (auf 1000 Drachmen Buße), dazu gewonnen,
worden sei, ihm vor Gericht Beistand zu leisten. Warum man ihn
gewinnen konnte, gegen Sokr. aufzutreten, darüber will der Me
Fingerzeige geben. Leider sind diese aber für uns nicht ganz^
klar und eindeutig. Weitere bietet uns die „xenophontische" Ap.
Gomperz, Schanz und andere^), die dieser vertrauen, erzählen.
^) Vgl. Schanz S. 103: „Meletos hatte von sich als dyctd^ög ts xal
ifiXönoXig gesprochen (24b); wahrscheinlich hatte er das Einbringen der
Klage als ein Werk des Patriotismus hingestellt."
^) Schwankend scheint mir die Haltung H. Maiers bei dieser Frage.
Zuerst stellt er (S. 473) die Sache so dar, als hätte Anytos in der Über-
zeugung von der Gemeinschädlichkeit des Sokr. als des eigentlichen
Führers der Aufklärungsbewegung in Athen den Plan der Anklage ge-
faßt: Ahnlich wie er dachten wohl über Sokr. viele, er aber „entschloß
sich zur rettenden Tat", und seiner Beharrlichkeit war es zu danken,
beim Archon „die Annahme der Anklage und die Einleitung des Pro-
zesses zu erreichen". Demnach wäre also doch wohl Meletos nur von ihm
vorgeschoben. Jedoch nachher (479) läßt M. durch Anytos den Richtern
vortragen: „Wollte man nicht zum Äußersten gehen, so hätte man die
Sache gar nicht anfangen dürfen. Nachdem aber einmal der Prozeß
eingeleitet sei . . ., bleibe keine Wahl mehr." Auch sonst leidet Maiers
Darstellung der Vorgänge an Unklarheiten und inneren Widersprüchen.
Man vergleiche die folgenden Sätze: (476) „Die Anklage stand auf
192 Constantin Ritter.
ihr Dinge nach, von denen ich zweifle, ob sie etwas anderes sind
als müßige Klatscherfindung. Ich werde darauf bei Besprechung
des Me zurückkommen. — Daß Anytos , der die Sophisten als
Neuerer im Unterrichts- und Erziehungswesen verabscheute und mit
dem fanatischen Haß der Borniertheit verfolgte , auch dem Sokr.
gram war, können wir aus dem Me sicher entnehmen ; sicher haben
wir ihn auch zu denen zu rechnen, von denen Ap 23 die Rede ist
als Leuten, die jenem feind geworden sind wegen seiner lästigen
Gewohnheit, angesehene und geschäftstüchtige Männer vor der
müssigen Jugend lächerlich hinzustellen dadurch, daß er sie öffent-
lich ausfragt nach den Dingen, auf deren Verständnis sie sich etwas
einbilden, und, wenn sie Auskunft geben, durch seine dialektischen
Künste sie in Verwirrung bringt; ja, es legt sich die Frage nahe,
ob nicht eben Anj^tos selber 21 c gemeint ist mit dem Ungenannten,
auf dessen Namen nichts ankommt, dem angesehenen Politiker, der
„vielen anderen und vor allem sich selber weise zu sein deuchte,
ohne es wirklich zu sein", dessen aus der i^eraoig entspringende
Feindschaft als erstes typisches Beispiel von Sokr. angeführt wird.
Mögen wir den Mann sonst beurteilen, wie wir wollen, mögen wir
schwachen Füßen. Und wenn die Verteidigung einigermaßen geschickt
ausfiel, so war ein Freispruch so gut wie sicher." — Einverstanden. —
„Daß aber Sokr. mit einem solchen Ausgang rechnete, haben wir keinen
Grund anzuzweifeln." Ich meine eher, wir haben keinen Grund, es zu
glauben und den Worten von Ap 36 a ovx avikncoxöv f.ioi ytyovs t6 yfyorog
TovTo (uTt fjov y.c(Tt\pri(f,(aua&f) y.rX. zu mißtrauen. Und Maier selbst fährt
fort, Sokr. sei sich bewußt gewesen, daß er jetzt „die große Probe auf
sein Leben und Wirken" abzulegen habe, daß es sich um einen „ernsten
Entscheidungskampf" handle, wobei er „entschlossen wai-, von der Linie,
die er sich vorgesetzt hatte, nicht einen Finger breit abzuweichen".
Trotzdem soll „zu wirklicher Besorgnis auch von hier aus kein Anlaß"
gewesen sein; während doch (494) „die Richter . . so gnit wie die An-
kläger instinktiv die Gefahr" sollen „richtig erkannt haben, die ihrer
Religion und ihrer religiös fundierten Gesellschaftsordnung" von seiner
Seite drohte. Und, obgleich also „bei geschickter Verteidigung" „zu
wirklicher Besorgnis kein Anlaß war", wir aber „leider nur vermuten
können, was Sokr. in seiner Verteidigungsrede gesagt hat", soll dann
die Beantragung einer hohen, für Sokr. selbst unerschwinglichen Geld-
buße durch den von geringer Mehrheit schuldig Gesprochenen als „grau-
samer Hohn" empfunden worden sein. „Eine Geldstrafe als Sühne für
ein solches Delikt!" — dessen schwachfüßige Einklagung Freispruch hätte
erwarten lassen? — „Jetzt gab es für die Geschworenen keine Milde
mehr!" Merkwürdig! — Auch Maier ist es ergangen wie den Philo-
sophen so oft, wenn sie mit der antiken Philosophie sich beschäftigen:
er liat sich zu sehr von den philologischen Bearbeitern imponieren lassen.
Schanz wagt er nicht kecklich zu widersprechen, so wenig wie Joel. ,
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 193
so leicht wie seine modernen Freunde mit anderen ungünstigen
Nachrichten über ihn auch die von Aristoteles gegebene beiseite-
setzen , daß er in einem für ihn bedrohlichen Prozeß das erste
schlimme Beispiel der Richterbestechung gegeben habe, oder mögen
wir daran glauben, immerhin werden wir ihm die Anerkennung nicht
versagen können, daß er nach Beendigung des Bürgerkriegs redlich
bemüht war, das beschlossene Amnestiegesetz wirklich zur Geltung
zu bringen. Eben deshalb kann ich mir nicht denken, daß es ihm
bei dem gegen Sokr. angestrengten Prozeß ganz wohl sollte ge-
wesen sein, daß er sich nicht sollte gestanden haben, die politischen
Gründe, die nicht genannt werden durften, spielten eben doch mit
herein. Und so vermute ich, es sei ihm, sei's in seiner Rede vor
Gei'icht, sei es in einer Vorbesprechung mit einem Freunde des
Sokr., der sich mit ihm verständigen wollte, die Äußerung ent-
schlüpft: eigentlich hätte es ja gar nicht zu einem Prozeß gegen
Sokr. kommen dürfen (obwohl er nach seiner Überzeugung den Tod
verdient habe), und PI. benütze diese Äußerung in dem Satze, um
dessen Sinn ich hier streite. Auch Me 95 a (s. unten) ist zu be-
achten. Der Satz idv tvote yviTj olov ioTi xo xaxwg Xiyuv, ttolv-
asTai "/^alETcaivcov. viv de ayvoel klingt doch so, als wäre Anytos
selber später zu der Einsicht gekommen, sein Vorgehen gegen Sokr.,
seine Unterstützung des Meletos sei ein bedauerlicher Fehler ge-
wesen. Auch Ep. VII 25 b muß zur Beurteilung herangezogen
werden , wo der ganze Prozeß und sein Ausgang als Folge der
Verkettung ungünstiger Umstände hingestellt ist, zara Tipa ti'/j^v
sich abspielend.
30 e ov Qaöicog aXXov tolovvov EVQr^oEiB axEyjvcog, eI /.al yEXoio-
ZEQOv eItceXv, TiQooy.EifiEvov tf, TioXsi v7to xov &EOV, üonEQ 'innio
f^sydXip /.liv -/.ai yEvvaiqj, vnb fJEye^ovg de vwd^EOXEQ^) y.al ÖEOf-Uvii)
syEiQEOd^ai vno fuviOTtog xivog: wer auch nur diese Worte allein
bedenkt, darunter das eI ycal yEXotoxEQOv eItieIv, und die ganze
Schilderung von dem als lästige Zudringlichkeit empfundenen Eifer,
den Sokr. als Erwecker aus träger di.ia&ia betätigt, kann nicht im
Zweifel bleiben, daß ixvwip in seiner ursprünglichen Bedeutung steht,
als „Bremse". Ast im Lexikon übersetzt mit „calcar". Und
Schanz will diese Übersetzung rechtfertigen, recht ungeschickt, mit
folgendem : „Das dxExvwg entschuldigt gewissermaßen das rtgoaxEi-
(XEvoVj das wir uns durch 'auf dem Nacken sitzen' verdeutlichen
können. Sokr. ist also den Athenern als ständiger Mahner, Lenker
beigegeben oder gewissermaßen angeheftet, wie dem edlen, aber
etwas trägen Pferd der Reiter." — Ich meine: der Reiter ist von
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 13
194 Constantiu Ritter.
seinem Sporn zu unterscheiden ; angeheftet ist der Sporn jedenfalls '
dem Pferd nicht , und er sitzt ihm auch nicht im Nacken. Und
Sokr. ist kein Lenker des Volks, sondern ein Erwecker. — „Sokr.
regt an durch seine prüfenden Reden, der Reiter durch den Sporn.
Der Schwerpunkt des Vergleichs ruht also in dem Begriff 'Lenker,
Leiter', dessen das Roß" — das edle, aber träge, etwa notwendiger
als das geringe und das aufgeregte, hitzkollerige? — „wie das athenische
Volk bedarf. Daß für diesen Gedanken (.ivioxli nur in der Bedeutung
'Sporn', nicht in der Bedeutung 'Bremse' paßt, ist klar ; auch das
ÖEOf.itvci> ayeiQea&ai spricht für diese Bedeutung." Sogar Bruns
schreibt (S. 217/8): „Ich bin von Gott der Stadt gesetzt, wie einem
edlen Roß, das wegen seiner Größe zur Trägheit neigt, der Sporn ^)
des Bereiters." Dagegen G. Schneider: cTto fivtorrog rivog] „von
einer Bremse oder einem derartigen Tiere. Das tig erweitert auch
hier die Sphäre des Begriffs". Uhle: sl xal yEXoioiEQOV slnelv:
„Das Lächerliche liegt in dem Vergleich mit der kleinen Bremse,
die dem mächtigen Rosse Athen 'zusetzt' (TiQüOKeiTai). Dieses
TTQooKEladai ist außerdem auch = nQOGTEd^EXaO^ai^ also ttqoo^el-
fiEvog vnd tov O^eov passiv dasselbe, was unten aktiv heißt dox£t
6 ^Eog if-ii nQOOTEd^riKevai , und nQOOiidkvai 'ansetzen' ist dem
Sinne nach = E7ti7itf.inELV 31a 'auf den Hals schicken'. — vjtb
[xvcoTiog TLVog: etwa 'von etwas Stechendem', 'von einer Art
Stecher', wobei zunächst noch unentschieden bleibt, ob fxuioip in
der eigentlichen Bedeutung 'Bremse' oder der davon abgeleiteten
'Sporn' gemeint ist. Das Bild tritt im folgenden immer klarer
hervor durch tyv r^-i. oX. ovdtv naiOf.iai 7tQOO/.ad-ito)v, das die
Unermüdlichkeit der Stechfliege andeutet , und wird weiterhin in
den Worten iÖotceq o\ wovat. eyEiQ. durch ein ähnliches Gleichnis
von Menschen vervollständigt." — Wilamowitz (S. 161): „er wird
sein Volk als Bremse aufstacheln". Ähnlich Pöhlmann S. 73. —
Kurz und gut G. Schneider in seinem Leseb. aus PI. u. Aristot. :
„Es wird allgemein gesagt , daß dieses Roß der Anregung durch ^
irgendwelchen Stachel bedarf. Daß aber nicht an einen Reiter
mit seinem Sporn gedacht ist, sondern an eine Bremse mit ihrem
Stachel, das beweisen die Ausdrücke TTgoOKEif-iEvor, nQ0OtEi)^r]XEvaij
7tQoaAa3 iltov und vor allem die größere Angemessenheit des Ver-
gleichs", und nachher zu TiQOOjiad iliov] : „Der Ausdruck ist ge- {
wählt, weil der Vergleich mit der am Pferde sitzenden Bremse
vorschwebt."
') Auch Horneffer (s. S. 184 oben) spricht vom 'Stachel'."
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 195
Zu 33 c TtgooTetaxTai vnb ToZi^eov Ttgarreiv y.al sa. /.lavTsitov
xat s^ ivvnviiov y.Tl. Hier vermisse ich entschieden überall
die Verweisung auf Phn 60 e, wo Sokr. erzählt, daß er äsopische
Fabeln während seiner Kerkerhaft in metrische Form gebracht habe
irvTivuüv TLViüV ano7ieiQcof.ievog zl Xeyei xal acpooiovtievog el aqa
noXKa^Aiq, Taitrjv Ttjv /novaiKr^r (äol STtiTceTTSL noielv ktX.
33 e : Über Kritobulos dürfte in einem Kommentar von der
Ausführlichkeit des Schanzischen wohl noch Weiteres angegeben
werden; mindestens, was Athen. V 220a mitgeteilt wird: ^laxlvTjg
. . SV zw TrjXavyei KQizoßovlor tov Kglziovog stt^ a^ai^la xat
QVTiaQOzrjZL ßiov y.cof.i(ijd€l.
ov 7jv Gedyrjg äÖElg)6g : das Imperfektum ist doch wohl so zu
deuten, daß Theages, dessen Kränklichkeit Rp 496 b erw^ähnt wird,
schon gestorben war. Und sollte nicht dasselbe für Piatons Bruder
Glaukon anzunehmen sein, da er mit Stillschweigen übergangen wird ?
36 a el zQi(x/.ovza (uovai (.lertTTeGov züv ij^'r^cpiov, anEnecpevyi] av.
„Dies ist die Lesart des Clarkianus" sagt Schanz. In seiner
kritischen Textausgabe lesen wir: ^zQiä/iOvza BFd: TQSig Ef."
Das bedeutet zgiäxorza steht außer im Clark, auch im Vat. 1029
und auf den dem Venet. 185 eingehefteten späten Textblättern;
ZQEig steht im Venet. 184 (= Bekkers H, dem Codex des
Bessarion: vgl. J.-B. 157 [1912] S. 9 f., 126 f., 143) und von
zweiter Hand im Vat. 1029. Burnet hält es für überflüssig, die
Lesart rgelg überhaupt anzugeben. Mir kommen starke Zweifel,
ob sie nicht die richtige sei. Je länger ich auf Kleinigkeiten
des Textes zu achten mich gezwungen habe , desto mehr habe
ich vor dem Venet. 184 Achtung bekommen. Außerdem scheint
mir die Rechnung nicht zu stimmen, die uns auf Grund der Les-
art TQid/.ovza vorgefühi-t wird. Bei Schanz lesen wir folgendes:
„Nehmen wir eine ungleiche Richterzahl an, also beispielsweise 501,
so waren für die Freisprechung 251 (gegen 250 verurteilende
Stimmen) notwendig; wenn aber dem Sokr. 30 Stimmen fehlten,
um die Lossprechung zu erlangen, so mußten sich 280 gegen ihn,
221 für ihn erklärt haben. Nun aber berichtet Diogenes Laertius
II 41 /,aTediY.äod^i] diay-ooiaig oyöo'^y.ovza f-iiä TiXeioaL \pr^q)oig zcZv
aTcoXvovacüv. Daß 281 die Zahl der verurteilenden Gesamtmenge
ist, nicht etwa das Plus, um das die verurteilenden Stimmen die
freisprechenden überwiegen, dürfte klar sein; fraglich ist nur, ob
das Plus noch vor nkeioai einzuschieben oder ein ungenauer Aus-
druck anzunehmen ist." — Ich meine, das sei nicht fraglich : das
ttXeIooi wäre ganz ungriechisch ohne Angabe des TJmwieviel. —
18*
196 Constantin Ritter.
„Die Zahl 281 macht nun große Schwierigkeiten. Sie läßt sich
nicht mit der platonischen Angabe des Mehr um 30 Stimmen ver-
einigen" — von einem „Mehr um 30 Stimmen" ist gar nicht die
Rede , sondern , falls 30 hätten anders fallen müssen , von einem
Mehr um 60! — „Ich bin geneigt, einen ganz gewöhnlichen Flüchtig-
keitsfehler bei Diogenes anzusetzen. Diogenes (oder sein Gewähi's-
mann) ging von der ßichterzahl 501 aus ; von den 2 Hälften 250
und 251 nahm er 251 und addierte die Zahl 30 statt 29 hinzu. Ist
diese Kombination richtig" — sie ist äußerst unwahrscheinlich — ,
„so ergibt sich die wichtige Folgerung, daß Diogenes kein neues
Material hatte , sondern daß auch er die Stimmen berechnete wie
wir. Dieser Annahme scheint zu widerspi'echen , daß er für die
2. Abstimmung einen Zuwachs von 80 Stimmen zu der Majorität
berichtet" — i^ävatov avrov y.aTeyvcoaav TiQoad^evTEg al}.ag rpiqcpovQ
oydoriy.orxa — , „für den bei PI. kein Anhalt gegeben ist. Allein
wenn man sieht, welches Sagenmeer sich um den Prozeß des Sokr.
ansammelte, wird man auf diese Angabe so wenig etwas geben wie
auf die erste. Ist unsere Vermutung richtig , so lag auch dem
Diogenes die Lesart 30 vor, nicht 3, bekanntlich die Lesart der
zweiten Familie, die in bedenklicher Weise an die Zahl der 3 An-
kläger erinnert." Wilamowitz II, 49 macht die Bemerkung:
„Das Stimmenverhältnis bei der Verurteilung, 280 zu 220, genau 221,
ist aus PI. 36a richtig erschlossen; bei Diogenes 2, 41 steht /arßdf-
•/.da&}] diay(.ooiaig 6yöo)JKovra /iuäi, /cleiooi iln]cfoig nov aTroXvovowv.
Da ist f.uccL in TQidxovTa zu ändern, a in Z ; Komma natürlich hinter
oydoTfAOVTa.^' Gomperz (S. 80) erzählt: „Als die Geschworenen
an die Tribüne herantraten, um die . . Stimmplättchen in die zwei
bereitstehenden Urnen zu werfen, da zeigte es sich, daß die durch-
löcherten hinter den mit einer massiven Achse versehenen, die frei-
sprechenden hinter den verurteilenden Metallplättchen nur um dreißig
zurückstanden. Es folgte das Strafausmaß . . . Mit nicht weniger
als 360 Stimmen ist das Todesurteil gefällt worden."
Ein Fehler steckt jedenfalls in unserer Überlieferung. Die von
Wilamowitz vorgeschlagene Abänderung empfiehlt sich beim ersten
Blick durch ihre große Einfachheit: Verwechslung von ^ und .y/.
Aber ob wir damit wirklich durchkommen? 280 + (280 — 30) = 530.
Das ist, auch wenn man die Zahl durch Hinzufügung von 1 un-
gerade macht, kaum brauchbar, Wil. selber rechnet uns vor: 280 +
221, das ist 280 -f (280 — 59). Aber erstens müßte dann ^ mit H
verwechselt sein, zweitens wäre 29 auf 30 abgerundet: beides ist
schwer zu glauben. — Wie Gomperz sich die Abstimmung denkt,
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. I97
ist trotz seiner Beschreibung mir nicht verständlich. Ich lege mir
für die Zeit, wo jeder Richter 2 Stimmplättchen hatte — wir wissen
übrigens nicht , ob schon damals — , ein volles iind ein durch-
löchertes, das Verfahren so zurocht, daß er beide einwerfen mußte :
das volle, gültige, in den /.adia/iog^ dessen Bestimmung, sei es als
aTioXvcov, sei es als aTiolltg, seiner eigenen Gesinnung gegen den
Angeklagten entsprach, das durchlöcherte, ungültige, in den anderen
'/.aöiOAog, dessen Bestimmung er eben damit widersprach. Dieses
Verfahren sorgte, da man den in der Hand gehaltenen i/'/Tf/^ot nicht
ansehen konnte, ob sie voll oder durchlöchert waren, für volle Ge-
heimhaltung der Abstimmung und bot vielleicht auch den Vorteil
einer gewissen Kontrolle, aber es konnten dabei die durchlöcherten
hinter den massiven Plättchen an Zahl überhaupt nicht zurück-
bleiben. Außerdem bleibt das Hauptbedenken: nicht 30, sondern
60 wäre der Stimmenunterschied, falls ein /.isTaTTiTiTeiv von 30 die
Freisprechung bewirkte.
Ich habe mich immer daran gestoßen , daß Sokr. seine Ver-
wunderung darüber bezeuge, daß die Zahl der veriarteilenden Stimmen
nicht höher sei — wenn , so wie man es auslegt , 220 ihn frei,
281 aber schuldig sprachen. Es paßt das nicht recht zu der Er-
klärung, Meletos hätte ohne des An3-tos Beistand wohl nicht einmal
den 5. Teil der Stimmen erhalten. Selbstverständlich müßte ich
mich mit einer sicheren Tatsache abfinden ^). Aber da sich nun
gegen die bloß erschlossene Zahl 220 manche Bedenken erhoben
haben, möchte ich wieder zur Erwägung stellen, was man neuer-
dings gar nicht mehr der Erwägung wert gefunden hat, ob nicht
vielleicht die andere Handschriftenklasse Recht habe mit ihrem
TQEig f.i6vai Tiüv if.itj(fcov. Dabei ergäbe sich folgende Rechnung:
Verurteilung durch 281, Freispruch durch 276, Summe der ab-
gegebenen Stimmen 557. Fielen 3 Stimmen anders, so hätten wir
278 verurteilende gegen 279 freisprechende. Was man allein da-
gegen vorbringen kann, ist, daß uns kein Beispiel der Besetzung
eines Gerichtshofs mit einer anderen Richterzahl als 201, 401, 501,
601, 1001, 1501 sicher bezeugt ist. Jedoch mit diesem argumentum
e silentio läßt sich hier nichts beweisen. Wir wissen doch recht
wenig von den Äußerlichkeiten des attischen Prozeßrechts. Unsere
Nachrichten stammen zum großen Teil aus Grammatikern, bei denen
ich bezweifle , ob sie die wirkliche Praxis kannten. Die Zahlen
^) Und so glaubte ich es tun zu müssen in meinem Piaton I S. 370
A. 1 u. S. 880.
198 Constantin Ritter.
201, 401, 501 usw. scheinen Normalzahlen zu sein, die schwerlich
immer eingehalten werden konnten. Im einzelnen Fall wurden die
Dikasten, die sich zeitig auf dem Markt einfanden, den Gerichts-
stätten zugelost, wo an dem betreffenden Tag eine Sache zu ver-
handeln war. Trotz der Ersatzmänner ist es unsicher , ob die
Normalzahlen immer voll gemacht werden konnten. Und praktisch
war es ja auch ganz unbedenklich, wenn etwa sagen wir statt
601 Richter nur 557 zur Stelle waren. Darauf, daß die Gesamt-
zahl immer ungerade war, wurde allem nach immer gesehen (obgleich
auch das überflüssig scheint, wenn ja der Grundsatz gilt, Stimmen-
gleichheit gut als Freispruch). Aber ob die vollen Hunderter er-
reicht wurden, darum wird man sich nicht viel gekümmert haben.
Übrigens ist noch ein Gedanke zu erwägen , den einst G e o r g i i
zu seiner Übersetzung ausgesprochen hat. Sind keine Stimm-
enthaltungen möglich gewesen ? Man kann Aristoteles Politica II, v
dagegen anführen. Aber welches Mittel gab es in dem freien Athen,
einen Mann, der sich der Stimmabgabe enthalten wollte, dazu zu
zwingen ?i) Bei 601 Gesamtrichtern und 281 oder 280 verurteilen-
den Stimmen, die um 6 die lossprechenden übertreffen, hätten wir
45 — 47 Enthaltungen anzunehmen — eine beim Falle des Sokr.
gewiß nicht unwahrscheinlich hohe Zahl^j.
^) Ich weise namentlich noch hin auf Aischyl. Agam. 814 ff. Wilamo-
witz übersetzt die Verse mit folgenden Worten: „Stein um Stein in die
Bluturne rollte, welche Troias Sturz bezeichnete; zur andern trat zvim
Scheine nur mit leerer Hand der Richter."
-) Nachträglich sehe ich , daß ich mir meine Bemerkungen hätte
sparen und einfach Zell er hätte abdrucken können. Er gibt (Ph. d.
Gr. II, 1* S. 198 A.) die Erklärung: „Nach PL Ap 36a wäre er frei-
gesprochen worden, wenn nur drei oder nach anderer Lesart dreißig
von den Richtern anders gestimmt hätten. Damit ist nun freilich die
Angabe bei Diog. II 41 unvereinbar. Indessen läßt sich kaum bezweifeln,
daß hier entweder der Text verdorben oder eine richtigere Aussage von
Diogenes gi-öblich entstellt ist . . Gewöhnlich glaubt man, 281 sei die
Gesamtzahl der verurteilenden Stimmen; den Worten des Diogenes könnte
man diesen Sinn geben, wenn man annähme, sie haben ursprünglich ge-
lautet: xnrtöixttad-j] Staxodiatg oyöorixovTK uia xlJi^(foig g' nlftoai jotv dno-
kvovGwv. Allein da die Heliäa immer aus vollen Hunderten . . zusammen-
gesetzt war, erhielte man unter dieser Voraussetzung kein Stimmen-
verhältnis, das mit Pl.s Angabe, nach der einen oder der anderen Lesart,
genau stimmte. Man müßte also mit Böckh annehmen , ein Teil der
Richter habe sich der Abstimmung enthalten, was allerdings möglieh
gewesen zu sein scheint. Dann konnten, in der Ap die Lesart rgtlg
vorausgesetzt, bei 600 Heliasten 281 gegen, 275 oder 276 für ihn ge-
stimmt haben. Möglich aber auch . ., daß bei Dio£:enes . . statt 281
Ber. ttber d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 199
Zu 36b gibt Schauz folgende erstaunliche Erklärung: „ro
ni.f.i7CT0v (.teQOg : Sokr. sagt, daß, wenn dem Meletos nicht Anytos
und Lykon beigestanden wären, Meletos nicht den 5. Teil der
Stimmen erhalten hätte. Wir haben oben angenommen , daß 280
verurteilende Stimmen vorhanden waren. Rechnet man auf jeden
der Kläger den 3. Teil, so fallen auf jeden circa 93 Stimmen. Der
5. Teil ist aber lOö. Also kommt ein Drittel der gegen Sokr. ab-
gegebenen Stimmen nicht einem Fünftel sämtlicher Stimmen gleich.
Die Berechnung ist scherzhaft, denn in Wahrheit können ja die
Stimmen nicht verteilt werden." Wohl mit Bezug darauf schreibt
Apelt (S. 70 A. 61): „Sehr richtig bemerkt Schleiermacher: 'Niemand
lasse sich von Fischers Berechnung dieser Sache verführen, welche
gewiß falsch ist. Denn ihm zufolge müßten die 3 Ankläger, um
nicht 1000 Drachmen zu erlegen , 3 Fünfteile und also mehr der
Stimmen gehabt haben, als um den Sokr. zu verdammen. Vielmehr
muß man denken, daß alle Stimmen dem Meletos als Hauptankläger
zugute gerechnet wurden, daß aber Sokr. will zu verstehen geben,
wenn ihm nicht Anytos und Lykon mit ihi-er Partei Beistand ge-
leistet hätten , er nur den 3. Teil der ihm wirklich zugefallenen
Stimmen würde gehabt haben , und dann offenbar weniger als
1 Fünftel.'"
über den Betrag der Geldbuße, die Sokr. 38 b gegen sich be-
antragt, finde ich in den Kommentaren nur bei Uhle eine Bemerkung,
und zwar eine ganz unzulängliche, nämlich: „uväv aQyiQiov: etwa
75 M. Eine Goldmine betrug ungefähr das Zehnfache. Die Summe
ist allerdings sehr klein im Vergleich mit anderen berühmten Bei-
ursprünglich 251 stand. In diesem Fall hätten wir 251 gegen, 245 oder
246 für den Angeklagten, also fast 500 Stimmen, einige wenige konnten
aber immer, wenn das Kollegium auch ursprünglich vollzählich war,
während der Verhandlung selbst sich verlieren; oder könnte man auch
hier Enthaltung annehmen. Sollte endlich bei PI. die Lesart TQUixovia
richtig sein, welche zwar mehrere der besten Hss. für sich, aber" (NB)
„den Zusammenhang gegen sich hat, so könnte man . . vermuten: xkt-
(iiixüa&ri ff. o. tjjrjffois, |' nktCoat, tmv ((noXvovawr. Dann hätten wir 280
gegen 220, zusammen 500 Stimmen, und wenn sich 30 mehr für den An-
geklagten erklärten, war er durch Stimmengleichheit freigesprochen." —
Sonderbarerweise bemerkt H. Mai er (482 A.) hiezu: „Mir ist es ganz
unverständlich, warum Zeller hier eine ganz bestimmte Zahlenangabe
erwartet . . . Die runde Zahl entspricht viel mehr dem ganzen Tenor
der Rede als eine pedantisch genaue Zahlenangabe. Sokr. sagt den
Richtern: 30 Stimmen mehr für mich und ich wäre freigesprochen!" — ?
Er sagt ihnen also, was sie nachzählend als unrichtig finden mußten.?
30 hätten dazu eben noch nicht gereicht!
200 Constantin Ritter.
spielen von Geldstrafen (Miltiades , Perikles , Timotheos)." Ich
empfehle in eine neue Auflage jedenfalls auch aufzunehmen, was
Pöhlmann, Sokr. u. s.Volk, S. 108 sagt: Sokr. „erbot sich, auf den
dringenden Wunsch der Freunde, eine Geldbuße von 3000 Drachmen
zu leisten, eine Summe, die man durchaus nicht mit Gomperz eine
bescheidene nennen darf. Sie hätte für Soki\, der nach seiner
eigenen Erklärung höchstens 100 Drachmen aufzubringen vermochte,
bleibende schwere Verschuldung bedeutet, wenn er das Geld nicht
als Geschenk der befreundeten Bürgen annehmen wollte. Auch muß
man zur Beurteilung der Summe bedenken, daß das Wohnhaus eines
so reichen Mannes, wie des Vaters des Demosthenes, das neben
der Wohnung noch ausgedehnte Fabrikräume umfaßte, genau den-
selben Wert hatte, daß ferner der ganze jährliche Reinertrag seiner
mit 33 Arbeitern besetzten Fabrik auch nicht mehr als 3000 Drachmen
betrug. (Eine Verhöhnung konnten also die Richter in dem ccvxl-
Tif.ii]f.ia des Angeklagten unmöglich sehen.)"
Zu 39 e iv f/> oi ctQxovieg ao^oXiav ayovot '/.al ovna) egxoixat
ol iXü^ovza f.i€ dsl TE^^idvai bemerkt Schanz : „Nach dem Spruch
der Geschworenen wurde das Urteil ■schriftlich abgefaßt, um im
Archiv aufbewahrt zu werden. Dann mußten auch Veranstaltungen
getroffen werden , Sokr. den Elfmännern zu übergeben. Auch die
Redner benutzen in ihren Reden die Pausen , welche (angebHch)
durch das Herbeischaffen der vorzulesenden Dokumente entstehen.
So Demosthenes 18, 180." — Also ist die dritte Rede in ihrer
ganzen Ausdehnung sachlich möglich.
41a rj av ^ÖQcpet ^vyysveai^aL xal Blovaalq) Y.al '^Hoiödii) 'aal
'OfitJQOJ STIL 710010 av zig öd^aiTO vi-itov. Was dazu von Schanz
bemerkt wird, ist dem Leser entschieden dienlich, bis auf das am
Schluß angehängte: „Rp 10, 612b ojaneQ^IioLodov te Aal 'Ofir]QOv.^
Damit wird niemand viel anzufangen wissen , und wer die Stelle
nachschlägt, wird vollends ratlos sein. Dagegen wäre wohl ein
Hinweis darauf am Platz gewesen , daß in der Rp Orpheus und
Musaios, (Hesiod) und Homer verschiedentHch aufs schärfste ge-
tadelt werden, und daß vor ihren Büchern gewarnt wird.
Erwähnt sei noch, daß v. Bamberg das 32. Kapitel der Ap
für unecht erklärt hat und Beyschlag zur Widerlegung dieser
Erklärung einen besonderen Aufsatz geschrieben hat im Philol. 1903
(72) S. 196—226.
Zum Schluß bemerke ich , daß die erklärende Ausgabe von
Schanz, an der ich so viel auszusetzen habe, doch in philo-
logischer Hinsicht auch von mir als sehr verdienstvoll anerkannt
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 201
wird. Die Satzkonstruktion und sprachliche Eigenheiten sind in ihr
treff hch erläutert , auch die Realien im allgemeinen sehr gut be-
handelt. Die Ausgabe U hl es aber entspricht durch ihre Einleitung
und ihre dem Text angeschlossenen Noten trefflich dem Zweck
einer erklärenden Schulausgabe. Als Schultexte sind auch die von
A. Th. Christ, 1908, und von Jos. Kral herausgegebenen wohl
brauchbar. Kral gibt die wichtigsten handschriftlichen Varianten,
allerdings ohne die wünschenswerte Bestimmtheit, wie das Beispiel
aus 36a zeigen mag: „zQu'ey.ovTa mel., B in mg., t^€?^ det.", Christ
schickt eine lesbare Einleitung von 25 Seiten voraus und läßt ein
Namensverzeichnis und im Anhang eine Beschreibung ^^des Ver-
fahrens in öffentlichen Rechtsfällen zu Athen" folgen. Beide geben
sie auch das Schlußkapitel des Phn im griechischen Wortlaut, Christ
obendrein aus dem Sy die Lobrede des Alkibiades auf Sokr.
Kritoii (= Cr) behandelt Th. Gomperz II, S. 358 f., Räder
S. 99 — 101, Ritter S. 384 — 90, Windelband - Bonhöffer S. 149,
Wilamowitz I, S. 167 — 70. II, 55 f.; in Einzelausgaben, je zusammen
mit Ap: Schanz 1893, J. Kral 1890, A. Th. Christ 1908, Uhle 1912.
Ich beginne mit inhaltlichen Bemerkungen aus Wilamowitz
I, 167: Auf die Verurteilung zum Tode „war die Wartezeit gefolgt
und in ihr die Versuchung an Sokr. herangetreten, durch die Flucht
aus dem Gefängnis ins Ausland sein Leben zu retten. Dem hatte
er widerstanden, obgleich der Versucher aus hingebender Liebe zu
ihm handelte. Das konnten viele nicht verstehen ; PI. rechtfertigt
es in dem Dialoge Cr so, daß in Sokr. der bis in den Tod getreue
Staatsbürger hervortritt, und hier hat er nichts getan, als die wirk-
liche Gesinnung des Sokr. herausgearbeitet, die er zwar im Tiefsten
teilte , aber doch nicht so schlicht und so unbedingt hingebend :
das Staatsgefühl des Atheners aus der großen Zeit des Reiches
konnte nicht dasselbe bleiben, wenn ein Anytos immer noch einer
der Achtungswertesten unter den Demagogen war". Über die Ab-
fassung schreibt W. (II, 55): für sie scheine „53 c einen Anhalt
zu bieten, wo Theben und Megara als Eüvof.iovi.iEvai noleig be-
handelt werden . . . Seit 395 . . konnte PI. der thebanischen £vvof.iia
kein Kompliment mehr machen, niemals wieder. Vor 395 fällt also
der Cr. Das ist freilich selbstverständlich, er mußte ja möglichst
rasch nach dem Tode des Sokr. erscheinen" . . . „Es ist beschämend,
daß Moderne sich dem Evidenten verschlossen haben und den Cr
in spätere Zeit gerückt, gar solchen Unsinn geredet, die Beurteilung
des Lebens nach dem Tode wäre hier anders als in der Ap."
202 Constantin Ritter.
Zu deu getadelten Modernen gehören Gomperz, Vater und
Solin. Th. Gomperz sagt II S. 358 im Anschluß an seine Darstellung
des Mx , dessen Leser in PL einen Genossen der oligarchischen
Kevolutionäre sehen möchte: ^Diesen Eindruck berichtigt der Cr.
Er zeigt die andere Seite des Bildes und stellt so einen scharfen
Gegensatz dar ebenso zum Mx wie zur Ap und zum G. Wir kennen
nicht den Anlaß, dem das kleine Gespräch entsprossen ist; aber
man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß es PL hier ganz
eigentlich darum zu tun ist, den Verdacht revolutionärer Gesinnung
von sich und den Seinigen abzuwehren" . . . (539) „Das Merk-
würdigste am Cr ist die darin bekundete moralische Verfeinerung,
die über diejenige des G weit hinausgeht und nur in den ersten
Büchern der Rp eine Parallele findet. Es wii-d nämlich jedes
Schädigen auch des Feindes, jegliches Vergelten auch des Unrechts,
streng verpönt , was nicht nur der Doktrin des xenophontischen
Sokr. schroif widersi^richt , sondern nicht minder jenem im G ge-
äußerten Wunsche, der ungerechte Feind möge durch Straflosigkeit
vor Heilung bewahrt bleiben und , wenn irgend möglich , ein un-
sterblicher Bösewicht werden. Der herkömmlichen Ansicht , daß
der Cr der Ap zeitlich nahe stehe, widerstreitet auch die hier und
die dort vorwaltende Vorstellung von der Unterwelt. Der Glaube
an Belohnungen und Bestrafungen im Jenseits ist dem Cr nicht
mehr so völlig fremd wie der Ap. Endlich spricht für die verhältnis-
mäßig späte Abfassung dieses Dialogs, wie jüngst nachgewiesen
ward" — nämlich, sagt uns eine Anm. auf S. 579: „von Dr. Heinrich
Gomperz Über die Abfassungszeit des platonischen Cr, Ztschr. f.
PhiL u. phil. Kr. B. 109 S. 176 — 79" — „die sein Vorhandensein
nicht voraussetzende Einleitung des Phn. Denken wir uns den Cr
in der Zeit entstanden , da einige Bücher der Rp bereits verfaßt, ,
vielleicht auch schon veröffentlicht waren , so glauben wir seine 1
Abzweckung am besten verstehen zu können."
Die Ansicht, die G. vertreten hat, wird sich sicher nicht be-
haupten, ßäder (S. 100 f.) verwirft sie mit folgenden guten
Gründen: „Der Vergleich mit dem G beweist nichts, weü die dort
aufgestellte Behauptung als bewußte Paradoxie auftritt. Auch im
G ist PL klar darüber , daß Unrecht tun unter allen Umständen
verwerflich ist . . Ebensowenig beweist die Zusammenstellung mit.,
dem Phn. Man ist auf die dramatische Ökonomie der Dialoge nicht
aufmerksam gewesen. Wie wäre es denn möglich gewesen, ins!
Gespräch zwischen Sokr. und Kriton im Gefängnis eine längere
Auseinandersel-zung vom heiligen SchiiT, das jedem Kind Athens
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 203
bekannt war, einzuflechten ! Im Phn aber wird die Erklärung dem
Phüasier Echekrates gegeben , der natürlich von den athenischen
Verhältnissen und von den Schicksalen des Sokr. wenig unterrichtet
war. Denken wir uns den Phn zu einer Zeit geschrieben, da die
Schriften Pl.s in der ganzen griechischen Welt gelesen wurden,
verstehen wir leicht , daß es für PI. nötig war , seine Leser über
Verhältnisse aufzuklären, die den Athenern, die wir uns als Leser
des Cr denken , wohl bekannt waren. Cf. Burnet. Wenn im Phn
Echekrates nur so viel weiß , daß Sokr. verurteilt und durch Gift
getötet worden ist, so schließen wir einfach daraus, daß PI. zur
Abfassungszeit des Dialoges ebensoviel Kenntnis von der Sache bei
seinen Lesern voraussetzen durfte. Es scheint vielmehr [vgl. Socher]
aus Phn 98 e — 99 a, wo von der Ursache der Gefangenschaft des
Sokr. geredet wird, hervorzugehen, daß der Cr schon vorlag." —
Bonhöffer wendet sich S. 149 A. 1 auch gegen die Annahme,
daß der Cr auf den literarischen Angriff des Polykrates gegen das
Andenken des Sokr. antworten wolle. „Daß seine ganze Lehrtätig-
keit zur Lockerung der religiösen und staatlichen Autorität bei-
getragen habe — was ihm Polykrates vorgeworfen hatte — , darauf
geht der Cr gar nicht ein." Auch macht B. darauf aufmerksam,
daß Cr 45 b auf die Ap (nämlich 37 d) hinzuweisen scheine.
A"on etwas fraglichem Wert scheinen mir die Ausführungen
Lutoslawskis zu sein; doch will ich sie nicht unterdrücken:
„Wir bemerken hier eine sorgfältige Unterscheidung zwischen acht-
baren und unmoralischen Meinungen (xQrjOTag — Tiot'r]Qag do^ag 47 a),
entsprechend der später oft wiederholten Gegenüberstellung von
richtiger Vorstellung und Erkenntnis. Diese Weise der Abschätzung
eines Urteils nach seinem moralischen Wert ohne Rücksicht auf
ein logisches Richtmaß der W^ahrheit ist der sokratischen Stufe
platonischer Logik eigentümlich und zeigt uns , wie PI. von der
moralischen Betrachtungsweise (the moral teaching) seines Meisters
zu seinen eigenen logischen Untei'suchungen geführt worden ist.
Als er den Cr schrieb, war er anscheinend noch nicht bei seinem
späteren Ideal objektiven Erkennens angelangt: er begnügt sich mit
der 'achtbaren' Meinung eines Sachverständigen {enduov 47 d), der
er mehr Vertrauen schenkt als der Meinung der Menge {öu^a xiZv
fioXXcJv 47 c). In Übereinstimmung mit diesem praktischen Stand-
punkt werden fundamentale Meinungsverschiedenheiten unter den
Menschen als unvermeidlich angesehen, und hier wie im Eu wird
von ihnen angenommen, daß sie Haß und Verachtung erzeugen,
wenn sie Ethisches zum Gegenstand haben (Cr 49 cd, Eu 7d).
204 Constantin Ritter.
Diese Anschauung ist wirklich charakteristisch, weil im G und aller
späteren Dialogen Sokr. sich im Besitze objektiver Wahrheit zeig'
sowohl über ethische als über andere Fragen, einer Wahrheit, dit
bewiesen und sogar solchen Feinden der Philosophie, wie Kallikles
vermittelt werden kann. Hier finden wir bloß hinlänglich gesicherte
(competent) Meinung oder die Autorität des 'besten' Vernunft-
grundes (46 b fir^devl a?,X(ü neiO^Ea^ai rj nu Ao/oj dg av }.ioi Xoyito-
(-itv(i) ßiXxioiog (falvrjzai). Dieser 'beste' Vernunftgrund aber isi
noch nicht 'die Vernunft', die den Lesern der späteren Dialoge
vertraut ist. Von diesen logischen Besonderheiten aus können wü
nur schließen, daß der Cr, der mit den 2 vorausgehenden Dialoger
eine natürliche Gruppe bildet, früher ist als der Me und G. Unc
es ist sehr wahrscheinlich, daß er später ist als die Ap, weil PI
4ü b eine deutliche Anspielung auf seine Ap. macht."
Schanz sei durch folgende Sätze gekennzeichnet (S. 15 seiner
Einleitung:) ,,Daß der Dialog geraume Zeit nach dem Tode des
Sokr, verfaßt ist, erhellt aus der resignierten Stimmung, welche der
Dialog durchzieht. Wieder unmittelbar nach dem Tode des Sokr
geschriebene G" (?) „zeigt, erfüllte das tragische Ereignis, der Toc
seines Lehrers, PI. mit der größten Erbitterung gegen die athenischer
Staatsmänner. Es ist unmöglich, daß PI. zu derselben Zeit einer
Dialog verfaßte , welcher die Unterwerfung unter die Gesetze ah
ein Gebot der Pflicht dartut. Wir werden daher den Cr in dieselbe
Zeit zu versetzen haben, in der auch der Eu verfaßt ist." Im
übrigen hat Sch.s Kommentar dieselben Schwächen und dieselben
Vorzüge wie der zur Ap (und dem Eu). Und dasselbe gilt auch
von den Bearbeitungen, die Uhle, Christ usw. dem Cr haben
zuteil werden lassen. Rühmend hervorheben möchte ich wieder
die Einleitung Apelts zu seiner Übersetzung.
Noch eine Einzelheit: 46 e f. sagt Sokr. zu Kriton: av yag,
oaa ye xavS^giorcELa , twchg ei xov {.liXkEiv a7ioO^VTja-/.eiv augtov.
Schanz bemerkt dazu : „a^giov. Dieses Wort ist auffäUig, weil es
im Widerspruch mit dem Traum des Sokr. steht. Vielleicht is1
dasselbe interpoliert und genügt /.lalkeiv allein, im Sinne von 'irri
Begriffe stehen' ; diese Bedeutung wird noch durch das folgende
?; 7iaQ0iGa ov{.i(fOQa. gestützt." Die andern Erklärer gehen übe]
die Schwierigkeit mit Stillschweigen weg und enthalten sich aucl
einer Bemerkung zu der merkwürdigen Tatsache , daß Sokr. aus
den Worten, die ihm die Traumgestalt zugerufen rji.iatl x£v TQirdzq
0&irjv SQißwXov r/,010 die Gewißheit schöpft, daß seine Hinrichtung
noch nicht, wie Exiton ihm ankündet, morgen (acgiov), sonden
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 205
erst tags darauf werde vollzogen werden. Es darf gefragt werden :
Hat Sokr. sich hierin getäuscht? Wäre das der Fall, so meine ich,
wäre es von PI. leicht augedeutet worden. Andernfalls haben wir
hier die bemerkenswerte Beglaubigung eines Ahnungstraumes , der
um so merkwürdiger ist , weil es sich um etwas Unbedeutendes
handelt (einen einzigen Tag Fristverlängerung) und weil man sich
lediglich keinen vernünftigen Grund denken kann , aus dem die
Ahnung entsprang. Auch Schanz scheint anzunehmen , daß Sokr.
gegen Kriton Recht behielt. Daß aber Sokr. trotz seiner Über-
zeugung, erst „am dritten Tag" komme für ihn die Todesstunde,
dem Kriton entgegnet : 'Du wirst nach menschlicher Voraussicht
morgen noch nicht sterben', findet m. E. seine genügende Erklärung
darin, daß eben Kriton mit seinem : 'morgen mußt du sterben, wenn
du jetzt die Gelegenheit zur Flucht nicht benützest' den Sokr.
schrecken und von seinem in ruhiger Überlegung gefaßten Entschluß
abdräDgen wollte.
Gorgias (= G) behandelt von Lutoslawski S. 212 — 18, Gomperz
S. 264—289, Räder S. 111—25, Ritter S. 391—430 u. 444—449,
Windelband-Bonhöffer S. 151 f., Pohlenz S. 129—67, v. Arnim S. 76 ff.,
186 ff., Wüamowitz I S. 208—35, Frachter 223 f., 255—62, Kühne-
mann, Grundlehren der Philosophie, 1899, S. 296 — 325, M. Hoff-
mann, Ztschr. f. G.Ws. 1904 S. 478 — 91; erklärende Einzelausgaben
gibt es nach Frachter außer der von Sauppe-Gercke 1897 und von
(Cron) Deuschle -Nestle, 5. A. 1909, auch von Thompson 1894,
J. Stender 1900.
Von dem gewaltigen Eindruck, den der G heute noch auf den
Leser machen kann, zeugen auch die neuesten Erklärer. Woi-auf
beruht dieser Eindruck? Vor allem auf der heißen und doch künst-
lerisch beherrschten Leidenschaft, die ihn durchglüht. Man fühlt :
PI. kämpft hier für das Recht seiner Weltauffassung und des
Lebensberufs, den er sich erwählt hat. Er kämpft nicht bloß gegen
die Leute, die seinen Meister als Verbrecher behandelt, angeklagt
und verurteilt haben, und die er als seine natürlichen Feinde be-
trachten muß, sondern auch gegen Menschen, die ihm bisher nahe
gestanden sind und wohlmeinend nach ihrem Verständnis ihm zum
Besten raten wollen. Kallikles darf zu Sokr. sagen : ngog ai eni-
€(xwg e'xw q^iXiKidg. Und ihm gilt die schroffste Absage. Für diese
Auffassung lassen sich verschiedene Zeugnisse anführen. Schon
Schleierinacher, in einer von Kühnemann angezogenen Stelle (11, 1
S. 19) hat geschrieben: „Es scheint . . fast, als habe die Apologie
206 Constantin Ritter.
des Sokr., indem sie . . in eine Apologie der sokratischen Gesinnung
und Lebensweise überhaupt verwandelt worden, die persönliche Be
Ziehung nicht sowohl verloren, als vielmehr nur verändert und se
eine Apologie des PL geworden." Kühnemann selber schreib
(297 f.) : „Warum wirkst du nicht im Leben des Staates ? . . Gib
es einen Nachweis des höheren und wahren Rechts der Philosophi(
auch vor dem politischen Anspruch, der für den Griechen der sitt
liehe selber ist? Es springt aus dem Innersten der gewohnte]
Lebensumstände die sittliche Grundfrage heraus. Diese Arbeit is
nicht als Übung des Verstands , nicht als Spiel des Witzes ge
schrieben ; sie kommt aus dem Gewissen . . Es bildet nirgendi
wie hier die Grundidee der ganzen platonischen Existenz den all
beheiTschenden Gedanken, jene Idee: Philosophie ist philosophisches
Leben . . (299) Gegen den einzigen Anspruch, den PI. selbst viel
leicht gerechtfertigt finden konnte, kämpft er um sein Leben.'
Wilamowitz gibt dem Kapitel, worin er das 1. Buch der R]
und den G bespricht, die Überschrift „Absage an die Welt"; zu:
Kennzeichnung des G aber sagt er (S. 210): „in dem Ganzen weh
eine Leidenschaft, wie er sie nirgend sonst verrät . . Der dramatisch(
Schmuck ist auf das äußerste beschränkt . , Sokr. ist ein gan;
anderer geworden als in den früheren Schriften; er sucht keini
Wahrheit, zu der ihn nur ein richtiges Gefühl im Busen zöge
sondern besitzt seineu festen Glauben, weiß ihn zu behaupten un(
zieht für ihn zu Felde . . (229) Die Verteidigung des Sokr. is
nicht mehr der eigentliche Inhalt, der ist vielmehr, Ziel und Wej
des rechten Lebens zu weisen. Das Ganze wii'd ein Protreptikos
eine Predigt. Prediger, Prophet des wahren Lebens ist Sokr. den
PI. geworden. Aus seinem Tode hatte er sich das neue Evangeliun
entnommen . . . Jetzt stand er einsam agf sich, aber froh un*
hoffnungsvoll in der Sicherheit seines Glaubens . . . Aber er brauch
nicht einsam zu bleiben, er soll und will es nicht, er ruft ja 'folg
mir nach', und wenn sie ihm folgen, auch für ihre Seele sorger
dann werden sie Gottes Freunde werden, wie er es ist : und so is
es doch ein Gottesreich, dem der Prediger den Weg bereitet . .
(231) Der hier redet gibt der gewöhnlichen Laufbahn des Politiker
und auch des Literaten eine Absage . . . Die Verurteilung der b(
rühmten Demagogen war . . nicht notwendig; um so aufschlußreiche:-
daß PI. sie gibt, ausführlich, mehrfach vorbereitet, und so heftij
so einseitig. Das ist nicht Sokr. ; den haben wir im Cr gehörl
das ist PL, der sich, nicht leichten Herzens (daher die Erregung
von dem Staate seiner Heimat losreißt . . . (233) Wer so leidei
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 207
schaftlich redet, . . der fordert die Frage heraus, woher diese Leiden-
schaft? Der Tod des Sokr. genügt nicht mehr; Sokr. ist hier so
sehr der überlegene Sieger, daß die Trauer um seinen Tod dem
freudigen Glauben an seine Unsterblichkeit gewichen ist . . Das
innere Erlebnis ist, daß PI. nel mezzo del cammin di nostra vita
sich eben die Frage gestellt hat, um die sich Gorgias" (soll wohl
heißen: Sokrates) „und Kallikles streiten: wie soll ich leben, und
daß er die Antwort gefunden hat. Leben heißt für seiner Seelen
Seligkeit sorgen, und das fordert die Hingabe des Lebens an die
Philosophie : aber dieselbe Forderung ist allen Menschen gestellt,
und wenn die Gesellschaftsordnung, wie sie ist, die Menschen vom
rechten Wege abdrängt, so muß sie geändert werden, von Grund
aus geändert . . . 'So geht es nicht weiter, sagte er sich, . . Des-
halb hinaus aus dieser bösen Umgebung, die mich nicht verlocken
darf, auch nicht zur Fortsetzung des mir so lieben Wortkampfs,
denn ich muß lernen , wenn ich wirklich Philosoph werden will.
Deshalb hinaus zu frischer Fahrt auf das neue weite Meer. Wenn
ich heimkomme, werden wir weiter sehen ; vielleicht werde ich dann
nicht nur schreiben, werde ich auch handeln können.' . . Zu dieser
alles umstürzenden Überzeugung konnte PI. nicht allein durch Sokr.
gelangen . . . Der G ist der Niederschlag der Kämpfe, mit denen
er sich von der Jugend'' (und der Laufbahn) „losriß, die dem Sohn
des Ariston als solchem bestimmt schien ; er hat keine Familie mehr,
und dem Staate sagt er ab . ."
Im wesentlichen wird wohl auch Frachter mit der von mir
vorgetragenen Auffassung einverstanden sein. Er führt den G auf
an der Spitze einer Anzahl von „Schriften der Übergangszeit" von
der Jugendschriftstellerei, die „nur der abstrakten Erörterung be-
griflfsethischer Probleme ohne Stellungnahme zu den großen prak-
tischen Fragen der Gegenwart galt", zu den „Schriften der reifen
Mannesjahre". In dieser Übergangszeit, sagt er, verbinden sich mit
dem Sokratischen andere Elemente. Dadurch wird auch der Stil
beeinflußt. (255:) „Der auffallend trockene Rationalismus der Jugend-
dialoge erhält unter der Einwirkung orphisch-pythagoreischer Denk-
weise eine mystische Beimischung, die zur Betätigung dichterischer
Phantasie lockt, und der Weltanschauungskampf zeitigt das poetische
Pathos des Propheten. Wo der Dichter dem Philosophen vorauseilt,
kleidet er seine Schau in die Form des Mythus, jenem überlassend,
sich daraus Grundgedanken und Stimmung dienstbar zu machen."
Vom G besonders , in Vergleichung mit Rp I , gelten die Worte
(261) : „An die Stelle des kühl forschenden Begriffsethikers ist der
208 Constantin Ritter.
feurige Bekenner eines Lebensideales, an die Stelle der abstrakten
TJntersucliung der Kampf gegen und für konkrete Mächte im geistigen
Leben der Zeit getreten . . . Alles ist aus dem Schatten der Schule
in das scharfe Licht des öffentlichen Lebens gerückt . . . Aui
diesem Geiste eines sittlichen Bekenntnisses dem Leben und der
Wirklichkeit gegenüber beruht der gewaltige Eindruck, den der G
■wie im Altertum so auch heute auf jeden Leser hervorbringt . .
Aber auch dogmatisch bedeutet das Werk einen großen Fortschritt . .
über alle seine Vorgänger hinaus, einen Fortschritt insbesondere in
der Richtung auf die Ideenlehre. Mit dem orphisch-pythagoreischen
Gedankenkreise setzt eine neue mächtige Triebkraft ein, die dieser
Lehre entgegenführt. Die Anschauung von einer jenseitigen Welt
und einem körperlosen Zustande der Seele , die Auffassung vom
aiü(.ia als oyjfxa — diese letztere freilich nur als fremde Lehre
wiedergegeben . . — vereinigen sich mit der scharfen Entgegen-
setzung von Sein und Schein , von Streben nach dem Guten und
Jagd nach Sinnenlust , zur Förderung jenes Dualismus , der ein
Grundzug der Ideenlehre ist. Auf dem Felde der Politik bilden
sich unter dem Einfluß dieses Dualismus jetzt schon die Keime,
die sich später in den Büchern II — X der Rp im Lichte der aus-
gebildeten Ideenlehre machtvoll entwickeln ..."
Man sieht indes : wer den Gedankengehalt des Dialogs vor uns
ausbreiten will, muß auch von seiner Absicht reden, und die läßt
sich nicht feststellen ohne Rücksicht auf die Abfassungszeit.
So muß diese wieder ins Auge gefaßt werden. Sichere Anhalts-
punkte dafür fehlen auch beim G. Und die Meinungen gehen noch
ziemlich weit auseinander. Wilamowitz hat die seinige geändert.
S. 233 sagt er: „Ich habe also in meiner Jugend nicht die richtige
Antwort gefunden, als ich den G unmittelbar nach 399 entstanden
glaubte." Es stehen aber manche noch auf dem Standpunkt, den
Wilamowitz vei'lassen hat. So z. B. Ed. Schwartz, bei dem wir
lesen: „Die künstlerische Objektivität der Verteidigungsrede, in der
PL nichts anderes wollte als den echten Sokr. schildern, läßt den
Sturm kaum ahnen, den der Tod des Meisters in dem Jünger
entfesselte. Mit zermalmender Gewalt macht er sich geltend in
der Anklageschrift gegen die Athener, die PI. unmittelbar nach
der Katastrophe komponierte , dem Dialog G , jenem wunderbaren!
Produkt heiligsten Prophetenzorns und vornehmster G^staltungs-l
kraft, in welcher er dem attischen Volke zuruft : 'Ihr glaubt, Sokr.
mit eurem Urteil vernichtet zu haben ; ich aber sage , Unrecht
leiden ist besser als Unrecht tun. Euer ganzer Staat ist so faul,:
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 209
daß der Gerechte, der gerecht bleiben will, in ihm untergehen muß.
So hat Sokr. Recht gehabt und nicht ihr. Das Gericht, das jeder
Seele nach dem Tode ihr Recht werden läßt, wird es zeigen.'"
(Charakterköpfe S. 58.)
Räder bemerkt über die chronologische Frage (S. 122): „Mit
Recht ist gesagt worden, daß wir im G nicht Spuren der Ideen-
iehre, sondern Keime dazu vorfinden [Lutoslawski S. 217]. Obgleich
also die chronologische Stellung des Dialogs durch Betrachtung des
Inhalts recht genau bestimmt werden kann," — ? „weichen dennoch
die wesentlich auf äußere Kriterien gestützten Ansichten von seiner
Abfassungszeit bedeutend voneinander ab. Die unwahrscheinlichste
Ansicht ist die von Bergk, der den Dialog um das Jahr 405/4 an-
setzt 5 denn der bittere Ton . . zeigt deutlich genug, daß der Dialog
nach Sokr.' Tod geschrieben ist. Wenn aber einige aus diesem
Ton und aus der trüben Stimmung . . gefolgert haben , daß er
kurz nach Sokr.' Tod geschrieben sein müsse [Hermann S. 476,
V. Wilamowitz-Möllendorff in den Philol. Unt. I S. 218, Dümmler
Akademika S. 69 ff.], ist diese Folgerung als viel zu unsicher ab-
zuweisen. Es gibt im G Anzeichen , die auf eine größere Reife
des Verfassers deuten, als wir in den früheren Dialogen gefunden
haben. Hierauf deutet schon die Schärfe und Konsequenz, womit
der Standpunkt des Gegners durchgeführt wird.'-' — Gewiß ist das
bedeutsam. Ich füge den Satz von Wilamowitz ein : „PI. war Poet
genug, dem konsequenten Vertreter der "Weltanschauung, zu der er
sich in vollkommenem Gegensatze fühlt, eine Größe zu verleihen,
die in ihrer Art imponieren muß und ihn weit über die Halben er-
hebt" (217). — „Außerdem findet man im G Beweise dafür, daß PI.,
wahrscheinlich auf seinen Reisen, mit geistigen Strömungen bekannt
geworden ist, die er vorher nicht gekannt hatte. Er zeigt eine
Vertrautheit mit der mathematischen Sprache, indem er 65 b — c das
Verhältnis zwischen den verschiedenen Künsten und Fertigkeiten
als mathematische Proportionen darstellt, und 68 a läßt er den Sokr.
die 'geometrische Gleichmäßigkeit' rühmen. Ferner wird 93 a der
Aussage der 'Weisen' Erwähnung getan, daß der Körper (ow/.ia)
das Grab (orjfMa) der Menschen sei ... Endlich verrät auch der
Schlußmythus vom Totengericht orphischen oder jDythagoreischen
Einfluß . . . Einen zuverlässigeren Anhaltspunkt erhalten wir durch
die Betrachtung vom Verhältnis des G zu Polykrates' Deklamation
gegen Sokr., worin die Staatsmänner der Vorzeit auf Kosten des
Kritias und Alkibiades, die Sokr. verdorben haben sollte, gepriesen
worden waren. Antwort hierauf ist Pl.s Verdammungsurteil über
Jahresbericht für AltartumswissenschaCt Bd, 191 (1922. I). 14
210 Constautiu Ritter.
die Staatsmänner. [Dies ist überzeugend dargetan von Gerck?
S. XLIII ff., vgl. Gomperz II S. 278 f.] Nun fällt Polykrates' Schrifi
sicher später als das Jahr 394, da die Wiederherstellung der langet
Maliern Athens durch Komon darin erwähnt war. Also muß aucl
der G nach 394 abgefaßt sein. Endlich hat man auch aus Pl.s
Verhältnis zu Isnkrates mehrere Folgerungen von ungleichem Wer
gezogen ..." „Wir werden", urteilt er abschließend, „kaum fehl
gehen, wenn wir die Abfassungszeit des G um 390 oder vielleichi
einige Jahre früher ansetzen." — Das kann ich mir gefallen lassen
Auf die Schlüsse aus dem Verhältnis zu Isokrates gebe ich freilicl
noch weit weniger als E,., der, auf Spengel gestützt, zu Unrechi
behauptet, wir könnten „zwischen PI. und Isokrates ein andauerndes
feindseliges Verhältnis beobachten", bei dem bloß fraglich bleibe
ob die Feindschaft durch den G erzeugt worden sei oder schoi
vorher bestanden habe. Und solange wir nicht einmal sicher sind
ob Polykrates mit seiner Deklamation eine Antwort auf den G geber
wollte , oder ob PI. im G auf jene Deklamation Bezug genommei
hat, hilft uns der für sie ermittelte terminus post quem von 394
nicht viel. Mit gutem Grund sagt z. B. Pohlenz (S. 165): „Daf
der G" — so wie" Gercke bewiesen zu haben glaubt — „die Ant-
wort auf Polykrates' Broschüre darstelle, kann ich mindestens nich'
als erwiesen betrachten." Im Gegenteil, es „spricht manches dafür
daß grade Pl.s scharfe Absage an die athenische Demokratie di(
leitenden Staatsmänner dazu bestimmt hat, einen Literaten zu eine:
Antikritik gegenüber den Sokratikern zu veranlassen."
Wilamowitz will sicher ausgemacht haben, „daß Polykratef
den G vor Augen hatte vind gegen den Sokr. des PI. polemisierte"
Nämlich der Text des Pindarzitats in G 84 b ist mit einem Fehle,
behaftet: ßiaitZv (so muß man akzentuieren) rb Si'/.aioTazor si
diy.aiwv xb ßiaiozarov. Man darf nicht mit den Herausgeber ^
korrigieren; schon deshalb nicht, weil PI. N 890a offenbar derselbi
Wortlaut als pindarisch im Gedächtnis liegt. Es ist das gewit
„befremdend", und „vielen Philologen werden sich die Haare sträubeii
denen eine Anführung aus dem Gedächtnis für weit unverzeihlichjj
gilt als ein aus einem ungelesenen Buche entlehntes Zitat, wei
es nur durch Nachschlagen verifiziert ist. Pl.s Verschulden ist abi|
noch größer." Er ist auf den Fehler aufmerksam gemacht werde
eben von Polykrates, und hat sich nicht das Mindeste darum b
kümmert. Daß ihm Polykrates diesen Fehler vorrückte , ist a
Libanios' Verteidigung des Sokr. zu erschließen. Der sagt 87, c
Worte Pindars lauten bei Polykrates anders, als „Sokrates" fj
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 211
angeführt hatte , und aus seiner Umschreibung sieht man , daß er
selber Pindar nicht nachschlug und die Fassung ßiaiiov rö di/Mio-
zatov als die richtige ansah. Zwar muß W, selber die Möglichkeit
zugeben , daß „nur Libanios auf die Abweichung aufmerksam ge-
worden, die zwischen dem Texte des Polykrates und dem des PI.
bestand", nicht Polykrates schon einen Fehler seiner Vorlage
heraushob — und diese Möglichkeit, wenn sie auch „recht wenig
wahrscheinlich ist", stellt alles wieder in Frage. Auch fehlt es
günstigstenfalls für die Anklageschrift des Polykrates noch an einem
praktisch verwertbaren terminus ante quem. Es haben auf sie be-
kanntermaßen Lysias und Xenophon Antwort gegeben. Auch daraus
kommt uns aber keine Hilfe. Lysias' Leben läßt sich bis aufs
Jahr 380 herunter verfolgen und mag vieUeicht noch einige Jahre
länger gedauert haben. Die ersten Kapitel der Memorabilien werden
auch den früheren 80 er Jahren angehören. Doch bedeutsam, meint
W., ist R. Hirzels Entdeckung, „daß PI. im Me sich auf Polykrates
bezieht". Und als gesichert läßt sich schließlich hinstellen (S. 105):
„Pl.s G , danach Poh'krates' Sokrates , für den an sich wohl das
Jahrzehnt 393 — 83 möglich ist , die untere Grenze aber sicherhch
höher liegt, danach Pl.s Me. Pl.s Reise fixiert diese Daten un-
abhängig so : G erscheint nach 39-1, vor 390, Polykrates' Sokrates
ist 388 da, der Me fällt bald nach 386. Lysias' Sokrates wird auch
vor 388 fallen." — Es mag sein, daß W. damit das Richtige ge-
ti'offen hat. Aber weder für das „vor 390" des G, noch für den
Satz „Polykrates' Sokrates ist 388 da" finde ich einen Beweis,
der mich überzeugte. Was nämlich W. II, 82 f. über die Zeit von
Pl.s Reisen sagt, finde ich schlecht begründet.
Pohlenz (S. 164 f. A.) glaubt annehmen zu dürfen, daß für
die Schrift des Polykrates , der sich offenbar dem Konon und
Thrasybul empfehlen wolle, was nach der Gefangennahme Konons
keinen Sinn mehr gehabt hätte , nur die Jahre 393 und 392 zur
Wahl stehen. Darum dürften wir (167) „auch wenn PI. auf Poly-
krates antwortete, kaum über 391 herabgehen".
Hören wir auch noch Gomperz (II, 272): „Spuren mathe-
matischer Bildung waren in den bisher durchmusterten Gesprächen
nicht anzutreffen. Im G erscheinen sie mehrfach, zum Teil in
enger Verbindung mit der Ethik." Dazu kommt Pythagoreisches
und Orphisches. Epicharm wird angeführt, desgleichen ein anderer
'sizilischer oder italischer Mann'. „Kein einzelnes dieser Anzeichen
ist an sich von zwingender Art; ihre Vereinigung aber im Zu-
sammenhange mit dem Fehlen alles Derartigen in der schon be-
U*
-212 Constantin Eitter,
handelten Schriftengruppe besitzt erhebliche Beweiskraft. Wir
dürfen vermuten, daß der Verfasser des G bereits in Unteritalien
geweilt und dort in die orphische und pythagoreische Sinnesart ein-
geweiht worden ist ; mag er nun ebendort oder erst nach seiner
Rückkehr, die sehr wohl vor der ersten siziUschen Reise erfolgt sein
kann , an dem Werke geschaffen haben. Je mehr wir uns dem
Schlüsse des Gesprächs nähern, um so mehi- häufen sich die Merk-
zeichen jenes Einflusses." (278:) „Woher, so fragen wir, stammt
diese alle Schranken der Billigkeit durchbrechende Erbitterung
Pl.s ? Man denkt zuvörderst an die Hinrichtung seines Meisters.
Und sicherlich hat der grauenhafte Vorgang den schärfsten Stachel
in seinem Gemüte zurückgelassen. Allein es waren seither, da der
unteritalische Aufenthalt dazwischen fällt, doch jedenfalls mehrere
Jahre dahingegangen — Jahre, in denen fast sicherlich" — ??
„die von Heiterkeit durchwehten Gespräche entstanden sind, deren
Mittelpunkt der Pr bildet. Die Flamme der Entrüstung muß daher
neue Nahrung gefunden haben. Da ex-innern wir uns der politischen
Lage , die durch den Seesieg bei Knidos (Hochsommer 394) ge-
schaffen war. Eben die Partei, zu deren Führern Anytos gehört
hatte, triumphierte damals. Die Lakonischen, zu denen Pl.s Freunde:
und Verwandte zählten , waren der unterliegende Teil und haben
sicherlich manche schwere Unbill erfahren. Man feierte Konon
der Sparta besiegt und das Werk des Themistokles , Kimon unqi
Perikles durch die Wiederaufrichtung der langen Mauern aufgejj
nommen und gekrönt hatte, als den Neubegründer des Staates unc
der Volksherrschaft. Eben davon hat auch Polykrates in seine
gegen das Andenken des Sokr. gerichteten Schmähschrift gehandeltf ;
Dem an sich wahrscheinlich unbedeutenden Machwerk mußte di
politische Situation ein an sich unverdientes Relief verleihen, un'
darum hat es im G seinen Widerhall gefunden." . . (287 f.:) „De
tiefe Unwille über das Los, das seinem geliebten Lehrer bereite
ward, neugeweckt und verstärkt durch die Lage des Staates .
durch das giftige . . Pamphlet des Polykrates, hat einen Ausbruci
des heftigen Ingrimms hervorgerufen. Dieser kehrt sich in erste
Linie gegen die athenischen Staatslenker, dann gegen die Kunst, d
zugleich ihr Bildungs- und ihr Herrschaftsmittel ist, die Rhetori'
Er spitzt sich schließlich zu einem Zweikampf zu zwischen de
einen durch den Mund des Sokr. sprechenden PI und der ganze
Gesellschaft mit allen Bildnern und Stimmführern der sie behei
sehenden Gesinnung, — den Poeten, den Musikern, den Jugen
lohrern. Auch die ehrenwertesten Elemente bleiben nicht v€
>.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 21 5
schont."... (285:) „Sichere und deutlichere Spuren der Ideen-
lehre wird man im G vergebens suchen. Man darf jedoch getrost
behaupten, daß der Geist der neuen Lehre bereits über diesem
Werke schwebt . . . Auch sonst trägt das Gespräch mehrfach das
Merkzeichen einer Übergangsperiode und entbehrt auch nicht der
für eine solche charakteristischen Widersprüche. . . . (288 f. :) In-
mitten des grandiosen Schlußgemäldes vom Totengericht reichen
sich . . die beiden Führer die Hand, die PI." (weiter) „durch das
Leben geleiten werden, der Sokratismus und der orphische Pj^tha-
goreismus. Aus der Verschmelzung dieser Elemente wird das
Denksystem erwachsen , das die mittlere und Hauptphase in der
Entwicklung unseres Philosophen einnimmt."
Alle die von den verschiedenen genannten Gelehrten vorge-
tragenen Wahrscheinlichkeitsbeweise überschauend, kann ich fest-
halten au den Ausführungen, die ich (Piaton I, S. 94 — 96) gegeben
habe : Die meiste Zeit zwischen Frühjahr 399 und Sommer 388
wird PL, glaube ich, in Athen verbracht haben, eines Augenblicks
harrend, der ihm Gelegenheit geben möchte, ohne Selbsterniedrigung
und mit Aussicht auf ein ersprießliches Wirken nach den sittlichen
Grundsätzen des Sokr. um die öffentlichen Angelegenheiten sich
anzunehmen. Inzwischen wird die bittere Erkenntnis in ihm gereift
sein, daß Athen durch menschliche Bemühungen nicht mehr zu
helfen sei, und daraus mußte der Entschluß entspringen, sich grund-
sätzlich dem öffentlichen Treiben fernzuhalten , das nur zwecklos
seine Kräfte aufreiben müßte, und allein dafür zu sorgen, daß diese
und der geistige Besitz , den er mit ihnen sich erai'beitet , nicht
vergeudet oder brach liegen gelassen würden. Der Gedanke, einen
Kreis von jüngeren Männern um sich zu sammeln , denen er sein
Bestes mitteilen könnte , damit sie einst vielleicht in der Lage
wären, dem Staate das zu leisten, worauf er verzichten mußte, ging
folgerichtig aus solchen Erwägungen hervor. Er ist aber vielleicht
erst durch die Bekanntschaft Pl.s mit Archytas und den um ihn
gescharten Pythagoreern Unteritaliens gezeitigt worden. Mit dem
Entschlüsse jedoch , um das öffentliche Leben Athens sich nicht
weiter zu kümmern, war PI. wohl schon fertig, als er sich zur Reise
nach Italien anschickte. Und ich meine , der G sei die feierliche
Absage, die er an die ihm von früher her nahestehenden Männer,
seine Verwandten und Jugendfreunde richtet, die ihn von den
wissenschaftlichen Studien abriefen, in die er sich immer mehr ver-
tiefte, und sich Mühe gaben, ihn zum Eintritt in ihren politischen
Klub zu bewegen. Wer in Athen zu Einfluß und Macht kommen
214 Constantin Ritter.
will, erklärt er ümen (13a), der muß dem Volk von Athen, der
Menge, sich möglichst ähnlich machen und nach seinen Wünschen
und Launen sich richten : das will ich nicht ; denn es bedeutete
für mich Erniedrigung und Entwürdigung. Er weiß, was die Auf-
gabe des wahren Politikers wäre : 'Ich bin wohl einer der wenigen
Athener, die die wählte Staatskunst pflegen, wenn nicht der einzige,
und ich glaube allein in unserer Zeit für das Wohl des Staates
tätig zu sein' läßt er (21 d) seinen Sokrates sagen. Aber er darf
nicht als Arzt den Kranken sich aufdrängen (vgl. ßp VI 89 b) ; sie
würden ja die bitteren Arzneien, die allein er ihnen als heilsam
bieten könnte, niemals annehmen (21 e). — Manchmal bin ich ver-
sucht zu glauben, was z. B. auch Schleiermacher annahm, die Sätze
des G über den alleinigen Wert der Eechtschaffenheit seien der
Nachhall des mit Dionysios I in Syrakus geführten Gesprächs.
Allein wahrscheinlicher ist mir doch, daß der Dialog schon vor
Pl.s Abreise von ihm verfaßt sei. Es mag aber sein , daß er ihn
nicht ganz abgeschlossen hatte und ihm nun noch einige An-
spielungen einverleibte , die eben aus den Erfahrungen der Eeise
stammen."
„Es lassen sich für den Ansatz des G nach Pl.s Rückkehr aus
Sizilien noch verschiedene Indizien anführen. Paul Schuster macht
in einer Untersuchung des Jahres 1874 (ßhein. Mus. 29 S. 618)
aufmerksam auf die 'gerade im G so häufig auftretenden B'erück-
sichtigungen italischer und sizilischer Berühmtheiten' 5 er rechnet
dazu das Zitat aus Epicharmos, die Anspielung auf den Agrigentinei (
Empedokles und die Pythagoreer, den ebenfalls pythagoreischer
Einfluß verratenden Schlußmythus , die Erwähnung des KocheSj
Mithaikos, der über die sizilische Küche ein Werk verfaßt hai
und überhaupt die auffallend häufigen Exkurse über die oi/^o/roa'
den Stolz Süditaliens. (Auch dai-auf ist hingewiesen worden, dal
die Stelle 09 a Tavva r^f^Jp ovro) cpavivia /MTtyEiai y.al dsdszai, s
y.ai — so wird wohl zu schreiben sein — ayQOL/.oieQov zl elneX
eOTi, oidt^nolg y.al aSaj-tarznoig loyoig merkwürdig anklinge a:
den berühmten Ausspruch des älteren Dionysios , sein Reich S€
wie mit stählernen Ketten verankert : aöäf-iavTL oder adaf-iaviivoi
deGf.w7g dedeith'ijV bei Diod. XVI, 5, 4 und 70, 2 bzw. Plut. Dio 7).
Immisch (N. Jb. 1899 S. 448) erinnert, daß sich 50b (vgl. ds
Scholion) ein sizilischer Idiotismus finde, den Hirzel Dialog I 241
beobachtet habe; „vgl. auch Sauppe zur Stelle".
Gegen den Ansatz des Dialogs unmittelbar nach Sokr.' Tc
spricht auch die geflissentliche Ausführlichkeit, mit der PI. den Sok
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 215
im Streite mit Polos Mahnungen über die Methode der richtigen
dialektischen Verständigung geben läßt.
Wichtig für die philosophische Beurteilung des G ist das Ver-
hältnis seiner ethischen Sätze zu den in anderen Dialogen ent-
haltenen , namentlich zu der Lustlehre des Pr. Der Unterschied
der Darstellung ist augenfällig. Aber ob es nicht bloß ein Unter-
schied der Darstellung ist? Ich glaube das. Schon beim Pr oben
(S. 82 f.) habe ich die Sache berührt. Um mich weiter verständlich
zu machen , schreibe ich (mit wenigen geringen Änderungen des
Ausdrucks behufs Vereinfachung) einige Seiten aus dem Kapitel
meines Piaton heraus, in dem ich „die Ethik der früheren Dialoge,
vornehmlich des Gorgias" behandelt habe. „Man kann die Ethik
hauptsächlich unter zwei Gesichtspunkten abhandeln, entweder als
Pflichten- und Tugendlehre oder als Güterlehre. Bei einfachen
Kulturverhältnissen wird die abwechselnde Anwendung beider Ge-
sichtspunkte ohne irgendwelchen schreienden Widerspruch statt-
finden können . . . Ganz selbstverständlich wird der gelobt, genießt
Achtung und Ehre und wird als gut anerkannt , der die Sitte hält
in menschlichen und göttlichen Dingen, wird dagegen der gering
geachtet, gemaßregelt und als schlecht bezeichnet, der sich gegen
sie setzt und sie bricht. Für den einzelnen Menschen aber, der
sich über seine Lage besinnt , ist es ohne weiteres fühlbar, daß
Gesetzlichkeit ihm Nutzen, Übertretung von Sitte und Gesetz ihm
Schaden bringt. Bei dieser naturgemäß engen und, solange das
Individuum noch gar nicht aus der Masse hervortritt, unauflöslich
scheinenden Verbindung des von der Sitte Vorgeschriebenen und
durch religiösen Glauben Geheiligten mit dem Nützlichen könnte
man die beiden Begriffe des Sittengemäßen (rof-iifior) und des Nütz-
lichen als Wechsel begriffe behandeln: jedenfalls umschreiben sie
denselben Ki-eis. Ahnliches galt für Athen bis auf die Zeit der
Perserkriege ,■ worauf dann die häufiger , enger und vielseitiger
werdende Berührung mit anderen Städten und Völkern und die Um-
gestaltung der alten Erwerbs- und Besitzverhältnisse jene geistige
Gärung hervorbrachte, die oben geschildert worden ist. Jetzt treten
in der Skepsis und den individualistischen Theorien der Sophisten
[ das namens der Gesamtheit von der Sitte Geforderte und das von
dem einzelnen für sich Begehrte auseinander. Auf dieser Stufe der
' Entwicklung scheint die Pflichtenlehre dem Menschen vielfach ganz
anderes vorzuschreiben, als was ihm die Güterlehre Verlockendes
zeigt. Sokr. und PI. aber geben sich alle Mühe, den Riß, der so
zwischen beiden entstanden ist, wieder zu schließen.
216 Constantin Jlitter.
Die bisher aus den Dialogen Pl.s herausgestellten ethischen
Sätze geben Anlaß zu einer Darstellung der Ethik unter beiden
Gesichtspunkten. Wenn im La Ch Eu eine Definition der Tugenden
Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit gesucht wird , so bedeutet
die Untersuchung nicht bloß so viel: was meint man mit diesen
Wörtern ?, sondern es wird damit gefragt , wie sie verstanden
werden müssen, damit man sie als Richtschnur des Handelns an-
sehen, ihren Inhalt als Pflicht vorschreiben könne. Und wenn als
Kern von jenen allen und von den übrigen Tugenden die Erkenntnis
des Guten oder für den Menschen Nützlichen nachgewiesen wird
und dabei einleuchtet , daß ich nur dann beurteilen kann was mir
nützlich ist , wenn ich mein eigenes Wesen ordentlich kenne , so
bedeutet das : die Selbstprüfung ist Pflicht für den Menschen.
Anderseits werden alle Tugenden, wird die Erkenntnis ihres Wesens
und die Selbsterkenntnis unter den Gesichtspunkt der Eudämonie
gestellt und als notwendige Bedingung zu ihrer Erlangung oder gar
als das Wesentliche an diesem Zustand vollster Befriedigung hin-
gestellt. In der Überzeugung vom Zusammenfallen der sittlichen
Trefflichkeit mit der Eudämonie knüpft sich aufs neue die enge
Verbindung der drei Begriffe Tugend, Pflicht und Glück, die der
ursprünglichen Volksmeinung eigen, aber allmählich durch die Heraus-
lösung des Individuums aus dem Stammes.- oder Volksbewußtsein
gelockert und durch skeptisch - philosophische Betrachtungen in
Frage gestellt war. Man kann wieder sagen — nicht bloß wie
Polos zugestand: wer gerecht handelt, d. h. tugendhaft sich be-
währt, verdient dafür Lob, das Gegenteil ist schändlich (alaxQOv :
tadelnswert), sondern : die Tugend hat ihren Segen. Der zerspaltene
Begriff des Guten schließt sich wieder zu einer festen Einheit zu-'
sammen, denn das mir Zuträgliche, Nützliche (das eudämonistisch
Gute) ist eben das Sittliche (oder sittlich Gute), meine ccqbt^J macht ^
mein Glück aus. Wir werden im Symposion auf den Satz stoßen
„durch den Besitz von Gütern sind die Glücklichen glückhch", im
G fanden wir den Satz, gut sei ein Mensch dadurch, daß er Gutes
(wörtlicher übersetzt : Güter) an sich habe (ayad-cüv nagovola).
Diese scheinbar verschiedenen Sätze vereinigen sich in demselben
Grundgedanken: daß eben sittliche Güte und höchstes Glück des
Lebens notwendig zusammenfallen, einem Gedanken, der in der Rj
und den N als Summe aller menschlichen Weisheit bezeichnet wirc
und nach diesen Schriften zum Eckstein aller politischen Ordnungei
gemacht werden soll.
Darum ist es wieder nichts als ein Mißverständnis, wenn mai
i
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 217
jenen Satz des G logisch angefochten hat und meint, PL sei hier
durch den Doppelsinn des Wortes gut zu einer groben Begriffs-
verwechslung verführt worden. Nein, so ist es nicht ; sondern PI.
hat festgestellt, daß alles, was wirklich gut ist und streng genommen
diese Bezeichnung verdient, etwas Innerliches, im Menschen selbst
und nicht in äußerlichen Dingen und Verhältnissen Liegendes ist.
Es gibt für ihn keine anderen Güter als geistig sittliche, oder das
Gute ist ihm zugleich — nicht ein Gut, sondern das alleinige wahre
Gut. Aber es ist völlig verkehrt, wenn man sich einbildet, der
Grund der Gleichsetzung des eudämonistisch und sittlich Guten sei
für ihn mit dem herkömmlichen Wortgebrauch gegeben : umgekehrt,
das Recht des Wortgebrauchs , in dem die beiden nicht unter-
schieden sind, wird für ihn durch die Erkenntnis ihres inhaltlichen
Zusammenfallens begründet; wäre die verbreitete Anschauung richtig,
nach der Reichtum, Gesundheit, Schönheit, Kraft, geistige Gewandt-
heit usw. Güter sind: Dinge, die doch der sittlichen Tüchtigkeit
dessen, der über sie verfügt, abträglich sein können, dann dürfte
man nicht sagen, daß durch solche 'Güter' der Mensch gut sei."
Hiemit sind namentlich die meisten Erklärungen von G o m p e r z
rundweg abgelehnt. Dieser kann übrigens als Wortführer der
herkömmlichen Auffassung dieser Dinge betrachtet werden , und
"wenigstens unter den Philologen werden nur wenige seinem Satz
widersprechen (S. 279): „In der Tat gehört der G in argumentativer
Rücksicht zu dem Schwächsten, was aus Pl.s Feder geflossen ist."
Bei seiner „Durchmusterung der hauptsächlichen Fehlschlüsse"
bringt er gleich anfangs folgendes vor: „Unschön ist nur dasjenige,
was entweder momentane Unlust oder dauernden Schaden hervor-
bringt. Da nun das Unrechttun gewiß nicht das Unlustbringendere
ist, so muß es das Schädlichere sein. Wer sieht nicht, daß das
Urteil: 'Diese oder jene Handlungsweise ist unschön' einzig und
allein das Mißfallen des oder der Urteilenden zum Ausdruck
bringt und über die Gründe dieses Mißfallens ganz und gar nichts
aussagt. Oder doch höchstens so viel, daß das Mißfallen ein
irgendwie begründetes ist. Gewagt wäre schon das weitere Zu-
geständnis , daß die fragliche Handlungsweise nicht mit Grund als
mißfällig gelten könnte, wenn sie nicht dem Wohlergehen empfindender
Wesen irgendwelchen Eintrag täte. (Denn damit wäre das Prädikat
'unschön' bereits aus dem ästhetischen Gebiet ausgeschlossen und
auf das ethische und innerhalb dieses Bereiches wieder auf die
Ethik der Nützlichkeit beschränkt.) Allein auch dies zugegeben;
welche die Wesen sind, denen das verübte Unrecht Schaden zufügt,
218 Constantin Ritter.
ob die Unrechtübenden und niclit vielmehr die Unrechtleidenden,
die Entscheidung darüber vermag keine Schwarzkunst aus jenem
Urteil hervorzuzaubern. PI. glaubt in der gangbaren Ansicht die
sokratische, den Glauben an die unselig machende Kraft des Un-
rechts, vorzufinden, aber nur darum, weil er sie früher selbst hinein-
gelegt hat." So steht es nicht. Vielmehr über die Gründe des
Mißfallens hat sich Sokr. mit Polos zum voraus verständigt. Dieser
hat seiner Erklärung zugestimmt: unser Mißfallen errege irgend
etwas entweder durch seine Unannehmlichkeit, durch die im Augen-
blick daran geknüpften Unlustgefühle, oder durch seine später zu-
tage tretende Schädlichkeit. Und die Frage, die auf Grund dieses
Zugeständnisses dem Polos vorgelegt wird, ist: ob sich das Urteil,
das er selber fällt , 'Unrecht tun ist schimpflicher als Unrecht
leiden', widerspruchslos vereinigen läßt mit dem geheimen Ver-
langen , die Macht zu besitzen , um ungestraft Unrecht üben zu
können. Über das Subjekt der Lust- und Unlustgefühle , durch
deren vergleichende Abwägung die Entscheidung getroffen werden
müßte, kann gar kein Zweifel obwalten. Es ist nicht richtig, daß
PL, der doch wahrhaftig mit seiner Zeichnung eines Polos und
Kallikles den feinsten psj'chologischen Scharfblick beweist, „in der
gangbaren Ansicht die sokratische vorzufinden glaubt". Keineswegs.
Sondern er geht darauf aus, zu zeigen, daß die gangbare Ansicht
in sich widerspruchsvoll und haltlos ist und darum durch eine
andere , die sokratische , ersetzt werden muß. — Wenn der Ge-
sichtspunkt des Nutzens entscheiden soll, z. B. bei der Bestrafung
eines Übeltäters, so fragt G. (S. 281) noch einmal: für wen die !
gerechte Strafe nützlich sein solle. „Warum gerade für den Ge-
straften und nicht vielmehr für die Gesellschaft , deren Sicherung
doch einer der unbestrittensten Strafzwecke ist?" Im übrigen
meint er, von „unheilbaren" Verbrechern, deren Bestrafung nach
der mythischen Darstellung am Schluß des Dialogs lediglich zum
abschreckenden Beispiel für andere dienen solle, durfte PI. gar nicht
reden. Damit widerspreche er seiner vorher aufgestellten These.
Dann fügt er bei: „Wird doch dem Gewohnheitsverbrecher durch!
die Strafe mindestens ebensoviel 'Gerechtes' zuteil wie dem Neuling
in der verbrecherischen Laufbahn, und soll doch das 'Gerechte'
seiner Natur nach für den Gestraften (gleichviel wie dieser be-
schaffen ist) Nützliches und Heilsames sein." Wer so fragen kann,
muß erinnert werden, daß menschliche Richter in der Meinung über
die Besserungsfähigkeit eines Schuldigen sich täuschen können.
Der als „unverbesserlich" Erkannte jedoch wird in einem nach
i
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 219
platonischen Grundsätzen geordneten Staat hingerichtet. Damit
nützt man aber nicht bloß „der Gesellschaft", sondern ihm selbst.
Wenn man seine Seele auch nicht mehr bessern kann, so bewahrt
man sie wenigstens vor schlimmerer Entartung. Wenn aber die
Hinrichtung für ihn die größte Wohltat ist, eben weil er in diesem
irdischen Leben durch Strafmaßregeln nicht mehr gebessert werden
kann, so steht es anders bei solchen, die der Besserung noch fähig
sind. Deshalb ist der oben von G. in Klammern gesetzte Satz über
den Bestraften ,,gleichviel wie dieser beschaffen ist" zum mindesten
mißverständlich, — Einspruch erheben muß ich noch gegeia einen
Satz, der S. 284 als Grundlage zur Bemängelung einer platonischen
Beweisführung dient: „Körperkraft und Gesundheit gelten auch PL
als Gutes oder Güter." Wenn man „nicht" hineinsetzte, wäre ich
auch nicht ohne weiteres einverstanden , aber immerhin eher als
mit dieser einfachen positiven Behauptung.
Wie schon angedeutet, stimmen die meisten Erklärer eher mit
G. als mit mir übereiu. Indem ich auch von anderen noch einige
Sätze hier gebe , will ich mich mit Gegenbemerkungen möglichst
beschränken. Zunächst aus Pohlenz. (143:) Im Pr „nahm PL,
um die Einheitlichkeit des ethischen Prinzips zu wahren, die Gleich-
setzung von ayad^ov und 7]dc vor". Die „wahren 7^öea sind von
den ayadä nicht zu trennen. Aber bald sah er das Gekünstelte
dieser Theorie ein. Konnte man wirklich dem Schlemmer, der durch
seine Unmäßigkeit sich eine Krankheit zuzieht, für den Augenblick
des Essens das Lustgefühl absprechen , nur weil seine Handlung
für die Folgezeit einen Überschuß an Unlust ergab ? Hier war also
doch (trotz Pr 53 c) ein Gegensatz von ayad^ov und r^dv anzunehmen.
Und andrerseits , auch wenn die Operation mit Bücksicht darauf,
daß sie für die Dauer Gesundheit und Lust bringt , ein r^dovr^v
noiovv genannt werden konnte , so war es doch eine Verkennung
ihres Wesens, wenn man sie darauf hin als r^dv statt als XvTCiqQOv
bezeichnete. Also hatten die noX'koi doch recht, wenn sie meinten,
OTL ravta ayad^ct f.i6v iaiLV dviagd de (Pr 54 a) . . So verwendet
denn mit Absicht PL grade das Beispiel der Operation , um sich
zu korrigieren und zuzugeben, daß hier wirklich ein Widerstreit
zwischen r^öv und io(pa'/uf.iov vorliegt (78b, 79a, 80c, 25 c). Im Pr
hatte er die entgegengesetzte Anschauung mit dem Hinweis be-
gründet, als Ziel (cü.og) schwebe die Lust vor, und erklärt, das
Werturteil ayad^op bezeichne nur, daß die Handlung diesem Ziele
diene. Daß dies eine Degradation des Guten bedeute, wurde ihm
bald klar, und so ist ihm im G das Gute zum positiven Ziel ge-
220 CoBstantin E-itter.
worden (99 e), und die ärztliche Kur wird jetzt nicht mehr als gut
gewertet , weil sie Lust verschafft , sondern weil sie fVexa tov
nyadov geschieht (67 c — 68 b)." (14G :) „Die Einheitlichkeit des
Lebenszieles hatte PI. im Pr erweisen wollen. Das war berechtigt.
Aber teuer hatte er diese durch die Gleichsetzung von rjdv und.
cyai>6v erkauft. Tatsächlich waren beide von Grund aus ver-
schieden . . Und mit einem Schlage wurde es ihm klar: Wer ein
festes Fundament für die Sittlichkeit errichten wollte , der durfte
nicht die wahre Lust zum Ausgangspunkt nehmen, die das sittliche
Handeln begleitet und zum glückseligen Leben gehört; er mußte
davon ausgehen, daß die Lust, die von den Menschen zumeist er-
strebt wird , mit dem sittlichen Ziele nichts zu tun hat , ja von
diesem ablenkt und das größte Hindernis für dieses bildet." — ??
Ganz einverstanden bin ich natürlich mit dem, was P. S. 152 über
den Pfad der Sittlichkeit schreibt: „Wer ihn geht, hat vielleicht
Schmerzen und Unrecht zu tragen und erfährt Spott und Hohn
dazu, aber sein Leitstern ist das Gute, und der führt ihn sicher,
wahrt ihm im Leben die Gesundheit der Seele und bringt ihm wohl
auch im Jenseits den Lohn." Auch mit dem Satz S. 157: „Daß
der Intellekt allein das Handeln bestimmt und der Mensch, der das
Gerechte weiß, ohne weiteres gerecht ist, steht für PI. hier so fest
wie im Pr (p. 460)." Nur meine ich, aus diesem Intellektualismus
ergebe sich die Gleichsetzung des ayaO^öv mit dem ridv (= noLOvv
evöaif-ioviav).
Prächter schließt sich mit seiner Kritik (S. 257 — 59) ziem-
lich eng an Gomperz an. Doch meint er: „Daß PL diese hand-
greiflichen Argumentationsfehler unbewußt begangen haben sollte,
ist ausgeschlossen." Er meint, es handle sich, ähnlich wie bei den
Beweisen Zenons gegen die Möglichkeit der Bewegung , um eine
„dialektische Bravourleistung", wobei die Frage, „ob der Urheber
solcher Argumente sich innerlich zu ihnen bekennt, keine RoUeJ
spiele" ; „um Argumente, die in der Debatte als deren integrierende,
den triftigen Beweisen völlig gleichgestellte Bestandteile figurieren,!
und mit denen der Gegner sich abfinden mag, so gut er kann".
Diese Auslegung scheint mir denn doch mit dem furchtbaren Ernst]
der Stimmung des G unvereinbar.
Gegen die Sätze P.s auf S. 259 seien noch einige besondere!
Erklärungen gerichtet. Zu 00 e — 99 b bemerkt er: „Hier ließe sich]
zunächst die Behauptung in Zweifel ziehen, daß Gute und Schlechtej
in der Quantität von Lust und Unlust einander im ganzen gleich-
stehen." Darauf kommt es gar nicht an. Dann aber: Es „läßlj
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 221
sich sagen, daß die Guten gut sind durch Gegenwart des Guten —
als Qualität (vgl. 06 d) , aber selbstverständlich nicht durch die
Gegenwart von Gütern, die man besitzt und genießt, und zu denen
auch Körperkraft, Gesundheit, Reichtum usw. gehören. Die- Lust
wird jedermann nur zu den Gütern der letzteren Art zählen und
sie nicht mit dem Guten, das gut macht, identifizieren. Auf der
Voraussetzung einer solchen Identifikation beruht aber der ganze
Beweis. Unter Benutzung einer Eigentümlichkeit der griechischen
Sprache . . wird im 1. Satz ayaO^uv durch aya^iov ersetzt und der
Gegner alsdann durch die Parallele -/.aloi und y.dl?,og sicher ge-
macht. Wenn je bei einem platonischen Paralogismus, so liegt in
diesem FaUe die Absichtlichkeit klar zutage. Tatsächlich nimmt
KaUikles an der Deduktion keinen logischen Anstoß." — Kallikles
kann das nicht. Denn er will die Lust eben nicht, wie angeblich
„jedermann", zu den Gütei'n rechnen, deren Besitz gleichgültig wäre
für die Entscheidung, ob ein Mensch als dyad^og anerkannt werden
kann. Einen armen Schlucker, einen Schwachen, der sich gegen
drohende Übermacht nicht zu helfen weiß oder auf Kampfmittel
verzichtet, die zu brauchen seine „unmännliche Philosophie" ihm
verbietet, verachtet er gründlich und hält er für schlecht. Die
Mächtigen, die ihi'e Macht dazu brauchen, alle ihre Lüste und
Begierden zu befriedigen , sind ihm die Guten , und gut sind sie
eben deshalb, weil sie, wie man sagt, „ihr Leben genießen". So ist
es wü-klich der sinnliche Genuß, dessen nagovaia sie gut macht.
Es ist kein Paralogismus , sondern ein trefflich angelegter und
wenigstens für mich ganz überzeugend geführter Beweis, wodurch
Sokr. den Kallikles widerlegt.
Im Streit um die Richtigkeit der Beweisführungen des G greift
man wohl auch zu Lutoslawskis Origin aud growth of Plato's
Logic. Aber da ist wieder nicht viel zu holen. Man sieht schon
aus dem Register, daß L. dem G keine sorgfältige Beachtung ge-
schenkt hat. Es gibt nur an: „style 155, 167; form: 393, 486;
date: 189; relation to Ap: 214; Cr: 202, 214; Ch : 203, Pr: 195,
207, 213—5; Me : 213—5; Eus : 213; Cra: 215, 221, 227—9,
23-1-2; Sy: 239, 243; Phn: 262, 274, 275; Rp : 267, 270, 272—3,
275, 281, 288, 321; Phs: 356; convenient Standard of stylistic
comparison : 191." Ich ziehe einiges von dem heraus, was auf
S. 213—217 zu finden ist. (213:) „Die schriftstellerische Gewandt-
heit, die im G entfaltet wird, erreicht einen höheren Grad als in
den kleinen Dialogen und selbst als in Pr, Me oder Eus" — vgl.
damit Wilamowitz I S. 210: „Seinen Stoff zu gliedern versteht PI.
222 Constantin Ritter.
noch unvollkommen . . Schon im Me ist der Fortschritt sehr groß
und dann ist die Meisterschaft erreicht" — „PL ist jetzt auf eine.]
Stufe formaler Meisterschaft angelangt, die an die höchste Schönhei
heranreicht, die durch die menschliche Sprache erzielt werden kann
und die vielleicht nur durch PI. selbst überschritten worden ist in
Phn, Plis und Abschnitten des Sy, der Rp und des Th. — Di(
Lehre der Dialektiker, die im Eus als Schatzmeister des Wisseni
bezeichnet waren, ist jetzt personifiziert und der 'Philosophie" zu
geschrieben. Diese Philosophie wird geliebt mehr als alle mensch
liehen Wesen und ist mit ewigen Wahrheiten begabt , die sie]
niemals ändern (82 a). Die Macht dieser Wahrheiten ist auf lanse
eigenes Bewußtsein gegründet, und kein Mensch kann ihnen wider
sprechen, ohne daß er sich selbst widerspräche (82b). Und dei
treuen Gefolgsleuten dieser ihrer Königin verspricht PI. nach den
Tod ein seliges Leben, gesondert von anderen menschlichen Wesei
(26 c). Darin verrät sich noch ein jugendlicher Egoismus, den e
später aufgab, als er die Philosophen einlud, gleich Göttern herab
zusteigen unter die Sterblichen , um sie ein besseres Leben zi
lehren. — Der Unterschied zwischen wahrer Meinung und wissen
schaftlicher Erkenntnis, der im Me gefunden wurde, wird hier au
die Kunst der Überredung angewandt und führt zur Unterscheidung
von zwei Arten der Rhetorik, deren eine auf Erkenntnis, die ander(
auf Glauben beruht (54 e): Erkenntnis allein ist untrüglich (54 d)
während der Glaube wahr oder falsch sein kann. In voller Überein
Stimmung mit dieser entschiedeneren Trennung von Wissen un(
Meinen, unterscheidet PI. klarer als im Ch zwischen (214) theo
retischen und angewandten oder praktischen Wissenschaften (50 c bii
51 d), und betont er die Wichtigkeit der Begrififseinteilung (00 d). —
Das Schlußverfahren geht von zugestandenen Prämissen aus, ent
sprechend der im Me gegebenen Vorschrift, und die logische Ver
knüpfang wird sorgfältig nachgewiesen mittels logischer Termin
(98 e). Unvermeidliche Wiederholungen werden mit dem logische:
Zwecke entschuldigt (99 a vgl. 08 d). Das ergibt die Vorstellung
eines Verfassers, der an eigene Lehrtätigkeit gewöhnt ist und di
Wahrheiten schon gefunden hat, die er seinen Hörern zu vermittel;
wünscht , während er vorgibt sie neu zu suchen im Verein m |
seinen Schülern. Was in Ap (30 d) und Cr (49 ac) als persöii
liehe Überzeugung ausgesprochen wird, daß man unter keine i
Umständen Böses tun dürfe, wird hier als wohlbegründete wisse] ji
schaftliche Erkenntnis hingestellt (09 a) und so weit ausgedehrfc
daß es sogar die Notwendigkeit der Bestrafung für den Fall d«
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten tlber PL erschienenen Arbeiten. 223
Unrechttuns in sich schließt (82 b, 27 b). Der Zweck des mensch-
lichen Lebens ist nicht Lust, wie es im Pr zu sein schien, sondern
das Gute (13 d). Pflicht des Staatsmanns ist es, das Volk, das er
leitet, besser zu machen. Im Pr und Me hielt PL noch an der
gemeinen Überzeugung fest, Perikles und Themistokles seien große
und weise Männer gewesen . . Aber jetzt, auf der Höhe der neu
begründeten Philosophie, erkühnt sich PL, zu behaupten, diese Götzen
der Athener seien schlechte Staatsmänner und Volksverderber ge-
wesen (15 e). Diese kecke Mißachtung der Männer, die gemeinhin
als die größten (215) Bürger Athens gepriesen wurden, zeigt, wie
schnell die Kluft zwischen dem gewöhnlichen Menschenverstand
und den Lehren der Philosophie für PL sich erweiterte. Ausgehend
von der sokratischen Unwissenheit und L'onie, hat er sich zu der
völligen Unabhängigkeit von Überlieferung und öffentlicher Meinung
erhoben, die zu allen Zeiten den großen Philosophen kennzeichnet. —
Ein anderes Zeichen der späteren Abfassung des G ist der Haß
gegen die TjTannei (25 d), der hier zutage tritt und seitdem von
PL sein ganzes Leben hindurch festgehalten worden ist." . . .
„Der G schließt die sokratische Periode des platonischen (216)
Philosophierens und leitet von den ethischen Problemen , die ihn
in den ersten Jahren nach Sokr.' Tod beschäftigten , über zu den
logischen und metaphysischen Untersuchungen, die den größten Teil
seines Mannesalters ausfüllten." (217) „Die neue Kraft, die die Philo-
sophie durch logische , an Gegenständen der Ethik vorgenommene
Übungen erlangt hatte, wirkte zuerst auf die moralischen Probleme
zurück, von denen PL ausgegangen war. Er wandte seine logische
Methode zuerst auf die großen Fragen an , die ohne Ergebnis in
seinen früheren Schriften erörtert waren , und schuf eine haltbare
Theorie der Tugend und der Lebenszwecke im G. Aber der er-
rungene logische Fortschritt wird sich in seiner Wirkung nicht auf
den Gegenstand einschränken, um deswillen er ersonnen worden ist.
'' j Wir sehen schon im Me, im Eus und im G, daß PL ein Interesse
""f an logischer Methode zu nehmen beginnt, das unabhängig ist von
j deren Anwendungen , und einmal geweckt , wird dieses logische
n Interesse ihn zu besonderen logischen Untersuchungen führen und
""l zu weiterer Entwicklung von Methoden behufs Erwerb und Mit-
^^"1 teilung untrüglichen Wissens."
"" Die Hauptgedanken des Dialogs finde ich recht gut heraus-
-^ gestellt und beleuchtet bei Nato rp. Er sagt uns (S. 41:) „Der
'^'^' Standpunkt einer bloß negativen Kritik ist endgültig und vollständig
verlassen. PL setzt sozusagen sein Alles daran, zu einer zentralen,
224 Constantin ßitter,
für immer festen Stellung in der entscheidendsten aller Fragen
der des Sittlichen, durchzudringen und damit zugleich die sicher*
Grundlage zu gewinnen für ein positives Wirken auf seine Zeit
nicht auf dem Wege der Öffentlichkeit, sondern auf dem weiteren
aber sicheren der philosophischen Erziehung der zur einstigen Leitung
des Gemeinwesens Berufenen. Die sittlichen Überzeugungen, di(
er verficht, sind keine andern als die sokratischen, wie schon di(
Ap und der Cr sie bezeugen ; aber sie treten hier zum erstenma
nicht nur als entschlossene Bejahungen, sondern als radikal be
gründete, zwingend bewiesene Erkenntnisse, als Sätze einer Wissen
Schaft vom Guten auf, wie sie Sokr. nach den eigenen Zeugnissei
Pl.s sicher nicht zu behaupten gewagt hat . . . Die Begriffe des
Sittlichen . . wurden bis dahin stets für noch nicht gefunden er
klärt. Auch der Me schloß damit, daß die Antwort auf die Frage
Was ist Tugend? noch ausstehe . . . Auch über die besonderer
Tugendbegriffe werden Festsetzungen getroffen, welche wesentlicl
mit denen übereinstimmen, die PI, auch sj^äter, besonders in der E,p
festgehalten hat. Im Pr La Ch werden Sonderbegriffe einzelne.
Tugenden nahezu geleugnet , während der Me die Frage noch un
entschieden ließ . . . Man muß . . sagen, daß PL . . den sokratische;
Standpunkt seiner eignen ersten Schriften weit hinter sich gelassei
hat." . . (43) „Diese Seibstgewißheit der endlich zu festen Pos^
tionen durchgedrungenen wissenschaftlichen Forschung bestätigt auci
die ganz neue Bedeutung, die dem Worte Philosophie beigeleg
wird . . (82 a :) Nicht ich, die Philosophie spricht so, sie widerleg
wenn du kannst. Das ist ganz , wie wenn man heutzutage vo
einem Satze 'der Wissenschaft' redet . . . (44) Ihr darf und so
man sein Leben weihen , denn in ihrer Kraft darf und soll ma
hoffen , das Leben zu reformieren. Und weil der Ausdruck nie!
bloß Wissenschaft, sondern zugleich den Anspruch bedeutet, durc
Wissenschaft das Leben auf neue Grundlagen zu stellen , so lief
darin für PL zugleich die direkteste Beziehung zu seinem persöifc
liehen Wirken, zu dem auf dies erhabene Ziel gerichteten wisseilj
schaftlich sittlichen Verein, der um ihn sich zu bilden beginn
Es ist im G allüberall deutlich zu erkennen : PL nimmt schon jet:
eine scharf bestimmte , hart angefochtene , aber eben durch d
Wucht der Selbstbehauptung sich zusehends befestigende Stellun
im Leben Athens ein. Er ist bereits gewissermaßen ein öffentlich«
Charakter, trotz der erklärt privaten Art seines Wirkens und gerac
in dieser anspruchsvollen Abseitsstellung. Er hat einen zwar noc
kleinen (85 d), aber von nun ab rasch wachsenden Anhang hint
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 225
sich." (44) „Jedenfalls die formalen Erfordernisse der "Wissenschaft
stehen dem Verfasser in bestimmtester Gestalt vor Augen . .
(45) Und so kommt zur schärfsten Ausprägung der Gegensatz
rational begründeter 'Kunde' {tt^vi], hier fast ganz im Sinne von
'Wissenschaft') gegen die der rationalen Grundlage entbehrende
bloße Erfahrung (ii-iTteigia) oder Routine (tgißtj, (.leXixr^ . . .
(46) Mit dem so verschärften Begi'iff der wissenschaftlichen 'Kunde'
hängt aber aufs engste zusammen die endgültige Bestimmung des
Begriffs des Guten. Nachdem , auf Grund der Scheidung des
Wollens vom Belieben {'6& if.), des Guten von der Lust (94 — 99),
zunächst der formale Begriff des Guten als des einen, selbigen und
letzten Zieles {xtkog oder oyionög 67 c, 68 b, 99 e, 07 d) fest-
gestellt worden, der schon durch die logische Abhängigkeit des bloß
folgeweise , um eines anderen willen , vom primär Gewollten auf
den rationalen Weg der Begründung , auf einen letzten logischen
Einheitspunkt in praktischer 'Vernunft', auf die Vemunftforderung
der Einheit des praktischen Bewußtseins hindeutet, wird dieser
Zusammenhang des Guten mit der Einheit der Erkenntnis, mit dem,
was später die 'Idee' heißt, ausführlich und bestimmt entwickelt
(Ol — 08). Nicht bloß ist das Gute allgemein Gegenstand der rational
begründeten 'Kunde', wie das Angenehme Gegenstand der 'Empirie'
(OOff. , wie anfangs schon festgestellt war, 64 f.), sondern die
I technisch richtige , d. i. gesetzmäßige Verfassung macht über-
haupt den Begriff des Guten aus. Ein jeder Werkmeister blickt
bei seiner Arbeit auf sein eigentümliches Muster hin, bringt jedes
einzelne in eine bestimmte Anordnung (Tcc^ig) und bewirkt so,
daß eins zum andern passen und sich fügen muß, bis das Ganze
sich zusammenstellt zu einem geordneten organisierten Ding. Eben
if dies Merkmal aber der inneren Organisation ist es , welches ein
I Ding 'gut' macht . . Wie dies nun gilt von ii-gendeinem Ding . .,
j> so . . von der menschlichen Seele : Gesetzlichkeit {y6pii[xov, v6(xog
1 04 d) und damit Gerechtigkeit, Besonnenheit, allgemein Tugend
ji (im engeren, seelischen Sinn 04 e), die demnach besteht in der
t gesetzmäßig geordneten , so in Einstimmigkeit mit sich selbst ge-
jj brachten und dadurch sich selbst erhaltenden , heilen Verfassung
j| der Seele. (47) Das Bemerkenswerteste in diesen und den weiter
^ folgenden Ausführi*ngen ist, daß unter dem Begriif des Gesetz-
.j liehen das Gute ganz in eine Reihe kommt mit jeglicher wissen-
H schaftlichen und technischen Richtigkeit, zuletzt mit der Gesetzes-
j Ordnung des Universums, des äußeren und des inneren, des körper-
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 15
226 Constantin Bitter.
liehen und des unkörperlichen 'Kosmos'. Die Betrachtung erhebt
sich bis zu einer ganz universellen Zusammenfassung aller Probleme,
theoretischer wie praktischer, unter dem einzigen höchsten Gesichts-
punkt des Gesetzlichen überhaupt , als dessen , was aUgemein die
richtige 'technische', d. i. erkenntnisgemäße und damit gute Ver-
fassung eines jeden einzelnen Dings oder Werkes nicht nur, sonderr
des ganzen äußeren Universums , das daher die Benennung eines
Kosmos trägt, und so auch des inneren Universums, der Sittenwelt
ausmacht . . .
Das Gesetz als der wahre Inhalt der Wissenschaft, der Grund
aller Richtigkeit und damit Güte, als das, was jedem, dem Einzeluer
und dem Ganzen, seine 'Gestalt', sein Eidos gibt, dies und nichts
anderes ist das Zentrum, in dem diese ganze bei aller Knappheii
der Andeutung so tiefgründige wie weit ausgreifende Betrachtung
zusammenhängt. Wir stehen hier schon unmittelbar an der SchweU(
der 'Idee' . . . (49) Das Gesetz, d. i. die Denkeinheit, das Eidos
die Idee, ist es allgemein, was den Gegenstand (das ov) konstituiert
Diese Einsicht ist hier bereits unmittelbar vorbereitet. Damit abe]
eröffnet sich der Ausblick auf eine umfassende Systematik dei
Wissenschaften . . . Die ersten Grundlagen dieser Systematik sine
schon im G zu erkennen."
Ho ff mann meint, den „schon oft behandelten Inhalt" des G
„nochmals zu betrachten , dürfte nicht überflüssig sein angesichts
der ziemlich mageren Inhaltsangabe in der sonst verdienstlichei
neuen Ausgabe von A. Gercke". Etwas eigentlich Neues habe icl
bei ihm nicht gefunden. Immerhin ist seine Darstellung brauchbar
Ich führe aus ihr einige Sätze an. (S. 481 :) „Sophistik unc
Rhetorik schaden der Seele , indem sie die Gesetzgebung unc
Rechtspflege entstellen, die beiden TeUe der Staatskunst, welch«
für das Wohl der Seele zu sorgen hat. Damit ist das Verhältni;
der Rhetorik zur Sophistik bestimmt ; sie bezieht sich , im Sinni
der Schüler des Gorgias aufgefaßt, auf das Praktische, auf die An
Wendung der Gesetze und ist abhängig von der falschen Theorie
welche die Grundlage des Staates , die Gesetzgebung , verdirbt,
(S. 487): .,Der von Kallikles gepriesenen Selbstsucht . . wird
die Einfügung in die göttliche Weltordnuug gegenübergestellt, wa
PI. später im Ti weiter ausgeführt hat und schon im Eu al
wesentliches Merkmal der Frömmigkeit bezeichnet, das Dienen ai
göttlichen Werke . . Die christliche Lehre vom Reiche Gottes
hier vorgebildet, wie auch an anderen Stellen unseres Gespräcl;
christliche Gedanken anklingen."
Ber. über d. in d, letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 227
Für die Besprechung von Einzelheiten der Schrift lege ich
Nestles erklärende Ausgabe zugrunde.
Nestles Einleitung über die Sophistik, über Gorgias und über
Pl.s Dialog Gorgias umfaßt 25, die Literaturangabe weitere 2 Seiten.
Ihrem Zweck scheint sie mir gerecht zu werden. Von Gorgias
wird gezeigt, daß er „bei seiner grundsätzlichen Skepsis gar keine
Möglichkeit hatte , zu bestimmen , was rechte und unrechte An-
wendung der Rhetorik sei , da es für ihn keine objektiv gültigen
Begriffe von Recht und Unrecht gab". Die Folgen sind „theo-
retische Unklarheit und praktische Gleichgültigkeit gegenüber den
sittlichen Fragen in der gorgianischen Schule" und darauf „hat PI.
den Finger gelegt". Dankbar wird der Leser auch für die Auszüge
aus Gorgias' Schriften, dem ^ETcirdq^iog, OXvi.i7iiy.6g, der Ttyvii und
'Elivr^g i'/ACofAiov usw. sein, die mehr als 2 Seiten füllen. Sätze
wie yiö'/og övvä.oxr^g \xiyag lox'iv oder To yaq xi^g neid^ovg eiöog
t'X€i [.UV ovoi-ia svavTiov aväy/.rj, t?)j' di dvvu(.iiv t/jv aviijv I'xel
dienen ohne weiteres zur Beleuchtung gewisser Stellen des G.
Ein Fehler ist S. 17 zu berichtigen. „Die geistige Leitung liegt,
wie immer bei PI., in der Hand des Sokr.". Dabei hat N. die
Altersschriften vergessen. Über die Schwierigkeiten , welche die
historischen Anspielungen dem Leser* bereiten können, macht N.
die gute Bemerkung: „Statt zwischen den beiden unvereinbaren
Gruppen zeitlicher Anspielungen einen künstlichen Kompromiß her-
zustellen, wird es besser sein und Pl.s Sinn mehr entsprechen,
wenn wir in diesen Widersprüchen ein Zeichen davon sehen, daß
für PI. hier alle diese geschichtlichen Verhältnisse nur neben-
sächliches Beiwerk sind, und daß er seine und des Lesers ganze
Kraft und Aufmerksamkeit auf die Hauptsache, den Gedankengehalt
des Dialogs, konzentrieren will." Recht gut und klar sind im all-
uisj gemeinen die Anhaltspunkte beleuchtet, von denen aus die Datierung
311* des G versucht werden kann. N. meint , es ergebe sich , alles
ii-* zusammengenommen, „für den G die Stellung hinter den im be-
iriej sonderen Sinne Sokratischen Schriften (Ap, Cr, Eu, Pr, La, Ch)" —
soweit bin ich einverstanden, aber für verfehlt halte ich, was folgt :
„wegen der schärferen Fassung des Begriffs des Guten [vgl. Me 87 e f.
mit G 67 e] und der Verurteilung der Staatsmänner auch hinter
dem Me, in dem sie mit viel mehr Achtung behandelt werden, und
all wegen der völligen Verwerfung der Rhetorik auch hinter dem Phs,
in dem PI. noch den Versuch gemacht hatte, sie auf eine philo-
sophische Grundlage zu stellen ... So ergibt sich als Abfassunga-
Jjeit des G etwa 385".
1.5*
228 Oonstantin Ritter.
Im Verzeiclmis der Erklärungsschriften vermisse ich : Paul
Schuster, eine Erklärung von G 92 e — 94 b, im Rh. Mus. 29 (1874)
590 ff. und Cron, Jb. f. kl. Ph. 153 (1886) S. 563—82.
Für eine neue Auflage schlage ich einige Beisätze vor, nament-
lich über die Bedeutung des Mj^ thus am Schluß ; ferner
Zu 49 b sollte auch auf Dissoi logoi 8, 1 verwiesen werden :
(jtü acTLü) avÖQog y.ai zag avräg xl%vag vof.iiCoj Kara ßQctxv zb
dvvaod^ai öiaXeyeod^ai . . y.al Sajuayogslv oiov t' r^fiev.
Zu der 51b gemachten Unterscheidung von Arithmetik und
Logistik auf Rp 525 c ff. und Phi 56 e.
42 e wird y.aizoi nicht, wie N. angibt, mit „und doch" zu über-
setzen sein, sondern mit „und wahrlich" oder „nun aber". Apelt
einfach: „Und".
Eine „Ausgabe für den Schulgebrauch" sollte nicht unterlassen,
zu 56 b ovöai-iov av qiarr^vai auch beizuziehen Soph. Ant. 184
zovTOv ovöa/xov Xiyio.
61 a 0(.ioXoyÜTai tbv Qr^T0Qiv.6v ccdvvazov elvai adiy.cog xQtja&ai
zfj Qr]TOQiy,ij y.al edeXeiv aör/,siv. Damit stellt PI. dem Gorgias das
Zeugnis aus, er sei im Grunde mit Sokr. darüber einig gewesen,
daß die Rhetorik dem Staats wohl dienen muß und eine sittliche
Pflicht hat, daß die bloß formale Gewandtheit eines auch zur
Täuschung und Berückung bereiten Redners verwerflich sei. Die
Kenntnis des Guten nun, das möchte ihm Sokr. zeigen, wird Sache
der Philosoj^hie oder Staatskuust sein. (Die beiden fallen zusammen:
wenn man den 7to?UTiy,6g definiert und vom ao<f>iaTi^g und 6i](.irjycQog
unterscheidet , ist eben damit auch die Definition des q>iX6oorpog
gefunden.) Ihr als der allein der Herrschaft würdigen, der „könig-
lichen" Kunst muß also die Rhetorik sich unterordnen. Dann ist
sie nicht, wie Gorgias meint, die vornehmste der Künste. ;
Auch einige kritische Bedenken seien geäußert:
Zu 60 b schreibt N.: „6 xa dUata i.iefxa9^r]-/,wg öUaiog: diesei
Schluß ist nur berechtigt unter der Sokratisch-Platonischen "Voraus
Setzung, daß Tugend Wissen sei und daher das Wissen mit den
Tun des Guten zusammenfalle." Vorher hieß es: 6 xa xsy.xovixi
(xmai>rf/Mg xey.xovr/.6g — 6 xa f.iovar/M /novoiy-og — 6 xa laxqt'M
iaxQiwg. Sollen diese Schlüsse auch auf einer besonderen Voraus
Setzung ruhen ? Dann wäre es die , daß das /.lEfia&rjyJvai kei:
bloß theoretisches Lernen sei, sondern mit den nötigen praktische
Übungen verbunden. Und vielleicht gilt dieselbe Voraussetzun
für das i.ief.ia&rjy.evai der dUaia. Allerdings ist der Schluß auej
voll berechtigt, wenn die dixaioavry] sich als das avurpoQcoxaxcl
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 229
CLvd-qcömo ausgewiesen hat, nach dem jeder selbstverständlich strebt
(nach Xenoph. Mera. III, 9, 4).
Gleich nachher darf nichts ausgeworfen werden von den Worten
oiy.ovv avdyyiT] tov grjzoQiy.dv 6r/.aiov eivaij tbv di 6r/.aiov ßov-
kead^ai di/.aia ngaTreiv. Als Neues tritt jetzt avdyyit] hinzu, um
den Satz , der zuerst zögernd aufgestellt war , zu sichern. Die
folgenden Sätze, die Apelt einklammert und mit Sauppe tilgen will,
bilden den Übergang zu der negativen Wendung, die erforderlich ist.
(65 c ist bei Nestle eine Zeile ausgefallen.)
66 e otx, log yk q'rjoi UwXog erhält seine Erklärung durch das
unten aus Apelts Plat. Aufs, zu 82 b Angeführte.
67 b (.iri /.aTijyoQet, lo ?uüOTe IliuXe, 'iva nqoGÜmo oe xara fff.
Dazu sagt N. : „•/.atä ae : in deiner (rhetorischen) Manier. In
l(pGTe IliüXe liegt eine Paronomasie." Ahnlich Apelt. Das wäre
einleuchtend , wenn Polos in seiner Anrede an Sokr. sich einer
Paronomasie befleißigt hätte. Das ist nicht der Fall. Wie er das
Wort ergreift, das Gespräch zwischen Gorgias und Sokr. ohne Ent-
schuldigung unterbrechend, sagt er einfach w ^w'/igazeg, während
Sokr. mit w '/,äl?uOTS IHöXe erwidert. Nachher haben wir in der
Wechselrede* 2 mal i6 ^omgaiEg, 9 mal w IJiule und dazu noch ein
w (file Ilcdle. Sokr. wahrt die Formen des höflichen Umgangs,
Polos fährt gleich anfangs polternd drein, und jenes w y.ä/JuOTe,
das mir etwa den Klang von „feingebildet" zu haben scheint, hat
nicht genügt, ihn zum guten Ton zu stimmen. Zuletzt hat er den
Gegner mit Mißachtung sti-afen wollen : er hat ihm gar nicht mehr
geantwortet, sondern an die Zuhörer sich gewandt mit : ovzog aviqQ
— „Dieser Mensch da — !" Und darauf erhält er nun die Zurecht-
weisung: f.iij yiaxi]y6QEL usw. Das xar« Gs ist also ironisch: „nach
deiner Manier" übersetzt Apelt ganz richtig. Gemeint ist: nach
deiner höflichen Manier. Man beachte noch, daß er im folgenden
mit seinem lo ^vrAQaiEg nicht mehr so sehr geizt, und daß Sokr.
ihm noch mehrmals ein ehrendes Eigenschaftswort lo ^aofiÜGis,
w fiaYMQiE zukommen läßt. Die Übersetzung freilich , die Apelt
gibt, „mein Wunderlicher" und „mein Preisenswerter" ist kaum
annehmbar. Eher noch: Erstaunlicher, Hochzupreisender, obgleich
wir dazu fast eines Substantivs bedürfen (du wunderlicher Herr,
du gottbegnadeter Denker); besser vielleicht im 2. Fall: „in aller
Ehrerbietung sei es gesagt!"
„Zu 80 ab könnte erinnert werden einerseits an Eu 4b, ander-
seits an N 717 d und Pr 46 a.
80 e. Der Satz el aga del tiva /lay.iüg rtoielv, sI't' ax^Qov eize
230 Constantin Ritter.
ovTivovv, eav {xovov fu^ avTog ddi'/.^ai mtb xov 6/^ßoi; — tovto
[Xfv yccQ svXaßtjzeov — eav de äkXov cidiY.f] 6 ixd^Qcg, TtavTi TQo/tqj
7TaQao'/.€vaOTeov . . , OTiiog f.iij ötj» dly.r^v bedarf wohl einer ein-
gehenderen Erklärung, als sie bei N. und bei Apelt zu finden ist.
Man wird am besten davon ausgehen, daß Sokr. sich auf den Boden
des engherzigsten nackten Egoismus gestellt hat , den Polos ver-
treten will. Auch für diesen Standpunkt hat Polos ihm, freilich
gegen seine innerste Überzeugung (über die er sich selber nicht klar
sein wird, oder die zu enthüllen er sich scheut), zugestanden, das
Unrechttun sei schimpflich (sogar schimpflicher als das Unrecht-
leiden). Und er hat für diesen Satz die Begründung des Sokr.
gelten lassen , daß es schädlich sei , nämlich für den Missetäter
selbst, weil seine Seele dadurch schlecht wird. Eben von dieser
Begründung aus , sofern sie wirklich Geltung hat , läßt sich der
ganze Standpunkt des Polos untergraben. Und das tut Sokr. mit
seinem Beweis. Er zeigt seinem Gegner: wenn du, mit dem großen
Haufen übereinstimmend, deinen Stolz darin suchst (die ardqbg dgei/j
darin erblickst), daß du Menschen, die dir verhaßt sind, deinen
„Feinden", möglichst schweres Übel zufügest, so mußt du darauf
ausgehen, sie möglichst schlecht zu machen und möglichst lange im
Zustand größter Schlechtigkeit zu erhalten. Das erreichst du, wenn
du die Versuchungen , die sie zu Unrecht und Gewalttat locken,
begünstigst und nicht dagegen einschreitest. Die damit gewonneneu
Folgerungen sind erstaunlich, für den „gesunden Menschenverstand'"
unerträglich. Gerade der Triumph würde ja den verhaßten Feinden
gelassen, nach dem ein Polos und Seinesgleichen am meisten be-
gehren , daß sie Macht hätten zu vergewaltigen , wen sie immer
wollten. Die Voraussetzungen , aus denen sich das Erstaunliche
ergab, waren: 1. das Unrechttun ist dem Täter selber schädlich
und darum schimpflich, 2. wirkliches Unrecht wird nur begangen i
durch Schädigung der Seele. Es leuchtet ein, daß diese Voraus-
setzungen neu geprüft werden müssen. Und das geschieht, indem
den Polos ein anderer Vertreter der öifentlichen Meinung ablösty
Kallikles, der nun wirklich das Herz hat, zu leugnen, daß das^
Unrechttun schimpflich sei. — Mit sl aqa ötl riva Y.UY.idg rcoteiv
wird angedeutet, daß überhaupt die Absicht, anderen Menschen
Schaden zu tun , unsinnig sei — auch für den rein egoistisch
Bechnenden. Verständlicherweise : denn immer leidet unter der
Schlechtigkeit der einzelnen, die dadurch erzeugt wird, daß man
ihnen Schaden getan hat (wenn Unrecht und Schaden tun nichts
anderes ist als schlecht machen), die Gesamtheit — und also auch
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 231
der kurzsichtige Egoist, der sich das Unrechttun erlaubt hat. — Die
Zwischenbemerkung eav fiovov /li. a. a. v. t. e. t. f.i. y. evXaßrjriov
hat nur den Sinn : wir wollen flu- unsere Überlegung möglichst ein-
facbe Bedingungen annehmen, also den durch Nebenumstände ver-
wickelten Fall beiseite lassen , wo der Beurteiler zugleich Partei
wäre. — Die Anmerkung Apelts zu der Stelle lautet : „Hier gefällt
sich Sokr. in scherzhaft übermütigen Folgerungen seines siegreich
durchgeführten Standpunkts, deren Ironie namentlich in dem durch
die Parenthese bezeichneten Vorbehalt höchst ergötzlich hervortritt."
Ob man hier von „scherzhaftem Übermut" reden darf, und ob auch
nur das Wort „Ironie", das auch Nestle hier und in manchen ähn-
lichen Stellen braucht, ganz am Platze ist?
82 b ov Goi 6f.wXoy^O€i KaXXiy//.rjg, w KaXXi/,XEig, aXXa öia-
(piüv/joei iv artavTL T(p ßli^) wird trefflich erklärt durch die Bemer-
kungen, die Apelt, Plat. Aufs. S. 98 ff. gibt unter der Überschrift
„Die Taktik des platonischen Sokr., Spaltung und Verdopplung".
Ich gebe davon einen Auszug: „In die Seele eines edlen Jünglings
weiß dieser Solu*, den Stachel zu senken, der das Nachdenken und
damit die Vei'wunderung über die eigene bisherige Unklarheit weckt.
Er macht aus dem Einen gewissermaßen Zwei, läßt den neuen
Menschen seinen (des Sokr.) Bundesgenossen werden und über-
windet zusammen mit ihm den alten. 'So mache ich denn', sagt
Hippothales im Ly (06 b) zu Sokr., 'mit dir nun gemeinschaftliche
Sache, und wenn du etwas anderes weißt, so gehe mit mir zu Rate . .'
. . . Und ist das Ergebnis der Untersuchung nach des Sokr. Urteil
auch noch so unbefriedigend, so ist es für ihn doch schon reich-
licher Gewinn , sich mit dem Partner identifizieren zu können.
'Fast will mir scheinen,' sagt er Me 96 e, 'mein Menon, daß wir,
du und ich , nicht viel miteinander taugen und daß dich Gorgias,
wie mich Prodikos, noch nicht gehörig geschult hat.' Der Partner
muß für alles Bisherige auch selbst mit einstehen. Das ist eine
der unverbrüchlichsten Maximen seines Vei'fahrens, vgl. z. B. G 66 e,
68 c, Me 85 b [. . G 72 c, 74 b, 95 e, 17 c, Rp 608d, . . auch in
Dialogen, wo . . Sokr. . . nicht Gesprachsleiter ist, z. B. Po 78 e,
86c, So 33 e]^) ... In erhöhter Lebhaftigkeit, gewürzt mit ent-
sprechend verstärkter Ironie, tritt uns diese Taktik entgegen, wenn
es sich um Auseinandersetzung oder Kampf mit Rabulisten . .
handelt. Den Gegner mit sich in Widerspruch zu bringen ist das
erste, was er mit bekanntem Geschick unternimmt. Und ist er so
') Auch Phs 28 a c, was A. übersehen liat, gehört noch hierher.
232 Constantin Ritter.
weit, so hat er, ein guter Zauberer, ein sehr einfaches Mittel, um
den Einen als zwei leibhaftige Wesen erscheinen zu lassen. Es
ist die bloße Kunst des Ausdrucks, durch die er das zu erreichen
weiß," Es folgt zum Beleg unsere Stelle. Daran anschließend
fährt A. fort: „Indem er (Sokr.) sich dieser Wendung bedient und
nicht der herkömmlichen 'Du wü'st mit dir in Widerspruch bleiben',
nötigt er uns geradezu mit Gewalt die Vorstellung zweier getrennter
Wesen auf. Und daß der so gekennzeichnete Gegner selbst einiger-
maßen vor sich erschrecken muß wie vor dem 'anderen Gesichte',
versteht sich von selbst."
83 e geben unsere Ausgaben meist /coui) dcAauij ')^QU)nevog
BtQ^rjg enl zijv '^EXläöa saTQCxTevasv tj 6 naTY]Q avxov htl ^y.vS-ag
TJ — aXXa fLiVQia av zig tyot xoiavia Xeysiv, und Nestle erklärt:
„K. wollte eigentlich noch weitere Beispiele anführen mit y — ,
unterbricht sich dann aber mit der allgemeinen Behauptung ciDm —
läyeiv." Das ist wohl nicht ganz richtig aufgefaßt. Ich stimme
Campbell bei, der im 2. Band seiner Ausgabe der Rp S, 231 den
Gedankenstrich spart und den Satz unter den Beispielen seines
§ 50 „Deferred Apodosis, Digression and Resumption" aufführt.
Entsprechend gibt ihn Burnets Ausgabe.
84 b gibt N. gleich den andern Herausgebern gegen die Über-
lieferung der PL Hss. das Zitat in der durch die sonstige Über-
lieferung für Pindar gesicherten Form vo/uog . . diVMitZv ib ßiaio-
zaiov: wahrscheinlich mit Unrecht. Denn Wilamowitz II 94 ff.
hat wohl erwiesen, daß PI. N 890 a, wo er von Lehren arÖQWV aocfiov
spricht, Idionaiv -/ml Ttoit^xaiv (paoy.övicov eivai to di/Miozarov ort
iig av rixa ßiato/uEvog, sich auf denselben Spruch Pindars bezieht |
und daß er diesen „als Greis in der Fassung und sogar in der!
Ausdeutung, die er ihm in seinem G gegeben hatte, im Gedächtnis
hat und ihn so von neuem verwendet ohne nachzuschlagen", —
obgleich sich vielen Philologen, „denen eine Anführung aus demi
Gedächtnis für weit unverzeihlicher gilt als ein aus einem un-
gelesenen Buche entlehntes Zitat", die Haare darüber sträuben;
werden. Dann müßten wir also im G ßiaiiov zo öfnaiozazov lesen.!
Übrigens will Wil. feststellen, daß Polykrates dem PI. seinen Irr-
tum aufgestochen habe, findet es aber bezeichnend, wie wenig das
auf diesen Eindruck machte. „Als er die N. schrieb, hatte er den
ganzen Polykrates längst vergessen." Weiter ergibt sich ihm „die
unabweisbare Folgerung, daß Polykrates den G vor Augen hatte"
Und wenn für dessen „Soki-ates" das Jahi'zehnt 393 — 83 als mög-
lich anzunehmen ist , aber durch den darauf antwortenden Me die
I
j
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 233
untere Grenze hinaufgerückt wird , so sind diese chronologischen
Beziehungen wichtig, die an der Lesart unserer Stelle einen ge-
wissen Halt haben.
88 d roig v6f.iovg TiO-EwaL ircl t^ h'l heißt nicht : „im Blick
auf den Einen (Starken)", sondern: mit Unterdrückung (Apelt:
..zur Niederhaltung") des Einen.
90 b Tioiojv tf^iariiov ist als Ausruf (mit !), nicht als Frage (,•)
zu schreiben. Nützlich wäre es , auf die verwandten Stellen zu
verweisen -.
91 d ist , wie mir scheint , N. Textgestaltung und Erklärung
mißlungen. Man kann sich bei der handschriftlichen Überlieferung
und ihrer durch Apelt gegebenen Auslegung völlig beruhigen. Vgl.
auch Gomperz S. 271.
93 b ir Zdfiöov — tc aeidig drj Xiycor: hier hätte N. Burnet
folgen sollen, der aus F die Lesart aiöeg aufgenommen hat.
Zu 94 b iöoTteg Xi&ov Krjv . . /nr^ze xaiQovza ivi iJ.)iTe Xvnov(.iEvov
mag an den Rp 583 c e und Phi 32 e geschilderten f-ieaog ßlog er-
innert werden. Im Gegensatz zum xagaögiog, der af.ia tc) iad-ieiv
EA/.QIVSI, und überhaupt dem Vogel mit seinem kurzen Gedärm ist
es nach Ti 73 a der Vorzug des Menschen , daß seine avTsga in
viele Windungen gelegt sind, oVrwg ///} -ra/t; öie/.TteQCüGa 7j TQoq)rj
Taxi' ndXiv rgoq^ijg eiegag öeioi^ai xb aio^a avay/MLot xrA.
95 d : aus KaX?u/J.r^g l4yaQV£ig folgert W i 1 a m o w i t z : „ein
vornehmer Mann war er nicht , denn er wird nur mit seiner Ge-
meinde Acharnai bezeichnet, nicht mit dem Vatersnamen". Ist der
Schluß zwingend ? Jedenfalls redet ihn Sokr. 94 e an mit w yevvale,
und daß er nicht etwa, wie Kleon oder Anytos, ein Handwerk oder
Gewerbe betreibt, ist aus der Verachtung, die er nach 12c dem
^rjavonoiög entgegenbringt, klar zu ersehen. Daß wir es mit einer
historischen Person zu tun haben , w^ird wohl heute von niemand
mehr bezweifelt. Recht Verkehrtes hat da noch Räder (S. 117 f.)
vorgebracht: An 81 d anknüpfend, wo Sokr. ihm vorhält, er sei
^aoii^g Tov l4i^rjVaicov ötjf.iov, fragt er: „Wie ist das möglich, da
doch Kall. Anschauungen vertritt, die nichts weniger als volks-
tümlich sind?" Und fährt fort: „Es kommt daher, daß nach der
Anschauung Pl.s — die er in der Rp ausführlicher begründet —
die Tyrannis nicht der Gegensatz zur Demokratie, sondern die
natürliche Fortsetzung derselben ist." Und dazu gibt er die An-
merkung: „Infolgedessen müssen die Vermutungen, die in der
Person des Kallikles eine Maske entweder für Kritias (Crou) oder
für Charikles (Bergk) erblicken, verworfen werden. Diese Männer
234 Constantin Ritter.
gehörten nämlich beide zu 'den Dreißig', aber diese waren keine
'Tyrannen', sondern Oligarchen, und diese beiden Begriffe hält PI.,
wie aus der Rp ersichtlich ist, scharf auseinander. Ob Kall, eine
wirkliche Person oder nur als Seitenstück zu dem im Pr als Wirt
und Gönner der Sophisten auftretenden Kallias aufgestellt ist, läßt
sich nicht entscheiden." Wilamowitz wundert sich, daß ein sc
„wahnschaffener Einfall", „Kall, wäre gar nicht Kall." usw. nicht
zur Ruhe kommen wolle, und fragt: „Weshalb fürchtete sich PL,
den toten Charüdes einzuführen?" In meinen Untersuch, von 1888
(S. 136) habe ich geschi'ieben : „Ein unbedeutender Mensch wahr-
lich kann es nach der ganzen Art, wie er die Unterredung führt
nicht gewesen sein. PI. läßt uns von ihm wissen, er sei als Rednei
mehrfach vor dem Volk aufgetreten, er nennt uns die Namen dreiei
seiner Freunde . . und wenn ich recht sehe, deutet er an, daß dei
Mann von seiner politischen Tätigkeit Unglück und Verfolgung
erntete (19 b) ... Es ist übrigens merkwürdig, wie sehr das Bilc
des Kall, dem des angeblichen Isokrates im Eus ähnlich sieht unc
wie nahe die Ansichten beider sich berühren (worauf auch schor
andere aufmerksam gemacht haben)." Vgl. Hirzel Dialog I 176 A.
Huit Piaton I 314. Bruns Liter. Portr. S. 296: „Dieser unzweifel
haft historische Mann ist uns sonst unbekannt", S. 313: „Über
haupt erinnert Kall, an den Ungenannten" (im Eus.). Pohlens
S. 142 A. 1. — Die verschrobene Textauslegung von 81 d durcl
Räder wird wohl niemand irre führen, der sich die Stelle im Zu
sammenhang selber ansieht.
02 c ti TLg 7ieQLkXoiio T/~g Ttoirjaetog Ttdar^g z6 le {.leXog /.al tm
Qi&iuov v.ai x6 lAtTQOv, alko tl /y' loyoi yiyvovTai zb Xein6f.i6vov
N. verweist auf Gorg. Hei. 9, PI. Rp 398 d, 601b, Isoer. 9, 11 unc
spricht die Meinung aus, Gorgias sei wohl „gemeinsame Quelle füi
PI. und Isokrates". Aber müssen wir wirkHch nach einer gemein
Samen Quelle suchen, wenn ein so einfacher Gedanke von mehrerei
Schriftstellern ausgesprochen wird?
05 e sollte in die Anmerkungen über Epicharm aufgenommer
werden, daß er zu den Lieblingsdichtern Pl.s gehörte und Th 52 {
von Sokr. für den ersten aller Komiker erklärt wird (itZv uotTjcd)
Ol (XAQOL TT^g Tioitjaeujg e/Mregag, •A.iof.utjöiag y.h' ^ETclxoLQi.iog, xqo.
yojdiag ös "OintjQog).
08 a y£w/.tSTQiag yag ccf-ielelg. N.s Anmerkung dazu beginn
mit den Worten: „So schätzte z. B. Protagoras aus erkenntnis
theoretischen Gründen (fr. 7 Diels) ^ie Geometrie gering (Pr 18 e).
Wer darauf hinweist, daß der Kreis die Tangente nicht bloß aj
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 235
äinem einzigen Punkte berührt", will damit wohl auf einen Mangel
mserer Darstellungsmittel aufmerksam machen; und der Pr 18 e
i^on Protagoras gegen andere Sophisten ausgesprochene Tadel, daß
5ie XcüßwvTai TOig veovg, XoyiOf.iotg re /mI doTQOvof.iiav v.ai yeio-
uetQiav -/.al fuovoi/.rjv ÖLÖdo'KOtTeg, ist damit schwerlich so zu ver-
jnüpfen, wie N. es tut.
08 b T« Tiqöoiyev exelra (nämlich 80 c daß die Rhetorik nicht
ingewendet werden dürfe iul xb dnoXoyeiod^aL ctcsq rr^g ddiy.iag
':rjg ahtov ]j yovicov )j tzaigiüv ij naidiov )] jiaxQiöog dör/.ovorjg,
sondern umgekehrt eher zur Anklage gegen die Liebsten und Nächst-
jtehenden, damit der Schuldige durch Bestrafung gebessert werde)
iVfAßaivei .cävia, . . oii xaTt^yoQi]TiOv ei'i] /.al avTov '/.ai vtog Aal
HaiQov, idp zi döiiij, '/al ttj QrTOQi'/Sj inl zovio %Qy,oitov scheint
m Widerspruch zu stehen mit Eu 4 b e, wo Sokr. den Seher fragt,
)b er sich kein Gewissen daraus mache, den eigenen Vater q^ötov
mzuklagen. Der Widerspruch wird sich aber ausgleichen lassen,
jewiß, wenn kein anderes Mittel fruchtet, ist auch die gerichtliche
.\jiklage erlaubt, nach Umständen geboten. Der höchste Gesichts-
Dunkt ist immer das Wohl der Nebenmenschen. Wenn sie schlecht
und, ergibt sich als Zweck ihre Besserung. Und für diesen Zweck
sind die wirksamsten Mittel zu wählen. Tatsächlich hat Sokr. seine
iunst der Rede , die er freilich nicht als QrjTOQr/.ij bezeichnen
vürde, sondern als diaXe/iTiKi dieser entgegenstellt, zum ■/,aTt]yoQElv
)enutzt, allerdings nicht vor dem Gericht erlöster fremder Richter,
ondern vor dem eigenen Gewissen, vor dem er jedermann zwang,
ich Rechenschaft zu geben. Vgl. Ap 30de, 41 e und oben die
^Bemerkungen Apelts zu 82 b.
Zu 09 a /.aiix^iai /.al deÖETai atör^golg •/al ocdaf-iavtivoig
.oyoLg sollte immerhin die oben S. 214 aus Diodor und Plutarch
fcngeführte Stelle angezogen werden.
12a loytLetai oii ov'/ usw. scheint mir falsch erklärt zu sein.
.ch übersetze: „Er sagt sich nun, es wäre eine verkehrte Meinung
aettiwörtHch daß nicht folgendes gilt): zwar der mit schweren, un-
;,;;jaeilbaren Krankheiten des Leibes Behaftete , der etwa vom Tode
les Ertrinkens gerettet wurde, sei zu bedauern, weü er nicht hat
terben dürfen , und verdanke ihm keine Wohltat ; dagegen wenn
liner an der Seele, die viel kostbarer als der Leib ist, viele un-
leilbare Krankheiten hat, so habe für den das Leben doch einen
3Jf ^ert und ihm erweise er eine Wohltat, falls er ihm heraushelfe
lus dem Meer oder aus einem peinlichen Prozeß oder aus was es
Qiiner wäre."
2;36 Constantin Ritter.
20 b ist ot'X eyy^ioQeiv gewiß ebenso als impersonale zu fassen
wie in c svextogei.
Bei 21 d oIiau (.iei^ ollycov ^ü^rjvaiwv, 'iva ,«/} um) inovog
STtixsigeh' tfi ibg ah]d^cdg 7toXiTL/.fi %iyvr] aal TigccTzeiv zä tco?uzixc
fiovog TiZv vlv fragt Pohlenz (S. 159): „Kann er das wirklich sagen
wo er nie unmittelbaren Einfluß auf die Gesamtheit gesucht hat'
Kann er sich wirklich in Parallele mit Perikles stellen, wie wir ej
doch nach dem Dialoge tun müssen, wie es besonders die Schei
duüg der Künste verlangt? Ich glaube, daß hier tatsächlich ein«
Unebenheit vorliegt. Aber deutlich ist auch , daß sie PI. nichi
vermeiden konnte. Das System der Künste verlangt, daß ein(
Staatskunst, die unmittelbar ins Leben des Volks eingreift, ar
der Spitze steht. Aber die hatte in Wirklichkeit Sokr., dem PI
sie in den Mund legt, nicht geübt." Das verstehe ich nicht
Sokr. ist der Erzieher, und zwar der einzige Erzieher seines Volks
gewesen. Und die wichtigste Aufgabe jedes Staatsmanns ist di«
Erziehung des Volks zu sittlicher Lebensführung. Recht fruchtbai
könnte die Kunst der Erziehung freilich nur im wohl geordneter
Staat geübt werden, wo Philosophen, wie Sokr. oder Piaton, dii
Zügel der Regierung in der Hand hätten. Die Parallele zwischei
Sokr. und Perikles kommt auch Sy 15 e vor. j
2-4 a. Bei der Zweiteilung der oiyiOVf.ievij in Asien und Europl
dürfte man den Schüler erinnern an Sali. Jug. 17, 3 „in division
orbis terrae plerique in parte tertia Africam posuere, pauci tantui
modo Asiam et Europam esse, sed Africam in Europa".
Zum Schluß möchte ich noch einige Parallelen nachweiser
die vielleicht N. bei einer Neuauflage gern verwendet. Zu 94 e finde
sich eine solche in Hp I 93 a, zu der feierlichen Erklärung vo
95 d am Schluß des Phi, zu 00 a habe ich mir an den Rand notiei
Pr 57 ab (19b, La 84 e), zu 00b Rp 350 e, zu 02 b Rp 568 fl
zu 04 d N 862b (Phs 71de, Po Old), zu 06c Ti 54b, zu 07
Ap 39 a, zu 08a N 757 b und d, zu 10a Rp 365 d (Ap 36b
zu 12 a Cr 47e, zu 13 c Mx 35 d, zu 14 b La 85 b. Den i
09 a und 24 a nachgewiesenen Berührungen mit anderen Schrif
stellern sei die Erinnerung beigefügt , daß einige Sätze des Sok
im G. merkwürdig nahe mit Sprüchen Jesu verwandt sind. M
wenigstens fällt bei 04 e immer ein: „Was hülfe es den Mensch©
so er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an sein
Seele?" Und bei 27c d: „Wer dich schlägt auf den rechten Backei
dem biete den linken auch dar." Anderseits wie ich im Wühel
Meister das Wort las : „Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabriziere
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 237
ivenn mein eigenes Inneres voller Schlacken? und was, ein Land-
gut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?"
dang in mir nach -/.aicoi eycoye oif-iai -/.ai xijv Xigav uoc xqeittov
urai diacffovHv ktX. rj . . ifus ijuavzqj aavi.i(fcovov eivai aus G 82 b.
Menon (= Me): behandelt von Lutoslawski S. 207 — 10, Gomperz
3. 296—305, Natorp S. 28—41, Räder S. 130—37, Ritter S. 476
3is 484, Windelband-Bonhöffer S. 154 f., Pohlenz S. 167—193, 408,
/. Arnim S. 126 f., Wilamowitz S. 272 — 282, II 104, 144—53,
Prächter S. 262—65, M. Ho£fmann Ztschr. f. G.Ws. 1904 S. 609—14.
Die Bedeutung des Me für Pl.s Logik konnte Lutoslawski
licht verborgen bleiben. „Theorien von der größten Wichtigkeit,"
'■'jchreibt er, „als logische Entdeckungen anzuschlagen, werden zu-
'■jjrst im Me ausgesprochen . . . Logische Übung, in den dialek-
tischen Schriften so oft empfohlen, ist hier zuerst eingeführt als
*i3in methodisches Mittel des Fortschritts auf dem Weg der Wahr-
"^iieit (75 a). Als Zweck logischer Definition wird die Bestimmung
ies Wesens (72 a ovaia) der Dinge angegeben , das was Einheit
Dringt in die Mannigfaltigkeit der äußeren Erscheinungen (72 c).
'"'Diese Einheit heißt eiöog: noch nicht in dem Sinn der späteren
Diatonischen Idee, doch schon als ein bestimmter logischer Terminus,
'ä'm Sinn der Gattung (72 c). Die Einheit der Gattung ist das wahre
'^Wesen der darin befaßten Dinge (100 b). — Nachdem PI. so das
äSiel der Untersuchung festgestellt hat , gibt er weiterhin einige
clegeln über die Methode. Hier erscheinen zum erstenmal die Vor-
•-chriften der 'Dialektik'." ... PI. verlangt in ihrem Namen, man
nüsse die Erörterung auf die Grundlage zugestandener Prämissen
%tellen (75 d). — Als Methode zur Sicherstellung zweifelhafter An-
1™ lahmen empfiehlt PI. die Prüfung der Folgerungen, die aus jeder
»•] jrrundannahme sich ergeben. Dieses Verfahren beschreibt er als
i^^iypothetische Beweisführung (86 e) und überträgt es von der geo-
iifnetrischen auf die philosophische Untersuchung. Er wendet es mit
2" Erfolg an auf das Problem, das er im Pr noch nicht zu lösen ver-
i-nochte, und findet, daß Tugend, solange sie nicht gelehrt, sondern
5^'Dloß in Übereinstimmung mit der allgemeinen Tradition geübt wird,
»'"las offenbar nicht ist, als was sie in Ch, La und Pr galt, nämlich
'^ ime Art Wissen. — Ein anderes Zeichen rege gewordenen logischen
»'/[nteresses ist die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem parti-
i^-^iular und dem allgemein bejahenden Urteil (73 e, 89 a)" . . . Ferner
- ,Die Lehre von angeborenen Vorstellungen wii*d nicht allein mit
- iberraschender Kühnheit eingeführt, sondern durch ihre Zurück-
238 Constantin Ritter.
führung auf das metaphysische Axiom der Einheit der Natur (81 d)
auf die breiteste Grundlage gestellt. — Die metaphysische Über-
zeugung von apriorischer Erkenntnis, die PI. im Me verkündet, ist
ein neues Prinzip, in dessen Licht die alte Ironie und das Nicht-
wissen des Sokr. verschwindet. Noch bequemt sich der Verfasser
dazu, einen experimentellen Induktionsbeweis für seine Annahme
zu geben mit der Einleitung, daß ein solcher nicht leicht sei (82 a).
Die Wahl des Experiments und die Art seiner Ausführung verrät
einen viel höheren Grad pädagogischer Kunst als in den kleinen
Dialogen. — Alle Zweifel an der Möglichkeit und Wirklichkeit un-
trüglichen Wissens sind beseitigt-, der platonische Sokr. behauptet
vollkommen sicher zu sein über die Tatsächlichkeit eines Wissens,
das hoch über richtige Mutmaßung sich erhebt (98 b) und das in
jedermann erweckt werden kann durch geschicktes Fragen (86 a).
Der Unterschied zwischen richtiger Meinung imd wissenschaftlicher
Erkenntnis besteht in der Verknüpfung und Kausalbeziehung, die
der wahren Erkenntnis eigentümlich ist (98 a). Wissen ist darum
von höherem Wert als bloßes Meinen, selbst wenn dieses richtig
ist. Mit diesem neuen Rüstzeug versehen schreitet PI. zu seiner
Anwendung auf dem Feld der Ethik. Dabei fühi't er die Un-
sterblichkeit der Seele ein zuerst als wahre und schöne Erzählung
von Priestern und Dichtern, dann bestätigt er ihre Geltung durch
Reflexion über die Natur des menschlichen Denkens (86 b)."
Wirklich, der Fortschritt in den wichtigsten Punkten ist hier
sehr gut und klar bezeichnet. Ahnlich, nur kürzer, bei Bonhöffer.
Er schätzt auch die Form der Schrift hoch ein, die er als „einen
der reizvollsten und am leichtesten verständlichen Dialoge Pl.s"
bezeichnet^), während Gomperz urteilt, die Kunstform sei durch
den Stoffreichtum geschädigt worden.
Über Inhalt und Zweck der Schrift sagt Gomperz u. a. ff. :
„Der Me gilt uns als ein biographisches Denkmal von hohem Range.
Wir sitzen hier zum ersten Male gleichsam zu Pl.s Füßen. Denn
der Lehrberuf hat dem Dialog seinen unverkennbaren Stempel auf-
') Auch Natorp S. 32 spricht von der „außerordentlich feinen und
durchdachten Anlage des Dialogs", hingegen urteilt wieder P oh lenz
(S. 190), daß der Me, mit den früheren Dialogen verglichen, „den Eindruck
geringerer Geschlossenheit und Einheitlichkeit macht". Auch darüber,
was den „Kern- und Quellpunkt des Me ausmache" , ist Meinungs-
verschiedenheit. Nach Gomperz (S. 303): „die Ehrenrettung der athe-
nischen Staatsmänner", nach Pohlenz (S. 190) eher die Lehre von der
Wiedererinnerung. Auch Räder (S. 134 A. 3) wendet sich hier gegen
Gomperz.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 239
gedrückt. Fragen nach der Methode beschäftigen den Verfasser . . .
Die Lehrtätigkeit hat seinen Blick erweitert . . Er hat bereits den
propädeutischen Wert des mathematischen Unterrichts erprobt. Er
hat mit Staunen wahrgenommen, wie das deduktive Verfahren den
Jünger zu Ergebnissen führt, die er anscheinend aus sich selbst
herausspinnt . . Auch sonst hat ihn die didaktische Praxis vor
neue Probleme gestellt. Sie hat ihn nach der Möglichkeit des
Lernens und Lehrens überhaupt fragen lassen. So ward er zur
Erkenntnistheorie geführt" . . . (302): „Unser Gespräch bildet einen
Knotenpunkt platonischer Schriftstellerei. In ihm verschlingen sich
Fäden, die aus zwei verschiedenen Gesprächen stammen", nämlich
einerseits aus dem Pr, der die Lehrbarkeit der Tugend gelten zu
lassen Anstand nimmt im Hinblick auf die untüchtigen Söhne
tüchtiger Väter, anderseits aus dem G mit seinem Verdammungs-
urteil über die 4 berühmten athenischen Staatsmänner. Daß die
Anstände des Pr durch den Me zum Teil wenigstens erledigt, das
allzu schroffe Urteil des G durch jenen geflissentlich berichtigt
werde, darüber kann kein Zweifel sein. „Auch scheint es nicht
unmöglich, die Verschiedenheit der Stimmung und des Verhältnisses
zur praktischen Politik zu erklären, die den Me vom G scheidet . . .
Im G spricht der durch einen Angx'iff auf seinen Meister" — ge-
meint ist die Schmähschrift des Polykrates — „tief gereizte Jünger
und zugleich der noch völlig freie Schriftsteller, der eine Schul-
gründung erst ins Auge gefaßt oder doch auszuführen soeben erst
begonnen hat ... — verspottet ob seines unerhörten , des Spröß-
lings edler Ahnen so wenig würdig scheinenden Beginnens . . •, und
gegen all den Hohn und all die Anklagen , der Freunde und Ver-
wandten wohl noch mehr als der Gegner, sich mit unbeugsamem
Trotze wappnend. Ein paar Jahre sind dahingegangen. Die junge
Schule gedeiht, wenngleich unter Kämpfen. Zu des Meisters Füßen
drängen sich hochstrebende Jünglinge, welche hier die Waffen für
den politischen Parteistreit zu erwerben trachten. Die Interessen
der neuen Lehranstalt, die Anforderungen, denen sie genügen soll,
die Fehden , die sie zu bestehen hat . knüpfen üiren Leiter mit
engeren Banden an das Leben . . Sein Selbstgefühl ist zugleich
sicherer und maßvoller geworden und gewinnt daher minder heftigen
Ausdruck . ."
In ähnlichem Sinne äußert sich Wilamowitz: (28-1) „Die
Schule mag schon in ihren hoffnungsvollen Anfängen gestanden
haben, als der Me erschien." (272) „Man darf ihn als das Pro-
gramm der Akademie bezeichnen." (279) „Er lehrt uns zugleich
240 Constantin Ritter.
das Programm kennen, das PI. seinem Leben nun^estellt hatte" . . .
„Sein Jugendtraum ist nicht aufgegeben; in die Heimat zurück-
kehrend, ist er auch zu ihm zurückgekehrt. Freihch wird er
mindestens zunächst Politiker in andei'em Sinne sein, als er einst
dachte . . Er bildet Staatsmänner, und — er wird den Staat
schreiben, wird sagen wie der Staat sein soll" . . , (274) „PI. will
Lehrer sein. Wie könnte er das , wenn es nicht ein lehrbares
wirkliches Wissen gibt? . . Er besitzt nicht nur dieses Wissen,
sondern, was wichtiger ist, er weLß den Weg zu ihm. Daraus er-
wächst ihm die Aufgabe, . . diesen Weg zu weisen. Dem dienen
zahlreiche methodische Winke und Proben . . An einem Sklaven
des Menon . . erbringt Sokr. den Beweis, daß der menschliche Ver-
stand ganz aus sich heraus eine begriffliche Wahrheit zu finden
imstande ist . . . Geometrie war es, an der PI. die neue Kunst der
Dialektik gelernt hatte, auch die hypothetische, deduktive Methode ;
Mathematik sollte ein Hauptgegenstand seiner Lehre werden. Hier
gibt er eine Probe und stellt den Nutzen der Übung in helles
Licht. Lehrbarkeit des Wissens ist durch die Tat bewiesen: der
es bewies , muß auch der gesuchte Lehrer sein. (Das darf nur
nicht ausgesprochen werden, darum wird nicht weiter gesucht.)"
(278) „Wenn wirkliche Wissenschaft möglich ist, die Fähigkeit, mit
den eingeborenen Verstandeskräften zur Wahrheit durchzudringen,
dem Menschen innewohnt, so muß es auch ein politisches Wissen
geben , muß also auch eine Erziehung zum politischen Handeln
möglich sein. Wer die schlummernde Kraft der Seele, die sie aus
dem Reiche des Ewigen mitgebracht hat, zu wecken versteht, der
wird auch der rechte Politiker sein können, der Politiker bildet" . . .
(281) „Er fühlt seine Kraft und ist froher Zuversicht . . In den
Wanderjahren hat er die Gewißheit erlangt, daß es Wissenschaft
gibt. Sie ist; sie ist lehrbar; er will sie lehren . . Das ist der
Sinn des Ganzen." PI. hat auch die Schmähschrift des Polykrates
im Auge. „Ihm konnte ja nicht entgehen, daß Polykr. seinen
eigenen G angegriffen hatte, und es ist gerade die Kritik der großen
Staatsmänner Athens, auf die er zurückkommt. Ihre Maßlosigkeit . .
mußte gemildert werden, wenn die Athener zu PI. als Erzieher . .
zur politischen Tugend Vertrauen fassen sollten. Und er konnte
dem verletzenden Urteil den Stachel nehmen, weil er selbst ge-
rechter urteilen gelernt hatte." . . . „Damit ist gesagt, wie groß
der Wert des Me für Pl.s Biographen ist, aber auch, daß sein Ver-
ständnis daran hängt, daß man ihm seine richtige Stelle in Pl.s
Leben anweist. Auch seine Schätzung als Kunstwerk steigt dann . .
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 241
Der Me glänzt nicht durch seinen künstlerischen Schmuck , das
starke Pathos des G fehlt ihm, so daß er weder auf unsere Phantasie
noch auf unser Herz wirkt, wenigstens nur über den Verstand . .
(284) So ist die Kunst hier schlichter, aber nicht geringer als in
den folgenden stärker gewürzten Schriften , dem Humor des Cra,
dem tollen Spiele des Eus, vollends den vielstimmigen Phn, Sy, Rp."
Auch Pohlenz glaubt deutlich zu sehen, daß der Me
nicht bloß den Pr voraussetzt und an seine Probleme anknüpft
sondern auch den G, und daß er diesen berichtigen will (S. 168,
175 A.). Das ist überhaupt die durchaus herrschende wohl-
begründete Meinung, der z. B. auch Räder ^) huldigt. Dagegen
Natorp stellt den Me zwischen Ch und G. Seine Erörterung, sagt
er^S. 29, „lenkt genau in das Dilemma zurück, bei dem der Pr
uns stehen ließ . . Auf die Verhandlungen des letzteren Dialogs
wird dabei so bestimmt zurückverwiesen, daß es schier zu ver-
wundern ist, wie man hier eine Beziehung auf den G, nämlich eine
halbe Zurücknahme des dort gegen die athenischen Staatslenker
Gesagten, nur je hat suchen können".
Die Auffassung, die N. des weiteren entwickelt, ist, wie beim
G, in vielen Punkten eigenartig und hat außerhalb der eigentlichen
Marburger Schule wohl nirgends Billigung gefunden. Es erforderte
*) Räder erklärt es (S. 135) für „sehr wahrscheinlich, daß der Me
nach dem G geschrieben ist" und macht dazu die Anmerkung: „Die
Priorität des Me ist u. a. von Natorp, Gercke (in Sauppes Ausg. des G,
S. 39 ff.) und Lutoslawski (S. 207 ff.) behauptet worden, aber ihre Beweis-
gründe können die oben angestellten Betrachtungen nicht entkräften . ."
(130) „Schon der Umstand, daß Menon als Schüler des Gorgias eingeführt
wird, während der Meister nicht mehr da ist, weshalb Sokr. bemerkt,
daß kein Grund vorhanden ist, sich mit ihm zu beschäftigen (71 d), deutet
an, daß Gorgias schon einmal abgetan ist (vgl. Wilamowitz, Philol..
Unters. I S. 219)." Immerhin macht Räder (S. 131 A. 1) auch dq,rauf auf-
merksam, man könnte in dem zwischen G 74 d — e und Me 77 b bestehenden
Verhältnis „einen Beweis für die Priorität des Me vor dem G finden." —
Schließlich kann man A p e 1 1 (Einl. S. 10 f.) zugeben , daß ein ganz
zwingender Beweis für die Priorität des G nicht erbracht ist. Ich
persönlich halte freilich das Gewicht der dafür zeugenden Umstände für
groß genug, um keinen ernstlichen Zweifel mehr aufkommen zu lassen.
Mit Billigung schreibe ich die Worte Räders nach (S. 135 f. A.): Man
„darf nicht mit Gomperz (S. 571) aus dem Grunde den Me später ansetzen
als den Eu , weil 74 a und 88 a die Frömmigkeit unter den Tugenden
nicht erscheint; an diesen Stellen ist nämlich nicht von den Kardinal-
tugenden die Rede . ., vielmehr könnte 78 d, wo die Frömmigkeit neben
der Gerechtigkeit erscheint, auf die Priorität des Me schließen lassen.
Die Frage hat aber keine wesentliche Bedeutvmg".
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 16
242 Constantin Ritter.
zu viel Raum, wollte ich sie hier ganz deutlich machen. Ich werde
es in anderem Zusammenhang später versuchen. Einstweilen seien
aber doch wieder einige der bedeutsamsten Sätze herausgehoben;
Eine (Kap. 14 — 21) in die scheinbare Hauptuntersuchung ein-
geschobene Episode gibt Antwort auf die „tatsächlich für den Gang
der Untersuchung von Anfang bis zuletzt bestimmende Frage" nach
der Lehrbarkeit der Tugend. „Diese Antwort aber bedeutet nichts
Geringeres als die für PI. endgültige, nie wieder von ihm verlassene
Entscheidung dieser den ganzen bisherigen Problemkreis zusammen-
haltenden Frage." In der „zentralen Lehre des Me: vom Wissen
als Wiedererinnern, d. h. vom Ursprung der Erkenntnis aus dem
Quell des Selbstbewußtseins, und zwar ausdrücklich einem über-
zeitlichen Grunde des Bewußtseins . . kann man . . nur das vorläufig
abschließende Ergebnis" der vom Pr bis zum Me „fortschreitenden
Vertiefung des Erkenntnisbegriflfs sehen" . . . „Selbsterkenntnis ist
nun nicht mehr getrennt von der Erkenntnis des Objekts, denn es
gibt kein wahres Objekt mehr, das nicht konstruiert würde im
Begriff der Erkenntnis, gemäß dem eigenen Gesetz des Erkennens.
Erkenntnis, reine Erkenntnis, ist der selbstei'zeugte Begriff, in
welchem allein der Gegenstand uns gewiß wird. Das eigene Gesetz
des Bewußtseins erzeugt erst das Objekt, nämlich als Objekt des
Bewußtseins." (33) „Unfraglich ist es . . die Ideenlehre . ., die in
dem berühmten Satze sich birgt: daß das 'Lernen', der Gewinn
der Erkenntnis, nur ein Schöpfen 'aus', ja 'in' uns selbst sei. Es
ist die große Entdeckung, daß Einsicht, Begriff, Wissenschaft nur
im Denken, aus den eigenen Mitteln des Denkens sich zu gestalten
vermag, nicht lernbar ist im gewöhnlich gemeinten Sinne einer
Übertragung von außen her in die Seele." Übrigens liegt nach N.s
Meinung in der psychologischen Wendung, die Pl.s Untersuchungen
über die Erkenntnis im Me nehmen, „eine nicht unbedenkliche Ab-
biegung von der geraden Bahn der Entwicklung des Kerngedankens
der 'Idee'". Und sie erklärt sich daraus, daß „hierbei schon nicht
mehr das reine Interesse theoretischer Wissenschaft leitend war.
Wir sehen PI. hier zuerst in einer ganz neuen Rolle auftreten,
der des orphischen Predigers und Propheten; so wieder im G und
weiterhin , am stärksten im Phn. Ein tiefes religiöses Pathos hat
von ihm Besitz genommen , in dem zugleich sein Dichtergemüt
sich mehr befriedigt finden mochte , als in ausschließlich strenger
Begriffsentwicklung. "
Ob wirklich die Rolle des Predigers und Propheten hier zum
erstenmal von PI. übernommen wird? Wenn der G dem Me
Ber. über d. ib d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 243
vorausging, dann jedenfalls nicht. Mir ist auch zweifelhaft, ob die
Propheteni'olle im Me so ernst zu nehmen ist, wie sie nicht bloß
N., sondern auch andere (z. B. Pohlenz S. 191 und Wilamowitz I
S. 276) genommen haben. Ich meine, es sei ein rhetorisches
Mittel, das PI. den Sokr. anwenden läßt, um den sprödgewordenen
Mitunterredner zur Fortsetzung der Untersiichung wüllig zu machen.
Menon hat zuerst mit seiner eigenen Weisheit gar nicht gekargt,
bis er sich zu seinem Ärger in offenbare Widersprüche verwickelt
sah. Da beschwert er sich nun über die bekannte sokratische Art
der Gesprächsführung , vor der er schon von anderen gewarnt
worden sei. Und wie Sokr. nicht abläßt , zieht er sich als ge-
lehriger Sophistenschüler auf den eristischen Satz zurück: es hat
überhaupt keinen Sinn, nach einer objektiven Wahrheit zu suchen.
Sokr. kann und will nicht behaupten, daß er ein Kriterium der-
selben und sichere Bedingungen für ihr Zustandekommen anzugeben
wisse. Doch wenn man Autoritäten gelten lassen will — wie ja
auch Menon offenbar fremder Autorität folgt — , so dürfte der Satz
des Pindar und anderer Weisen Beachtung verdienen, daß unsere
Seele unsterblich sei. Lassen wir das, bloß als Hypothesis, gelten,
dann jedenfalls wäre gegen die Möglichkeit eines in der Seele
schlummernden und wieder zu erweckenden Wissens nichts ein-
zuwenden. Auch Natorp schreibt (S. 35), man möchte „faßt schließen,
daß die ganze mythisch-mystische Einkleidung der Wiederinnerungs-
lehre . . preisgegeben werde, d. h. nur als dichterische Zutat wolle
angesehen sein"; und Pohlenz betont (S. 174), daß die Anamnesis-
lehre 86 b nur als Hypothese betrachtet werde — freilich, fügt er
nachher (S. 192) bei, als eine Hypothese, für die er „wissenschaft-
lichen Charakter in Anspruch nehme". Ich halte zur Beleuchtung
der ganzen Theorie namentlich den Satz für wichtig, über den die
meisten flüchtig wegzugehen pflegen, 81c/d cire rijg ffvaecog aftdarjg
Gvyyevovg ovarjg . . ovöiv '/.coXvei tv [uovov araf-ivriod^lvTa . . xak'ka
Tcävxa avTOv avevQelv und frage : (mit den Worten meines Piaton I,
572 f.) „Warum soU man an eins zuerst erinnert werden ? Es wird
doch mindestens ebenso gut sein , ein mindestens ebenso fester
Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn man jenes Eine der Er-
fahrung, der Selbstbeobachtung entnimmt? Die 'Verwandtschaft
der ganzen Natur', das ist doch wohl nichts anderes als die stetige
strenge Bedingtheit aller Einzelheiten durcheinander, die durch-
gehende kausale Verknüpfung, die den Suchenden von einem Punkte
mit Sicherheit" — an Hand des aniag XoyiOfxog — „zum anderen
fortleitet. — Auch daran will ich . . erinnern, daß . ., nachdem die
16*
244 Oonstantin Ritter.
Erklärung des geometrischen Erkennens als Wiedererinnerung an
vorzeitliches Wissen dem Menon plausibel gemacht ist, Sokr. die
Bemerkung anhängt (86 b): 'in den übrigen Punkten möchte ich für
diesen Beweis nicht gerade einstehen: nur dafür werde ich immer
mit allem Nachdruck eintreten, so gut ich vermag, in Wort und
Tat, daß der Glaube, man dürfe suchen was man nicht weiß, uns
besser macht und mannhafter und tüchtiger'."
Auch Pf leider er mag hier das Wort erhalten. Mit einem
•^hebe dich weg von mir, Satan', sagt er (S. 268), schließt der G.
Aber unser PL hat einen harten Kopf, und wo er seiner Sache
sicher ist, büdet der philosophisch stolze Trotz einen Hauptzug
seines Wesens. Darum noch ein allerletztes Woi-t an die Gegner,
die es nicht ihrerseits haben sollen. Denn ganz unverkennbar setzt
hier der Me ein und greift noch einmal zurück auf . . den Pr, um
zu erklären : Und ich hatte und habe eben doch Recht ; tatsächlich
gibt es keinen Lehrer der Tugend . . Denn die Sophisten (und ihre
fast noch schlimmeren Nachfolger, die Rhetoren) taugen nichts, das
wissen wir schon lange. Aber, und das ist das interessante ver-
hältnismäßig Neue . ., ebensosehr im Unrecht oder fast noch mehr
sind ihre gedankenlosen Gegner, z. B. Anytus, der Ankläger des
angeblichen Sophisten Sokr., ähnlich Kallikles im G, der sich über
die Sophistik gleichfalls nicht geringschätzig genug aussprechen
kann . . . Die Menge . . vom Schlag des Anytus will . . von gar
keiner ausdrücklichen Unterweisung oder Erziehung etwas wissen . . ,
Der alte Schlendrian der zufälligen Überlieferung von Geschlecht
zu Geschlecht . . soll . . wiederhergestellt werden, und die Staats-
männer mögen, auch in Zukunft wild wachsen . ." So haben wir
hier, meint P., nach der Enttäuschung, die PI. durchzukosten
hatte, weil ein von ihm mit zuversichtlichen Erwartungen kühn ent-
worfener, als 'Phase ^' aus der Rp durch scharfsinnige Analyse
auszuscheidender Plan zur Neugestaltung des ganzen Staatswesens
nach den Winken des Sokr. nur kühle Ablehnung und Spott erfuhr,
(S. 270) „des Staatsreformators abschließendes Ceterum censeo :
Noch einmal habe ich euch aufs genaueste gezeigt, daß es mit dem
bisherigen Wesen nichts ist, am allex'wenigsten mit dem Laufen-
lassen von allem, wie es Gott oder vielmehr dem Zufall gefällt,
wenig allerdings auch mit den höchst unvollkommenen Anläufen
der Sophisten zu etwas Besserem. Mich aber, der euch das Beste,
der euch eine durchgreifende Reform anbietet und der als treuer,
aber auch strenger Arzt die Schwerkranken retten will , habt ihr
nun ebenfalls abgewiesen. Was bleibt mir da, als den Erdenstaub
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 245
von den Füßen zu schütteln und mich in eine reinere Sphäre
emporzuschwingen , die mir wie die Erinnerung aus einer andern
höheren Welt aufgeht?" — Zurückschauend meint P. : „Ap, Cr,
Eu, G und Me haben sich uns . . als die fünf schönen, klar und
greifbar zusammenhängenden Schriften erwiesen, welche den Über-
gang PI. 8 von seiner ersten Periode in die zweite vermitteln. Die
drei vorderen gehören ganz noch jener an , die beiden letzteren
überschreiten mit ihrem Aufblitzen von eschatologischem und ideo-
logischem Gehalt bereits die Schwelle der zweiten. Alle mit-
einander aber zeigen den schmerzlichsauren Abschied des größten
Soki'atikers von seiner ersten heißen Liebe , nämlich der Staats-
reform der Rep. A."
Ferner soll Kühnemann gehört werden. Er schreibt (Grund-
lehren S. 226): „Die Klarheit des Bewußtseins ist das Ziel des
Sokr. . . Hier kommt zum Ausdruck, daß die entwickelte Wissen-
schaft zugleich aufzufassen wäre als entwickeltes menschliches Be-
wußtsein." Das wird freilich ganz in Natorps Sinn zu verstehen sein.
Hoffmann schließt mit den Sätzen: „Der Me ist nach Form
und Inhalt zum Lesen in der Schule sehr geeignet. Im Anfang
bietet er logische Übung im Definieren, in der Mitte das heuristische
Verfahren an einer leichten mathematischen Aufgabe , wobei die
Mathematik als Vorschule philosophischen Denkens erscheint, dann
in der Verhandlung mit Anytos historische Betrachtung der athe-
nischen Staatsmänner und der Stellung des Sokr. zu seinen Mit-
bürgern , endlich philosophische Anregung , sich über den Unter-
schied von Meinen und Wissen klar zu werden."
Wenig befriedigt bin ich von A. v. Kleemanus Aufsatz über
den Me im A. f. G. d. Ph. 1907 S. 50—75. Gut ist darin die kurz
gedrängte Inhaltsangabe S. 55 — 7. Richtig finde ich auch das gegen
Natorp S, 51 ff. Vorgebrachte : Die beiden von N. für unvereinbar
gehaltenen Thesen des Pr: — 1. Tugend ist Erkenntnis, 2. Tugend
ist nicht lehrbar — stehen bloß in scheinbarem Gegensatz , denn
Protag. und Sokr. verstehen unter Tugend nicht dasselbe. „Sokr.
glaubt nicht, wie Protag., daß die Tugend in der Erwerbung des
Wissensstoffes . . bestehe, sondern auf der Fähigkeit, begrifflich
zu denken und zu erkennen, gegründet sei" . . . „Schon im Pr be-
ruht die wahre Tugend auf der sokratischen Erkenntnis und alles
andere ist nur Scheintugend . . Dies ist . . allerdings nur zwischen
den Zeilen zu lesen , noch nicht mit rückhaltloser Offenheit aus-
gesprochen. Das besorgt zur Genüge der G. In diesem Dialog
verwirft PL alles, was nicht auf die . . cpQOvr^aig gegründet ist.
246 Constantin Eitter.
Es ist eine antike 'Götzendämmerung' . . . Der Me aber revidiert
diese Ansicht." „Es konnte PI. sicher selbst auf die Dauer nicht
befriedigen , prinzipiell die letzten und wüstesten Demagogen mit
den großen Vaterlandsbefreiern Miltiades und Themistokles auf die-
selbe Stufe zu stellen." Er findet einen Ausweg „in der prinzipiellen
Anerkennung der dö^a oq&i]". Aber was dann über die im Me
angeblich zugrunde liegende 'Ideenlehre' gesagt wird, ist mir zum
guten Teil unverständlich. Es kommt mir oft vor, als gerieten
die meisten Leute in eine Ai't hypnotischen Zustand , sobald sie
irgendwo in einer platonischen Schrift die 'Ideen' wittern. Und
mir wird es schwindlig, wenn ich lesen muß, was sie in solchem
Zustand zu schreiben pflegen. Nach K. soll es klar sein, daß im
Me ein Angriff auf die Ideenlehre vorausgesetzt sei. Denn diese
in der Ausgestaltung, die sie im Sy erfahren habe, sei vorausgesetzt
und werde verteidigt im Nachweis der Möglichkeit des Erkennens.
Wenn man sich frage , von wem der Angriif ausgegangen sei , so
werde man an einen Sokratiker denken müssen , — und nun,
natürlich! (S. 71) „wohl am ehesten an Antisthenes ^). . . Seine
Gegnerschaft gegen die Ideenlehre ist ja bekannt."
Der Angriff auf die Ideenlehre sei ja übrigens berechtigt, sei
(64) „überaus triftig" gewesen. PI. aber habe ihn natürlich nicht
geduldig hinnehmen können. Er habe dann den ursprünglichen
Einwand, nämlich (67) daß die Idee, auch wenn sie existierte, un-
erkennbar wäre, erweitert (65) „zu einem solchen gegen die Mög-
lichkeit des Forschens überhaupt, und das sei „nicht unschwer (!)
zu verstehen". Denn „fürs erste knüpfte er damit an einen schon
bekannten Gedanken an; zugleich erreichte er auch, daß der sehr
triftige Einwand durch die Übertreibung karikiert und diskreditiert
wurde. Diese Methode der Polemik ist ja Piaton eigen". — Um
das glaublich zu machen und PI, so ohne weiteres zum Sophisten
nach Art des Polos und Thrasymachos zu stempeln, beruft sich K.
einfach auf Gomperz II 251 ^).
Der stärkste Halt seiner befremdlichen Auslegungen aber ist
nichts anderes als ein einfaches Mißverständnis des aus 87 d ab-
gedruckten Satzes äXXo ri tJ dyad-bv avrö (fafusv elvai. rr^v agevtjv,
^) Das bekannte Fahrwasser, in das wir damit gelangt sind, wird
denn nun auch, namentlich auf den letzten Seiten der Abhandlung, als
bequemer Tummelplatz für geistreiche Hypothesen ausgenutzt.
^) Dagegen finde ich bei Kuiper, De Lysidis dialogi origine etc.
den richtigen Satz (p. 106): „ut solet refellit Plato, non extollendo nee
obtrectando, sed ratiocinando."
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 247
y,al airt] y vnod-eoig i-iivei yj/.üv, aya&ov avrö elpai; K. spricht
(S. 57) von der hier gemachten „Annahme, daß die Tugend das
Gute selbst sei" und erklärt in Anm. 20 : „Zunächst scheint dies
zu bedeuten , daß die Tugend das Gute an sich , d. h. mehr ein
Gut ist als jedes andere Ding; also: das höchste Gut" und tiftelt
nachher (S. 66) darüber: „warum PI. nicht sagt, die Tugend ist
ein Gut, sondern die Fassung, die Tugend ist das Gut selbst,
vorzieht." Und dazwischen hinein (S. 62) sagt er unumwunden:
„Dieses avTo, welches dem aya&ov an die Seite gesetzt ist, be-
weist unwidersprechlich , daß der Me die Ideenlehre voraussetzt,
und zwar die im Sy enthaltene Form derselben." Jenes avro ge-
hört aber gar nicht zu ayaü^ov, sondern es ist Subjekt, und erhält
nachher durch die Apposition ri]v ageTijv seine unzweideutige Be-
stimmtheit. "Wer griechisch kann und etwas in PI. eingelesen ist,
wird sich darüber nicht täuschen , wie sich auch weder Georgii,
noch Apelt noch andere Übersetzer darüber getäuscht haben. —
Solcherlei Betrachtungen führen dann K. glücklich zu dem zu-
versichtlich ausgesprochenen Satze (S. 70) : „Die Reihenfolge Sy —
Me — Phs scheint mir außer jedem Zweifel."
Prächter schreibt (S. 264): „Die Tüchtigkeit der Staats-
männer beruht, insofern sie nicht durch Unterweisung fortgepflanzt
werden kann, auf der richtigen Vorstellung, die ihnen weder von
Natur noch durch Lehre, sondern durch göttliche Eingebung (S^eia
l-ioiQa 99 e) zuteil wird. Hier empfindet der Leser eine Schwierig-
keit. Nach der früheren Auffassung wäre zu erwarten, daß die
richtige Vorstellung jedermann von Natur aus innewohne . . Die
Schwierigkeit ist wohl so zu lösen, daß die von Natur aus sozusagen
schlafend vorhandene richtige Vorstellung zur Wirksamkeit erst
geweckt werden muß. Das kann entweder, falls sie zum Wissen
erhoben wird, durch avä(.ivr^Gig, d. h. Lehre, oder, falls sie auf der
Stufe der richtigen Vorstellung verbleibt, durch göttliche Inspiration
geschehen.'" Diese Erklärung scheint mir recht verkünstelt. Und
ich verstehe nicht, wie die Erwartung zu begründen wäre, „daß
die richtige Vorstellung jedermann von Natur aus innewohne". Die
Mehrzahl der Menschen besitzt jedenfalls in einem Staat von der
Verworrenheit der athenischen Demokratie ganz unrichtige Vor-
stellungen von dem , was dem Einzelmenschen und dem Staats-
wesen gut ist. Nur wenige besitzen davon richtige Vorstellungen
d^Eia (.loiga, vielleicht Sokr. allein war im Begriff, die richtige Vor-
stellung, die er (ebenfalls ^ela iiioiQa) hatte, zur Wissenschaft zu
erheben. Was ^ei(^ (^oiqct geschieht, ist etwas unserem Verstand
248 Constantin Ritter.
Unerklärliches , bildet aber keinen Gegensatz zu dem , was „von
Natur" ist oder geschieht. Im wohl eingerichteten Staat wäre durch
die für die Erziehung getroffenen Maßnahmen, durch die überlegte
Beeinflussung des jugendlichen Gemüts , dem auch auf dem Weg
der sinnlichen Wahrnehmung, vor aller Belehrung, nur Klares, Zu-
sammenstimmendes, Schönes sich darböte, dafür gesorgt, daß die
richtigen Vorstellungen über das ayad-ov und y.al6v wirklich in
jedermann sich bilden. Mit der allgemeinen Trage nach der Mög-
lichkeit des Erkennens , die in angeborenen Vorstellungen , etwas
rein Apriorischem , gefunden wird , darf man die besondere nach
dem Zustandekommen richtiger staatsmännischer Erkenntnis nicht
zusammenwerfen.
Noch einige Einzelheiten des Textes, in deren Erklärung
Meinungsverschiedenheit besteht : Am wichtigsten ist die Beurteilung
der ganzen Anytosepisode, und innerhalb derselben sind von
fraglichster Bedeutung die Worte, die Sokr. 95 a über den grollend
Abgetretenen äußert: ^^Avvtog {.itv fioi doy.el yiaXenaiveiV y.al ovöfv
&aviJ.aCoj' olevai yceg fue ^tgiuTov /niv yMTrjyoQelv tovrovg zovg
avdgag, STteira r^yeXxai Y.al avrbg eivai eig tovtcov. aXX ovrog edv
note yvi-Ji, ol6v Iozl to '/.ay.iog Xeyeiv, TravoexaL xaXeitahcov, vvv
öi ayvoel. Voraus gingen die Worte des Anytos : co ^luxQareg,
Qqdiojg /uot öoxslg xaxwg )Jyeiv avd-Q('j7T.ovg. eyio f.iiv ovv av Goi
üv(.ißovXEvoctL}.ti, Ei id-eXeig £,«ot yiel&eoO^aL, €L'Xa߀iai}cci ktI. Am
ausführlichsten behandelt die Stelle Schanz in seinem Kommentar
zur Ap. S. 89 — 91. Daß der Satz Fav 7cote yi>w, oiov fOTi ro xay.(7.g
XiyEiv, TiavOExaL ^aXEnaivwv ein vaticinium ex eventu enthält, wird
schwerlich jemand bezweifeln. Die Unbestimmtheit des Ausdrucks
macht eine sichere Deutung unmöglich. Ich meine aber, es handle
sich doch jiur um ein Entweder — Oder. Nämlich entweder ein
xa/Cücj XtyEiv, das über Anytos erging, eine Verlästerung und Ver-
leumdung, unt«r der er zu leiden hatte, oder um ein v.ay,<.og XiyEiv^
das er sich über andere erlaubte. An die zweite Möglichkeit scheint
kein Ausleger bisher gedacht zu haben. Und doch liegt sie sehr
nahe. Der Sinn wäre der: Anytos nimmt es persönlich übel, meint,
es geschähe ihm selber Unrecht, wenn man von Politikern seines
gleichen sagt, sie haben wohl auf gut Glück manches richtig ge-
troffen, aber im Grund verstehen sie nichts. Er seinerseits spricht
ohne Bedenken die oft gehörten Anklagen gegen die „Sophisten"
nach, obgleich er die Leute rein gar nicht kennt. So wird er auch
den Sokr., dem Gerede anderer folgend , als Jugendverderber mit
anklagen — oder, wenn die Anklage von einem gewissenlosen, nach
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 249
Volksgunst haschenden Streber erhoben wii'd , seinem bornierten
Haß gegen alle Neuerer in der Jugenderziehung so weit nachgeben,
daß er mit dem Gewicht seiner Person den nichtigen KJäger unter-
stützt. Die ganze Schilderung des Auytos im Me ist so gehalten,
daß der Leser glauben kann, jener habe mit seinem Tun einen
guten Zweck verfolgen wollen ; aber er ist ein Mann der Schlag-
worte , der drauf losfährt, wenn die Parteitheorie einen Punkt als
gefährdet bezeichnet: das und nicht, wie Schanz meint, ,,Leiden-
schaftlichkeit" ist der Fehler seines Wesens, den PI. vor uns bloß-
legt. Später wird er ihn selber erkennen ^). Und dann, „wenn er
erkennt, was es mit dem Verlästern für eine Bewandtnis hat",
nämlich daß sie zur Verurteilung und Vernichtung eines vollkommen
Unschuldigen führen kann, und daß er selber, indem er der Ver-
lästerung Gehör gab und sie weiter trug, dem Volk von Athen,
dem Vaterland, dem er nützen wollte, Schaden zugefügt hat: dann
wird er aufhören, dem Sokr. zu zürnen, d. h. dann wird er ernste
Reue empfinden. — Ich glaube, wenn wir die „xenophontische"
Apologie nicht hätten, die für mich lediglich keine Glaubwürdigkeit
besitzt, so würde diese Auslegung des Me wohl ohne Anstand als
die wahrscheinlichste anei"kannt. Man würde auch den Schlußsatz
des Dialogs noch heranziehen und in ihm den Gedanken finden:
leider hat Anytos sich nicht zur Vernunft bringen lassen, und so
hat er den Athenern eben nicht genützt, sondern geschadet — mit
seinem Auftreten gegen Sokr.
Dies also wäre die eine mögliche Erklärung der in Rede
stehenden Worte. Sehen wir uns nun auch die andere an. W^ie
stellt sich die Sache dar, wenn wir unter dem xcr/wg Xayeiv eine
üble Nachrede verstehen, die Anytos über sich ergehen lassen
mußte ? — Wenn er einmal wirklich verleumdet und verlästert wird,
dann wird er dem Sokr. nicht mehr übelnehmen, was dieser über
ihn und andere gefeierten Politiker als bloße Günstlinge des Glücks
gesagt hat, wird vielmehr einsehen, daß diese Bemerkungen keine
Verleumdung enthielten , sondern in harmloser Ehrlichkeit aus-
gesprochen wurden.
Wir wissen nichts Sicheres über das Ende des Auytos. Aber
die Vermutung, daß er unglücklich geendet, drängt sich doch an-
gesichts der bei Zeller (Phil. d. Gr. II, 1 ■* S. 200 f. A.) zusammen-
gestellten Berichte auf. Und man kann es so auffassen , als ob
^) Ich habe bei Besprechung der Ap darauf aufmerksam gemacht,
daß nach 29 c Anytos schon bei der Unterstützung der Klage des Meletos
mit sich selbst nicht ganz einig gewesen zu sein scheine.
250 Constantin Ritter.
ihn PI. sogar in Schutz nehmen wollte gegen ungerechte An-
feindungen , denen er erlag ^). Denn dem nicht wirklichen , nur
von Anytos dafür angesehenen Verlästern des Sokr. wird ja ein
in Wahrheit als Verlästerung zu bezeichnendes Gerede entgegen-
gehalten , das ihm durch spätere Erfahrung bekannt werden soll.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß PI. in seiner vornehmen Art
(cf. G 70d ff., 25 d u. Th 73 d ff.) keine Notiz nimmt von dem Gerücht,
das im Jahr 409 (s. Schanz S. 20, Aly — s. unten — S. 173) den
Anytos der Bestechung der Richter zieh, und daß er im 7. Brief (25 b)
die eftier/,eia der aus der Verbannung zurückgekehrten Volksmänner
rühmt , zu denen eben auch Anytos gehört , und die Anklage und
Verurteilung des Sokr. als eine zufällige Verkettung unglücklicher
Umstände darstellt. Dem Schlußsatz des Me Tceld^e yial . . ^!Avvtov^
%va TtgaoreQog f] ' cug iav 7c£iai]g xovzov, eariv o ti xat l40-)]vaiovg
ovr^oeig weiß ich bei dieser Auslegung keine bestimmte Beziehung
zu geben. Daß aber auf ein bestimmtes Geschehnis damit hin-
gedeutet werde, das in jener Zeit jeder Leser verstand, wo eben
die mangelnde ngaorr^g des Anytos für das Volk, das sich durch
ihn beeinflussen ließ , bedauerliche Folgen nach sich zog , diesen
Eindruck kann ich nicht los werden.
Die beiden von mir zur Wahl gestellten Erklärungen, die ich
ausschließlich aus Pl.s Schriften , vor allem dem Me selbst , ent-
wickelt habe, weichen völlig ab von der, die Schanz uns als fast
gesichert hinstellt. Er schreibt: „Die Hauptsache ist, daß Anytos
zur Feststellung des Satzes, daß berühmte Männer nicht auch ihren
Söhnen zu gleicher Berühmtheit verhelfen können, beitragen muß.
Darin haben wir den Schlüssel der Anytosepisode. Auch Anytos
war ein sehr" (?) „berühmter Mann und hatte einen Sohn : wie stand
es mit diesem? Die Antwort liegt in dem scheinbar unmotivierten
Zorn des Anytos über das Resultat der Unterredung . . . Dem was
Anytos als yia'/.wg "kiytiv von selten des Sokr. ansieht , wird ein
anderes xaxtDg Myeiv gegenübergestellt, das dem Anytos erst die
Augen öffnen soll, was es heißt xaxwg XtyEiv. Selbstverständlich
muß sich auch das zweite xaxwg kiyELV auf das Erziehungsresultat
des Anytos beziehen, es muß ungleich schärfer sein." — Ein merk-
^) Doch sind es nur Träumereien, denen sich H. Mai er hingibt,
indem er schreibt (Sokrates S. 186): „Erst in jüngster Zeit wiederhatten
die Sokratiker auf diesen Mann eine Flut giftigster Schmähungen ge-
häuft . . PL hatte nicht Lust, in das Lied seiner sokratischen (lenossen
einzustimmen. In dem Satz ovTog fAtv fäv noia yv(t) xrX. liegt eine still-
schweigende Mißbilligung des Vorgehens der Sokratiker seitens Piatos."
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 251
würdiger Satz ! „selbstverständlich" ? — „auch" ? Bezieht sich denn
wirklich das erste xaxwg Xeyeiv „auf das Erziehungsresultat des
Anytos"? Wie meint das Schanz? Lassen wir ihn fortfahren:
„Wo finden wii' ein solches? In der xenophontischen Apologie.
Dort steht ja die 'infame' Prophezeihung des Sokr., welche sich
glänzend insofern erfüllt hat, als der Sohn des Anytos ein abscheu-
licher Trunkenbold geworden ist. Wir haben aber auch der Ver-
mutung Raum gegeben, daß Antisthenes es war, der einen rohen
Angriff auf Anytos unternommen. Plato teilt also in der Anytos-
episode einen Hieb aus ; er verurteilt den 'kjmischen' Angriff" — ? !
Man sollte es nicht für möglich halten, zu welchen Albernheiten
die bloß philologische Gelehrsamkeit treiben kann ^). Und der Mann,
der solches schrieb , hatte sich jahrelang mit der Herausgabe des
kritisch geläuterten PI. textes befaßt! — „und stellt in feiner Weise
seine Opposition gegenüber, vielleicht fertigt er damit zugleich die
gegen ihn gerichtete xenophontische Ap ab." — Eins hat Seh. be-
züglich dieser zweifelhaften Ap klar nachgewiesen, nämlich daß sie
ihren Stoff nicht einfach aus den Memorabilien geschöpft haben
kann. Aber unbegreiflicherweise hat er nicht gesehen, daß sie von
Pl.s Phn mindestens ebenso abhängig ist wie von Pl.s Ap. Der
Gedanke, daß PI. im Me auf sie Bezug nehme, ist geradezu wider-
sinnig, wenn feststeht, daß der Phn zeitlich dem Me nachfolgt. Die
Abhängigkeit der „xenophontischen" Ap vom Phn hat Wilamowitz
längst dargetan ^). Keinem Urteilsfähigen, der beide Schriften hinter-
einander liest, kann sie sich verbergen. Die Frage, ob Xenophon trotz-
dem der Verfasser der Schrift sein könne, ist damit noch nicht ent-
^) Vgl. auch Räder S. 137: „Wahrscheinlich hängt die versöhn-
lichere Wendung im Gedankengange Pl.s, welche im Me zutage tritt,
in irgendeiner Weise mit dem Bruch zusammen, der zwischen PI. und
Antisthenes, dem intransigentesten aller Sokratiker, eingetreten ist."
") Im Hermes von 1897 (32) S. 99 ff. — Ein Nachtrag aus Wilamo-
witz: PI. I S. 278 wird von ihm (cfrutg koyinfiog in 98 a widergegeben
mit „Dialektik". Das geht nicht an. Gegen die beigefügte Anmerkung
ist nichts einzuwenden: „schon vorher 86a ist gesagt, daß die richtige
Meinung durch 'Fragen' in Wissen verwandelt wird, wie Sokr. aus dem
Knaben das Richtige herausgefragt hat. Es ist eine andere Bezeichnung
für die platonische Methode, die Dialektik". Ja, nur in Frage und
Antwort, wie oft, z. B. Cra 90 cd gesagt wird, kann das öic(lsyea9ai
sich abspielen und die Kunst des Dialektikers zeigt sich vor allem im
methodisch richtigen, zielbewußten Fragen. Ein Rhetoriker, wie Polos,
versteht sich nicht darauf, G 67c. Aber gleichbedeutend mit Dialektik
ist ahiKs loyia/Liog eben doch nicht. Vgl. dazu das Kapitel der Logik in
meinem Piaton (Teil III, 1, 8).
252 Constantin Ritter.
schieden, geht mich aber hier nichts an. Jedenfalls darf der Inhalt
der weiß Gott aus welchen weiteren Quellen gespeisten nicht mit Ver-
trauen hingenommen werden. Ob Anytos überhaupt einen Sohn gehabt
hat, ist mir zweifelhaft. Und wenn ein solcher vorhanden war und
auf ihn als einen entarteten hingewiesen werden konnte, so glaube
ich nicht an das, was die „xenophontische" Ap und der 14. der
„Sokratikerbriefe" über seine Beziehungen zu Sokr. plaudert. Ich
führe dagegen das Zeugnis der platonischen Ap ein. Man lese
doch mit Aufmerksamkeit 33 c £f. : ei yaq ötj t-ytoye twv vhov Tovg
f.iev diacpb^ELQO), rovg öi öieq^O^agyia, XQtjv dtj/rov, eiTS Tiveg avTcov
7CQEaßvTeQ0i yevoixEvoL e'yvcoaav, ort veoig ovolv aizolg iyco -/.axov
TCiOTiore TL ^vvsßovlevoa, vvvl avzolg avaßaivovrag ff-iov ■/.artjyoQEiv
v.al TifxwQEla&at' si Ö€ /t/jy avToi y&sXoVj twv oI-keicov rivag ziöv
iy.Eivtov, TtatEQag v.al aÖEXifoig /.ai aX?.ovg roig rrgoo/fKOvrag, eI'tceq
vn^ Efiov Ti yMxdv enEnövi^EOav acröjv ol orAEioi, vvv j.iEf.ivijod'ai
y.al TifXiOQeio^aL xtA. So sollte Sokr. gesprochen haben, oder solche
"Worte sollte PI. ihm in den Mund legen, wenn, wie Seh, Ap S. 19
den Verfassern jener zwei apogryphen Schriften nacherzählt, der
Sohn des Anytos unter seinem Einfluß dem väterlichen Wunsche,
ins Geschäft einzutreten, sich hartnäckig widersetzt hatte, und wenn
er selber dem Vater dringend zugesprochen hatte , dem „gut be-
anlagten Jüngling" den banausischen „Betrieb der Gerberei zu er-
lassen", weil er „leicht verkommen könne, wenn er nicht die nötige
Leitung erhalte"? Mir ist das undenkbar.
Wegen des Zusammenhangs im Me lag es nahe, zur Erklärung
der Anspielungen , die der letzte Eedewechsel zwischen Anytos
und Solcr. enthält, einen mißratenen Sohn des Anytos zu erfinden.
Und wenn Anytos als Anhänger der altüberkommenen Erziehungs-
prinzipien mit Sokr. zusammengestoßen war, so kostete es auch
nicht viel Scharfsinn, auszudenken, wie die Meinungsverschiedenheit
bezüglich der Behandlung des Sohnes durch den Vater zum Aus-
druck gekommen sein möchte. Befremdlich finde ich freilich, daß
Sokr., der bei den Politik treibenden Gewerbsleuten dadurch Anstoß
zu erregen pflegte , daß er sie vor dem 7roXvfiQayf.tovslv warnte
und den Grundsatz predigte, der Schuster solle bei seinem Leisten
bleiben (Ap 22 d), und der den Wert eines tüchtigen Handwerks
nicht gering anschlug , dem Anytos geraten habe , er solle seinen
Sohn der nützlichen Tätigkeit entziehen, die er im väterlichen Ge-
schäft hätte treiben können — und so scheint mir was ich für
eine bloße Erfindung der Apokryphenschreiber halte nicht einmal
glücklich ausgedacht. Weniger ungeschickt dünkt mich die Angabe
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 253
des Lasters , dem der mißratene Sohn verfallen sein soll. Daß
einer, der seinem Vater keine Freude machte, zum wüsten Säufer
geworden sei, war weniger leicht aus geschichtlicher Kenntnis durch
einen Leser zu widerlegen als sonstweiche belastenden Dinge.
Ähnlich wie ich faßt auch Wilamowitz die Sache auf. II 147
schreibt er: „Sokr. hat nach . . der xenophont. Ap . . prophezeit,
daß aus einem begabten Sohne des Anytos , mit dem er etwas
Verkehr gehabt hätte, nichts werden würde, weil er keinen guten
Erzieher hätte , und das wäre eingetroflfen. Da im Me Sokr. mit
Anytos über die Erziehung redet, Anytos jeden Erzieher für über-
flüssig erklärt , und daneben die mißratenen Söhne von Staats-
männern erwähnt werden, ist für die xenophontische Ap nichts als
der Me nötig ^j." Weiter bemerkt er (I 279) zur Sache: Sokr.
erwidert auf die Drohung des Anytos „nur, daß Anytos über das,
was Schimpfen wäre , erst dann richtig urteilen würde , wenn es
ihm selbst begegnete. PI. selbst hat ihn auch jetzt geschont. Von
seinem Vater wird mit Achtung geredet, während die Komödie und
nicht sie allein ihn verhöhnt hatte . . Er lebte vermutlich noch,
*) Übrigens hat W. schon 1897 im Hermes (32 S. 101 A.) geschrieben :
„Es lag nach der Episode des platonischen Me sehr nahe, ihn die Folgen
falscher Bildung an seinem Sohn erleben zu lassen, und die Erfahrung
übler Nachrede wird ihm dort geradezu in Aussicht gestellt. Als
Wucherung auf Grund des Me ist der Bericht dieser Ap sehr leicht
verständlich." Ähnlich auch Fr. Bey schlag, Die Anklage des Sokr.,
Pgr. d. Gymn. Neustadt a. H. 1900, S. 16 f. Besonders beachtenswert sind
daraus folgende Sätze: „Dabei liegt . . ein Mißverständnis des Me vor . .
Der Apoleget meint, PI. ziele mit seiner historischen Beweisführung auf
einen Sohn des Anytos, der in Wirklichkeit weder direkt noch indirekt
Erwähnung findet. In Wahrheit aber will PI. damit Anytos selbst als
das Erziehungsprodukt seines Vaters, des ao(f6; \4v9i^io>v (90a), ironi-
sieren, der zunächst wegen seiner ao(f(a hervorgehoben und dann mit
dem etwas zweifelhaften Lobe ausgezeichnet wird, daß er seinen Sprößling
«i i&qtxps xal inai^evafv, o) s SoxfT ^A9t]raiwv tw nkrix^st' uIqovvjki
yovv avTüv Inl ras fifyiarns «()/«?. Hier ist der Schlüssel zu dieser plato-
nischen Szene: Anytos ist gekränkt einmal als erklärter Anhänger der
Demokratie, die ihn wie jene berühmten Männer zu besonderen Ehren
erhoben hat, und dann als das Erziehungsprodukt des Anthemion, dessen
aoifia, iTTijui'keuc und nkoürog ihn doch hinlänglich befähigten, die Er-
ziehung seines Sohnes mit den gleichen Mitteln und den gleichen —
Erfolgen durchzuführen, wie Themistokles, Aristeides, Perikles und Thu-
kydides. Die Probe auf diese Behauptung bildet das von PI. für Anytos
festgehaltene Ethos, das ihn in geistiger Beschränktheit (92 e) die Schlag-
worte der Masse gebrauchen läßt." Dagegen nimmt Ed. Meyer,
Gesch. d. Altert., die Angaben der Apologie über den Sohn des Anytos,
von dem wir nicht einmal den Namen erfahren, für bare Münze.
254 Constantin Bitter.
wenigstens wissen wir, daß er um die Zeit von Pl.s Rückkehr
noch ein allerdings nicht sehr wichtiges Amt bekleidete. PL übt
keine späte Rache für den Sokr.-Prozeß 5 es sind andere, die dem
Anytos gezeigt haben , was Schimpfen ist. Vielleicht waren auch
das Sokratiker; das wissen wir nicht, aber einen kennen wir, der
gegen ihn geschrieben hatte und das Schimpfen wie kein anderer
verstand. Das war Lysias, der den Sokr. gegen Anytos verteidigt
hatte, allerdings gegen den Anytos des Polykrates. Dieser ist es,
den PI. ebenfalls im Auge hatte." — Dabei entsteht freilich eine
Schwierigkeit, auf die W. Aly aufmerksam macht. Dieser hat die
Person des Anytos behandelt in den Neuen Jahrbüchern 1913
S. 169 — 75. Er erklärt (S. 174 A.) : „Ist Wilamowitz mit seiner
Datierung im Recht, so kann der Anytos der Lysiasrede" — d. h.
der Lys. 22, 8 unter diesem Namen erwähnte Aufsichtsbeamte der
städtischen Kornzufuhi- — „nicht der Ankläger des Sokr. sein."
Auch Schmid in Christs Gesch. d. Griech. Lit.^ I S. 480 erklärt
„die Identität des Anytos bei Lys. 22, 8 mit dem Ankläger des
Sokr." für „ganz unwahrscheinlich". Menzel S. 43 hat die „nackte
Tatsache", daß Anytos 15 Jahre nach dem Prozesse das Amt eines
Archen bekleidete", mit Berufung auf Lys. 22 sehr stark betont,
um damit alle ungünstigen Urteile über den Charakter des Mannes
niederzuschlagen.
Zu 90a 6 vvv veioGTL £lXi](fa>g za IIoXv'A.Q(XTOvg XQT^f-iata lai^rjviag
b Grjßalog habe ich, älteren Erklärern folgend, in meinen Unter-
suchungen von 1888 bemerkt (S. 121): „Ismenias kann kein anderer
sein als der bekannte Führer der demokratischen Partei , und es
ist kaum zu bezweifeln, daß mit seinem plötzlichen Reichwerden,
das ihm die Schätze des Polykrates einbringt dövrog iivog'^ — wie
es vorher heißt — „die Bestechung durch persische Gelder gemeint
ist, welche er nach Xenophons Bericht im Jahr 395 angenommen
hat: und der Dialog müßte also nach dieser Zeit abgefaßt sein."
Dazu habe ich (S. 125 A. 1) aus Stallbaum-Fritzsches Einleitung
notiert: „Photius . . erzählt uns von einem Thebaner Pol., dem
ein Orakelspruch verheißen hatte, er werde Gold finden, wenn er
den Platz kaufe, auf dem das Zelt des Mardonius vor der Flucht
der Perser gestanden sei. Cobet macht . . die Bemerkung 'Poly-
crates Thebanus nescio quis Ismeniam heredem scripserat'." Dazu
habe ich mir die Randbemerkungen gemacht : Beloch , Griech.
Gesch. II, 220 A. 3 : PL nennt den rhodischen Unterhändler Poly-
krates anstatt Timokrates. Ebenso Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. V,
233. Auch Wilamowitz sprach von einem „Gedächtnisfehler Pl.s".
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 255
Nietzsche meinte , der Prozeß des Ismenias 382 habe die Sache
ans Licht gebracht. Ähnlich Teichmüller, Lit. Fehden II, 348.
Apelts Anmerkung dazu (S. 85) ist ziemlich verworren. Neuerdings,
PI. II, 104, verwirft Wilamowitz die bevorzugte Erklärung und er-
innert daran, daß Ismenias auch schon Rp 336 a, „dem 1. Buche,
also vor dem G geschrieben", als „schwerreicher Mann" erscheine.
Sein Geld, fügt er bei, „stammte von einem Polykrates; wie es
zu Ism. kam , läßt sich nicht erraten. Bei Zenobius (Ath. 2, 24,
Paris. 5, 63) hören wir, daß der Thebaner Polykrates eine ver-
gi'abene Kriegskasse des Mardonios gefunden hatte. Darauf also
bezieht sich PI." Auch Burnet in der Einleitung seiner Aus-
gabe des Phn. S. XXXI sq. zweifelt stark an der Verwertbarkeit
unserer Stelle.
Rätselhaft ist für mich die Stelle 76 e: el {.uj, wOTtSQ x^sg
lleyeg, avay/.alov aot amevai tiqo xiZv f.ivGTriQicüv, aXV el neqi-
fieivaig re xat /.ivr^d^eirjg. Apelt (S. 77 A. 16) speist uns mit der
Bemerkung ab: „Diesen scherzhaften Vergleich der Einweihung in
die Dialektik mit der Einweihung in die Mj^steiien liebt der plato-
nische Sokr. Im Sy, Phn, G und anderen Dialogen finden sich
Beispiele dafür." Nun ja. Aber was hat das „wie du gestern
sagtest" zu bedeuten? Ich sehe darin eine literarische Anspielung,
bin aber im übrigen ratlos. Es wundert mich bloß, daß noch nie-
mand darauf verfallen ist, auf einen verlorenen platonischen Dialog
zu schließen, in dem Menon wie hier als Gesprächsperson vorkam,
womit ja zugleich auch die auffallende Eigenheit des Me, daß ihm
die Einleitung fehlt ^), erklärt werden könnte. Schade, daß der so
viel vermißte Philosophos in diese Zeit nicht paßt. Aber wie wäre
es mit der Erstausgabe der Rp? Vielleicht läßt sich ein findiger
Kopf ermuntern , die angedeuteten Dinge für ihre Ausstattung zu
verwerten.
Ratlos stehe ich auch vor den mathematischen Sätzen von
87 ab. Weder Apelts Übersetzung noch seine S. 81 — 84 gegebene
Erklärung, die im wesentlichen wiederholt was von ihm in der
Pestschi'ift für Th. Gomperz, 1902, S. 290 ff. entwickelt worden
war ist mir faßlich.
Noch einiges aus Pohlenz. S. 167 gibt er die Anmerkung:
„Über den Charakter Menons bei PI. und Xenophon vgl. Ew. Bruhn . .,
der richtig in Xenophons Charakteristik Polemik gegen PL sieht.
^) Pohlenz S. 190: „Der abrupte Eingang ist einzigartig." Das stimmt
nicht ganz, s. Cra und Phi.
256 Constantin Ritter.
Nach Xenophon hätte PL nicht mehr ohne weiteres voraussetzen
können, daß Menon nur eine Herrschaft auf Grund der Gerechtigkeit
schätzt." — Sonderbar! Jedenfalls wäre die Frage des Sokr., ob die
Tüchtigkeit des Mannes, die ihn zur Herrschaft befähige, nicht auch
Gerechtigkeit in sich schließe, auch von einem Mann wie Polos (im G)
nicht verneinend beantwortet worden, ja selbst von Kallikles nicht.
Und die Bejahung dieser Frage durch Menon konnte vernünftiger-
weise dem Xenophon keinen Anlaß zur Polemik bieten. Wilamo-
witz erkläi't (II, 144 f.): „Die Beurteilung der Person ist bei PI.
und Xenophon ganz verschieden, und im Altertum hat Herodikos
(Athen. 505 a) bei PI. beabsichtigten Widerspruch gegen Xenophon
gefunden; gegenwärtig ist das Umgekehrte behauptet . . Eine Ent-
scheidung ist nicht möglich . . Xenophons Gehässigkeit wird
durch die eigenen Erfahrungen hinreichend erklärt, und eine greif-
bare Berücksichtigung platonischer Worte ist nicht vorhanden. PI.
charakterisiert den Menschen Menon überhaupt nicht. Für ihn ist
er nichts als der Schüler des Gorgias, der diesen vertritt.
Den von Pohlenz S. 170 f. gegebenen Ausführungen steht
Wilam. II, 145 A. 1 entgegen. „. . . Es ist ein kaum begreifliches
Mißverständnis, sich . . gar eine Gegenschrift des Gorgias" gegen
Pl.s gleichnamigen Dialog „zu konstruieren, die auf Pl.s Me ein-
gewirkt hätte."
S. 174 A. lesen wir bei Pohlenz: „Was die Worte des Sokr.
kneidi] de ov aaviov (.uv ovd^ enLy^eiQEig cxqxelv, %va ö^ eXEv&sgog f^g,
ifxov (5' i/cixsiQSig (xq^elv (86 d) sollen, versteht man nur, wenn nian
sie als Reminiszenz an G 91 de faßt . ." Wiederum sonderbar!
Die Worte scheinen mir ohne weiteres verständlich. Vgl. 76 bc.
S. 180 führt P. aus, „im schärfsten Gegensatz zum Pr" hören
wir Me p. 88, „daß es Tapferkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung
auch ohne Wissen gibt . . Aber aufs schärfste hebt er . . hervor,
daß diese avev vov bald nützen, bald schaden, und daß sie nur in
Verbindung mit dem Wissen zur Glückseligkeit beitragen (88 c),
und das gleiche muß natürlich auch von der Tätigkeit der Staats-
männer im letzten Teile gelten. Daraus folgt aber auch, daß sie
nur in uneigentlichem Sinne ccya&ol heißen können." Ganz richtig!
Aber ebenso gewiß kann eine avögsia, diy.aioavvr] usw. avev vov
nur in uneigentlichem Sinne avdqüa, dr/.aioovvr} usw. oder, all-
gemeiner bezeichnet, ccQsr^ heißen, und durch genaue Bezeichnung
wird der vermerkte Gegensatz zum Pr sofort aufgehoben. Und
wenn P. vorher (S. 175) behauptet: „Höchst überrascht sind wir,
wenn wir z. B. lesen , die Tapferkeit sei schädlich , el f.i^ eait
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 257
(fQüvi]Oig Tf ävÖQeia alX oiov Oaggog zi. Denn nach dem Pr ist eine
avögela avev vov unmöglich, ddiS .ifaggog eben keine ardgsla (51a)"
— so bin ich vielmehr darüber überrascht, daß P. die Mahnung zur
„Ergänzung abgebrochener Beweise", zu „selbständigem Durch-
arbeiten" der Sätze, zu „scharfer Mitarbeit", die er dem Leser im
Sinne Pl.s so oft (z. B. S. 97. 98. 100. 107. 151) erteilt, einen
Augenblick selbst unbeachtet gelassen hat. „Wir sehen, daß PI.
den Begriff ardgeia jetzt anders faßt als früher, aber eine nähere
Aufklärung erhalten wir zunächst nicht." Wir sollen sie als auf-
merksame Leser selbst finden. Der Unterschied liegt nur in den
ovöj-iaxa, den schwankenden Wortbezeichnungen.
S. 192 f. sucht P. für die Vorstellung , die er sich von der
Absicht und Entstehung des G gebildet hat , durch Vergleichung
mit dem Me eine Bekräftigung zu gewinnen: „. . Werfen wir einen
Blick auf den G zurück. Daß dieser dem Me unmittelbar voran-
gegangen ist , haben wir aus verschiedenen Zeichen erschlossen.
Im Me ist PI. voller freudiger Hoffnung, aber er blickt zurück auf
eine kritische Zeit, wo seine Freudigkeit zu erlahmen drohte, weil
er an der Möglichkeit des Erkennens und Lehrens selber zweifelte.
Ich denke , so wird es uns erst vollständig klar , wie es kommt,
daß der G von allen platonischen Dialogen die trübste Stimmung
zeigt. Als höchstes Ziel schwebte ihm schon im G . . die politisch-
ethische Reformation des ganzen Volkes vor. Aber den Weg, der
zu diesem Ziele führte, sah er noch nicht. Nun kam die Ent-
deckung, von der im Me sein Herz voll ist, und gab ihm die Gewiß-
heit, daß das Wissen möglich sei, daß es möglich sei, auf andere
sittlich einzuwirken." — Ich habe oben die von P. gebotene Er-
klärung für die trübe Stimmung des G abgelehnt. Auch bei diesem
vergleichenden Rückblick vermag ich meine Meinung nicht zu
ändern; um so weniger, da mir auch die Stimmung des Me von P.
nicht treffend gekennzeichnet zu werden scheint.
Schließlich möchte ich noch darauf aufmerksam machen , daß
die Lehre von der ai'df.ii'rjOig eine eigentümliche Beleuchtung erhält
durch eine Bemerkung , die Fräulein SuUivan , die Erzieherin der
Helen Keller, über die geistige Entwicklung ihres blinden und tauben
Zöglings macht: „So stockend und unzureichend meine Erklärung
auch gewesen sein mag, sie berührte verwandte Saiten in der Seele
meines kleinen Zöglings, und die Leichtigkeit, mit der Helen die
großen Tatsachen des physischen Lebens begriff, bestärkte mich in
der Meinung, daß im Kinde bei seiner Geburt die gesamten Er-
fahrungen des Menschengeschlechtes schlummernd vorhanden sind.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 17
258 Constantin Ritter.
Diese Erfahrungen sind wie photographische Negative, bis die
Sprache sie entwickelt und die Erinnerungsbilder hervorbringt."
Euthydemos (= Eus): behandelt von Lutoslawski S. 210 — 213,
Gomperz S. 433—36, Natorp S. 116—19, Räder S. 137—146, Ritter
S. 450—462, Windelband-Bonhöffer S. 152 f., v. Arnim S. 123—134,
139 fF., Wilamowitz I S. 296—319, II 154—68, Frachter S. 265—68.
Beim Eus betrifift der Hauptstreit ^) unter den Gelehrten den
zeitlichen Ansatz. In meinen Untersuchungen von 1888 habe ich
ihn mitsamt dem verwandten Cra neben den Pr stellen und der
peinlichen Anklage des Sokr. vorausgehen lassen wollen. „Unter
allen Umständen", sagte ich (S. 126 f.), „müßte ich protestieren
gegen einen Versuch, eine der drei bezeichneten Schriften, in denen
der Ton überlegenen Spottes so kräftig anklingt , in die nächsten
Jahre nach dem Tode des Sokr. zu setzen." Daß ein Ansetzen
des Eus und Cra vor 399 verfehlt ist, habe ich bald eingesehen.
Sogar die Sprachvergleichung, die mir deutlich machte, daß die
damals noch von den meisten Gelehrten gehegte Meinung, der Eus
sei später als Phs und The, unhaltbar sei, führt darauf, die durch
ihre übermütige Laune in der Tat dem Pr verwandten zwei anderen
Stücke von diesem zu trennen durch einen erheblichen Zwischenraum.
Ausschlaggebende Bedeutung maß man früher der Stelle am
Schluß des Dialogs (04 d ff.) zu, wo ein Überkluger, der den Sokr.
durch Kriton vor philosophischen Diatriben warnen läßt, in scharfem
Ton abgefertigt wird. Spengel hatte in dem Ungenannten Isokrates
zu erkennen geglaubt, und es galt fast als heiliges Dogma, daß PI.
wirklich diesen meine , und eine ganze Reihe von Folgerungen
wurden scharfsinnig daraus abgeleitet. Die Gründe, wegen der ich
diese Folgerungen schon 1888 verworfen habe, stehen mir heute
noch aufrecht. Ich wiederhole das Wichtigste. Vor allem: Der
Eus gehört einer früheren Sprachstufe an als der Phs, der mit der
bekannten freundlichen Beurteilung des namentlich genannten Iso-
krates schließt. — Allerdings (S. 135 ff.) „es ist wahr, was Spengel
sagt . ., daß man keinen zweiten Namen auffinden kann, welcher
der Zeichnung im Eus mehr entspräche", als eben Isokrates. Aber
„so viel haben Spengels glänzende Ausführungen doch nicht dartun
können, daß unter keinen Umständen eine andere Person als die
des Isokr. unter dem Xoyonoioq. könnte verstanden sein. Sauppe
hat die fragliche Person in dem Rhetor Theodorus von Byzanz finder
') Mit der Eohtheitsfrage brauchen wir uns nicht mehr aufzuhalten
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 259
wollen , Hermann meint , man könnte . . an Polykrates denken . .
Doch glaube ich , ebenso wie Hermann , es sei zu viel verlangt,
wenn man hier einen bestimmten Namen haben will. Spengel sagt
freilich , man sehe , daß 'eine nicht unbedeutende Persönlichkeit
zurechtgewiesen' werde, und es geschehe dieses 'in so scharfen
Zügen, daß damals jeder Leser den getroffenen sogleich erkennen
mußte'. Dies zugegeben , so wäre doch noch nicht ausgemacht,
daß derselbe auch uns näher bekannt sein müsse. Man erinnere
sich doch , daß bis heute uns noch niemand über die Person des
Kallikles näher aufgeklärt hat, der im platonischen G eingeführt
wird. Ein unbedeutender Mensch wahrlich kann (auch) er . . nicht
gewesen sein ... Es ist übrigens merkwürdig, wie sehr das Bild
des Kallikles dem des angeblichen Isokrates im Eus ähnlich sieht . .
Der einzige Unterschied zwischen Kallikles und der fraglichen
Person im Eus ist der, daß jener als otjrtoQ gekennzeichnet ist,
dieser als Redenschreiber. Wenn dieser Zug bei dem letzteren
fehlte , so könnte es recht wohl einem Ausleger beikommen , die
Stelle im Eus auf Kallikles zu deuten , und es dürfte in diesem
Fall schwer sein, einen solchen^ Versuch zurückzuweisen. Daraus
mag aber erhellen, daß die Deutung auf Isokrates keineswegs ge-
sichert ist . . Übrigens möchte ich schließlich gegen die Autorität
von Schleiermacher, Heindorf, Spengel und Hermann mit Socher,
Munk und Steinhart noch die Behauptung wagen, es sei gar nicht
sicher, ob PI. im Eus einen Einzelnen vor anderen seiner Gattung
im Auge gehabt habe . , Alle Logographen miteinander werden . .
als Männer behandelt, welche in der Mitte zwischen Philosophie
und Politik sich halten . . Auch derjenige Strich der Zeichnung,
welcher zu persönlicher Anwendung am ehesten Anlaß gibt, ovös
oif-iai TtioTCOT avTov ejtI öiyiaav^Qiov avaßeßt]Y.ivai, scheint mir zur
Kennzeichnung der ganzen Gattung dieser Leute nicht ungeeignet.
Wenn von dem einen oder anderen gesagt werden konnte, er kenne
tatsächlich das praktische Gebiet der gerichtlichen Kämpfe gar nichtj
da er denselben stets fern bleibe , obgleich seine Reden sich mit
ihnen beschäftigen . ., so warf das ein aufklärendes Licht auf die
leichtfertige und gewissenlose Gesinnung von ihnen allen, nach der
sie, wie 65 e behauptet wird, einen unangefochtenen Genuß ohne
ernste Stellungnahme zu den Aufgaben des Lebens als wünschens-
wertes Ziel für sich in Aussicht nahmen."
Die letzten Ausführungen möchte ich heute zurücknehmen.
Den Worten in 04 e olanEQ del av ttg tiZv toioitiov av-ovodi
^rjQovvTiov y.al 7ieQl ovöevog a^itov ava^iav afrovdrjv ttolovvtiov muß
17*
260 Constantin Ritter.
ich wegen des Zusatzes ovTioai yäq Ttcog eine rolg ovoj-iaai die Be-
deutung eines wörtlichen Zitats zusprechen. Eben damit werden
sie freilich zum neuen kräftigen Zeugnis gegen die Gleichsetzung
des Unbenannten mit Isokrates, in dessen Öchriften sie nicht vor-
kommen. Daß sie am Ende der Sophistenrede , selbst wenn man
diese (trotz der überzeugenden Gegengründe von Wilamomitz II
S. 112 f.) für verstümmelt halten will, keinen Platz hatten, ist von
H. Gomperz, Wiener Öt. 27 (1905) Ö. 77, gezeigt worden. Freilich
Frachter S. 221 schreibt: „Die öophistenrede . . ist nach der
Meinung einiger am Schlüsse verstümmelt. War der Aasdruck in
diesem verlorenen Stücke wirklich gebraucht, so wäre dadurch für
den Eus . . eine ungefähre Zeitbestimmung gegeben. Denn der Eus
bildet geradezu eine Replik auf die angeführte Äußerung, wird ihr
also in nicht sehr großem Abstände nachgefolgt sein. Allein die
Verstümmlung der Sophistenrede ist strittig, und fehlt wirklich ein
Stück, so ist nach dem Schlüsse des Erhaltenen nicht einmal wahr-
scheinlich, daß darin die zitierten Worte standen. Aber handelt
es sich denn um ein wörtliches Zitat? Ich halte dies abweichend
von H. Gomperz (Wiener St. 1906 S. 31) keineswegs für un-
zweifelhaft ^)." . .
Von anderen Gelehrten habe ich zu der Frage folgendes an-
zuführen :
Lutoslawski (S. 211 f.) schreibt, die „enge Beziehung
zwischen dem Eus und der Sophistenrede des Isokrates , zuerst
von Spengel (1855) und Thompson (1868) bemerkt, ist dann weiter
aufgedeckt worden von TeichmüJler, Sudhaus (Rh. Mus. 1889),
Dümmler und anerkannt von Zeiler und Susemihl ohne irgend be-
merkenswerten Einsprach. Diesen Forschungen zufolge kann der
Eus nicht vor 390 und wird er vermutlich nicht viel später ver-
öffentlicht sein."
Gomperz (S. 434) meint: „Da die Charakteristik jenes Un-
genannten in der Hauptsache wie in Einzelzügen . . auf Isokrates
paßt, so lag es nahe, eben diesen hier gemeint zu glauben. Diese
Mutmaßung läßt sich nicht zu voller Sicherheit erheben." Natorp
(S. 109) spricht von der dem Phs gegenüber „geänderten Stellung
zu Isokrates im Schlußteil des Eus". Räder kann sich kaum
genug tun in der 'Maskenforschung', d. h. in Verfolgung des von
*) Räder S. 145 A. 2: „Diese Worte scheinen ein wörtliches Zitat
zu sein; sie sind aber weder in Isokrates' Reden noch sonst irgendwo
überliefert. Möglich ist es ja, daß sie, wie Dümmler (Kl. Sehr. I S. 128)
vermutet, im verlorenen Schlußteil der Sophistenrede gestanden haben."
i
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten, 261
Spengel, Teichmüller, Dümmler und anderen vorher beschrittenen
Wegs zur Aufdeckung angeblicher versteckter Beziehungen zwischen
Schriften Pl.s und mit ihm wetteifernder Nebenbuhler. Er behauptet
kühnlich, mit Berufung auf Spengel (S. 137): „Ein bitterer Gegner
Pl.s war der Redner Isokrates , der ihn viele Jahre hindurch und
noch nach dem Tode mit seinem Haß verfolgte. Die jetzt ver-
breitete Ansicht , daß die beiden Männer anfangs in freundlichem
Verhältnis zueinander gestanden haben, läßt sich nicht aufrecht-
erhalten, da sie ausschließlich auf der Mißdeutung einer später zu
besprechenden Stelle des platonischen Phs beruht; wir wissen in
der Tat nicht, wann die Feindschaft angefangen hat, aber jedenfalls
muß der G einen sehr unangenehmen Eindruck auf Isokrates ge-
macht haben." — Mag sein; aber wenn Räder von einer um hohe
sittliche Ziele sich ereifernden Schrift einen recht unangenehmen
Eindruck empfängt nur darum , weil er selber anderen Theorien
folgt als der Verfasser, wird das ihn in persönliche Feindschaft
und Haß hineintreiben? Man sagt uns wohl: ein Mensch von dem
eitlen Selbstgefühl des Isokrates konnte keine Kritik ertragen. Ich
zweifle , ob nicht manche der Leute , die so urteilen , kleinlicher
und eitler sind, als jener war. Jedenfalls dürfen sie von ihren
Empfindungen aus keinen Schluß ziehen auf das, was PI. empfand
und tat, wo er tadelnde Bemerkungen auf seine Person oder auf
die von ihm eingeschlagenen Wege beziehen mußte. Jeder Mensch
freilich wird in Beurteilung anderer Menschen von seinen persön-
lichen Verhältnissen und Erlebnissen ausgehen, aber als Mahnung zu
vorsichtigem Zurückhalten sei Rp 409 c in Erinnerung gebracht. Ich
möchte einige treffliche Bemerkungen hierherziehen, die P. Shorey
(The unity of Plato's thought p. 72) macht: Wir können doch nicht
behaupten, „PI. und Isokrates könnten nimmermehr gut Freund mit-
einander gewesen sein nach der Erklärung am Schluß der Sophisten-
rede, die Tugend sei nicht lehrbar, oder auch nach irgendeiner
anderen polemischen Anspielung in ihren Schriften. Huxley, Matthew
Arnold, Frederic Harrison, Herbert Spencer und andere Streiter in
den Kämpfen des 19. Jahrh. haben viel schärfere Fechterstöße als
diese mit dem Austausch höflicher oder leicht ironischer Kompli-
mente verbunden." — Im Anschluß an die abgedruckten Sätze wird
von Räder die Helene und die Sophistenrede des Isokr. durch-
stöbert und als selbstverständlich hingestellt, daß PI. sich durch
diese habe beleidigt fühlen müssen. R. mutet uns sogar zu, zu
glauben, es habe „wohl auch PL nicht am wenigsten geärgert, daß
Isokrates von seinen Gegnern erzählte, daß sie sich für ihren Unter-
262 Constantin Ritter.
rieht bezahlen ließen, was unzweifelhaft von PI. nicht gilt" — als
ob ihn ein Vorwurf hätte ärgern müssen, den niemand auf ihn be-
ziehen konnte! Natürlich sieht E. auch in dem, was 89c — e von
den Meistern der Xoyo7ioiiy.i] xä^vq gesagt wii'd (trotz Phs 79 ab),
eine zweifellose Anspielung auf Isoki'ates, und so kommt natürlich
für die Hauptstelle Oidff. heraus (S. 145): „Daß damit der schon
vorher verspottete Isokrates gemeint wird, darf wohl als ausgemacht
gelten . . . Durch diesen Abschluß des Dialoges wird sowohl seine
Veranlassung als sein Zweck uns deutlich gemacht. Er ist ver-
anlaßt worden durch Isokrates' Angriff auf PI. und die Eristiker in
Gemeinschaft, und sein Zweck ist, zwischen PI. und den Eristikern
die Grenze zu ziehen. Gegen beide Seiten macht PI. Front; er
greift nicht nur die Eristiker an, sondern richtet auch einen Gegen-
angriff auf Isokrates. Von dem abfälligen Urteil des Isokr. über
die Eristiker nimmt er sogar entschieden Abstand; wie unbarmherzig
er auch die Eristiker verspottet, fühlt er sich doch am Ende mit
ihnen mehr verwandt als mit den Bedenschreibern. Beide Angriffe
mußten aber ohne Nennung der Namen erfolgen, was schon dadurch
notwendig w^ar, daß Sokr. als Gesprächsperson auftreten sollte." —
Mit diesem Schlußsatz halte man die Bemerkung zusammen , die
"VVilamowitz (II, 156) macht: „Den Antisthenes einzuführen, ver-
hinderte der sokratische Dialog durchaus nicht : das haben die Er-
finder des modernen Antisthenesromans ganz vergessen, obwohl er
doch bei Xenophon auftritt, Aristipp ebenfalls." Wir wollen aber
W. auch über den Schlußabschnitt des Eus hören. Was hat es
für einen Sinn und Zweck, daß Kriton dem Sokr. das Urteil des
unbenannten Kritikers hinterbringt? (II, 165:) „Künstlerisch hat
das die Bedeutung, das Urteil aussprechen zu lassen, das auch der
Leser an diesem Punkte hat, aber vielleicht aus Respekt nicht auf-
kommen lassen will : wie kann Sokr. sich mit dem Gesindel gemein
machen. Das rechtfertigt auch PI. nicht, denn er selber wird nicht
anders denken. Um den Sokr. zu decken, verschiebt er die Frage.
Der Kritiker verwirft die Philosophie überhaupt; zu ihrer, nicht
zu seiner Verteidigung kann Sokr. antworten; die Sophisten gibt
er implicite preis. Es ist nicht natürlich , daß Ki-iton den Mann
nicht mit Namen nennt, und daß Sokr. nicht fragt, wer es war,
sondern ob es ein praktischer Redner oder Redeschreiber war . .
Gewandt hat es PI. so, weil seine allgemeine Antikritik sich gegen
diese ganze Klasse, die toiovtoi, die (.isd^ogia Ttokirix^g xat cpiXo-
Goqiiag richten sollte. Und die Einführung eines unbenannten
Kritikers ist ihm so wenig fremd wie die Berufung auf unbenannte
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 263
Urheber von Lehrmeinungen, z. B. Rp 487 d, 499 d ... Er gehört
unter die zweite von Sokr. unterschiedene Klasse als 7X0L)]Zt]g tcov
koyiüv olg oi QtJTogeg aycoiiZovzai ; Kriton hatte ihn als einen xüjv
jtEQL Toig Xöyovg Toig elg zä dr/.aoTtJQia öeivöJv unterschieden.
Wenn das die Athener lasen und auf einen bestimmten rieten,
wen konnten sie nennen? Isokrates nicht; der schrieb ja nicht
für Prozesse. Daß er das in früheren Jahren getan hatte , mit
geringem Erfolge , konnte jetzt nicht mehr angeführt werden . . .
Die Athener konnten wirklich nur Lysias nennen, auf den bis
hierher alles zutrifft; daß er vor langen Jahren einmal die Rede
gegen Eratosthenes gehalten hatte, fiel nicht ins Gewicht. PI. hat
ihn nicht gemeint, aber unter die ßhetoren, die er abweist, mochte
er immerhin gerechnet werden. Das Folgende trifft kaum mehr auf
ihn zu." Da ist „die Rhetorik im ganzen ebenso gemeint wie die
Eristik im ganzen vorher. Diese mußte im Dialoge ihren benannten
Vertreter haben ; hier werden Klassen unterschieden, und eben des-
halb fällt kein Name. Vor dem Erscheinen des Panegyrikos hatte
Isokr. wirkHch noch nichts getan, was mit der Politik in Verbindung
stand. PL hat also unmöglich auf ihn gezielt. Aber gerade diese
letzte Chai'akteristik traf auf Isokr., wie er sich fühlte und wie
er gelten wollte, zu; er schrieb ja am Panegyrikos. Insofern hat
Spengel ganz recht gesehen. Es ist also wohl denkbar, daß er am
Eus , so sehr ihm die Bekämpfung der Eristiker recht war , eine
geringe Freude gehabt hat ; aber ebenso möglich, daß ihn die letzten
anerkennenden Worte (06 c) versöhnten." Auch ein Satz aus dem
1. Band des PL gehört hierher (S. 301): „Der Kritiker, dessen
Verurteilung der Philosophie Kriton gehört hat, könnte ebensogut
ein Politiker wie Anytos sein ; hier bleibt er namenlos , weil er
die Rhetorik im ganzen vertritt, sowohl die gerichtliche wie die
politische, was sich in einer Person, zumal der sokratischen Zeit,
nicht vereinigte."
Pohlenz findet (S. 363) eine enge Parallele zwischen Rp V
Schluß von 74 c an und dem Schluß des Eus. Da er nicht be-
zweifelt, daß an jener Stelle der Rp PL gegen Isokrates polemisiert,
scheint ihm dieser Umstand „am meisten dafür zu sprechen", daß
Isokr. auch im Eus der Gegner ist. FreiHch erkennt er, daß diese
Annahme ihre Schwierigkeiten hat. „Dann muß der Eus hinter den
Phs fallen," wofür (361) „auch inhaltlich vieles spricht." „Doch
sagt auch Phs 75 a PL : aocpiag ds TÖlg (.lad^r^raig do^av, ov% ali^-
O^Etav TioQi'Ceig. Man hat das Gefühl, daß er auch dort bestimmte
Leute vor Augen hat, aber schwerlich Isokrates. So könnte auch
264 Constantin Ritter.
im Eus ein für uns nicht mehr kenntlicher Gegner gemeint sein.
Dann fiele der Dialog zwischen Me und Phs." — In diese Zeit
wird er wirklich fallen.
V. Arnim (S. 129) schreibt: Die Deutung auf Isokrates „ist
ganz ungewiß. Wäre sie richtig, so müßte der Eus noch in die
Zeit gesetzt werden, wo Isokr., vor der Gründung seiner Schule»
in Athen als Gerichtsredenschreiber tätig war. Denn als solcher
ist der Gegner Pl.s ausdrücklich charakterisiert. Antwort auf 71SQI
üO(piacü)v kann also die Stelle keinesfalls sein, weil in dieser Rede
Isokr. die Anleitung zur gerichtlichen Beredsamkeit ausdrücklich
von sich ablehnt."
Blaß, Att. Bereds. II ^ 35 meint, daß die Stelle auf Isokrates
abzwecke, sei wohl nicht zu bezweifeln, „wenn auch die eingeführte
Persönlichkeit mit etwas unbestimmten Umrissen gezeichnet ist, da
Isokr. ohne Anachronismus sich nicht einführen ließ." Hirzel,
Dialog I, 218 spricht von dem „Pseudo-Isokrates" oder dem „Un-
genannten, in dem man mit Unrecht Isokrates erkennen wollte".
Als abschließend kann man hier das Urteil Prächters (S. 268)
gelten lassen: „Man hat in dem Angreifer Isokrates vermutet und
auf diese Identifizierung weittragende Schlüsse hinsichtlich der
Stellung des Dialogs innerhalb der Beziehungen zwischen Isokr.,
Antisthenes und PI. und hinsichtlich seiner Abfassungszeit be-
gründet. Tatsächlich hat sich Isokr. literarisch in der hier in Frage
kommenden Weise gegen die Eristik im philosophischen Unterrichte
ausgesprochen. Auch die im Eus gegebene persönliche Charakteristik
paßt auf ihn." (Es folgen die Einzelheiten.) . . „Wir können heute
außer Isokr. niemanden namhaft machen , der der Schilderung in
ihren einzelnen Zügen entspräche. Aber daraus folgt noch lange
nicht, daß Isokr. wirklich der Gesuchte ist. Denn unsere Kenntnis
der Literatur und Geistesgeschichte jener Zeit ist durchaus lücken-
haft. Der Isokratesh3^pothese kann also im besten Fall nur Wahr-
scheinlichkeit zugesprochen werden . ."
Fast ebenso zäh wie um Isoki-ates ist der Streit um Antisthenes
geführt worden, d. h. darüber, ob dieser unter den eristischeu
Sophisten, die auf der Szene erscheinen, zu verstehen und also die
Personen Euthydemos und Dionysodoros bloß Maskenfiguren seien.
Auch hier gehört Räder zu den glaubensfreudigsten Jüngern
Teichmüllers. Doch auch Natorp. Und neben ihnen Gomperz.
Hören wir diesen für alle. (S. 433 :) „Es sind Sokratiker und vor
allem Antisthenes, den PI. treffen will, indem er jene Klopffechter
schlägt. Die skurrile Art, in der dies geschieht, liefert wieder ein
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten tkber PI. erschienenen Arbeiten. 265
nnverächtliches chronologisches Merkmal. Der leichtgeschürzte, an
das Possenhafte grenzende Angriff muß der ernsten Bestreitung
antisthenischer Lehren vorangegangen sein, welche der Th und So
enthalten. Das gegenteilige Verhältnis würde eine umgekehrte
Klimax ausmachen , die der Kunstverstand auch eines geringeren
Meisters, als PI. es war, zu meiden gewußt hätte." Nachdem dann
einige Proben von den „paradoxen Fehlschlüssen" gegeben sind, mit
denen sich der Träger der Titelrolle und sein Bruder produzieren,
fährt G. (S. 435) fort: „Nun ist es eine erlesene Malice Pl.s, Lehr-
sätze des Antisthenes in den Aberwitz jener \\'ortverdreher und
Begriffsjongleure einzuschmuggeln. So die Behauptung der Un-
möglichkeit anderer als identischer Urteile, der Unmöglichkeit des
"Widersprechens und unwahrer Aussagen überhaupt . . Es ist ein
polemischer Kunstgriff Pl.s, die von ihm geringgeschätzten Dok-
trinen eines gehaßten Gegners durch die Gesellschaft, in die er sie
einführt, und durch die Personen, denen er sie in den Mund legt,
zu diskreditieren. An Antisthenes läßt uns übrigens schon das
erste Auftreten jener eristischen Marktschreier denken. Denn daß
sie von der Rhetorik zur Dialektik, und zwar erst in vorgerückten
Jahren, übergegangen sind, das ist ein Zug, der den zeitgenössischen
Letter sofort an Antisthenes erinnern mußte , der einen ähnlichen
Weg gewandelt ist und den PI. im So gleichfalls als 'spätlernenden
Greis' verspottet." H. Maier, an dessen Darstellung Wilamowitz
(II S. 164 A.) rügt, daß er der „modernsten Antistheneslegende"
viel zu starke Zugeständnisse gemacht habe, findet doch immerhin
(Sokrates S. 204 f.): „Euthydemos und Dionysodoros sind keines-
wegs Masken . ., sie erscheinen mit voller Deutlichkeit als wirkliche
Sophisten, die bis vor kurzem die vielseitigen sophistischen Künste,
zu denen namentlich auch die militärische Techne gehörte, mit Eifer
und Erfolg getrieben hatten , seit einiger Zeit aber in schon vor-
gerückten Jahren zu einem anderen Geschäft übergegangen waren.
Von der jetzigen Höhe blicken sie geringschätzig auf ihre frühex'e
Beschäftigung zurück. Ihr neues Metier ist die Eristik.'"' Ähnlich
erkennt Apelt (Einl. S. 2) die Geschichtlichkeit des Sophistenpaares
an, das PI. vielleicht von seiner Jugend her „als rechtes Prototyp
für die Sophistenzunft der Gegenwart noch lebhaft vor der Seele
stehen" mochte , will aber doch die Polemik Pl.s zum guten Teil
auf den „dahinter stehenden" Antisthenes gemünzt wissen.
Die Beziehungen zwischen Eus und Th sind unverkennbar.
Und auch ich bin nicht bloß aus sprachlichen Gründen überzeugt,
der Eus geht voraus, der Th folgt später. Umgekehrt faßt Natorp
260 Constantin Ritter.
den Eus (S. 116) als eiueu „Nachtrag, der im Tli so bestimmt an-
gekündigt ist , daß er sogar als Anhang zu diesem , wie eine Art
Satja'spiel, zugleich veröffentlicht sein könnte . . Es ist haupt-
sächlich das Problem des Falschvorsteilens, in welchem die beiden
Schriften zusammenhängen. Im Th (90 e) wird bei der Erörterung
dieses Punktes auf viele absurde Folgerungen hingedeutet, auf die
die Annahme, daß es gar kein Falschvorstellen gebe, führen würde,
die aber Sokr. für jetzt nicht entwickeln will, weil es scheinen
könnte, als träfen die lächerlichen Konsequenzen ihn selbst; denn er
hatte ja die fragliche Ansicht anscheinend zu der seinigen gemacht.
Erst wenn man mit der ganzen Untersuchung fertig sei, so daß
jene schlimmen Konsequenzen nicht mehr ihn, sondern andre treffen,
verspricht er, sie darzulegen. Wenn je PI. in einer seiner Schriften
die nächstfolgende voraus angekündigt hat, dann hier." — ! —
„Im Eus nämlich werden die lächerlichen Konsequenzen jener
törichten Voraussetzung (besonders 85 — 88) ergötzlich genug ent-
wickelt. Daß es sich hier wieder" — wie im Th — „um Antisthenes
handelt, dafür gibt es diesmal einen di-eifachen äußeren Beweis." . .
(118) „Wie aber der Th in der angeführten Stelle deutlich auf den
Eus vorausweist, so findet sich, und zwar wieder in demselben
Sachzusammenhang, eine andre Stelle des Eus, die nicht minder
greifbar auf den Th zurückdeutet," nämlich 86 c (nebst 88 a).
„Das gegen Protagoras dort Bewiesene, will PI. sagen," — nämlich
„daß die Meinung, jede Meinung . . sei wahr, sich selbst widerlegt",
indem sie auch die entgegengesetzte Meinung für wahr erklärt —
„trifft ebenfalls den Antisthenes, dessen Weisheit in diesem Punkte
nur Wiederaufwärmung der des Protagoras ist."
Ki'äftigen Einspruch gegen dieses ganze Verfahren des Text-
ausdeutens und Zwischen-den-Zeilen-Lesens hat namentlich Wila -
mowitz erhoben. Er schreibt (I S. 296): „Die meiste Mühe ist
daran verschwendet worden, hinter Euthydem einen vornehmeren
Gegner herauszufinden und einen am Schlüsse namenlos eingeführten
Kritiker des Sokr. zu benennen. Verlorene Liebesmühe. PI. kämpft
(wie im Cra) gegen eine falsche Methode , die zwar noch gegen-
wärtig herrscht, aber aus dem 5. Jahrhundert stammt. Für sie
braucht er einen Vertreter, der Zeitgenosse des Sokr. ist: das ist
Euthydemos. Und am Schlüsse verteidigt er die Philosophie gegen
die Rhetorik: Gattung gegen Gattung: es ist eine Herabwürdigung,
diese Kämpfe zu persönlichen Fehden zu machen, übrigens auch
nur dadurch ermöglicht, daß hier oder da ein Sätzchen heraus-
gegriffen wird, statt auf das Ganze zu sehen." (II, 155:) „Man
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 267
hat die Existenz des Dionysodoros bezweifelt , und Xenophon
(Mem. III, 1, 1) konnte ihn allerdings aus PI, übernehmen. Aber
daß er nicht weiter bezeugt und die Verdopplung der Sophisten
ein besonders glückliches Motiv ist, genügt nicht, einem solchen
baren Einfall Halt zu geben." (159:) „Am meisten Staub hat die
Leugnung des avxiXtyeiv und x^'EvÖEoitaL durch die Sophisten auf-
gewirbelt. Sokr. erklärt 86 c, das wäre eine alte Behauptung, deren
sich Protagoras -/.al o\ in TtaXaioregoi häufig bedient hätten . i
Es ist damit , sollte man meinen , jede Beziehung auf einen Zeit-
genossen ausgeschlossen; hält einer an dem alten Satze fest, so
war es auch für ihn gesagt, aber einen persönlichen Angriff konnte
niemand in den Worten erkennen." Das Ergebnis der weiteren
Prüfung ist (S. 161): Man „kann gar nicht anders urteilen, als daß
PL im Eus und Cra ganz ohne jede Spitze gegen Antisthenes
schreibt" . . „Es ist auf das schärfste zu betonen und demgemäß
auch anderes zu beurteilen , daß PLs Polemik jedes persönlichen
Akzentes entbehrt; er bestreitet eine falsche, aber schon durch die
eindringliche Widerlegung als beachtenswert anerkannte Ansicht."
(Ähnlich noch einmal S. 165.)
Wieder kann man hier Prächters Urteil als abschließend
annehmen ^). Es steht S. 268. Im übrigen verweise ich auf meine
eigenen, Piaton I S. 458 f. gegebenen, Ausführungen. Zwei Sätze
daraus schreibe ich hier ab: „Am glaublichsten ist mir (nach den
Indizien, die heute für uns voi-liegen), daß der Euthydemos ge-
schrieben ist zu einer Zeit, da Piaton auf den Gedanken politischen
Wirkens in der Heimat verzichtet hatte und nun, wahrscheinlich
nach längerer Abwesenheit von Hause, sich die Verhältnisse darauf
ansah, wo er am besten Stellung nehmen könnte, um wenigstens
das freie Spiel der geistigen Kräfte nach eigenem Sinne eingreifend
mit zu bestimmen. Er fand es schlimm und ärgerlich , daß die
Philosophie, der Sokrates in so ernstem Sinne gedient hatte, durch
das eitle Treiben nichtiger Gesellen entwürdigt wurde und daß die
anderen Schüler des Sokrates solchem Unfug nicht steuerten. Und
er will sich Raum schaffen, indem er gründlich ausfegt."
Die betrachteten Versuche, Anspielungen auf bestimmte Per-
sonen und womöglich auch literarische Leistungen von solchen
nachzuweisen, haben immer zugleich Bedeutung für den chrono-
logischen Ansatz der Schrift, die solche Anspielungen enthalten soll.
Die erkannte Unmöglichkeit sicherer Nachweisungen für den Eus
*) Sehr gut sind auch die Bemerkungen Bonhöffers S. 153 A. 1.
268 Constantin Ritter.
veranlaßt uns , nach anderen Anhaltspunkten für seine Datierung
zu suchen. Wie verhält sich der Eus zu anderen platonischen
Schriften? Auch da zeigt sich wieder, daß aufgefundene Be-
ziehungen zweideutig zu sein pflegen. Vom Verhältnis zwischen
ihm und dem Th war schon die Rede. Sehen wir nach seinem
Verhältnis zum Me. Da belehrt uns Gomperz (S. 435 f.): in der
Betrachtung, die der Eus über die Güter des Lebens anstellt,
kommt zutage, daß die Einsicht, die den richtigen Gebrauch lehrt,
das einzige unbedingte Gut ist. Die ganze Erörterung darüber
„liefert einen sicheren Beweis dafür, daß der Eus dem Me nach-
gefolgt ist. Denn während im Me die Frage nach der Lehrbarkeit
der Tugend weitläufig verhandelt wird, bejaht sie Sokr. hier ohne
weiteres, mit einem kurzen Worte freudiger Zustimmung." Anders
sieht V. Arnim die Sache an. Er erklärt (S. 126 f.), daß der Me
88 b „den ganzen Gedankengang aus dem Eus kurz rekapituliert
und in den Zusammenhang der Untersuchung über die Lehrbarkeit
der Tugend hineinstellt. Man kann also nicht bezweifeln, daß der
Me später geschrieben ist als der Eus und in gewissem Sinne eine
Fortsetzung desselben ist." E,äder stimmt zwar bezüglich der
Folge Me — Eus mit Gomperz überein; aber seinen Beweis läßt er
nicht gelten. Er sagt (ö. 143 A. 4), „Gomperz (vgl. Bonitz^ S. 122)
sieht in dieser Stelle einen sicheren Beweis dafür, daß der Eus
später ist als der Me, weil die im Me behandelte Frage . . hier als
erledigt behandelt werde. Er hat aber übersehen, daß die 'freudige
Zustimmung' nicht der Lehrbarkeit der Tugend gilt, sondern der
der Weisheit, welche auch im Me vorausgesetzt wurde. In beiden
Dialogen ist der Gedankengang derselbe ; nur wird der Beweis im
Eus mit größerer Sicherheit geführt." — Auch Wilamowitz
(I, 301) urteilt: „der Me wird vorausgesetzt (daß die Tugend
lehrbar ist, gilt als zugestanden)." Ebenso Apelt (S. 97 A, 30):
„Diese Frage , deren Lösung der ganze Dialog Me gewidmet ist,
gilt also hier ohne weiteres in bejahendem Sinne beantwortet."
Auch sonst herrscht bei den Versuchen, den Eus einer chrono-
logischen Reihe einzuordnen , kein volles Einvernehmen und die
vorgebrachten Beweise könnten zum Teil gerade umgestülpt werden.
Z. B. sagt V. Arnim (S. 123): „Daß der Eus den im Ch unldar
gebliebenen Punkt" — über das „Verhältnis der Fachdisziplinen
zur höchsten Wissenschaft" — „klarer macht, zeigt, daß dieser
Dialog nach dem Ch geschrieben ist. . . Der Eus ist . . das Binde-
glied zwischen der ersten" (nach v. Arnim Pr, La, Ly, Eu, Ch, Eus
umfassenden) „und der zweiten Schriftengruppe. Er bringt nicht
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten ttber PI. erschieneneu Arbeiten. 269
nur den Abschluß der ersten und teilt mit ihr die nach Gegenstand
und Methode für sie bezeichnenden Merkmale , sondern hat auch
eine unverkennbare Verwandtschaft mit dem G, dem Me und dem
Cra. Darum muß er unmittelbar vor dem G geschrieben sein."
(127:) „Es wäre ganz verkehrt, daraus, daß im Ch die Wissen-
schaft vom Guten genannt wird, während im Eus das Suchen nach
der höchsten Wissenschaft sich in Widersprüche verwickelt und
vergeblich bleibt, auf die spätere Entstehung des Ch zu schließen.
Ausschlaggebend für die Prioritätsfrage ist vielmehr die Tatsache,
daß im Eus der begriffliche Gegensatz zwischen der höchsten
Wissenschaft und den übrigen Wissenschaften scharf formuliert und
die Art, wie sie zur Glückseligkeit zusammenwirken sollen, genau
bestimmt wird, während im Ch dieser wichtige Punkt unklar bleibt.
Man kann daraus mit Sicherheit schließen, daß der Eus nach dem
Ch geschrieben ist. Er repräsentiert ihm gegenüber eine höhere
Stufe in jener methodischen Entwicklung des Problems der höchsten
Wissenschaft, die sich als roter Faden durch die ganze Reihe der
Jugenddialoge hindurchzieht." (129 f.:) „Auf den ersten Blick sieht
man die nahe Verwandtschaft" zwischen Eus 89 e f. und G 63 c,
„wo die Rhetorik 7roXLTi/.ijg f.wQiov eiöcokov und uoqiov rrjg /.oXa-
"KEiag genannt wird." „Da nun für den Gedankengang im Eus dieser
Ausfall gegen die Rhetorik absolut überflüssig ist und sich nur aus
der gereizten Stimmung Pl.s gegen seine rhetorischen Rivalen er-
klären läßt, der er im G Luft machte, so muß man urteilen, daß
diese Stelle sehr gut zu einer den Eus unmittelbar vor den G
rückenden Datierung stimmt." Warum sie nicht ein Nachhall aus
dem G sein sollte, vermag ich ebensowenig einzusehen, als ich den
vorgetragenen Beweisen über die Priorität des Ch vor dem Eus,
an die ich selber glaube, so ganz sicher trauen möchte. — Weiter
schreibe ich aus v. Arnim noch ab (S. 135 ff.;: „PI. hat in seiner
dogmatischen Lehre von der Idee des Guten Rp VI 05 b ausdrück-
lich auf die Aporie des Eus Bezug genommen . . Diese Rp-Stelle
ist als Rekapitulation der Erörterung im Eus anzusehen. Wir sind
daher berechtigt, aus ihr zu entnehmen, was PI. positiv dachte und
unter dem Schleier der Aporie verhüllt seinen Lesern darbieten
wollte, als er den Eus schrieb . . . Ist aber hierdurch der . . Gehalt
der Erörterung im Eus richtig gedeutet, so ist klar, daß dieselbe
dem Ziel, welches PI. mit der ganzen Reihe seiner Jugendwerke
verfolgt, näher kommt, als irgendeines der früheren Werke, daß also
der Eus das letzte Werk dieser Reihe sein muß." Dazu stimmen
folgende Sätze aus Wilamowitz (I, 305): „Ängstlich vermeidet
270 Constantin Ritter.
PL, dem Hauptwerke vorzugreifen, an dem er längst arbeitet, das
seinen eigentlichen Plan, seine Philosophenpolitik, enthüllen soll.
Dennoch zeigt gerade die Behandlung der königlichen Kunst, daß
ihm bereits Gedankengänge bekannt sind, auf die er erst viel
später . . im Po seine Leser führen wird. Ebenso wie der Me
weist der Eus auf die Rp voraus ; beide würden ohne diese Hin-
deutungen in sich geschlossener sein; allein PI. wollte eben daran
keinen Zweifel lassen , daß Philosophie und Politik zusammen-
gehörten; darin lag, daß seine Schule auf beide vorbereiten wollte.
Me und Eus zusammen , wie sie zusammen verfaßt sind , werben
für die neue Schule, der erste wie ein Programm, der zweite wird
ein Protreptikos zum Eintritt." Dem reihe ich noch einmal einige
Sätze Räders (S. 146) an: „Das höchste Ziel, zu dem uns . . der
Eus führt, ist die Zusammenstellung der 'königlichen Kunsf und
der Dialektik . . Etwas Näheres wird darüber nicht ausgesprochen,
was erst in der ßp geschehen sollte , die daher als ein späteres
Werk Pl.s aufgefaßt werden muß. Anderseits . . zeigt . . der Spott
über die Lehre von der Anwesenheit der Begriffe in den Dialogen,
daß der G schon vorlag" — warum nicht etwa bloß der Eu? —
„und das Fehlen der Frömmigkeit unter den Kardinaltugenden setzt
den Eu voraus . ." Treffend erinnert Bonhöffer (S. 152 A.),
„daß die Ausführungen des Kleinias über die GTQaTrjyinTJ , die er
als species der d^r^QEvxiv.ri betrachtet, und die weitere Diärese der
rix^ai in noirjTiAal und d^rjQEiTixal (90b ff.) schon eine kleine
Vorübung bilden auf die Methode der Klassifikation, die PI. später
im So und Po angewendet hat".
Ich glaube : mit größter Bestimmtheit darf man behaupten, der
Eus und der Cra können zeitHch nicht weit auseinanderliegen.
Wenn man den Ch und La als Zwillingsbrüder betrachten darf,
dann gewiß nicht weniger sicher den Eus und Cra. Darüber wird
bei Betrachtung des Cra noch zu reden sein.
Über die künstlerische Form des Werkes höre man vor allem
Wilamowitz (I, 296): „in ihm ist eine Kunst des Aufbaus und
der Dramatik aufgeboten , die den Werken der höchsten Meister-
schaft ebenbürtig^) ist. Der Dialog pflegt nicht nach Verdienst
eingeschätzt zu werden, weil die Gegner, die er überwindet, diesen
^) Auch Apelt (Einl. S. 1) erklärt, hinsichtlich der künstlerischen
Vollendung gehöre der Eus zu den hervorragendsten Leistungen Pl.s
und spricht (S. 15) von dem „Reiz, den das mit ganz außerordentlichem
Kunstverstand entworfene Werk" mit seinem „wohltuenden Wechsel von
Erregung und Beruhigung" „auf den aufmerksamen Leser ausübt".
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 271
Aufwand von Witz nicht zu vei'dienen scheinen, und ftii- Pl.s
Philosophie Positives kaum herauskommt." (305:) „In dem archi-
tektonischen Aufbau kommt ihm kein Dialog an Geschlossenheit
und Harmonie gleich." Schade, daß mir der Raum nicht erlaubt,
die folgenden 1^/2 Seiten abzudrucken. Doch ist nicht unrichtig, was
Prächter (S. 267) bemerkt, daß für uns nicht bloß das historische
Verständnis, sondern auch „der Genuß dadurch beeinträchtigt werde,
daß uns die zeitgeschichtlichen Beziehungen des Werkes nur un-
vollkommen bekannt sind". Gut ist auch der Wink, den Bou-
höffer (S. 152 A.) gibt: „Eine besondere Finesse ist es, wie PL
im zweiten Gespräch den Kleinias auf einmal selbständig und ganz
vernünftig die Untersuchung fortführen läßt, so daß sich Kriton
baß verwundert. Es soll hier eben gezeigt werden, daß bei der
sokratischen Manier des öialeyead^ai die jungen Leute wirklich zum
Denken erzogen werden; und wenn Sokr. hernach sich stellt, als
wüßte er nicht mehr sicher, ob Kleinias oder ein anderer das
Betreffende gesagt habe, so ist das lediglich seine höfliche Be-
scheidenheit, die nicht mit Erfolgen prunken will."
Den „Zweck und Hauptinhalt" des Eus habe ich (PI. I S. 455)
mit folgendem zu beschreiben gesucht: „Es soll gezeigt werden:
die Philosophie ist die wichtigste Beschäftigung für den Menschen.
Aber man darf die Philosophie nicht in der bloßen Schlagfertigkeit
des Disputierens und formallogischer Gewandtheit suchen, die nur
der persönlichen Eitelkeit dient und die sachliche Erkenntnis nicht
fördert. Richtig betrieben , im Sinn und nach dem Vorbild des
Soki'., wird sie immer Rücksicht nehmen auf den höchsten Zweck
alles Handelns. So ist sie dann die sichere Grundlage der Staats-
kunst. Dagegen so ein Mittelding zwischen Philosophie und Politik,
das statt ihrer empfohlen wird, ist nichts Rechtes." — Bonitz
hatte (PI. Stud. 2 121) als „Absicht des Ganzen" angegeben: „Der
Beruf der Philosophie , die wahre Bildnerin der Jugend zu sein,
wird gerechtfertigt gegenüber der Scheinweisheit, die an ihre Steile
eintreten will, durch Selbstdarstellung der einen und der anderen."
Kühnemann (Grundl. S. 286) ist damit nicht ganz zufrieden.
Er will lieber sagen : „Wesen und Bedeutung der Philosophie als
Lebensmacht" und bezeichnet als „die das platonische Wesen kon-
stituierenden Züge der Schrift : in ihr kommen zusammen der Er-
ziehungsgedanke, das ethische Problem und die Frage von Wesen
und Bedeutung der Philosophie. In ihrem methodischen Denken
ist die Philosophie die Erziehung des Menschen zur Klarheit, und
ohne sie kann er nicht leben. Aus den ethischen Fragen springt
272 Constantin Ritter,
die Beziehung auf die sittliche Gemeinschaft heraus. In diesem
ihrem großen Problem als einer Aufgabe reiner Erkenntnis, die auch
um der Erziehung der Menschen willen unumgänglich, erweist die
Philosophie ihre Notwendigkeit und ihre Würde." Apelt dagegen
(S. 15) gibt Bonitz vollkommen ßecht. Dazu sagt er selbst noch:
„Was PI. den Griffel in die Hand drückte, war nicht das vorüber-
gehende , gelegentliche Interesse , der Petulanz gewisser wissen-
schaftlicher Gegner entgegenzutreten und sie in ihrer Nichtigkeit
bloßzustellen, sondern die schwere Gefährdung der ganzen sittlichen
Bildung seines Volkes durch die Sophisten und gewisse sophistisch
gerichteten Sokratiker . . Dieser Gefahr vorzubeugen . ., setzte . .
PI. alles daran. . . Er will sich und seiner Schule einen Platz an
der Sonne erkämpfen."
Von Einzelheiten wird namentlich 00 e f. umstritten. Be-
sonders handelt es sich um die Vermutung Zellers zu 01a luv
ow nauayifijiai ool ßocg, ß'/di; £i, /.ai oci vcv fyio aoi udgeiini,
JiovvaodwQog ti, „daß Antisthenes in seiner Weise das Beispiel
vom Ochsen wirklich gebraucht hat, worauf dann PI. dadurch ant-
worten würde , daß er ihn selbst in der Person Dionysodors zu
der gleichen Exemplifikation verwendet." Bonitz^ (S. 134 A.) hat
diese Vermutung, die auch von Apelt (S. 134 A. 92) gebilligt, von
Prächter wenigstens für „beachtenswert" erklärt wird, „höchst an-
sprechend" gefunden. Wilamowitz (II S. 158) äußert darüber:
„Der dumme Paralogismus ist, kaum sollte man's glauben, für eine
antisthenische Widerlegung von Pl.s (.itOe^ig tol el'öovg erklärt
worden. Die Grobheit mit dem Ochsen soll antisthenisch sein.
Ich denke gering von ihm, aber so dumm war er doch nicht, auf
TKXQEaiL y.aKKog tl einen solchen Schluß zu bauen. Dabei ist der
eigentliche Witz gar nicht verstanden. 'Wenn ein Ochse bei dir
steht, wirst du ein Ochse, und wenn Dionysodor, ein Dionysodor' :
das heißt: im ersten Piille sinkst du zum Tier hinab, im andern
steigst du zum Weisen hinauf.' Sokr. versteht und sagt mit herr-
licher Bosheit €tf/>y/£< xuiiö ye . . Also von der Ideenlehre und
von Antisthenes ist hier nichts; die Ideeulehre wäre den Lesern
auch unverständlich gewesen, denn wo sollten sie sie her kennen?
Und nur wer Anspielungen jagt und darüber das Ganze vergißt,
kann so etwas unter den Schnacken erwarten." — Ich denke, so
ganz einfach, wie W. meint, liegt die Sache doch nicht. Voraus
geht die Frage des Dionysodoros : 'Hast du schon ein -/mIov Jigäyita
gesehen?' 'Sogar viele,' antwortet ihm Sokr. Nun fragt er weiter :
^icega oi'za xov y.aXov r^ ravca ziit /.ahTt;^ worauf nach einigem Be-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 273
denken die neue Antwort erfolgt : 'evega avrov tov '/.aXovj ndgeavi
fASiTOi EKaOTO} avtüJv '/.akhog Tt.' Es handelt sich hier wirklich
um das Problem der 'Ideenlehre', um den Grund einer gültigen
Aussage, die immer ein Subjekt mit einem Prädikat verbindet. Zu-
grunde liegt das Bedenken (das, wie wir aus Aristoteles wissen,
auch von Antisthenes ausgesprochen worden ist): wie kann über-
haupt mit einem Substantiv ein adjektivisches Prädikat verknüpft
werden? welchen Sinn hat das? PI. ist überzeugt: es hat bei der
richtigen Aussage seinen guten objektiven Grund. Aber der wäre
schwer anzugeben. Man kann dafür das Wort 'Idee' setzen. Damit
ist aber nur die Aufgabe zur Erforschung dieses Grundes bezeichnet.
Der Cra spricht deutlich wenigstens so viel aus, daß diese objektive
Grundlage des richtigen Urteils etwas Unveränderliches und Un-
sinnliches sein muß. Daß „wenn Sokr. statt nccQEOTi ngoaeOTt
gesagt hätte wie Sophokles (Trag, adesp. 355), was er „ebenso gut
tun" konnte, „diese Replik unmöglich wäre", halte ich nicht für
richtig. Eher kann ich Lutoslawski (S. 212 A. 173) zustimmen:
^nagslrai wird genau in derselben Bedeutung in einigen der kleinen
Dialoge gebraucht, wie Ch 59 a und Ly 17d, gleich TtaQayiypsad-ai
in La 89 e. Dieser Gebrauch entspricht nicht der Terminologie
der Ideenlehre." Auch sonst bin ich mit den auf Pl.s Philosophie
bezüglichen Bemerkungen, die W. in diesem Zusammenhang macht,
durchaus nicht ganz einverstanden.
Eine Frage möchte ich stellen zu dem 93 c in allen guten Hss.
überlieferten eq>r]g. Wohl alle unsere Ausgaben von Stephanus an
ändern es ab , zu q^T^g oder eingeschobenem e'cpt]. Schanz gibt im
Apparat : Icpt] Stephanus : e'iprjg B T, q>f^g Heindorf (e'q^r]g iniOTaaS^ai
apogr. Marcianum 189); aus Burnet ersehen wir, daß auch W e(pr]g
überliefert. Soviel ich weiß, finden wir im ganzen Text der echten
piaton. Schriften dieses der Koine angehörige ecprjg bei der guten
Überlieferung nur noch an einer einzigen Stelle, dort aber ebenso
einstimmig, nämlich G 66 e. Dort hat es Burnet stehen lassen.
Er liest frcel lo ftaycc dvvaod^ai eq^rjg ayad-ov sivai und fügt bei:
k'cprjg BTPF Stobäus: q^fjg Baiter. (Schanz folgt Baiter.) Ditten-
berger hat einst die Vermutung ausgesprochen, das zunehmende /ntjv
in den späteren Schriften Pl.s sei aus dessen Aufenthalt in Sizilien
zu erklären. Das erwies sich als unhaltbar. Aber sollte nicht der
vielgereiste Mann jenes l'(fr]g vorübergehend unbewußt aus der
Koine aufgenommen haben, um es wieder fallen zu lassen, wie er
wieder ganz in der Vaterstadt heimisch geworden war? Und falls
es im G stehen bleiben darf, dann vielleicht auch im Eus?
Jahresbericht für Altertumswissenachaft. Bd. 191 (1922. I). 18
274 Constantin Ritter.
Schließlicli möchte ich darauf aufmerksam machen, daß doch
Avohl auch in 03 e (nicht bloß in 04 e) ein Zitat vorliegt : aiExvcog
usv ra> ovTi ^iggaTtTSTE ra OTOf-iaza tcZv av^gcoTtiov^ iüotveq xal
(pars. Im platonischen Dialog selber haben ja die beiden Streit-
künstler diesen Ausdruck nicht gebraucht. (Allerdings| ist man
nicht genötigt, an eine schriftliche Vorlage zu denken.)
Kratylos {= Cra): behandelt von Pfleiderer S. 318 — 24,'Xutos-
lawski S. 220—33, Gomperz S. 448—50, Natorp S. 119—261 Räder
S. 146—53, Ritter S. 462—76, Windelband -Bonhöffer S. 153 f.,
Wilamowitz I S. 284—90, Frachter S. 271—4, Kiock, De Cratyli
Platonici indole ac fine, Breslau 1913.
Recht gut in aller Kürze finde ich die Darstellung von
Gomperz. Einige Sätze ziehe ich aus: „Zu den piaton. Werken,
die in erkenntnistheoretischer Rücksicht eine Vorstufe des Th be-
zeichnen, gehört, wie der Me und das Sy, so auch der Cra . . Er
erörtert . . die symbolische Bedeutung einzelner Laute, sehr ähnlich
wie Leibniz und Jakob Grimm es getan haben ; er erkennt in der
Nachahmung äußerer Bewegungen durch die Bewegung der Sprach-
werkzeuge einen Hauptfaktor der Sprachbildung, einen wirksameren,
als die Lautnachahmung . . es ist. Zwischen diesen Einräumungen
aber und der Anerkennung , daß die jenen Quellen entstammende
Urbedeutung der Worte für uns zumeist nicht mehr zu enträtseln
ist, besteht kein Widerspruch. Denn die Vergleichung griechischer
Mundarten hat PI. mit Erscheinungen des Lautwandels bekannt ge-
macht. Dieser und die von ihm unumwunden zugestandene Mit-
wirkung eines Elements ganz eigentlicher ''Konvention' . . haben
den anfänglichen Laut- und Bedeutungsbestand derart verändert,
daß zwischen einst und jetzt eine nicht mehr auszufüllende Kluft
gähnt. Stünde es aber auch anders , so wäre die Sprache noch
immer kein geeigneter Schlüssel, uns das Wesen der Dinge auf-
zuschließen. Auch dann wäre es . . vorzuziehen , die Originale
selbst und nicht ihre 'Abbilder' ins Auge zu fassen. Und — was
das Wichtigste ist — diese würden im besten Fall nur die Er-
scheinungen, die Welt des Werdens widerspiegeln. Die Erkenntnis
der Ideen aber oder der an und für sich seienden Wesenheiten,
die Erkenntnis im eigentlichsten Sinne, würde selbst durch das ein-
dringendste Verständnis ursprachlicher Worte nicht gefördert."
Als Ergänzung dazu einiges aus Wilamowitz (S. 292):
„Pl.s Meinung . . ist , . offenbar, daß der Sprachschöpfer, wer er
auch war, mit dem Klange irgendwie dasjenige kenntlich zu machen
Ber, über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 275
versucht hätte, was die Wörter bezeichnen. Soviel ich sehe, sind
wir auch nicht klüger geworden." (286 f. :) „PI. hatte . . einst den
Kratylos zum Lehrer gehabt, also selbst diese Lehre" — daß die
Etymologie ein unfehlbares Mittel zur Begriffsbestimmung sei —
^als tiefe Weisheit überkommen. Der Einfluß des Sokr. hatte das
zurückgedrängt, aber einigen Reiz hatte es für ihn doch behalten,
und selbst im Alter machte es ihm Freude , mit Etymologien zu
spielen, auch wenn er ihren W^ert für die Erkenntnis des Begriffes
noch viel geringer anschlug als in seinem Cra. Der ist geschrieben,
um sich selbst und seine Schüler von dem Wahne gründlich zu
heüen, daß in den Buchstaben oder dem Klange eines Wortes sein
Sinn zu finden wäre; er erklärt diesen Weg für ungangbar, aber
er tummelt sich zum Vergnügen so lange auf ihm, wie es nur einer
tut, der sich weit auf ihn vorgewagt hatte, ehe er sich überzeugte,
daß es ein Holzweg war." (285) Es herrscht, wie im Eus, „eine
geradezu übermütige Laune : nie wieder ist PI. sich seiner Über-
legenheit so freudig bewußt gewesen , niemals hat er seiner Lust
und seinem Geschick zu scherzen und zu spotten so freien Lauf
gelassen, so daß er dem Leser den seltenen Genuß bereitet, herz-
haft lachen zu können , und wir freuen uns mit ihm , daß er die
hoffnungsvollen Jahre erlebt hat, deren Niederschlag Eus und Cra
sind." (293) „In der Tat ein lustiges Buch. Wir können . . nicht
anders als lachen und wissen sofort, woran wir sind, wenn wir als
erstes hören, daß Hermokrates, der Unterredner des Sokr., gar nicht
so hieße , weil er arm ist und ihm nicht glückt , die Armut los-
zuwerden; ein Name, der den Hermes, den Geber des Gewinnes,
einschließt, paßt nicht auf ihn. Da wäre es auch kein Name,
sondern ein sinnloser KJang. Und bald geht ein wahres Feuerwerk
des tollsten Witzes los , ein Sprühregen von mehr oder weniger
geistreichen Etymologien prasselt auf uns nieder, und das Hübsehe
ist, daß wir zuerst gläubig zuhören, bald aber irre werden, Scherz
und Ernst nicht mehr scheiden, bis wir gar von wirklichen Namen
auf das Schöne und Schlechte . . und Gerechte geraten, also Be-
griffe , um die sich die Untersuchung in Pl.s Schule zu drehen
pflegt, die aber kaum noch als Namen gelten können." . . (295) „Die
dramatische Anlage des Dialoges ist kunstlos."
Dann aus Bonhöffer: „In dem Ringen nach einer Lösung
spricht PI. . . eine Reihe der fruchtbarsten und genialsten Gedanken
aus, die ihn als den eigentlichen Begründer der Sprachphilosophie
erscheinen lassen. So scharfsinnig er den wirklichen Einklang der
sprachlichen Laute mit den durch sie bezeichneten Vorstellungen.
18*
276 Constantin Ritter.
aufzuzeigen vermag . ., so klar erkennt er die Unzulänglichkeit
dieses Erklärungsprinzips und kommt schließlich darauf hinaus, daß
das Wort kein eigentliches dijXw[.ia TtQccyf.iaTog, sondern nur ein
fiifur]fia sei, daß die Dinge nicht durch die Worte, sondern durch
die a?yy^Eia tcZv ovtiov (38 d), d. h. durch die Ideen, erkannt werden.
Dieser Begriff der Idee , durch welche allein eine ßsßaiOTrjg z^g
ovGiag (86 a) und gegenüber dem heraklitischen Fluß aller Dinge
eine Erkenntnis gewährleistet wird , tritt in diesem Dialog erst-
mals in höchst bedeutsamer Weise hervor und verleiht ihm neben
der Wichtigkeit und Originalität des Hauptthemas noch einen be-
sonderen Wert."
Die große Bedeutung des Cra als eines Marksteins für die
Entwicklung der philosophischen Gedanken Pl.s und namentlich für
seine logischen Untersuchungen tritt bei Lutoslawski in helles
Licht (S. 221 f.): „Die Existenz von Dingen wird behandelt als un-
abhängig von den Wörtern , mit denen wir sie definieren , und es
wird ihnen ihr selbständig beharrendes Wesen zugeschrieben (86 a
und 23 d) ... Was dieses Wesen oder diese Substanz der Dinge
und sogar der Handlungen (87 d) sei, macht PI. noch nicht völlig
klar. Sein erster Schritt ist nur, daß er versichert, sie müsse be-
harren, während die Erscheinungen wechseln. Die Beständigkeit
des Wesens der Dinge folgt aus der Möglichkeit des Wissens, die,
nachdem der Me sie festgestellt, niemals mehr in Zweifel gezogen
wird und hier als die Grundlage denkender Betrachtung gilt. Blieben
die Dinge niemals dieselben, dann wäre nichts in ihnen, wovon ein
Sein ausgesagt werden könnte (39 e). Wenn ein Ding dem Wechsel
unterliegt, wird es ein anderes und entspricht nicht länger dem
Begriff, den wir zuerst von ihm bildeten. Bei solch beständigem
Wechsel wird Wissen unmöglich, weil Wissen sich auf ein be-
stimmtes Sein bezieht, und wenn dieses Sein ein anderes wird,
dann kann sich unser Wissen nicht mehr darauf beziehen , weil
Wissen kein unbestimmtes Objekt haben kann (40 a). Das Wissen
selbst muß, um Wissen zu sein, unverändert und wandellos bleiben.
Denn wandelt es sich und entspricht nicht länger dem Begriff des
Wissens, dann hört es schlechterdings auf. Wissen zu sein (40 ab).
Dieser Gedankengang ist von grundlegender Bedeutung für Pl.s
Logik und für den Ursprung der Logik überhaupt. Er wiederholt
sich manchmal in späteren Schriften; die Tatsächlichkeit eines von
wahrer Meinung verschiedenen Wissens ist ein Axiom und Voraus-
setzung der Wissenschaft. Aber Wissen kann sich nicht mit ewig
veränderlichen Objekten befassen. Das Ziel ist Beständigkeit in
Ber. über d. in d. letzten J ahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 277
seinen Gegenständen zu entdecken, und diese, die Begriffe unseres
Verstandes, können, wenn sie von wirklichem Wissen erfaßt sind,
keinen Wandlungen unterliegen. Wandeln sie sich, dann waren sie
von Anfang an nicht durch Wissen, sondern durch irriges Meinen
gewonnen." (224:) „PL ist wirklich vorsichtig mit seinen ersten
Schritten in der Logik und gesteht , daß die endgültige Lösung
dieser Probleme" (die im Verhältnis des allgemeinen Wesens zu
den Einzeldingen liegen) recht schwierig ist (40 c), doch ermuntert
er seine Leser zu beherztem tüchtigem und unablässigem Nach-
forschen (40 d). Er scheint eine spätere Ausführung damit in Aus-
sicht zu stellen, daß Sokr. und Kratj^los am Ende des Dialogs sich
gegenseitig ans Herz legen , die Sache zu erwägen. Das ist in
vollem Einklang mit der Stelle , die der Dialog als Einführung in
Pl.s besondere logische Studien einnimmt." (227:) „Anzugeben was
für eine Methode angewendet werden solle, um sich der Wahrheit
zu versichern, lehnt PI. ab (39 b), aber er betont, daß Wissen nicht
von Wörtern aus zu gewinnen ist (39 b)." Er „beansprucht für
seine philosophischen Zwecke über die Richtigkeit der Wörter zu
entscheiden (25 a), ihre Bedeutung abzuändern und neue Wörter zu
bilden in Übereinstimmung mit den Anforderungen seiner Dialektik.
Von dieser Freiheit hat er in seinen späteren Werken ausgiebig
Gebrauch gemacht , während uns nur wenige neue Wörter in den
sokratischen Dialogen be2:eg;nen."
O OD
Auch Natorp verdient zum Wort zu kommen. (121ff. :) „Sach-
lich interessieren uns aus den Erörterungen des Cra hauptsächlich
folgende Punkte : 1.] (85 ff.) Wahr heißt der Satz, welcher von dem
was ist (d. h. stattfindet, der Fall ist) aussagt daß es ist, falsch,
welcher (von demselben) aussagt daß es nicht ist. Dies Sein und
Nichtsein aber muß einen in sich gegründeten , objektiven Sinn
haben . ., eine gewisse Festigkeit oder Gewißheit . . . (Der Begriff,
der zum Prädikat in einem wahren Urteil dient, muß gegründet
sein und kraft der Begründung mit identischem Sinn feststehen.)"
Die „Sachen (/r^aj^/^ara)" — auch Handlungen werden zu ihnen
gerechnet — werden als Gegenstände des Begriffs, als der Inhalt
des Gedachten, vom Subjektiven des Denkvorgangs unterschieden
und mit eigener, fester Wesenheit oder eigener Gesetzlichkeit aus-
gestattet, der gemäß sie richtig sind oder richtig geschehen. „In
diesem Merkmal des richtigen geht der Begriff der 'Natur' einer
Sache schon in den teleologischen Nebensinn über: eine Handlung
geschieht ihrer Natur gemäß, wenn sie geschieht wie sie soll, wie
der Zweck es vorschreibt . . Das überträgt sich . . auf das Werk-
278 Constantin Ritter,
zeug, das der Ausübung einer gewissen Handlung dient; auch bei
diesem bestellt die 'Natur' iu der Gemäßheit zu der Absicht. So
gibt es also (worauf die ganze Betrachtung zielte) einen objektiven
Sinn und Zweck der Benennung und des Namens, eine dabei leitende
'Idee', was 'es selbst' die Benennung ist; so wie der Holzschnitzer,
wenn er für das zerbrochene Weberschiff ein neues machen soll,
hinzublicken hat auf das Musterbild (eiöog) eben dessen, was 'es
selbst', das Weberschiff, 'ist' (was seinen Begi-iff ausmacht 89 b),
oder seine Natur, was es von Natur oder wie es naturbeschaffen ist ;
dafür dann (90 in.): 'dieselbe Idee', das heißt hier: die identische
Grundgestalt der Sache; und wiederum gleichbedeutend (93 d) das
Wesen (ovaia) der Sache, dann die Bedeutung (Sinn, dvvafxig),'"''
— ich glaube, damit ist das griechische Wort mißdeutet; es steht
wohl auch im Cra in demselben Sinn , wie bei der Erklärung der
ovaia in So 47 e (48 c) durch dvvafiig zov noietv -/.al ndoyeLv —
„und wieder Natur (q^vaig, 93 c und ferner) . . . Wir haben hier . .
ein sehr deutliches Zeugnis für die ganz schlichte Abkunft der 'Idee'
vom Begriff, von dem sie hier kaum unterschieden ist. Aber doch
ist bemerkenswert, daß die Identität des Begriffsinhalts gestützt
wird auf die notwendige Bestimmtheit des Sinns der Aussage und
die unanfechtbare objektive Bedeutung der dieser zugeschriebenen
Wahrheit und Falschheit. Und so entbehrt auch nicht der tieferen
Tendenz der Hinweis auf den Dialektiker als den , der allein den
Gebrauch, weil den Begriff, die 'Idee', das Gesetz der Benennung
versteht , also auch über die Namengebung selber die Aufsicht zu
führen hat (90 c) . . . 2.] Die Natur der Sachen . . ist schließlich
nicht aus den Namen zu schöpfen . ., sondern aus sich selbst sind
die Sachen, die 'Naturen' der Dinge zu erkennen (38 e) . . Es gibt
ein 'Schönes selbst', ein 'Gutes selbst', und so jedes einzelne von
dem was 'ist', d. h. im Urteil prädiziert wird ... Es wäre gar nicht
möglich, etwas als schön usw. zu benennen, wenn uns auch eben
dies beständig unter den Händen entginge, 1. daß es, und 2. daß
es ein solches (d. h. 1. daß das Subjekt der Aussage ein iden-
tisches, und 2. daß der Sinn des Prädikats ein identischer ist) . . .
Es wäre dann überhaupt die Aussage unmöglich, daß es (dies und
dies bestimmte) das und das (bestimmte) ist . . Ja man könnte
von Erkenntnis überhaupt nicht reden, wenn schlechthin . . nichts
heharren sollte" . . . (125) „Jedenfalls ist diese so kurze wie radi-
kale Deduktion eine Wirkung der fortgeschrittenen Klarheit über
die Erfordernisse der deduktiven Begründung der Wissenschaften
überhaupt. Denn es wird . . nur ganz kurz nebenher, aber in aller
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 279
Bestimmtheit ausgesprochen (36 d) : um das Prinzip (aQXtj) einer
jeden Sache hat ein jeder die gründlichste Erörterung und die
gründlichste Untersuchung anzustellen, ob es recht oder nicht recht
zugrunde gelegt ist (vTtoyiEiTai). Ist das Prinzip zulänglich geprüft,
so wird sich zeigen , wie alles übrige dem folgt. Er beruft sich
auf das Beispiel der Geometrie , wo der unscheinbarste Fehler in
den Voraussetzungen oft die ungeheuerlichsten Konsequenzen nach
sich zieht. — Hier finden wir uns bereits dicht an der Schwelle
des Werks, welches zum erstenmal eine vollständige wissenschaft-
liche Durchfülirung der Ideenlehre erbringen wird, ja dieser Aufgabe
wesentlich gewidmet ist, des Phn."
Die wichtigsten Gedanken der Schrift sind in ihrem Schluß-
kapitel zusammengedrängt. Ich habe dessen Inhalt (PL I S. 472 f.)
mit folgendem widergegeben : „Wenn wir von einem Schönen oder
Guten an sich reden oder von irgend etwas wirklich Bestehendem
an sich ('iv (-'yMOrov xidv ovvwi')i so meinen wir damit ein immer
Gleichbleibendes ; und wenn es nicht schon ein Fehler sein soll,
daß v/ir irgend etwas als dieses und so und so Beschaffenes be-
zeichnen ^), so darf das Ding nicht, während wir unsere Worte auf
es anwenden, sich verändern und in fließendem Übergänge befinden,
sondern es muß seine bestimmte Form (idea) unterdessen bei-
behalten. Nur so kann die Erkenntnis von objektiven Eigenschaften
eines Dinges zustande kommen. Und auch die Erkenntnis oder das
Erkennen selbst als Tätigkeit des Subjekts muß, während sie sich
vollzieht, eben ihre Art und Bestimmtheit beibehalten, in ihrem
eiöog sich erhalten. Wenn aber ein Subjekt der Erkenntnis be-
steht und ein Objekt derselben besteht, ferner das Schöne, das
Gute und jegliches Wirkliche besteht, so sind diese Begriffe, von
denen wir da reden, offenbar nicht dem Strom und der Bewegung
irgend ähnlich."
Bei Frachter scheint mir einiges der Verbesserung zu be-
dürfen. Nicht jeder Leser wird verstehen , was es heißen soll :
„Wenn man auf dem Gebiete der Gesichtswahrnehmung den Dingen
nicht entsprechende graphische Abbilder zuteilen, d. h. (fälschlicher-
weise) für ihnen entsprechend erklären kann, muß das Gleiche auch
auf dem Gebiet der Gehörswahrnehmung für lautliche Abbilder
gelten." In engerem Anschluß an den Text möchte ich dafür ein-
setzen : „wie es unter den Malern gute und schlechte gibt, so unter
^) d. h. daß wir überhaupt irgend etwas Bestimmtes prädizieren —
mit andern Worten: wenn irgendwelcher Satz, den wir aussprechen,
streng richtig und wahr sein soll.
280 Constantin Ritter.
den Wortbildnern. Beide wollen ein (uifxrjfxa tov TtQayfxazog, eine
Nachbildung von Wirklichkeiten, geben, je mit ihren Mitteln. Dem
einen gelingt es, dem andern nicht." — Ferner sagt P. : „Die tat-
sächliche Sprachbildung ist vom Heraklitismus beherrscht : sie ver-
fährt so, als ob die Dinge in beständigem Fluß wären, und entbehrt
in ihrer Namengebung einer beharrlich durchgeführten Norm und
Konsequenz." Ich würde sagen: „Die tats. Spr. scheint nur bei
oberflächlicher Betrachtung vom Her. beherrscht , als ob d. D. i..
best. Fl. wären, aber auch die entgegengesetzte Auffassung, daß
sie ruhend beharren, läßt sich ebenso leicht darin finden." —
Unverständlich ist mir die Behauptung, PI. habe sich den „Para-
logismus", den „logischen Fehler der Aquivokatiou" zu Schuld
kommen lassen , indem er die Sprache als Werk eines vo[.io0^etrig
(eines Gesetzgebers oder auch von einer Mehrzahl solcher) behandle,
nachdem er vorher gezeigt , daß sie als Werkzeug der Belehrung
uns vom v6f.iog (Brauch) übergeben sei. Der rofiog muß ja doch
wirklich einen menschlichen Urheber und Begründer haben. Die
Sprache ist doch nicht, wie das Denken selbst, beim einzelnen
Menschen avzocpveg. Ebenso unverständlich ist mir hier A. Kiock,
der (S. 20) von einer „metaphysica legislatoris persona" spricht
und sich dabei auf Deuschles Piaton. Sprachphilosophie S. 48 und
auf Susemihl beruft.
Noch einige weiteren Worte über die Dissertation von Kiock.
Sie kündigt sich an als Vorarbeit einer editio critica et exegetica und
beginnt mit Aufzählung der subsidia interpretationis potiora : 85 Ar-
beiten von fast ebenso vielen Verfassern, von denen nur 5 von K.
nicht in Augenschein genommen werden konnten. K. wendet sich mit
erfreulicher Entschiedenheit gegen die Mehrzahl der philologischen
Erklärer, die die Etymologien des Cra als ernste Versuche Pl.s
hingenommen haben, vor allem gegen Schäublin (üb. den plat. Dialog
Cra, Basel 1891, Diss.), den er (S. 11 A. 2) gut kennzeichnet und
abfertigt mit den Worten: „Seh. p. 71: 'PI. übt redlich (!) das
etymologische Verfahren, so gewissenhaft, als es die damaligen
Mittel und Einsichten gestatteten' . . — Quis tibi talem largitus est
licentiam'?" Er selber will beweisen (S. 11 f.): „Pliu eo consüio
dialogum scripsisse, ut linguam hominum ad res ipsas cognoscendas
maxime inutilem atque inertem esse ostenderet." Mit Recht betont
er auch , daß der Cra darin mit Eus und Th verwandt sei , daß
er sich um die Erkenntnistheorie bemühe. Doch scheint er mir
daneben getroffen zu haben mit der Erklärung, daß PI. dabei die
Theorie Heraklits vom Fluß der Dinge völlig verwerfe und die de»
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 281
Parmenides von der TJnveränderlichkeit des Seienden sich aneigne,
indem er auf sie seine Ideenlehre gründe und von dieser aus die
Möglichkeit der Erkenntnis entscheide. Die Wörter der Sprache
seien etwas Veränderliches und schon deshalb zur Vermittlung der
Erkenntnis des Bleibenden in den Dingen nicht geeignet. Nützlich
ist die Übersicht , die K. über die scherzhaften Worterklärungen
des Dialogs, nach Gruppen gesondert, S. 23 — 35 gibt. Im Gegen-
satz zu mir (PI. I S. 470) hält K., wenn ich ihn recht verstehe
(S. 38 f.), die Cr 24 ff. über die einfachen Wörter der Sprache^
die allen Abteilungen und Zusammensetzungen zugrunde liegen, ge-
gebenen Bemerkungen , daß sie wohl lautsj'mbolischer Bedeutung
seien, auch für ironisch. Im Schlußkapitel verliert er sich in den
Irrwegen der „Maskenforschung", wie ff. Sätze zeigen (S. 45):
„cimcta vei'isimillimum reddunt Antisthenem praecipue a Piatone
peti . . Praeterea Prodicus (84 b et passim) lepidissima ironia per-
stringitur, qui teste Galeno naturalem nominis et rei conexum non
nisi usu depravatum esse putavit. Verisimillimum est Antisthenem
discipixlum vel sectatorem fuisse Prodici non minus austero atque
tristi ingenio praediti;" — diese Charakteristik, die allem, was wir
wirklich von dem Mann wissen , namentlich aus Athenaios und
Philostratos (bei Diels V. I, 298, 33 und II, 563), geradezu ins
Gesicht schlägt, ist wohl von Gomperz I, 343 ff. entlehnt? — r^°*^
quidem hodie constat PI™ saepenumero iis locis, quibus Prodicum
ridet, Antisthenem petivisse." Natürlich können alle diese Behaup-
tungen mit Namen wie Schleiermacher , Winckelmann , Hermann,
Reinhardt, TJsener, Natorp, Diels, Gomperz, Dttmmler, Joel usw.
gedeckt werden und K. versäumt nicht, sie anzuführen. Geradezu
spaßhaft, aber für eine ganze Richtung gelehrter Philologen be-
zeichnend finde ich die Anmerkung auf der letzten Seite: .,(Inde
a pagina 11 d Socr. bonas ac salubres res ex motu, malas ac per-
niciosas ex quiete et constantia derivat.) Videamus quid ex enei-
Sr^nEQ zr]v XeovTt]v ivöedoxa (IIa) colligatur. Haud dubie locus
Aesopi fabulam asini leonis pelle induti reddit . . . Plane frigidus
locus videretur, si Adamium sequeremur ratum uullam nisi 'Herculis
laborem suscepi' vim in hisce verbis inesse. Sed Herculem nihilo-
secius respici apparet. Quisnam leonis pelle indutus est? Hercules
et asinus ! Antisthenem constat Herculem exposuisse omnes vir-
tutes Sapientis Cynici exhibentem. Acerbissima igitur ironia Sapiens
ille Cynicus comparari videtur — cum asino ! Sed unum non prae-
termittendum est. Heracliti ratione originationes proferuntur inde
a p. 11. Licetne ex hoc loco colligere Pl^ illum Sapientem Cynicum
282 Constantin Ritter.
risisse, quod sensualismo cynico propinquus videtur esse Heraclito ?
Heraclitum saltem cum Hercule comparatuin esse nummi docent
Heraclituin clavam sinistra tenentem exhibentes necnon Heracliti
Stoici locus : Quaest. Hom. 34 (= p. 50 Bonn.) cf. Dielsium, Herakl.
1909^. p. 83." — Wie sagt doch Herakleitos selber? nolv(.ia&r]ir}
roov ov diöaoy.ei. Und auch an das Wort Acta 26, 24 darf erinnert
werden. Freilich genügt Adams Erklärung für den bildlichen Aus-
druck nicht ganz. Aber mehr wird man nicht darin suchen dürfen als:
'nachdem ich einmal die stolze fremde Maske vors Gesicht genommen',
und zur Vergleichung mag man 86 d und Phs 62 d heranziehen.
Noch toller als Kiock treibt's freilich E. Höttermann in
seinem oben schon (S. 145) angeführten Aufsatz, aus dem nun hier
eine Kostprobe gegeben werden soll: (S. 82) „Wie ist es zu er-
klären, daß gerade Pl.s Lehrer es ist, der im 1. Teil den kynischen
Standpunkt gegenüber Hermogenes verficht? oder vielmehr den
jungen Mann zum Kynismus zu bekehren versucht? Wir erinnern
hier zunächst an die Beobachtung, die wir im Anfange machten:
Hermog. ist so gezeichnet, wie PI. auch sonst kj^nische Jünger
zu charakterisieren liebt. [Außer Apollodoros seien noch genannt
Phaidros und Euthyphron in den gleichnamigen Dialogen]" — also
„kynische Jünger" wären das?! — „Ferner lernen wir im Cra noch
eine in kynischen Kreisen bekannte Figur in der Person des Sehers
Euthyphron kennen, der, wie Joel mit guten Gründen" — ? —
„vermutet, eine stehende Dialogperson des Antisthenes war . . .
Man sieht also . . das Milieu des ganzen 1. Teiles ist kynisch.
Das Gespräch zwischen Sokr. und Hermog., das wir oben als eine
Unterrichtsstunde kennzeichneten, stellt sich jetzt deutlicher als
eine kj^nische Lehrstunde heraus." Ja wirklich, es „kann über die
Absicht dieses 1. Teils kaum mehr ein Zweifel sein. Wie im Eus,
so wird auch im Cra die Antisthenische Lehrmethode persifliert."
Und was den Hei^mog. betrifft, der damit genarrt wird, „daß er
trotz seiner reichen Herkunft kein Geld hat, um an den Brüsten
der Weisheit schlürfen zu können" ? „Diese Anspielung erhält u. E.
nur dann eine Spitze, wenn man annimmt, Hermog. ist ein Kyniker,
der im Übereifer auf sein Erbteil verzichtet hat. Mit grimmem
Scherze wird ihm nun die scheinbare Torheit vorgehalten, die er
mit jenem Verzicht begangen hat." . . Der „Dialog gibt sich ganz
anspruchslos. Aber wieviel Interessantes und Amüsantes muß er
in der Zeit seiner Entstehung gehabt haben, in der man die Schriften
des Antisthenes, denen der Angriff gilt, und in der man vor allem
die Persönhchkeit dieses Philosophen genau kannte ! Was wir hier
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten, 283
mühsam auf dem Wege eingehenden Nachdenkens mit Leben er-
füllen müssen, das war für die Zeitgenossen ja lebendig; und mit
verständnisinnigem Schmunzeln wii-d der gebildete Athener die
Persiflage 'Antisthenes als Lehrer' gelesen haben." — Ist das Spaß
oder ist es Ernst? Jedenfalls mir graut vor solchen Offenbarungen.
Aus der auf den Cra bezüglichen, in den letzten Jahrzehnten
erschienenen Literatur führe ich noch die Titel an:
D. Heath, On Plato's Cr. Journal of Philology 1888 p. 192—218.
H. Kirchner, Die verschiedenen Auffassungen des plat. Dialogs
Cra. Prg. Brieg I— IV 1891/2—1900/1.
P. ßosenstock, Pl.s Cra und die Sprachphilosophie der Neuzeit.
Prg. Straßburg W.-Pr. 1893.
Schäublin s. oben (S. 280).
Schitetzky, Der plat. Cra. Petersburg 1890 (Journ. f. wissensch.
Volksaufkl. S. 807—18).
A. Steiner, Die Etymologien in Pl.s Cra. Arch. f. G. d. Ph. 1917
S. 109—32.
K. Urbanek, Die Bedeutung des plat. Cra. Prg. Krumma (Böhmen)
1912, 22 S.
Das Chronologische haben wir schon mehrfach gestreift.
Es war ein grober Irrtum von mir, daß ich in den Unters, von 1888
mit dem Eus auch den Cra wegen des übermütigen Spottes , den
beide treiben, glaubte zum Pr stellen zu dürfen. Der reiche philo-
sophische Gehalt und die engen Beziehungen , die Eus und Cra
zusammen zum Th haben und die der Eus zu E,p und Po, der Cra
zum Phn hat, treffen zusammen mit den sprachstatistischen Zeug-
nissen dafür, daß Cra wie Eus ihre Stelle zwischen G und Phn,
genauer wohl zwischen dem jenem nachfolgenden Me und dem
diesem wahrscheinlich vorausgehenden Sy haben.
Und der Eus scheint vor dem Cra geschrieben zu sein. Frei-
lich den Beweis, den einige aus der SteUe Ci-a 86 d ableiten wollen,
erkenne ich nicht an. Dort sagt Sokr. : „Auch des Euthydemos
Meinung teilst du wohl nicht, daß allen alles in gleicher Weise
zugleich und immer zukomme." Dazu bemerkt Natorp (S. 121):
„Natürlich ist es keinem Philosophen oder 'Sophisten' jemals ein-
gefallen , dergleichen , wie hier dem 'Euthydem' nachgesagt wird,
im Ernst verteidigen zu wollen. Sondern der Euthydem, von dem
PI. spricht, ist kein anderer als der Euthydem seines so benannten
Dialogs." (Ich weiß nicht, ob Lutoslawski, S. 222, und Räder,
•S. 148, dasselbe meinen mit der Erklärung: „wenn wir die Stellen
284 Constantin Eitter.
Cr 86 d und Eus 94 e f. vergleichen, scheint sich der Cra auf de»
Eus zurückzubeziehen" und „man ist berechtigt, an dieser Stelle^
einen Rückblick auf Eus 94eff. zu erkennen.") Daraus folgert
dann N. weiter: „Wenn das im Cra von Euthydem Gesagte auf den
Dialog Eus zurückweist, so ist um so mehr, der Analogie nach,
das gleich Vorausgehende über Protagoras auf den Th zu deuten . .,
wodurch vollends die Reihenfolge Th — Eus — Cra sich bestätigt." —
Wenn nun aber der Th einer späteren Zeit angehört als Eus und
Cra miteinander, und demgemäß das im Cra über Protagoras Ge-
sagte sich schlechterdings nicht auf den Th beziehen kann? Dann
wäre „der Analogie nach" auch die Bezugnahme des Cra auf den
Eus zu leugnen. Doch ist die Analogie nicht zwingend.
Pfleiderer S. 318 f. schließt den Cra an den Th an und
erklärt: „Über diesen Ort des Cra in der Reihe der platonischen
Dialoge kann kaum ein Zweifel sein , da er gerade mit dem Th
handgreiflich zusammenhängt. Beiden gemeinsam ist die vorwiegende
Auseinandersetzung mit den Lehren des Protagoras und Heraklit . .
Ebenso findet sich in beiden als ein ganz besonders wichtiger Punkt
die Erörterung über die Urbestandteile oder TtQona. und ozor/^Eiay
im Th 21eff. ausgehend von dem Verhältnis der Buchstaben, Silben
und Worte als Beispiel für das Reale, im Cra 24 f. eigenthcher
sprachlich. In diesem Zusammenhang streift der letztere 30 f. kurz
auch die ausführliche Irrtumslehre des Th." Beide stammen dem-
nach „aus derselben Gedankenphase". Auch der Anklang von Cra 39 e
nolXaMq oveiQiozTio au Th Old ovaq uvtI oveigazog (und 08b ovaQ
iTiXovTüiaaiiiev) ist von Bedeutung. Lutoslawski, S. 224, beruft
sich auf Pfleiderer. Er mahnt jedoch, „wir müssen mit solchen
Schlüssen vorsichtig sein , weil PI. in seinen Schriften nicht eine
lückenlose Reihe von Handlungen geben wollte , deren jedes den
ganzen Inhalt der vorher erschienenen voraussetzt. Eine Anspielung
auf häufige Erörterung eines besonderen Gegenstands mag mit viel
größerer Wahrscheinlichkeit auf Pl.s mündliche Lehrtätigkeit Bezug
nehmen, als auf seine vorausgehenden Schriften." Weiter meint er^
gegen Peipers polemisierend: „der Gebrauch von oiaia in der Be-
deutung des wahren Wesens eines Dings im Gegensatz zur äußeren
Erscheinung findet sich noch nicht in den ethischen Dialogen, die
dem Cra vorausliegen, und begegnet hier zum erstenmal . . . Aber
im Licht einer vorurteilsfreien Erklärung ist die Ideenlehre im Cra
erst vorbereitet, noch nicht formuliert." — Ich meinesteils heiße
keine Vorbereitung mehr was am Schlüsse des Cra über die wahren,
dem Wechsel der Erscheinungen enthobenen oVra gesagt ist. Ib
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 285
Übereinstimmung jedoch mit L. bin ich in der hohen Wertschätzung
des Cra. Und ich bezweifle, ob es mehr als eine den Wünschen des
Diederichsschen Verlags angepaßte Verlegenheitsauskunft war, die
M. Wundt S. 61 A. seines Piaton gegeben hat, der Eus und Cra
seien „beiseite gelassen, weil für die platonische Lehre von ge-
ringerem Belang". Eine neue gründliche Bearbeitung nach dem
Vorbild der englischen Einzelausgaben platonischer Werke möchte
ich gerade dem Cra recht herzlich wünschen. Wer sie unternimmt,
wird mit Nutzen lesen und vergleichen, was Neuere über die Ent-
stehung und Entwicklung der Sprache zu sagen wissen. Unter
anderem möchte ich zur Vergleichung auch den Aufsatz „Was heißt
Sprachexistenz?" von Bernhard Witties in Fleischers Deutscher
Eevü, 1908 (23) S. 368 ff. empfehlen.
Kippias maior (= Hp I) : behandelt von Räder S. 102 — 06,
Ritter S. 359—62, 459 ff., 567, M. Hoffmann Zt. f. G.Ws. 1904
S. 283—8, Pohlenz S. 123—28 (unter dem Titel „Unechtheit des
Hp I"), Frachter S. 270 f.
Das Beste über ihn hat Apelt gesagt, in seinen Piaton. Aufs.
S. 222 ff. und neuerdings (1921) in der Einleitung zu seiner Übers.
Diese ziehe ich hier aus : Man versteht den Hp I am besten, wenn
man zuvor den gleichnamigen kleineren Dialog, den Hp II (s. oben
S. 103 ff.) liest und sich Rechenschaft darüber gibt, wie dieser auf
den Leser wirken mußte. Ein solcher wird, verwirrt und verblüfft,
ärgerlich sein „nicht nur über Sokr., der so verdächtige dialektische
Ware auf den Markt zu bringen wagt , sondern auch über sich
selbst, nämlich über sein Unvermögen, in dies dialektische Dunkel
sogleich Licht zu bringen". Nun: „War der Verfasser dem irre-
geführten Publikum eine Aufklärung nicht geradezu schuldig, nicht
am wenigsten auch im Interesse seiner eigenen Sache , die leicht
in ein ganz falsches Licht kommen konnte? Es drängt sich also
die Trage auf: Ist der größere Dialog nicht vielleicht bestimmt,
das Rätsel zu lösen, das der kleinere Dialog dem Leser aufgibt?
Ist die Aufmerksamkeit einmal nach dieser Seite hingelenkt, so
wird man bald Anlaß finden, den damit eingeschlagenen Weg weiter
zu verfolgen. Denn wenn der größere Dialog sich auch weder
direkt als Ergänzung des kleineren ankündigt noch die Lösung der
Aporie uns fix und fertig auf dem Präsentierteller entgegenbringt,
vielmehr auch seinerseits vielfach ein neckisches Spiel mit uns
treibt, so hat es doch der Verfasser für den, der sehen will, nicht
an Andeutungen fehlen lassen." . . Worin liegt das Eigentümliche
286
Constantin Ritter.
des Beweises, durch den Sokr. dem Sophisten seine Niederlage
beibringt? „Darin, daß der von Haus aus moralisch gemeinte Be-
griff des 'Besseren' auf das Gebiet des technischen Wissens und
Könnens hinübergespielt wird . . . Nichts konnte der Eitelkeit des
Sophisten mehr schmeicheln als die Vorspiegelung, das Fachwissen
sei maßgebend für den Wert der PersönHchkeit überhaupt," und
so schlägt Sokr. den Sophisten mit dessen eigenster Waffe." . .
Die ganze Mystifikation geht darauf zurück, daß nicht unterschieden
wird zwischen 'tun können' und 'tun wollen', zwischen dem bloßen
Tun als solchem und dem , was man in eminentem Sinn handeln
nennt, d. h. der sittlichen Bestimmung des Tuns." Die wahre
Meinung Pl.s ist uns aus manchen Ausführungen über das (Schöne
und) Gute, das, sobald es von dem Menschen wh^klich klar erkannt
ist, aiich die größte Anziehungskraft für ihn hat, genugsam bekannt.
Nun ist eben dieser Begriff des Guten und Schönen im Hp II ganz
im Dunkeln gelassen worden. Dagegen bildet er im Hp I „den
eigentlichen Gegenstand der Erörterung". „Schon dies deutet mit
einiger Sicherheit darauf hin, daß zwischen den beiden gleichnamigen
Dialogen auch ein gewisser innerer Zusammenhang besteht." Und
in der Tat, der aufmerksame Leser bemerkt auch bestimmte Einzel-
heiten, die er „sich nicht anders zu deuten vermag denn als An-
spielungen auf den Hp II. Das Eigentümliche nämlich der Dar-
steUungsform im Hp I liegt in der Einführung und dem Auftreten
eines Ungenannten, der sich sehr bald als Doppelgänger des Sokr.
entpuppt — er ist, wie es scherzhaft heißt (04 d), sein nächster
Verwandter und wohnt sogar in demselben Hause — , als sein
besseres Ich, das seinem schlechteren Ich den Prozeß macht. Denn
Sokr. hat eine schwere Sünde auf dem Gewissen. Er hat über das
Schöne und Häßliche kurz vorher (also kurze Zeit vor dem Hp I)
unverantwortliche Dinge gesagt und sich dadurch an dem sittHchen
Gefühl seiner Mitbürger vergangen. Man höre , was der Dialog
selbst (86 c) darüber sagt : ' Jüngsthin hat mich jemand in rechte
Verlegenheit gesetzt, als ich im Verlaufe eines Gespräches, das ich
nicht näher zu bezeichnen brauche (iv loyoig tigIv), einiges als
häßhch tadelte, andres als schön lobte ; er richtete nämlich in recht
hochmütigem Tone an mich die Frage : Woher Sokr., hast du denn
deine Kenntnis über die Schönheit und Häßlichkeit der Dinge und
Handlungen? Kannst du mir denn vor allem sagen, was das Schöne
eigentlich ist? Da geriet ich denn durch meine Unzulänghchkeit
in arge Verlegenheit und war außerstande, ihm eine schickliche
Antwort zu geben usw.' Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 287
im in dieser Stimme des eigenen Gewissens des Sokr. zugleich
iie Stimme desjenigen Teils des ehrsamen Publikums zu erkennen,
lem der veröff"entlichte kleinere Hippiasdialog etwa in die Hand
gekommen war, woraus sich denn unmittelbar die Bestimmung des
3p I als einer aufklärenden und zugleich beschwichtigenden Er-
gänzung zu dem Hp II ergibt. PI. wäre nicht PI. geblieben, wenn
;r die ßückweisung auf seinen früheren Dialog in einfach und
rocken berichtender , aktenmäßiger Form gegeben hätte : seiner
ganzen künstlerischen Darstellungsart nach konnte er diese Rück-
.veisung nur in verhüllender Form geben, und diese Form besteht
jben in jener Verdoppelung des Sokr., die dem einigermaßen acht-
jamen Leser anzeigen soll, daß Sokr. eine begangene Schuld wieder
rat machen will." Und gerade im bedeutsamsten Zusammenhang
, tritt uns eine ganz unverkennbare Beziehung des größeren auf den
deineren Dialog entgegen, die . . auch schon von anderen er-
iannt, wenn auch in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht erfaßt
»vorden ist. Denn nicht um ein Plagiat handelt es sich, wie man
gemeint hat . ., sondern um nichts anderes als um eine Kritik an
ien Aufstellungen des Hp II. Man überblicke nur den Gedanken-
gang von 95 e — 96 e. Die Worte des Hp I 'das Vermögen ist
Schönheit, das Unvermögen aber Häßlichkeit'' geben zunächst deut-
sch den Standpunkt des Hp II wider, dessen Unzulässigkeit sich
ndes aus der unmittelbar folgenden Betrachtung auf das Klarste
ergibt . ." „Hat man den Zweck und Sinn des Werkchens richtig
3rfaßt, so verwandeln sich seine angeblichen Mängel in ebensoviele
rügenden. Aufbau und Gliederung verraten eine ebenso sichere
wie kunstgeübte Hand ; die Art der Ausführung mit ihrer neckischen
Verschleierung des gewonnenen Resultats trägt durchaus das Ge-
präge des platonischen Geistes. . . Wenn der Spott hier zuweilen
aber das Maß dessen hinausgeht, was Sokr. sonst in seiner ßitter-
iichkeit einzuhalten pflegt, so ist es ja eben der Fiktion nach nicht
3okr. selbst , sondern der große Unbekannte , der nur durch den
Mund des Sokr. dem Sophisten die Leviten liest . . Hat man nun
gerade diese . . Verdopplung des Sokr. . . für einen plumpen Miß-
griff ausgegeben, so wird man angesichts der erkannten Bedeutung
ies Dialogs nicht umhin können, diese Verdopplung des Sokr.
gerade als einen sehr glücklichen Kunstgriff anzuerkennen . . Die
gewählte Maske ist das treffende künstlerische Bild für die wahre
Situation."
Während ich bisher immer noch, wie keinem anderen Dialog
gegenüber, schwankte mit meinem Urteil über die Echtheit des Hp I,
;288 Constantin Ritter.
dessen frische Art und kecke Erfindung ich. keijiem bloßen Nach-
ahmer platonischer Kunst zutrauen mochte , dessen ungewöhnlich
derber Spott und ganz eigenartige Verdopplung des Sokr. mich aber
doch stark befremdete ^), bin ich durch diese Darlegungen Apelts
so gut wie vollkommen überzeugt worden.
Was P o h 1 e n z gegen dieselben vorbringt , hat nicht genug
Gewicht. Er erklärt u. a. : „Ich halte es für unmöglich, daß ein
Mann , der Sokr. und Hippias persönlich kannte , beide in dieser
Weise zeichnete. Vollkommen verständlich wird die Schilderung
dagegen in einer Zeit, wo man sich für die /apaxr^^fig interessierte . .
Damals konnte es für einen Platoniker, der wie Aristoteles 1025 ab
die Trugschlüsse des Hp II richtig stellen wollte, nahe liegen, Sokr.
im Dialoge als den eiQcov zu schildern und ihm den dla^wv Hippias
gegenüberzustellen ... In aristotelische Zeit weisen uns aber auch
andere Momente. Der Dialog beginnt mit einer scharfen Scheidung
der jüngeren Sophisten von der älteren Generation . . Die historische
Betrachtungsweise ist hier mit Händen zu greifen." Man vergleiche
dazu Apelt S. 12. Nicht übel sind dort auch folgende Sätze:
„Wenn P. den Spott und das Burleske des Dialogs so weit ge-
trieben glaubt, daß er in ihm nur ein Effektstückchen sehen zu
müssen glaubt . ., — klingt nicht die Derbheit des Spaßes noch
fast wie Höflichkeit im Vergleich zu dem, was z. B. Luther seinen
Gegnern bietet? Sind die grotesken Masken, deren sich Luther im
Streit mit seinen Gegnern bedient, etwa ein Grund, seine Autor-
schaft zu bestreiten? . . Auch PI. war nichts weniger als ein
Phlegmatiker." Und gar was P. Sprachstatistisches vorbringt, von
der angeblich „berüchtigten Formel aXla ti ^ijv\ usw. hätte er im
allgemeinen besser für sich behalten. Nur die Verwendung von
ovoia in Ol b, e und 02 c kann wirklich befremden. E. Hirzel,
der die Bedeutungsgeschichte dieses Worts im Philol. 1913 (72)
untersucht hat, schreibt darüber (S. 57), PI. habe sich häufig „des
Wortes ovGia in seiner terminologischen Bedeutung" als eines
^) In meinen „Untersuchiingen" von 1888 habe ich mich möglichst
zurückhaltend ausgedrückt : (S. 90) „Die Sprache . . ist . . ganz dieselbe,
wie in den anerkannt echten Werken aus früherer Zeit" — dabei mußte
ich aber auf verschiedene Wörter und Wendungen hinweisen, die sonst
den Schriften mittleren Alters eigen sind; (S. 123) „Den Hp I möchte
ich schon wegen der etwas derben Behandlung, welche darin dem auf-
geblasenen Sophisten widerfährt, für ein jugendliches Werk erklären."
In meinem Piaton habe ich dem Dialog, weil ich ihm noch nicht recht
traute, nur 2 Seiten (I 359 ff.) eingeräumt und ihn wohl etwas zu früh,
zwischen Ch und Eu, angesetzt.
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 289
^ Schulausdrucks" der philosophischen Sprache, um das Wesen einer
Sache zu: bezeichnen, bedient. „Wie abgegriffen das Wort in dieser
Bedeutung wurde, zeigt namentlich der Hp I, ein Werk wohl erst
der platonischen Schule, nicht bloß in der Art, wie es diesem Sinn
entsprechend ohne weiteres verwandt wird, sondern auch dadurch,
daß es wie ein bereits unentbehrliches Wort der Philosophensprache
ohne weiteres dem Sophisten Hippias in den Mund gelegt wird."
Wie Apelt urteilt auch Prächter (S. 271): „Die Echtheit
wird . . bestritten . . Für entscheidend vermag ich" die dagegen
angeführten Tatsachen „weder im einzelnen noch in ihrer Vereinigung
zu halten, und der Dialog erscheint mir in seiner bei allem Burlesken-
haften doch feinen Satire , in seiner Gesamttendenz und in seiner
dialektischen Methode so platonisch wie nur möglich."
Ernste Zweifel hege ich nur noch bezüglich des zeitlichen
Ansatzes. Prächter geht vom Hp I sofort zum Cra über, läßt
freilich den Hp II unmittelbar vorausgehen. Apelt wiU beweisen
(S, lu), daß er als Berichtigurg diesem „ziemlich bald" nachgeschickt
sein müsse. „Diese Annahme liegt nahe. Und doch ist sie für
mich kaum brauchbar. Denn die (oben S. 105 ff.) begründete Über-
zeugung lasse ich mir nicht erschüttern , daß der Hp II zu den
allerfrühesten Jugendschriften gehöre. Dagegen zeigt der Hp I
einzelne Züge der Verwandtschaft mit Dialogen erheblich späterer
Zeit. Auf eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Eus macht Apelt
selber (S. 11 u. Einl. zum Eus S. 18) aufmerksam. Und Prächter
bemerkt: „Es gilt wieder, wie in den begriffsethischen Jugend-
dialogen, eine Definition, und wie dort spielt sich die Verhandlung
in Aufstellung, Prüfung und Verwerfung einer Reihe von Versuchen
ab und endigt ergebnislos. Aber gerade diese parallele Anlage läßt
um so deutlicher die verschiedene Orientierung der Jugenddialoge
einer- und des Hp I andererseits zutage treten. Dort fehlte jede
persönliche Spitze und das Gespräch diente nur der sachlichen
Klärung: hier tritt die Darstellung der philosophischen Unzuläng-
lichkeit des Hippias und Seinesgleichen neben der dogmatischen
Absicht gleichwichtig in den Vordergrund. Zu dieser Schilderung
sind wie im Eus die Farben dick aufgetragen . . . Eine ähnliche
Unkenntnis des Gesprächspartners ist uns . . im Eu und im Me
begegnet. Aber Hippias stellt doch seine Vorgänger in diesen Dia-
logen weit in den Schatten." . . Dazu nehme man noch ßäders
Sätze (S. 102 ff. :) „Wir erklären seine Schwächen" — die nach
Apelt gar nicht vorhanden sind — „durch die Jugendlichkeit des
\ erfassers und weisen ihm eine Übergangsstelle zwischen den
Jahresbericht für Altertumswissenschaft. Bd. 191 (1922. I). 19
290 Constantin Ritter.
sokratischen xind den eigentlichen Sophistendialogen an . . . In
philosophischer Hinsicht steht er einigen der vorher erwähnten
Dialoge recht nahe, wenn auch der Standpunkt etwas vorgerückter
ist . . . Zum erstenmal begegnet uns hier (89 d) das Wort eldog,
das später so ungemein bedeutungsvoll wird. Es bezeichnet hier
das den Begriff feststellende Merkmal oder gewissermaßen den Be-
griff selbst . . Hierin birgt sich aber nur ein Keim der Ideenlehre."
Eine Vergleichung zwischen 96eff., Hp II 76 a und G 74 c ff. legt
den Schluß nahe, daß Hp I in der Mitte zwischen den zwei anderen
liege . . (105 A. :) Horneffer allerdings hat beweisen wollen, daß
Hp I 98d mit gedankenloser Umbildung aus G 74e geschöpft sei.
„Die Stelle des G versteht sich dagegen am besten als eine Re-
kapitulation der . . hier (und 95 d) gemachten Definitionsversuche.
Im G liegt die Definition des Schönen, die eben auf dem Hp I
aufgebaut ist, schon fertig vor. Vgl. H. Gomperz im Arch. f. G.
d. Phil. 16 S. 132 ff." Also (S. 106): Der Hp I „bezeichnet einen
Schritt auf dem Wege vom La und Ch zum G und zur ßp." —
Der Gebrauch, der im Hp I von den Wörtern ddog und Idea ge-
macht wird, ist jedenfalls von Bedeutung. Dem Ausdruck nach sind
Stellen aus Eu und G am nächsten verwandt, wie man aus der
Zusammenstellung im Schlußkapitel meines Piaton I S. 567 ff. und
dem Aufsatz über eidog, idea usw. in meinen N. Unters., besonders
S. 256 ff., ersehen mag.
Auch den mathematischen Ausführungen , die der Hp I ent-
hält, müssen wir noch Beachtung schenken. Sie sind erörtert von
H. Vogt in einem Aufsatz über „die Entdeckungsgeschichte des
Irrationalen nach Plato und anderen Quellen des 4. Jahrhunderts",
in der Bibl. math., 3. Folge X (1909/10) S. 104 ff., 138, 150. Die
Hauptstelle, 03 bc, übersetzt V. folgendermaßen: „Wenn die aus
zwei Zahlen zusammengefügte Zahl gerade ist, so können die Teile
sowohl ungerade wie gerade sein und anderseits, wenn die beiden
Einzelgrößen irrational sind , so können sie zusammengefügt bald
eine rationale, bald eine irrationale Größe liefern." Griechisch lautet
die 2. Hälfte des Satzes: aQQi^ziov {■y.azeQtov uvctov räxa ^av qi^tcc
xa. Gvvai-icfOTEQa eirai, zdya d' aggrjTa. Zur Auslegung sagt V. u. a.:
„Die Zusammenfügnng der beiden irrationalen Größen, natürlich
sind Linien vorgestellt, kann nicht reine Addition sein, denn zwei
einfache irrationale Linien, z. B. y2 und ]/3, geben addiert niemals
eine rationale, sondern stets wieder eine irrationale Linie (Euklid,
Elemente X, 16, 36) . . . Bedeutet awaf-upöiEoa aber nicht eine
reine Addition, so kann der Sinn nur aus der Figur und der Zu-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erscliienenen Arbeiten. 291
sammenfügung entnommen werden , welche für die Bildung des
Begriflfs der irrationalen Linien die bestimmende ist , nämlich aus
der Figur des rechtwinkligen Dreiecks und der Zusammenfügung
nicht der Katheten selbst, sondern ihrer Quadrate zum Quadrat der
Hypotenuse gemäß dem Pythagoreischen Lehrsatz. Zwei irrationale
Katheten können eine irrationale Hypotenuse liefern . ., oder auch
eine rationale." Aus dem Wortlaut aber gewinnt er einen bedeut-
samen chronologischen Schluß. Die weitere Untersuchung nämlich
zeigt ihm (S. 143): „In Pl.s Terminologie^) lassen sich drei Schichten
erkennen : die älteste, die pythagoreische, welche qt^tov und agQijcov
nur in Beziehung auf die Quadratdiagonale verwendet; die jüngste,
welche wie jene nur einmal auftaucht, indem sie die Klassifikation
Theätets durch die Worte /.i^xog und dvvauig andeutet, und zwischen
beiden die Ausdrücke , welche sich an Theodors Entdeckung des
allgemeinen Iri'ationalen anlehnen. Der Standpunkt des Wissens,
den PI. bei seinen Hörern und Lesern voraussetzen durfte , war
offenbar der Theodorische ; auf ihm bewegt er sich ausschließlich,
mit Ausnahme jener beiden ganz besonderen Zwecken dienenden
Stellen. Ihm gehören die zum allgemeinen Gebrauch erweiterten
Worte Qrjxov und aggr^TOv, ihm die von Theodor selbst gebrauchten
Grundbezeichnungen Gi(.if.iETQOv und ov oi'i-ifAeTQOv , ihm die um-
schreibenden Synonyma wie nooUijyoQov, (.ieTQ7]T6v, £f.if.i£TQOv, övvaTOV
l-ieTQEiv, övvazöv ftSTQsloO^at und ihre Gegensätze an, Pl.s Termino-
logie zeigt eine große Beweglichkeit . . . Diese Erscheinung weist
darauf hin, daß die Lehre vom Irrationalen selbst zu dieser Zeit
neu und in der Entwicklung war . . . Das später als Gegensatz von
qi]t6v gebrauchte aloyov, dessen Übersetzung unser 'irrational =^
verhältnislos' ist, kommt bei PL nie vor . . . (189) Aristoteles . .
gebraucht es einmal . . . Die Pythagoreisch- Theodorisch-Platonischen
Worte or^Tov und ccQQrjTOv fehlen bei Arist. vollständig." Seine
Terminologie lehrt, „daß er . . sich zwar dem Theodorischen Stand-
punkt des Lehrbuchs und seiner Schüler anpaßt, daß er selbst
aber darüber hinausgewachsen ist und die Klassifikation Theätets
wohl kennt". So kennzeichnet sie (150) „deutlich einen Übergangs-
zustand; sie ist ein Kompromiß zwischen den Elementen und der
Wissenschaft, zwischen Theodor und Theätet. Auch der um-
gekehrte Schluß führt zu einem beachtenswerten Eesultat : Wenn
im Dialoge Hp I qt^tov und ccqqijvov im allgemeinen Sinne gebraucht
^) Die außer dem Hp I in Betracht kommenden Stellen sind ßp 546 bc,
Th 47 d— 48 b, N 819 d— 820 d.
19*
292 Constantin Ritter.
werden, so muß diese Schrift zu einer Zeit verfaßt sein, als die
Theätetische Terminologie entweder noch nicht aufgestellt oder in
weiteren Kreisen noch unbekannt war. Deshalb gehört der Dialog
in die Zeit des voraristotelischen Sprachgebrauchs, also in Pl.s Zeit.
Man ist neuerdings geneigt, den Hp I für einen echt platonischen
Dialog zu halten, aus dem Jahrzehnt 399 — 390. Der Gebrauch von
QijTov und aQQTjTov ist geeignet, diese Ansicht zu stützen." Auch
ich betrachte das als ein neues gutes Zeugnis der Echtheit, und
daß die Frage nach irrationalen Größen den Verfasser beschäftigt,
scheint mir zugleich zu beweisen, daß der Hp unter den platonischen
Schriften nicht sehr früh angesetzt werden darf. Er wird der Ep
nicht eben sehr weit vorausliegen.
Menexeiios (= Mx): behandelt von Räder S. 125 — 27, Ritter
S. 485—496, Windelband-Bonhöffer S. 157, Pohlenz S. 256—309 u.
244 ff., Wilamowitz I S. 265—7, II S. 126—43, Frachter S. 274 f.,
Bruns Liter. Fortr. S. 356 — 60, Wendlaud, Die Tendenz des piaton.
Mx, Herrn. 1890 S. 171—95, M. Hoffmann Zt. f. d. Gy.Ws. 1905
S. 328 — 33, Ad. Trendelenburg, Erläuterungen zu Fl.s Mx, Berlin,
Pgr., 1905.
Beim Mx ist es kaum mehr nötig, für die Echtheit zu streiten.
Als ich meine ersten Untersuchungen schrieb , behandelte ich sie
noch als zweifelhaft. Genaueres Studium hat mir über alle Zweifel
längst weggeholfen. Und ich meine , für jedermann sollte über-
zeugend sein, was Wendland, Trendelenburg, Fohlenz zum Beweis
der Echtheit vorgebracht haben ^). Einiges davon sei hier wider-
gegeben. Da Pohlenz besonders ausführlich ist, halte ich mich
hauptsächlich an ihn. Er geht aus von einer Vergleichung der
Leichenrede des Perikles bei Thukydides mit der im Mx. Er findet
deutliche satirische Beziehungen. (S. 245:) Daß im Mx „die Durch-
ein ander wirblung der staatsrechtlichen Begriffe , die Berufung auf
die monarchische Institution der ßaaiXrjg, auf die Beständigkeit der
1) Bruns blieb gegenüber der Echtheitsfrage schwankend. (S. 357 f.:)
„Die Themastellung hat in der sonstigen platonischen Sokratescharakte-
ristik ihresgleichen nicht . . Andrerseits wäre es sehr falsch zu leugnen,
daß die Sokratescharakteristik des Mx mit einer Reihe von unzweifelhaft
platonischen Mitteln und Gedanken gearbeitet hat." (S. 360:) „Mit Macht-
worten ist einem so rätselhaften Werk wie dem Mx gegenüber wenig
geholfen . . Ich . . will aber das persönliche Bekenntnis nicht unter-
drücken, daß ich vorläufig" (!) „an seine Echtheit nicht zu glauben ver-
mag." — Ed. Schwartz hat noch 1900 im Hermes (S. 124 f.) den Mx
mit Bestimmtheit dem Fl. abgesprochen als seiner durchaus unwürdig.
Ber. übei* d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 293
Verfassung, die ganze Bezeichnung der athenischen Verfassung als
Aristokratie nicht ernsthaft gemeint sein kann, ist klar." Auch (246)
die Ausführungen über die iGOvof.iia und die Besetzung der Ämter
sind als „blutige Satire auf die tatsächlichen Zustände" aufzufassen.
Man versteht alles einzelne besser, wenn man darin eine Kritik
der von Thukydides widergegebenen Grundgedanken des Perikles
erblickt, löozr^g und e?^Evi}€Qia sind die auch dort verwendeten
Schlagwörter der Demokratie. Mx 61 e und c und 63 a klingt auch
im Wortlaut an Thuk. II, 41, 1 an. Außerdem erinnert 60 d an
Thuk. III, 82, 4, 46 d an Thuk. II, 42, 4. (S. 251:) „PI. hat also
bei seiner Satire auf die athenische Demoki-atie es nicht versäumt,
die einzige literarische Darstellung des perikleischen Ideals, die wir
kennen, in einem Bilde widerzugeben, das freilich wie ein Zerrbild
anmutet, aber nur zu sehr der Wirklichkeit platonischer Zeit ent-
sprach. Auf einen Gegensatz zu Thukydides braucht man darum
nicht zu schließen ; denn daß dieser selber den Widerspruch zwischen
Ideal und Erfüllung empfunden hatte , wird PI. natürlich gewußt
haben." — Weiterhin bemüht sich P, (257:) „durch eine allseitige
Betrachtung den platonischen Ursprung des Mx zu beweisen und
seine Tendenz klarzustellen". Er findet (S. 260): Die Technik, die
wir im Mx beobachten, ist dieselbe wie im Phs, an den viele An-
klänge vorkommen. „Und schwerlich wird man behaupten können,
daß im Mx dabei Nachahmung fühlbar wird." Freilich wird im
einzelnen manches anstößig gefunden, so namentlich die Rolle, die
Aspasia spielt. Schwartz stellt die Frage: 'Sollte PI. eine so
dumme Erfindung sich erlaubt haben wie die, daß Perikles' Maitresse
dem Sokr. im Jahre 386 eine Rede hält?' Jedoch „die scheinbar
so dumme Erfindung kann durch aktuelle Beziehungen bedingt
sein" . . „Wir wissen, was Aspasia in der sokratischen Literatur
für eine Rolle spielt. Aischines hat die Aspasia . . in seinem gleich-
namigen Dialog zur Lehrerin des Sokr. gemacht" und erzählt, wie
dieser andere ihr als Schüler zuwies. Das ging anderen Sokratikern
zu weit. Antisthenes hat dagegen Verwahrung eingelegt in seiner
bekannten groben Weise, indem er die Aspasia beschimpfte. Der
Verfasser des Mx verfährt feiner. Er greift das durch Aischines
gebotene Motiv auf, aber in ironisierend übertreibender Weise, so
daß man sieht, die Sache sei nicht ernst zu nehmen. Ganz ähnlich
benützt er (wie im Eus) den von der Komödie verurteilten und zum
Lehrer des Sokr. gemachten Konnos. Jedenfalls führt er diesen
Mx 35 extr. nur ein, um das Aspasiamotiv lächerlich zu machen.
Was die Form des Epitaphios im Mx anlangt, so liegt auf der
294 Constantin Bitter.
Hand, daß er „die rhetorischen Mätzchen, namentlich die gorgianischen
Figuren, imitiert und übertreibt". Das wird, mit Verweisung auf
Berndt, De ironia Menexeni (Münster 1881), S. 264 — 67 aus-
geführt. — Die eingehaltene Disposition „entspringt aus der Natur
der Epitaphioi", die ihr Schema von dem des früher ausgebildeten
Enkomion übernommen haben. Dieses Schema ist mit großer Ge-
schicklichkeit, aber für den feineren Beobachter unverkennbarer
Ironisierung angewandt. Was dabei von Kritikern seit alter Zeit,
so schon von Dion. Hai., bezüglich der Behandlung des zwischen
Athene und Poseidon um Athen geführten Streites getadelt worden
ist, sind mit bewußter Absicht begangene Verstöße gegen die übliche
Weise der Darstellung, „die uns die Kritik nahelegen" und uns
namentlich zur Vergleichung mit den sonst von PI. ausgesprochenen
Grundsätzen mahnen sollen. — Vor allem in Behandlung der Groß-
taten Athens offenbart sich ein Meister der alles weniger Rühmliche
in satirischer Absicht verhüllenden Darstellung. Alle Einwendungen
gegen Einzelheiten werden hier in einer überschauenden „Kritik
der auswärtigen Politik Athens" mit Recht von P. abgewiesen.
Z. B. die belächelte Erzählung von der Einkreisung der flüchtigen
Eretrier durch die persische Streifmannschaft 40 a folgt einem Be-
i-ichte Herodots, hat aber außerdem ihre genaue Parallele an N 698 c,
und wieder wird man — bei „engster Berührung zwischen dem Mx
und einer Schrift Pl.s" (S. 280) „schwerlich eine Nachahmung im
Mx nachweisen können." Oder (284) „Schwartz hat an der Auf-
zählung der Ereignisse (in 41 d) Anstoß genommen , weil nicht
deutlich werde, wie oft die Athener nach Cypern und Ägypten ge-
gangen seien und ob wir an die Züge von 459 oder die von 449
zu denken haben." Aber es „kann PI. hier auf eine genaue Angabe
der historischen Ereignisse nach dem Zusammenhang überhaupt nicht
ankommen. Er will zeigen, wie die Athener das ganze Meer von
den Barbaren gesäubert haben" . . . „Geographisch, nicht chrono-
logisch ist in erster Linie diese Aufzählung", und gerade so wird
sie besonders wirkungsvoll und „rundet" den ganzen Abschnitt über
die Perserkriege „zu einem künstlerischen Ganzen ab". Nachher
kommt in der Tat „ein grober chronologischer Verstoß" vor. Aber
auch der zeugt nicht gegen PL Denn daß der Verfasser „über-
haupt bewußt im Tone der tendenziösen Geschichtsfärbung redet,
das ist ohne weiteres Idar".
Zwischen hinein sei auf einige feinen Bemerkungen (von S. 288 f.)
aufmerksam gemacht: „Wenn PI. im Mx an die strenge Beobachtung
der Amnestie erinnerte (44 a), so mochte er dabei noch besondere
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 295
Absichten haben. 'Wir wollen auch der Toten jener Zeit gedenken
und sie miteinander durch Opfer und Gebete versöhnen, wie wir
versöhnt sind' — ist es ein trügliches Gefühl, wenn man bei diesen
"Worten den Neffen des Charmides heraushört, der den Athenern
zuruft: 'Laßt doch endlich die Amnestie auch dem Andenken der
Dreißig zugute kommen ! Ihr mögt verurteilen was sie getan haben,
aber sie haben doch auch in ihrer Weise das Beste des Landes
gewollt, sind doch auch Söhne unseres Vaterlandes gewesen {ov yaq
v.a/.ici aXhqXoiv yipavvo ovö^ ^Y.^Q^^- ß^^« övozvxui).^ Und wenn
dann PL von der Gegenwart sagt : ol aczoi yaq ovreg a/.eivoig ytvEL
Gvyyvoji^Tjv alX/jloig txouev dtv T iitoi^oaiuev ibv t ETtdO^Ofiev {4:4:h),
so mögen uns leicht die gewissenlosen Hetzei'eien der radikalen
Demoki'atie , für die Lysias schreibt , einfallen. Für die radikale
Politik Athens gilt aber Xenophons Anerkennung, daß der Demos
die Amnestie, die er geschworen, treulich 'noch heute' hält (Hell. II
extr.), und so mochten Pl.s Leser wohl weniger eine Satire auf die
Radikalen und Geschäftsadvokaten als den warmen Appell an das
Gemeinschaftsgefühl vernehmen."
Bemerkenswert findet P. die genaue Kenntnis des korinthischen
Kriegs. (S. 291:) „Sollen wir wirklich glauben, ein Nachahmer
hätte 50 Jahre später die Ereignisse so genau gekannt und dann
nur (45 b) mit einem ov/. STolf-ir^Gaf^ev oi-iooai auf den fast perfekt
gewordenen Friedensschluß angespielt? . . . Wie am Schluß des
4. Jahrh. ein ßhetor seine Unkenntnis des korinthischen Krieges
hinter nichtssagenden Phrasen zu verstecken sucht, zeigt Ps. Lysias
ep. 67. 8. Im Mx redet ein Mann, der die Dinge selbst erlebt^)
hat, äußerlich wie innerlich." — (S. 292 A. 1:) „Ganz vortrefflich
ist es , wie Sokr. zwischen die Verhandlungen von 392/1 und die
von 386 die lange Periode ovzu) öij — q)vG€Cüg einschaltet, die den
harmlosen Leser den Gegensatz zwischen beiden weniger fühlen läßt
und die Pause zwischen den Ereignissen ausfüllt wie ein Chorlied
in der Tragödie." — Abschließend meint P. (S. 296 f.) : „Wenn
wir nicht alle Stellen befriedigend erklären konnten, so ist soviel
wohl gesichert, daß daran nicht die Unklarheit eines rhetorischen
Nachahmers schuld ist — die pflegen ihre Plattheiten nur zu ver-
*) Vgl. Wilamowitz 11 S. 135: „Ganz unverkennbar ist, daß diese
Partie" — von der oligarchischen Revolution und der nach ihrem.
Scheitern gestifteten Versöhnung — ^nur bald nach den Ereignissen und
zwar von einem, der sie durchlebt hatte, geschrieben ist . . . Die Be-
urteilung der letzten Geschichte bis zum Königsfrieden ist vollends die
eines Zeitgenossen."
296 Constantin Ritter.
ständlich vorzutragen — , sondern daß aktuelle Beziehungen und
Anspielungen vorliegen, die wir nicht mehr voll verstehen. Aber
was wir verstehen das ist genug um sagen zu können: PI. ist es,
der die Schrift verfaßt hat, und sie ist eins der wertvollsten Doku-
mente zu seiner Beurteilung."
SchließHch sucht P. noch zu ergründen, wie PI. dazu kommen
mochte, seinen satirischen Dialog zu schreiben. Er findet die Er-
klärung in der Stimmung, die sich der besten Männer Athens nach
dem Königsfrieden bemächtigt hatte — in seiner Beurteilung ist
auch Isokrates mit PI. einverstanden. (S. 302 :) „Wenn nun in
Athen bei der Leichenfeier für die Gefallenen der Redner sich
hinstellte, die Segnungen dieses Friedens in den Himmel hob, im
Brusttone der Trivialität die Großtaten der Ahnen pries und die
uneigennützige, womöglich panhellenische Politik rühmte, die Athen
von jeher und auch in diesem Kriege wieder befolgt habe, dann
mochte es einem Hörer wie PI. wohl schwer werden, auf eine Satire
zu verzichten." Und der Gedanke an eine solche wurde dann wohl
vollends gezeitigt durch den Eindruck , den die wohl nicht lange
vorher erschienene Aspasia des Aischines bei ihm hinterlassen
hatte, die ihrerseits auch zu satirischer Bezugnahme herausforderte.
„Bei Aischines lernte Sokr. von Aspasia gorgianische Figuren und
erzählte davon, auch Perikles habe in seiner Redekunst vieles der
Aspasia zu danken gehabt. Konnte man dann in seiner Karikatur
nicht Sokr. eine regelrechte Rede, einen Epitaphios in den Mund
legen? Freilich mußte das dann ein Epitaphios werden, den Sokr.
13 Jahre nach seinem eigenen Tode hielt. Aber bei Aischines hatte
Perikles ja auch die Künste des Gorgias gelernt, der erst 2 Jahre
nach Perikles' Tod in Athen erschienen war, und zu dem über-
mütigen Tiaiyviov, zu dem allein der Stoff sich eignete, paßte es
ganz gut, wenn man diesen Anachronismus noch übertrumpfte."
Auch die zeitgenössische Komödie hat Einfluß geäußert. Nach
ihrem Vorbild mag PI. (S. 305 :) „sich wohl auch berechtigt geglaubt
haben . ., auf die volle künstlerische Geschlossenheit zu verzichten,
wenn ihm dafür die Gelegenheit geboten war, alles was er auf dem
Herzen hatte in dieser Gelegenheitsschrift zusammenzudrängen und
als Lehrer des Volkes ausgelassenen Scherz mit herber Satire und
tiefernsten Mahnungen zu verbinden."
Die zahlreichen Berührungen teils sachlicher, teils sprachlicher
Art, die zwischen dem Mx und anderen platonischen Schriften be-
stehen — sie sind zum größten Teil schon von anderen, wie z. B.
von Berndt und Trendelenburg, vermerkt worden — , dürfen auch
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 297
nicht außer Acht gelassen werden. Man vergleiche außer dem, was
schon oben zusammengestellt ist, Mx 41 ac mit N 699 a, 49 a mit
N 947 e, 37 c mit Ep 380 a, 42 c f. (und a) mit Ep 470 c ff., 47 c
(und 48 bc) mit Ep 604 d (387 d f.), 48 a mit Ep 387 d, 48 c mit
Ep 603e, 604b, 34a mit G 85a, 46cf. mit G 52e, 47ac mit
Hp II 65 6, 46 ac mit Sy 96b, 36c mit Phs 34 e und beachte auch
die klaren Züge , die der Inhaber der Titelrolle des Mx mit dem
Menexenos im Ly, der dort noch ein paar Jahre jünger zu denken
ist, gemein hat.
Sobald die Echtheit des Mx als einer platonischen Schrift an-
erkannt ist, kann über die Zeit der Abfassung kaum mehr Streit
sein. Der feste terminus post quem, der mit Verfolgung der ge-
schichtlichen Ereignisse bis aufs Jahr 386 herab gegeben ist, genügt
so ziemlich. Denn auch damit wird Pohlenz Eecht haben (S. 305):
„Eine solche Gelegenheitsschrift kann nur in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit den Ereignissen entstanden sein." — Wenn auf
diese Weise der Mx in die Nachbarschaft des Cra gerät , der ja
allemnach ziemlich weit gegen das Ende der ersten Schriftengruppe
vorzurücken ist, so scheint das ganz in Ordnung zu sein: „lustig"
und einzigartig ist er nicht weniger als dieser.
Daß Pohlenz' Auffassung des Mx im ganzen übereinstimmt mit
der, die ich mir selber gebildet und in meinem Piaton I vorgetragen
habe, erhellt wohl aus folgenden Sätzen (S. 494 ff. :) „Wie im Eus
und Cra sind auch im Mx Ernst und ironisierender Scherz in fester,
nicht aufzulösender Verklammerung verbunden. Deswegen ist auch
die merkwürdige Eede so vielfach und so gründlich mißverstanden
worden, wobei die einen sie für Piatons unwürdig hielten und zum
Beweise etwa auf die groben geschichtlichen Verstöße und Un-
klarheiten sich beriefen , die anderen bei der Beurteilung Piatons
die Fehler in Anschlag brachten, die er selber hier lächerlich macht.
Das Merkwürdigste ist, daß die Eede später dazu auserkoren
wurde . . den regelmäßigen Festvortrag beim staatlichen Totenfeste
zu bilden . . Dabei genossen also die Athener dann mit Behagen
das Lob, das ihrer Stadt hier gespendet wird, um eben nach An-
hörung desselben „für einige Tage sich selbst besser und edler
vorzukommen, als sie eigentlich waren," und sich etwas einzubilden
auf die Eeinheit ihres mit barbarischem völlig ungemischten Blutes . .,
wohl ohne im. geringsten zu ahnen, wie gründlich der Urheber der
Eede eben eine solche eitle Aufgeblasenheit verachtet hatte. Sie
stießen sich nicht an den Verdrehungen der Tatsachen, mit denen
Piaton ein Beispiel von dem gewöhnlichen Verfahren der Lobredner
298 Constantin Ritter.
geben wollte . . ; sie stießen sich auch nicht an den Mängeln der
Form, dem in der Einleitung so aufdringlich und hart hervor-
tretenden Dispositionsschema und den geschraubten Wendungen und
hohl tönenden Phrasen , deren der erste Haupteil manche enthält
und die mit allem Recht von dem Stilkritiker der augusteischen
Zeit, Dionysius von Halikarnassos, getadelt worden sind — nur daß
dieser verkannt hat . ., daß Piaton beabsichtigt hat, damit die ge-
wöhnlichen Fehler einer dem herrschenden Geschmacke huldigenden
E,ede zu kennzeichnen und unter anderem deuthch zu machen, wie
es sich in einzelnen Abschnitten dieser angestaunten Leistungen
um gar nichts anderes als um überall anzubringende auswendig
gelernte Schemata handle. Wer die Einführung und das Nachwort
der Rede beachtet, hat darin den Schlüssel für das Verständnis
der i-hetorischen Einlage. Und sobald diese richtig verstanden wird,
liegt nicht der geringste Grund vor, den Mx dem Piaton abzu-
sprechen. Daß er etwa um dieselbe Zeit entstanden sein muß wie
das Sy, dafür zeugen nicht bloß die geschichtlichen Anspielungen,
sondern auch die einzelnen Züge der Sprache. Und seinem Ton
und Inhalt nach paßt er auch gerade hierher. Mehrere Einzel-
heiten, namentlich in dem über Aspasia Gesagten sind uns heute
nur noch halb verständlich. Es ist kein Zweifel, daß in diesen
Sätzen literarische Anspielungen stecken, die dem zeitgenössischen
Leserkreis ohne weiteres erkenntlich waren. Kein anderes plato-
nisches Stück ist so sehr Gelegenheitserzeugnis und Tialyviov, wie
der gewiß rasch hingeworfene Mx. Gerade wegen seiner Eigenart
ist er wertvoll . . In dem zweiten, ermahnenden Teil der Rede ist
Piaton zwar auch bei dem rhetorischen Schema geblieben, aber er
hat dieses wirklich großartig ausgeführt. . . Hier liegt seine echte
sittliche Überzeugung zugrunde und deshalb spricht uns hier eine
zu Herzen dringende Beredsamkeit an. Um dieses Abschnitts willen
war es nicht so leicht, die Rede durch eine besser zu dem Zwecke
passende zu ersetzen. Die Rhetoren hatten Anlaß genug, alle ihre
Kunst aufzubieten, um diese Leichenrede der Milesierin Aspasia
auszustechen und durch eine andere im Gebx'auche der Stadt zu
ersetzen. Warum ist dazu keiner imstande gewesen?"
Auch mit Frachter undBonhöffer sehe ich mich in Über-
einstimmung in allem Wesentlichen. Dagegen geht die Auffassung,
die Wilamowitz uns vorträgt, so ganz und gar gegen mein Ge-
fühl, daß ich noch eher die Unechtheit gelten ließe, als ihr mich
fügte. W. scheint den stark ironischen Klang ganz zu überhören,
der dem rhetorischen Pathos vielfach beigemischt ist. Erstaunlicher-
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 299
weise findet er in der ganzen nach dem gebräuchlichen Rhetoren-
rezept gestalteten Festrede die ernste politische Absicht Pl.s, dem
athenischen Volk, mit dem er durch den G sich entzweit hatte,
nach der Rückkehr in die Heimat sich höflich zu empfehlen und
die verlorene Fühlung, deren er bedurfte, damit seine Schule ge-
deihen könne, wieder herzustellen. „Das Auffälligste," lesen wir
(I, 265, 267), „ist, wie er sich aus der Affäre zieht, als er das
unvermeidliche Lob der Demokratie singen muß." — Auch Pohlenz
als Kritiker in den Gott. gel. Anz, 1921 S. 14 setzt zu 'unvermeid-
lich' ein Fragezeichen — ... „Konnte er es verantworten über die
Verfassung zu sagen" was er tatsächlich sagt? . . Ja, „wenn wir
genau zusehen, kann PI. seine Worte verantworten". — Offenbar
ist es W. bei dieser Auslegung selber nicht ganz wohl. Denn er
findet, daß in der eigentümlichen Schrift „zu wenig von dem PI.
darinsteckt, den wir lieben" ; aber er beruhigt sich über die bekundete
„Weltklugheit" — navovQyla würde PL selbst sie nennen! — mit
den Sätzen: „Die Erfahrungen der Reise haben ihn gereift; er muß
Wasser in den Feuertrank des G gießen," — das hat er, wie Pohlenz
richtig erinnert, im Me getan ; und zwar, meine ich, auf anständige
und voll genügende Weise — „denn er will in der Heimat wirken.
Ob dies Auftreten dazu geholfen hat, fragen wir vergebens, aber
gehindert hat ihn niemand: er konnte seine Lehrtätigkeit beginnen."
Die Entschuldigung, die W. hier gelten läßt, ist vei'dammt ähnlich
der, mit welcher einst Christ die Echtheit des 2. Briefs trotz seines
schmählichen Inhalts verteidigt hat. Aber einen solchen PI. würde
ich eben nicht „lieben". In der Tat nicht. — Auch aUes Gerede,
mit dem W. in seinem 2. Band die Anstöße zu beseitigen sucht,
scheint mir sehr unglücklich. — In gleichem Sinn haben sich als
Rezensenten Pohlenz (a. a. 0.) und Ne stle (in d. B. Ph. W.-Schr.
1920 S. 961 ff. u. d.W. Korr.-Bl. 1920) vernehmen lassen. Von P.
höre man noch ff. (S. 14): „'Heute,' so schließt der Redner (46 a),
'gedenken wir derer, die in Hellas gefallen sind, aber auch derer,
die den Großkönig befreit haben.' Soll das wirklich eine loyale An-
erkennung für Athens Politik in der letzten Zeit sein? Mir klingt
es, als wenn heute eine Gedächtnisrede auf unsere Gefallenen damit
abschlösse, sie hätten das Verdienst Polen befreit zu haben."
Wegen ihrer Bedeutsamkeit will ich aus Wilamowitz noch
eine gegen Pohlenz gerichtete Bemerkung herausholen (II, 127):
„Ich bestreite jede Beziehung auf Thukydides bei PL überhaupt."
Ein eigenes Urteil über diese Streitfrage maße ich mir nicht an.
Trendelenburg stimmt hier mit Pohlenz überein (vgl. S. 13 zu 36 e,
300 Constantin Ritter.
S. 14 zu 37 a, S. 15 zu 38 d: „in diesem Abschnitt ist die An-
spielung auf Thukydides II, 37, 1 besonders deutlich").
Erst nachträglich habe ich die Aufsätze von Wendland und
von Trendelenburg gelesen. Sie sind aber beide so gehaltreich
und bedeutsam, daß ich ihre Hauptgedanken noch mitteilen muß.
Zunächst höre man Wendland: (S. 173:) „Es braucht nur kurz
daran erinnert zu werden, daß die ßednerschulen des Isokrates und
des Alkidamas, die beide von Gorgias ausgegangen waren, zur Zeit
der Abfassung des Mx . . sich rivalisierend in Athen gegenüber-
standen." Aus der Zeit heraus, in die die Programmreden der
beiden Schulhäupter fallen, „aus der Richtung und den Wegen, die
damals gerade die Ehetorik einschlug, . . läßt . . die Vorrede des
Mx sich am besten begreifen" . . Ja, (S. 178:) „die Schrift paßt
nur in die Zeit , in welche die Programmreden des- Isokrates und
Alkidamas fallen". (181) Bedeutsam für den zeitlichen Ansatz ist
auch, daß der Mx noch keine Eücksicht auf den Hiatus nimmt.
(S. 174): „PI. tut den panegyrischen Rednern keineswegs Unrecht.
Nicht nur ihre bekannte Praxis gab ihm ein Recht, so zu urteilen
wie er urteilt, sondern es ist gerade das Prinzip, welches sie ohne
Scheu aufstellten, die Anweisung, die sie ihren Schülern für die
Lobreden gaben, gegen die der Spott des Philosophen gerichtet ist . .
Die echt platonische Anschaulichkeit der Schilderung und plastische
Gestaltungskraft läßt sich . . in der Art, wie Sokr. die hinreißende
Wirkung der Grabreden auf sich schildert, ebensowenig verkennen
wie die feine Ironie, welche das Behagen und die innere Befriedigung
persifliert , mit der der athenische Philister die auf die niedrigen
Reize der Menge berechneten und ihrer Eitelkeit schmeichelnden
Reden aufnimmt." — (178:) Es „läßt sich wohl nicht bestreiten",
daß Isokrates Paneg. 23 gegen Mx 44 e polemisiert. — (181:) „PI.
ahmt die in der epideiktischen Beredsamkeit herrschende gorgianische
Manier mit ihrer aller geschichthchen Wahrheit Hohn sprechenden
panegyrischen Tendenz und ihrem rhetorischen Flitterschmuck nach,
er sucht sie vielleicht in manchen Punkten noch zu überbieten.
Die Rhetoren mochten immerhin diese Nachbildung für ernst nehmen,
ja sie mußten es wohl, weil sie darin Fleisch von ihrem Fleisch
erkannten, ähnlich wie die Dominikaner ihr leibhaftiges Ebenbild
in den Briefen der Dunkelmänner fanden, und soUten es vieUeicht
nach Pl.s Absicht. Jedem, der PI. und sein Sokratesideal kannte,
mußte die Rede wie die bitterste Satire und Ironie, wie eine Parodie
auf die zeitgenössische Rhetorik klingen. Von diesem Gesichts-
punkte aus erklärt sich die Form, die gesamte Anlage und der
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 301
Inhalt der Rede." — (S. 182:) Manche Einzelheiten in der Nach-
bildung des gorgianischen Stils „lassen sich nur zu einer Zeit be-
greifen, die noch unter dem lebendigen Eindrucke seiner politischen
Reden stand und die Anspielungen auf die bekannten Vorbilder
verstehen konnte". Sicher die meisten der geschichtlichen Un-
wahrheiten des Mx hat PI. einfach von seinen Vorgän2;ern über-
nommen, z. B. (S. 188:) „Die Hilfeleistung der Platäenser bei
Marathon wird ebenso keck abgeleugnet (40 c ißoi^^r^oev 'El?^)jviov
oideig) wie bei Lysias (24; auch Is. IV 87 erwähnt sie nicht) . . .
Die Schlacht bei Tanagra wird wie bei Diod. (nach Ephorus) XI, 80 :
Justin. III, 11; Ai-istid. I 253 d als unentschieden hingestellt." —
(185 :) „Ich glaube, daß es noch einigermaßen möglich ist, aus den
Produkten der Panegyrik , namentlich dem Mx , Lysias , den iso-
kratischen Reden, Hyperides, auch den auf die isokratische Schule
zurückgehenden Geschichtsquellen einen geschlossenen Kreis von
Gedanken und Kunstformen herauszustellen, der schon Isokrates
und PI. vorgelegen haben muß. Die bisherigen zahlreichen Unter-
suchungen auf diesem Gebiete leiden fast alle an der Einseitigkeit,
daß man wenige, meist nur zwei Vergleichungsobjekte isoliert hat
und so zu einer oft sehr bedenklichen Annahme eines Abhängigkeits-
verhältnisses gelangt ist." — (S. 193:) Auf Grund der aristotelischen
Zeugnisse über den Mx „wird sich kaum eine Einigung in der
Echtheitsfrage erzielen lassen". — (S. 192) Für die Abfassungszeit
darf 387, der Abschluß des antalkidischen Friedens, als terminus
post quem, das Erscheinen des Panegyricus, 380, als terminus ante
quem gelten. Fast sicher haben wir auch in Xen. Mem. III 5 eine
Bezugnahme auf den Mx.
Bei Trendelenburg befremdet mich , daß er seine Auf-
fassung zu der von Wendland in Gegensatz bringt. „Viel eher
könnte man die Tendenz des Schriftchens dahin bestimmen, daß es
zeigen solle , vrie man einen Epitaphos nicht machen müsse . .
Die Nachahmung ist . . von Anfang bis zu Ende ein Pasquill."
Anders, meine ich, hat sie auch Wendland nicht verstanden trotz
seiner Erklärung , PI. habe den Rhetoren zeigen wollen , daß er,
wenn er nur wolle, ohne große Mühe eine epideiktische Rede ver-
fassen könne, die sich vor den ihrigen nicht zu verstecken brauche."
Allerdings die ermahnenden Worte der Grabrede nimmt W. viel
ernster als T. Er sagt (S. 192): „Der ernste und warme Ton der
Ermahnungen . . erweckt entschieden den Eindruck, daß PI. hier
aus eigenster Überzeugung redet und sich über das Niveau der
gewöhnlichen Grabreden erhebt. Aber eine solche Mischung von
302 Constantin Ritter.
Ernst und Scterz scheint mir doch nicht unpiatonisch zu sein . .
und seiner polemischen Tendenz bleibt doch . . PL treu, wenn er
die weichlichen Klagen verwirft und , freilich nicht mehr der
mimischen Ironie, sondern direkter Polemik sich bedienend, gegen
die unmoralische Tendenz der Rhetoren sich richtet." T. will auch
in den Ermahnungen und Tröstungen nur salbungsvolle Phrasen und
frostige Künsteleien finden und erklärt , auf das Ganze blickend :
„So führt PL die Rolle des Satirikers folgerichtig bis zum Schlüsse
durch." Hier kann ich mich ihm nicht anschließen. Aber trefflich
ist fast alles was er sonst ausführt. Als Beispiel gebe ich folgendes
(S. 8): „Für die Wertung des geschichtlichen Teiles . . wird man
sich mit Nutzen der Stellung erinnern, die die Redekunst nach
der Lehre des G zum positiven "Wissen einnimmt. *Von den tat-
sächlichen Verhältnissen selbst' — so folgert Sokr. 59 b — 'braucht
die Redekunst nichts zu wissen; sie braucht nur ein Mittel der
Überredung ausfindig gemacht zu haben , um bei Nichtwissenden
den Anschein zu erwecken , mehr zu wissen als die Wissenden.
Die Nichtwissenden aber sind die große Masse' . . Demnach 'wird
der Nichtwissende bei Nichtwissenden überzeugender wirken als der
Wissende . . Man braucht also nur diese eine Kunst gelernt zu
haben, um den Fachmännern in nichts nachzustehen'. Mit solcher
Vorstellung von der Allmacht der Redekunst ließe sich eine noch
'^affentheuerlichere Geschichtsklitterung' rechtfertigen , als sie der
antike Fischart in usum delphini et in maiorem Atheniensium gloriam
hier vorlegt." — Besonders wertvoll sind die ausführlichen Er-
klärungen einzelner schwieriger Stellen des Textes, vielfach mit
wohl gelungener Übersetzung. Auch die Mahnung möchte ich nicht
verschweigen , die T. in seinem Vorwort gibt , es möge der Mx
unter die Schriften aufgenommen werden, die man im Gymnasium
zu lesen pflegt. T, selbst kann von einer voll befriedigenden Probe
erzählen, die er bei einer tüchtigen Obersekunda gemacht hat.
„In dem Wunsche, den Fachgenossen, die ihren Schülern mit der
Lektüre des Mx eine Freude machen möchten, das Material zur
Vorbereitung in bequemer Weise darzubieten," hat er seine Be-
arbeitung dem Druck übergeben. Er scheint mir Recht zu haben
mit dem Urteil, daß „die Schrift in hohem Grade die Eigenschaften
besitze , die sie für Schüler mit Nutzen verwendbar erscheinen
lassen." Nämlich „sie ist von geringem Umfange — in der kleinen
Ausgabe von M. Schanz füllt sie 16 Seiten — , übersichtlich in ihrer
Gliederung, gewählt, doch nur vereinzelt dunkel im Ausdruck und
äußerst anregend durch ihren Inhalt. Freilich wird dieser Schülern
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PL erschienenen Arbeiten. 303
erst dann recht nahe gebracht werden können, wenn sie einerseits
mit der griechischen Geschichte , andrerseits mit der rhetorischen
Sprache sich vertraut gemacht, also eine Rede des Lj'sias oder
Isokrates gelesen haben. Dann aber wird der Mx ihr Interesse
in ganz ungewöhnlichem Maße erregen , denn Geschichte , Kultur-
geschichte, Antiquitäten und sprachliche Probleme kommen bei ihm
gleichmäßig zu ihrem Rechte". T. weist auch darauf hin, daß in
Frankreich die kleine Schrift „seit einer Reihe von Jahren zum
eisernen Bestand der Schullektüre gehört, ähnlich wie bei uns die
Anabasis" und daß es demgemäß gute und billige französische Aus-
gaben gibt.
Noch einige Einzelheiten. 35 e ytarcaGiav . . y.ai Kovvov ye zov
JMr^xQoßioV ocTOi ydg uoi ovo sial öiöaa/Mloi, o ucv f.tovaiy.ijg,
^ ÖS Qi^Togr/S^g. Dazu bemerkt Bruns (S. 358): Sokr. „improvisiert
die Leichenrede. Denn es ist wohl ohne weiteres klar, daß es
nur eine Umschreibung hierfür ist, wenn er behauptet, eine Rede
der Aspasia zu reproduziei'en. Aber auch diese Umschreibung ist
platonisch, denn mit einer ähnlichen wird die Improvisation des
Phs eingeführt. Was er jetzt sagen wolle , heißt es dort (35 c),
müsse er wohl von irgend jemand gehört haben, er wisse nur im
Augenblick nicht, von wem. Daß wir aber im Mx den Scherz mit
der Aspasia nicht als Ernst nehmen, ist — wiederum durch ein
speziell platonisches Mittel — noch besonders verhindert worden.
Wir kennen es aus dem Eus. Jedesmal wo Sokr. dort den ii'onischen
Wunsch äußerte, bei dem närrischen Euthydemos in die Schule
zu gehen, war hinzugefügt, er sei ja auch Schüler des Konnos.
Genau so dient im Mx das gleiche Zitat aus Ameipsias' Komödie
als Fingerzeig, daß man die Schülerschaft bei der Aspasia als einen
Witz auffassen solle". Wendland (S. 176 f.): Die Erwähnung des
Konnos „ist richtig mit dem musikalischen Tonfall und Rhythmus
der Rede von Berndt, De ironia Älxi S. 21 in Zusammenhang ge-
bracht . . Und Dümmler hat wohl . . Recht, wenn er Sokr.' Aus-
sage, er habe beim Lernen der Rede (von Asj^asia) beinahe Schläge
bekommen, auf die 'gorgianische Di-illmethode' bezieht". (S. 180)
Im übrigen deutet PI. damit, daß er Sokr. die Rede von Aspasia
lernen läßt, an, daß er nicht in seinem eigenen Sinne redet. —
Trendelenburg: „Das Verständnis der Stelle hat bisher darunter
gelitten, daß man Kovvog mit dem aus Aristophanes . . bekannten
Kovväg zusammengeworfen hat. . . Konnus muß . . ein Zitherlehrer
für Kinder gewesen sein , bei dem angeblich auch Soki-. im Alter
die Lücken in dieser Kunst auszufüllen suchte. In Übereinstimmung
304 Constantin Ritter.
hiermit scherzt Sokr. Eus 95 d, daß Konnus jedesmal, wenn er sich
ihm nicht füge, böse werde und sich dann um ihn, der doch nichts
lerne, weniger kümmere. Das ist das vollkommenste Gegenbild zur
Aspasia, die Sokr. prügelt, wenn er etwas verschwitzt hat (Mx 36 c).
Damit aber ist der Scherz erklärt. Um Athener vor Athenern zu
loben, dazu bedarf es keiner Kunst und Unterweisung. Das bringt
jeder, auch der größte Dilettant, fertig. Nun ergibt sich der Sinn
des Folgenden von selbst. Wessen Mund den Elementarlehrer und
die Hetäre als aller Weisheit Urquell preist . ., der muß folgerichtig,
wie es Sokr. tut, Lamprus, den berühmtesten Musiker seiner Zeit,
und Antiphon , rbv (.leliyr^QW 'IAöquotov (Phs 69 a) , als minder-
wertige Lehrer ausgeben. Also : Wie Antiphon und Lamprus die
berühmtesten, so sind Aspasia und Konnus die lächerlichsten Ver-
treter ihrer Kunst. Wenn Sokr. sich für deren Schüler ausgibt,
so sagt er damit, daß der Sprecher am Grabe eine gründliche Vor-
bildung nicht nötig habe; was er für seine Zwecke braucht, kann
er jedem Stümper abgucken. Der Musik aber kann er nicht ent-
behren, weil seine Mittel — Wohlklang, Reim, Eurhythmie, — wie
sein Zweck, das y.rjleiv und yorjZEceiv des Hörers, wesentlich musi-
kalischer Art sind. — Die römischen Schriftsteller haben die Kunde
von Connus als nobilissimus fidicen aus Cicero ep. fam. IX, 22, 3,
dieser wieder aus PL, ein Beweis , wie früh das Gefühl für den
Humor Pl.s abhanden gekommen ist."
Zu 36 d bemerkt Trendeienburg: „Die Antithesen: £(p/</> — Aoyw,
'/.oivrj — löia, V7t6 TTjQ Tioksiüs — V7v6 tiüv oheiiov gehören zu den
allergewöhnhchsten ; nebenher gehen gesuchte Ausdrücke : TtOQSvuvTai
Tvv s'if.iaQ/^i£vr.v TtoQEiav, xbv keinof-tevov -/.ooi-iov aTTodovvai, deren
Gespreiztheit durch die Banalität der Gegensätze in um so helleres
Licht gerückt wird. Diesen Charakter wahrt PI. in der ganzen
Rede. Man wird aufs lebhafteste an die Bestrebungen der fran-
zösischen Preziösen erinnert. . . Es ist ein wundervolles Mosaik
von Gesuchtheit und Plattheit, und je länger man sich damit be-
schäftigt, desto bewunderungswerter erscheint Pl.s Kunst in der
Verarbeitung so auseinanderstrebender Dinge zu einem in seiner
Art harmonischen Ganzen." — Zu 38 a: „i-iovrj yag . . . /.ai TtQOJTr]
TQO(pt)v av^QLoneiav ijvsyKEV. Man hat sich Mühe gegeben, das un-
sinnige 'allein und zuerst' als rednerische Fülle zu erklären, statt
anzuerkennen, daß es sich auch hier um eine absichtliche Ver-
drehung handelt, und zwar wiederum einer lysianischen Phrase.
Epit. 18 heißt es von 'unseren Vorfahren', sie hätten nQtÖTOi vml
{.iovoi die Tyrannen vertrieben und die Demokratie eingesetzt. In
Ber. über d. in d. letzten Jahrzehnten über PI. erschienenen Arbeiten. 305
dieser Eeihenfolge läßt der Ausdruck die Erklärung zu : 'zuerst und
(für lange Zeit) allein'. So aber, wie PI. die Worte umstellt, haben
sie keinen Sinn. Bewundernswert, wie scharfsinnig die Schwäche
der Phrase herausgefühlt und mit wie leichter Hand sie ins Un-
sinnige verkehrt ist."
Zu 45 b schlägt T. vor vTceg Tlagiiov abzuändern in vTceq
Uigdcov = TleiQanov. Dann wäre damit auf die Vernichtung der
spartanischen Mora durch die Peltasten des Iphikrates angespielt,
„und man müßte sich billig wundern, wenn unser Redner sich diesen
Waffenerfolg der Athener, der zu seiner Zeit einen ganz unglaub-
lichen Eindruck machte, hätte entgehen lassen". o\ ev tcT) JleiQaio)
heißen ja bei Xenophon Hell. IV, 5, 5 die Leute, über die Agesilaos
Gefangenenschau hält, als ihm das Unglück gemeldet wird. — Das
scheint mir sehr beachtenswert. Doch ziehe ich auch dieser Ver-
mutung die Abänderung vor, die ich früher vorgeschlagen habe und
die mir sachlich besser in den Zusammenhang zu passen scheint:
VTteQ ^Iiovcüv. Graphisch erkläre ich mir die Sache so , daß die
zweite Silbe der Präjjosition versehentlich doppelt geschrieben und
dann das Zeichen, das die Tilgung der überschüssigen Buchstaben
verlangte, fälschlich auf die Silbe QN bezogen wurde. Dann ergab
sich ^YUEPIIEPIQN und von da durch Konjektur unser üaglcüv.
Nur nachsprechen aber kann ich die angehängte Bemerkung T.s :
„Daß der Redner selbst das heikle Thema vom Antalcidischen
Frieden zu einer Verherrlichung Athens benutzt, ist natürlich nur
bei starker Korrektur der Tatsachen möglich. Wenn aber PI. diese
sogar an Ereignissen vornehmen läßt, die . . frisch in aller Ge-
dächtnis sein mußten, so zeigt er damit, was er den Rednern an
Schönfärberei, den Hörern an Gedankenlosigkeit zutraute." Dagegen
muß ich zu dem was er zu 49b bemerkt, wieder Zweifel äußern:
„Dies ist vermutlich die Stelle, die der Nachricht bei Cicero orat.
151 zugrunde liegt, die Grabrede im Mx sei alljährlich bei den
Epitaphien vorgelesen worden." Dieser Nachricht wäre also kein
Glauben zu schenken ? Und doch findet T. selbst in seinem letzten
Satze es begi'eiflich, „daß Jahrhunderte das Pasquill nicht nur ohne
Argwohn, sondern mit derselben Ehrfurcht lasen, wie die ernsten
Schriften Pl.s."
Jahresbericht ftlr Altertumswissonschan. Bd. 191 (1922. f).
JAHRESBERICHT
über die
Fortschritte der klassischen
Altertumswissenschaft
begründet von
Conrad Bursian
herausgegeben von
A, Körte.
Hundertzweiundneunzigster Band.
Achtundvierzigster Jahrgang 1922.
Zweite Abteilung.
LATEINISCHE AUTOREN.
LEIPZIG.
O. R. REISLAND.
1922.
Alle Rechte vorbehalten.
Altenburg, S.-A.
Pierersche Hofbuchdruekerei
Stephan Geibel & Co.
Inhaltsverzeichnis
des hundertzweiundneunzigsten Bandes.
Seite
Jahresbericht über Plautus 1912 — 1920. Von Oskar
Köhler in Dresden 1 — 45
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren
1919—1922. Von A. Kurfeß in Charlottenburg 46—63
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren
1909—1918. Von Karl Mras in Graz (Wien) . 64—108
Bericht über die Seneca - Literatur aus den Jahren
1915 — 1921. Von Karl Münscher in Münster
(Westf.) 109—214
Bericht über die Literatur zu Quintilians Institutio ora-
toria aus den Jahren 1910 — 1921. Von Georg
Ammon in Regensburg 215 — 308
Jaliresbericht über Piautas 1912—1920.
Von
Oskar Köhler in Dresden.
Der letzte von W. M. Lindsay verfaßte Bericht über die
Fortschritte der Plautusstudien reicht bis 1911. Die Länge der
Berichtszeit und der hinter uns liegende Krieg machen es überaus
schwierig, die Literatur , vor allem die ausländische , vollständig zu
beschaffen, und es wird im nächsten in hoffentlich nicht zu ferner
Zeit erscheinenden Bericht manches Nachtrags bedürfen.
I. Handschriften und Orthographie.
H. Degering, Über ein Bruchstück einer Plautushandschrift des
4. Jahrhunderts. Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1919, 468 ff.; 497 ff.
Degering hatte das Glück, ein Bruchstück einer bisher un-
bekannten alten Handschrift des 4. Jahrhunderts, das Cist. 123 — 147
uud 158 — 182 enthält, für die Preußische Staatsbibliothek (Ms. lat.
784) zu erwerben. Es stammt aus dem Besitz des Leipziger Antiquars
K. W. Hiersemann und diente in einem Ovidkodex des 12. Jahr-
hunderts als Verkleidung der Innenseite des Holzdeckels. Da die
Verse 148 — 157 und die Szenenüberschrift, zusammen also 11 Zeilen,
fehlen, die der Buchbinder unten abgeschnitten hat, betrug die Ge-
samthöhe des Schriftspiegels 205 mm bei einer Breite von 175 mm,
während sich die Blattgröße auf 290 X 255 mm berechnen läßt.
Das Format ähnelte also stark dem des Ambrosianus ; die Zeilenzahl
aber ist" fast doppelt so groß wie in Ä (36 : 19). Von der Vorder-
seite des Blattes gibt Degering einen guten Lichtdruck bei.
Selbst auf diesem ist noch zu erkennen , daß die Buchstaben in
echter Purpurtinte geschrieben sind , wofür es bisher kein Beispiel
gab. Es handelt sich also um einen Luxuskodex — Degerin^-
bezeichnet ihn mit N — der, wie Klotz (Berl. phil. Wochenschr.
1919, 1225 ff.) wahrscheinlich macht, dem oströmischen Kaiserhausc
gehört hat.
So haben wir jetzt drei alte Handschriften: Ä und N in der
Schriftform des 4. Jahrhunderts und P, den erschlossenen Arche-
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd, 192 (19'i2. II). 1
Oskar Köhler.
typus von BCDT\ ihr Verhältnis zueinander verdeutlicht Dege-
ring diirch folgenden Stammbaum :
Tatsächlich steht N näher an P als an Ä : er hat die Verse
126/9, die in Ä fehlen, liest 132 perdita est, Ä deperit, 144 sup-
positionem eins rei , Ä suppositionemque eius, 145 solae scimus,
Ä scimus solae ; aber er ist auch kein bloßer Vertreter der pala-
tinischen Rezension, da er bei Abweichungen von P in den meisten
Fällen die grammatisch, sachlich oder metrisch richtigere Lesart hat,
z. B. 123 illanc ego (schon von Pareus erschlossen) , P illam ego ;
126 quia sum onusta (bereits von Camerarius eingesetzt), P quasi
sum honesta; 139 puellam eam a me accepit, P eam puellam a
me I accepit. Ein gemeinsamer Fehler von NPÄ ist 143 aiebat
für aibat. Leider fehlt das Zeugnis von Ä für 159 und 168, die
in ^P fragmentarisch überliefert sind; wären sie es auch in ^, so
wäre Leos (Forschungen '^ 1912, 1 ff. ; vgl. besonders 58 ff.) Nach-
weis, daß A und P Abschriften eines Kodex sind, urkundlich.
So widerspricht Lindsay (Class. Eev. 33 [1919], 152) der
gemeinsamen Spitze des von D e g e r i n g angesetzten Stammbaums,
wie er auch in seinen Notes on Plautus , Class. Quart. 7 (1913),
1 ff. gegen Leo erneut betont , daß Ä als Gelehrtenausgabe auf
Varro oder Flaccus zurückgehe und die *ipsa verba' des Plautus
biete, P aber und Nonius auf die Sammlungen des Probus ; die A
und P gemeinsamen Fehler seien „unvermeidliche Irrtümer". Auch
den Truculentus, von dem er eine Ausgabe in Aussicht stellt, kann
er nicht als Beweis dafür ansehen , daß es in Hadrianischer Zeit
nur den einen verdorbenen Text gegeben habe.
Dagegen führt Ch. Exon, Apriorism and Some Places in
Plautus, Hermath. 38 (1912), 52 ff. eine große Reihe von Beispielen
an, in denen A klarste Modernisierung, P die echte, altertümliche
Lesung zeigt ; so nimmt auch er , wie Leo , einen gemeinsamen
späten Archetypus an , von denen A und P — jetzt müssen wir
sagen NP" — verschiedene Ausgaben darstellen. Das letzte Wort
hierüber ist offenbar noch nicht gesprochen.
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 3
Die Frage nach der Stellung des Nonius, den Leo (ForBcb. ^
S. 16) zwischen A und P setzt, Lindsay a. a. 0. aber als bloßen
Nachbar von P und Gegner von A ansieht , findet erwünschte
Klärung durch
J. Mussehl, Bedeutung und Geschichte des Verbums cSvere.
Herrn. 54 (1919), 387 f.
Er weist mit Sicherheit nach, daß das Wort cevere Nonius 84,
17 (Pseud 864 conquiniscito A, conquiniscito simul P, ceveto simul
Non.) allerfrühestens um 200 n. Chr. in den Plautustext eingedrungen
sein kann, in einer Zeit, als die Überlieferung AP schon bestand,
und daß nichts als ein Fehler in P (das aus 863 eingedrungene
simul) in dieser späten Zeit die Einschmuggelung von cevere als
vermeintlichem Synonymum von conquiuiscere ermöglicht hat. Es
darf sich also niemand mehr auf diese Noniusstelle berufen , um
alte, von AP unabhängige Überlieferung zu erweisen.
Zur Orthographie des Plautus liegen folgende Arbeiten vor:
1. R. G. Kent, Dissimilative Writings for ii and iii in Latin. Trans.
Amer. Philol. Assoc. 43 (1912), 85 ff.
2. R. G. Kent, Ei-Readings in the Mss. of Plautus vs. Mathema-
tics. Class. Philol. 9 (1914), 199 f.
3. E. H. Sturtevant, Dissimulative Writing in Republican Latin
and uo in Plautus. Class. Philol. 11 (1916), 202 ff.
4. W. Nieschmidt, Quatenus in scriptura Romani litteris Graecis
usi sint. Diss. Marburg 1913.
Die Ergebnisse von 1. sind:
a) Zu allen Zeiten wurde nach Vokalen einfaches i geschrieben
statt -ji in Wörtern wie Pompei , reicio , und nach Konsonanten in
Wörtern wie abicio, ebenso intervokalisch im Werte von ij in
Wörtern wie aio.
b) Zur Zeit der Republik wurde ii zur Bezeichnung von zwei-
silbigem i-i vermieden durch den Gebrauch von iei oder ie.
c) Zur Zeit der Republik und in einiger Ausdehnung auch
später wird einfaches a e o ii geschrieben statt zweisilbigem a-a,
e-e, 0-0, ii-u.
d) ov und v wird gebraucht für uv und v für vu , ebenso wie
iro für vu uud uu.
e) ii und uu mied mau nicht, weil man Doppeldeutigkeit
ferchtete, sondern weil man einen einmal geschriebenen Buchstaben
aicht gern wiederholte.
f) Das Vermeiden von ii für i in den Regeln des Accius er-
1*
4 Oskar Köhler.
klärt sich daraus, daß man Verwechslung mit zweisilbigem i-r ver-
hüten wollte.
g) Der Gebrauch von ei nach i in den Pluralendungen der io-
Stämme war der Grund für das Vorwiegen von ei in der Endung
der reinen o-Stämme.
li) Für zweisilbiges ain, das überall troehäisch gemessen werden
kann und immer vor Konsonanten steht, können wir aine schreiben;
der Dativ ei hat ebenso wie huic und quoi dreifachen Wert :
— , w -, - - ; die normale phonetische Entwicklung gab einsilbiges ei ;
el ist in Wirklichkeit eji , zurückgebildet nach Analogie von ejus ;
8l ist eine Rückbildung nach dem Vorbild von eum, eam, eo. Die
normale Schreibung für alle drei ist ei.
2. Für die Zeit des Plautus ist die Schreibung ei nur korrekt
für klassisches I, das früher Diphthong war, Diese Lesungen treten
in beiden Handschriften auf, aber auch für i und I, und zwar hat
A 182 , P 48 richtige Beispiele. Daß A und P nur ein einziges
Mal übereinstimmen (Pseud. 349), hält Kent für Zufall und be-
tont gegen Anderson, wie auch schon L i n d s a y im letzten Be-
richt S. 6, mit Recht die Möglichkeit, daß die richtigen ei-Lesungen
auf Plautus selbst zurückgehen. Doch stimmt er Anderson zu
in der Ansicht, daß man in den Ausgaben ei nur Truc. 262 schreiben
sollte, wo es durch Wortspiel (eiram) gesichert ist, da man es sonst
folgerichtig in alle Wörter einführen müßte, in denen es sprachlich
gerechtfertigt ist.
3. Sturtevant weist gegen Kent (1) darauf hin, daß die
lateinische Rechtschreibung ebenso wie die anderer Sprachen nicht
der Aussprache gefolgt sei, daß also kein Streben nach Dissimilation
vorlag, wenn man im Ausgang der Republik quom, ingenuos, adicio,
inferis schrieb statt quum . . . inferiis, wie man sprach. Bei Plautus
ist die Schreibung udiceret noch phonetisch richtig. Als man aber
das i aus ieci, iactum ins Praesens einschleppte, behielt man trotz-
dem die alte Schreibung bei und ersann dann zur Erklärung die
Theorie vom Abscheu vor der Doppelschreibung ii. Hierzu halfen
auch Schreibungen wie socieis , die anfangs mit der Aussprache
übereinstimmten , aber auch blieben , als der Unterschied der Aus-
sprache von ei und l geschwunden war. Quom , servos u. ä. kann
noch nicht zu cum, servus geworden sein, als dolos zu dolus wurde \
wahrscheinlich dauerte der phonetische Unterschied nicht lange ; esj
ist möglich, daß bereits in plautinischer Zeit servos wie servus ge-l
sprechen wurde; aber die Schreibung blieb. Ebenso ist voltis, da
bei Plautus noch der Aussprache entspricht, wie Amph. 14 vol.
Jahresbericht über Plautus 1912 — 1920. 5
voluptatem zeigt, später zu vultis geworden als moltus zu multus.
Neben voltis haben wir bei Plautus sultis = si voltis , ein untrüg-
licher Beweis dafür, daß der Wechsel von -ol- zu -ul-, außer nach
V, vor Plautus fällt, nicht nach Plautus, wie Anderson annahm.
Die Konjunktion quom wurde kurz nach Terenz' Tode so gesprochen
wie die Präposition cum ; wenn es auch möglich ist, daß cum durch
tum bewirkt wurde , bevor equom zu equum wurde , so ist es doch
wahrscheinlich, daß das unbetonte -quom aller Wörter in dieser
Zeit zu -quum überging.
4. Nieschmidt stellt fest, daß in der Schreibung griechischer
Wörter sich Ä ebensowenig zuverlässig erweist wie P, und daß wir
mit Hilfe der Spuren in den codd. nicht auf Plautus' eigenen Brauch
kommen, sondern nur auf Varros Zeit. Ähnlich dem Zustand der
Cicerohandschriften sind auch in denen des Plautus die griechischen
Wörter teils in griechischen, teils in lateinischen Buchstaben wieder-
gegeben. Beispielsweise hat Pseud. 443 A OZEÜ P (uZEY, dagegen
Gas 731 Ä (üZEY, P OZEU, während andei-erseits Trin. 669 A schreibt
Ma>P«)C für (mores) moros.
II. Komposition und Aufführung der Stücke.
Realien.
1. W. Schwering, Die sogenannte Kontamination in der latein.
Komödie. Neue Jahrb. 37 (1916), 167 ff.
2. A. Körte, Contaminare. Berl. phil. Wochenschr. 1916, 979.
3. B. Prehn, Quaestiones Plautinae. Diss. Breslau 1916.
4. KroU-Skutsch, Gesch. d. röm. Literatur I (1916), 175f.
5. H. W. Prescott, An Introduction in Studies in Roman Comedy.
I. The Interpretation of Roman Comedy. Class. Philol. 11
(1916), 125 ff.
II. The Antecedents of Hellenistic Comedy. Class. Philol. 12
(1917), 405 ff, 13 (1918), 113 ff., 14 (1919), 108 ff.
6. H. W. Prescott, luorganic Roles in Roman Comedy. Class,
Philol. 15 (1920), 245 ff.
7. P. E. Sonn e nbu rg, Plautus und seine Originale. Wochenschr.
f. klass. Philol. 1917, 623 ff.
8. W. M. B 1 a n c k e , The Di-amatic Values in Plautus. Diss.
Philadelphia 1918.
9. C. L a n g e r , De servi persona apud Menandrum. Diss. Bonn 1919.
10. K. Kiinst, Wo hat die Betrachtung der attischen Neuen
Komödie literarhistorisch anzuknüpfen? N. Jahrb. 1920, 355 ff.
Q Oskar Köhler.
Die seit Leos Untersuchungen fast zum Glaubenssatz gewordene
Ansicht von der „Geschlossenheit des Stiles der via" ist in der
Berichtszeit stark ins Wanken geraten. Zuerst wies Schwering
(1) nach, daß contaminare gar nicht heißt 'raiscendo depravare'
(Thes. ling. Lat.) oder 'ex multis unam facere' (Schol. zu And. 16),
sondern wie das stammverwandte contingere nur „anrühren", „an-
tasten" (Körte) und lediglich vom griechischen Stück gesagt Averden
kann, wie besonders Körte (2) hervorhebt. Der fabula contaminata
steht gegenüber die integra , d. h. unangetastete , unkoutaminierte,
iinverändert übertragene , wie es nach prol. 4 der Heautontimoru-
menos ist. Da nun bei Terenz, der sich zur Rechtfertigung seines
Verfahrens ausdrücklich auf seinen filteren Kunstgenossen beruft,
die Kontamination sich immer nur auf unbedeutende Nebenrollen
erstreckt, die entweder aus einem anderen Stücke übernommen oder,
was Körte hervorhebt, aus eigener Erfindung eingefügt sind — wie
Antipho im Eunuchus und Charinus und Byrria in der Andria — ,
während die ganze Anlage des übertragenen Stückes erhalten bleibt,
so kann Plautus kaum wesentlich anders zu Werke gegangen sein.
Wenn trotzdem die meisten Stücke des Plautus sehr viel derber
in den Motiven und viel lockerer im Aufbau sind als die des
Terenz, so genügt es nicht, zur Erklärung dieses starken Stiluuter-
schieds mit Schwering auf die in Kom allmählich eintretende
Verfeinerung in der Geschmacksrichtung hinzuweisen. So groß auch
der Anteil ist, den der übersprudelnde Witz und die Sprachgewalt
des Plautus an dem Gegensatz zum Stile des Terenz hat, der Unter-
schied, wie ihn Prehn (3) an der Verwendung der possenhaften
Züge, die altererbter Besitz der Komödie von Epicharm, dem Satyr-
spiel und der ccQXCci'a her sind, nachweist, kann nur auf die Auswahl
der Originale zurückgeführt werden : Plautus folgt dem jugendlichen
Menander , der die Perinthia , die derbe Vorgängerin der Andria,
und den Stichus (Adelphoe a) schuf mit seiner potatio am Schluß,
die dem Gelage am Ende des Persa so sehr ähnelt, ferner dem
Diphilus, der den skurrilen Zechmotiven noch näher steht, dem
Philemon und anderen uns unbekannten Dichtern; Terenz dagegen
übersetzt ausschließlich den auf der Höhe seiner Kunst stehenden
Menander und seinen Nachahmer ApoUodor.
Damit soll nicht „jede Kontamination geleugnet" werden, wie
R. Fraenkel in der Rez. Prehns (D. Lit.-Ztg. 1917, 1035 ff.)
meint , sondern das Beispiel des Terenz , dessen Arbeitsweise wir
ohne die Angaben in den Prologen und ohne Donat nie ergründen
könnten, soll zu größerer Vorsicht mahnen. Auch Prescott (5, I)
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 7
sieht in der Mannigfaltigkeit des Plautus das Abbild der ver-
schiedenen Originale und warnt, alle Mängel, die Reste der zu-
sammenhangloseren älteren Komödienform sein können, ohne weiteres
als römisch zu bezeichnen : Fehlende Motivierung darf so lange nickt
auf Rechnung von Kontamination gesetzt werden, als nicht die ge-
samte Tragödien- und Komödienliteratur daraufhin untersucht ist;
die antiken Zuschauer nahmen keinen Anstoß daran, daß im Persa
die Abfindung des Parasiten nicht vorgeführt wird; Menander läßt
im Stichus, dessen lose, drei ganz verschiedene Elemente umfassende
Komposition sehr wohl griechisch sein kann , und Philemon in der
Mostellaria, die Leo (Lit. -Gesch. HO ff.) als eine im ganzen genaue
Wiedergabe des griechischen Stückes bezeichnet, Personen fallen,
die in der Exposition eine wichtige Rolle spielen ; die Casina ist
nichts als eine breit angelegte Farce. So zeigt eine unbefangene
Analyse einer ganzen Reihe von Stücken, daß es eine vorgefaßte
Meinung ist, wenn man sie mit dem Maßstab euripideischer Ge-
schlossenheit im Aufbau mißt.
Den umgekehrten Weg schlägt Kroll (4) bei der Analyse des
Pseudolus ein. Er Aveist auf die Schwierigkeit der Aufgabe hin,
die dem schnell arbeitenden Plautus durch das Zusammenschweißen
mehrerer Stücke erwachsen wäre, und nimmt deshalb an, daß be-
reits der griechische Dichter verschiedene Motive ineinandergearbeitet
hat, ein Ergebnis, zu dem ich auch für den Miles (B rix- Nia-
mey er* 1916, S. 18) gelangt bin.
Prescott (5, II) unterschätzt nicht den Einfluß des Euripides
auf die neue Komödie, wie ihn Leo (^Forschungen^, 113) festgestellt
hat , aber er wendet sich gegen die Annahme einer zu weit- und
tiefgehenden Wirkung , wie sie z. B. zum Ausdruck kommt in der
Ansicht Körtes (Die griech. Kom., Lpzg. 1914, 69 f.), daß auch
das Liebesmotiv der Tragödie entstamme ; vielmehr hat es die
Komödie ebenso wie die Tragödie unmittelbar aus dem wirklichen
Leben geschöpft. (Daß dabei der Realismus in der väa nicht über-
schätzt werden darf, weist nach G. Thiele, Plautusstudien, Hermes
48 [1913], 540). Neben der Aristophanischen Komödie, auf deren
Zusammenhang mit der jüngeren Schwester vor allem in den Exodoi
schon Süß (Rh. Mus. 65, 1910, 441 ff.) hingewiesen hat, ist der
Einfluß der megarisch-sizilischen nicht zu unterschätzen ; doch reicht
die Überlieferung nicht aus , eine lückenlose Darstellung vom
Werden der hellenistischen Komödie zu geben. Diese steht auch,
in ihrer vollkommensten Form immer in lebhafter Beziehung
zum Publikum und ist Einflüssen ausgesetzt, die Augenblicks-
8 Oskar Köhler.
Schöpfungen veranlassen ; man muß sich also hüten , sie zu ernst
zu nehmen.
Die auffallendste Abweichung von der Tragödie ist die Ver-
wendung kurzer, mit der Gresamthandlung nur lose verknüpfter
Rollen, wie des Lucrio im Miles, des Gripus im Rudens, des
Callipho und Chariuus im Pseudolus. Prescott (6), der diese
Rollen einer eingehenden Betrachtung unterwirft, gelangt zu folgenden
Ergebnissen : Sie dienen meist ökonomischen Zwecken ; so vertritt
der Choragus im Curculio gewissermaßen den Chor, insofex'n er den
Zwischenakt ausfüllt; andere helfen zur Charakteristik der Haupt-
personen oder erleichtern den Rollenwechsel , indem sie zum Er-
götzen der Zuschauer die Zeit mit bloßen Witzeleien füllen ; ferner
ermöglichen sie den Dialog , tragen zur lebhaften Entwicklung der
Handlung bei und zur Lösung von Verwicklungen ; meist erfüllen
sie mehrere Zwecke auf einmal ; bisweilen erscheinen sie erst am
Schluß , wie Callidamates in der Mostellaria als homo ex machina,
bisweilen nur in der Exposition. Der Grund für die vielen kleinen
Rollen ist darin zu sehen , daß es sich in der Komödie meist um
drei, in der Tragödie aber nur um eine Familie handelt. Der da-
durch sich ergebende lose Aufbau stört zwar den sorgrältigen Leser,
nicht aber die Zuhörerschaft, die nur auf die wesentlichen Züge
einer rasch verlaiifenden Handlung gerichtet ist.
Ebenso hält Sonuenburg (7) die bisherige Vorstellung von
den Stücken der via für zu eng. Das Fehlen des ovofiaori y-W^ioi-
dslv bei Terenz und seine Scheu, Götter einzuführen, beweist nichts
für die Originale. Die Zusammenhänge zwischen Elegie und neuer
Komödie, die Leo aufweist, erklären sich viel einfacher und natür-
licher aus dem gleichen Hintergrund des Hetärenlebens als durch
literarische Beeinflussung.
Blancke (8) weist nach, daß Plautus eine Vereinigung von
Komödie, Schwank und Posse bietet: Die begleitende Musik soll
die komische Wirkung erhöhen ; es ist reine Unterhaltungsliteratur,
und ihr einziger Zweck ist. Lachen zu erregen. Wird diese Wirkung
erreicht, so darf man aus anderen Gründen keine Kritik üben.
Legt man an diese Augenblickskunst den Maßstab des ernsten
Dramas, so hat man eine eigenwillige Masse dramatischer Unmög-
lichkeiten in der Hand. Der Zufall bewegt alles ; aber all die Zu-
fälligkeiten sind ein bewußtes Mittel für komische Wirkung.
Langer (0) stellt dar, wie sich bei Aristophanes die Sklaven-
rollen immer mehr ausbreiten, und wie die Menandrischen Sklaven,
die Individuen, nicht Typen verkörpern, die Mitte halten zwischen
Jahresbeiicht über Plautus 1912—1920. 9
aristophanischen und euripideischen Zügen. Den servus currens
führt er gegen Weiß mann mit Prehn und Schild (s. S. 11)
auf die griechischen Vorbilder zurück ; ebenso schließt er sich
Prehn an in dem Nachweis der inneren Entwicklung Menanders
von der Derbheit der Jugendstücke Perinthia, Adelphoe ü und
Samia zu Terenzischer Feinheit.
Kunst (10) führt aus, daß die Annahme einer natürlichen
Entwicklung der attischen Lustspiele der hypothetischen Ver-
gewaltigung durch die Tragödie nicht geopfert werden dürfe. Diese
mußte erst selbst durch Euripides ein gut Stück der veo. entgegen-
geführt werden. Das Schmaus-, Zech- und Prellthema wirkt aus
der OQxaia nach. In der Gestaltung des komischeu Sklaven und
des schmeichlerischen Parasiten scheint gerade die alte Komödie
sogar zwischen der sizilischen Posse Epicharms und der neuen
Komödie vermittelt zu haben. Weder gibt es einen Beweis dafür,
daß Menander sich gleich blieb , noch daß Philemon und andere
ihn in der Geschlossenheit des Aufbaus erreichten.
Den Anteil des Plautus an den erhaltenen Stücken suchen zu
sondern :
H. E. Wieand, Deception in Plautus (A Study in the Technitjue
of Roman Comedy) Bryn Mawr 1920.
K. M. Westaway, The Original Element in Plautus, Cambridge
1917.
M. Richter, Priscorum poetarum et scriptorum de se et aliis iudicia.
Diss. Jena 1914 (Comm. philol. Jen. XI).
Wieand geht von der Feststellung aus, daß die allermeisten
Stücke des Plautus darauf hinauslaufen, durch Intrigen in den Be-
sitz der Geliebten zu kommen. Verlauf der Täuschung, Charaktere
der beteiligten Personen und Helfershelfer, Mittel der Durchführung
(Lüge , Verkleidung , falsche Briefe , Diebstahl u. ä.) , Beziehung
zwischen Plan und Erreichtem werden vergleichend untersucht.
Dabei ergibt sich , daß auf klares Herausarbeiten der Intrige die
größte Aufmerksamkeit verwendet ist , Genauigkeit in Nebendingen
aber nicht gesucht wird. Der Endzweck ist lediglich Unterhaltung
der Zuschauer.
Westaway untersucht eingehend die erhaltenen Stücke nach
folgenden Gesichtspunkten : geschichtliche Anspielungen, Geographi-
sches , Kriegswesen , Politik und Rechtsgebräuche , Alltagsleben,
Religion , Münzwesen , Sprache und kommt zu dem Ergebnis , daß
sich auf all diesen Gebieten beträchtliche selbständige lateinische
IQ Oakar Köhler.
JZutaten finden, die aber nicht auf alle Stücke gleiclimäßig- verteilt
sind. Auf Grund dieser Beobachtungen glaubt er , eine chrono-
logische Reihe der plautinischen Stücke aufstellen zu können: das
älteste soll neben der Cistellaria der Mercator (gegen Marx, der
ihn bekanntlich nach dem ßudens setzt ; doch vgl. dazu Leo,
Forsch.^ 162 ff.) sein, da in ihm alle örtlichen Anspielungen und
sonstigen römischen Zutaten fehlten; daran reihten sich Asinaria,
Mostellaria, Menaechmi , die schon mehr dem römischen Geschmack
angepaßt seien. Danach sei Plautus zur Kontamination übergegangen
im Poenulus und Miles gloriosus, der seine endgültige Fassung um
-die Wende des Jahrhunderts erhalten habe. (Auch Marx, Naevius.
Sitz.-Ber. d. Sachs. Ak. 1911, 46 ff. setzt ihn ins Jahr 201.) Daß
für einen solchen Versuch unsere Kenntnis der plautinischen Arbeits-
weise nicht ausreicht, ist klar ; richtig aber ist die Feststellung, daß
ein Mann, der sich in so entgegengesetzte Stücke wie Mercator und
Pseudolus , Captivi und Amphitruo hineinversetzen konnte , große
Anpassungsfähigkeit, bedeutende Schöpferkraft und dramatischen
Sinn besessen haben muß.
Richter S. 10 ff. stellt fest, daß Plautus nur zweimal persön-
lich hervortritt: As. 13 f. lobt er dieses Stück wegen seiner komi-
schen Wirkung, und Bacch. 214 f. drückt er seine Vorliebe für den
Epidicus aus. Urteile über bestimmte zeitgenössische Dichter und
Dichtungen finden sich nicht, nur, dem Stile der via entsprechend,
der Tragödie entlehnte Ausdrücke , um komische Wirkung zu er-
zielen.
Den Gebrauch der Eigennamen behandeln :
Fr. Pol and, Zur Charakteristik Menanders. Neue Jahrb. 33
(1914), 585 ff.
B. L. U 1 1 m a n , Proper Names in Plautus, Terence and Menander.
Class. Philol. 11 (1916), 61 ff.
Pol and macht folgende Beobachtung: Von den 55 in den
menandrischen Stücken des Terenz vorkommenden Namen ist nahezu
die Hälfte bei Menander belegt, von den etwa 280 Personennamen
des Plautus etwa nur 21 oder, bei Beschränkung auf die als Me-
nandrisch anzusprechenden Stücke Cistellaria, Stichus, Bacchides
und Aulularia, gar nur 7. Ferner wiederholt sich bei Terenz nahezu
ein Drittel der Namen, bei Menander selbst sogar zwei Drittel, bei
Plautus aber nur ein Viertel. Daraus ist zu schließen, daß Plautus
die in den Originalen stehenden Namen änderte.
Ullman vergleicht die Namen von Hetären bei Plautus,
Jahresbericht über Plautus 1912 — 1920. 11
Terenz und Menander : Namen auf -ium sind bei Plautus sehr häufig,
bei Menander vereinzelt, bei Terenz nicht zu linden. Von 72 ver-
schiedenen Namen in den Fragmenten des Menander stehen 23 in
den 6 Stücken des Terenz und nur 1-i in den 20 Stücken des Plautus.
Da Plautus wahrscheinlich die gleiche Zahl von Stücken wie Terenz
dem Menander entlehnt hat , müßte auch die Übereinstimmung in
den menandrischen Namen etwa die gleiche sein.
Mit der Motivierung befassen sich folgende Arbeiten :
C. Harms, De introitu personarum in Euripidis et novae comoe-
diae fabulis. Diss. Göttingeu 1914.
M. Brasse, Quatenus in fabulis Plautinis et loci et temporis uni-
tatibus species veritatis neglegatur. Diss. Breslau 1914.
W. Koch, De personarum comicarum introductione. Diss. Breslau
1914.
Harms will an der Art, die Personen auftreten zulassen, den
Zusammenhang der neuen Komödie mit der Tragödie auf^veisen :
Das Auftreten wird motiviert durch Afiekte (Schmerz , Erregung,
selten Freude); zwei Personen treten heraus, um eine im Hause
begonnene Unterhaltung fortzusetzen ; die heraustretende Person
will eine andere , von deren Ankunft sie gehört hat , treffen ; auch
unverhofftes Auftreten, wie das der prologsprechenden Grötter, wird
nach Möglichkeit kunstvoll erklärt. Dagegen liegt Aristophanische
Technik vor, wenn sich die Personen erst auf der Bühne überlegen,
was sie tun wollen.
Brasse führt alle die Stellen auf, in denen die Einheit des
Ortes und der Zeit den Dichter zwingt, gegen die Wahrheit zu ver-
stoßen ; er geht aber zu weit , wenn er das zum altererbten Rüst-
zeug niederer dramatischer Dichtung gehörende Beiseitesprechen,
Nichtsehen auf der Bühne anwesender Personen u. a. dazu rechnet.
Koch behandelt die Formeln, die sich auf das Anklopfen und
die Wörter foris und foras beziehen, und erörtert alle Möglichkeiten
der Annäherung zwischen Personen, die bereits auf der Bühne stehen,
und solchen, die dazutreten.
Wichtige Beiträge zur Komödientypik liefern :
E. Schild, Die dramaturgische Rolle des Sklaven bei Plautus und
Terenz. Diss. Basel 1917.
O. Stotz, De lenonis in comoedia figura. Diss. Gießen 1920.
Schild untersucht eingehend die Verwendung der Sklaveu-
rollen in der Exposition und im Verlauf der Handlung und ent-
wickelt die ihnen beigelegten Charakterzüge. Es ergibt sich, daß
12 Oskar Köhler.
die Sklaven die innere Einheit der Persönliclikeit vermissen lassen^
daß sie sich unbeständig und unaufrichtig zeigen, und daß sie nicht
verstehen, Maß zu halten entsprechend ihrem Mangel an edler An-
lage und freier Erziehung.
Stotz schildert die Aufgabe des Kupplers in der griechisch-
römischen Komödienliteratur und gibt eine eingehende Darstellung
der Charaktereigenschaften der plautinischen Vertreter dieser Rolle»
Das Ergebnis ist das erwartete : Bei Plautus sind sie derb , leben-
sprühend , die Farben sind im Verhältnis zu den griechischen Vor-
bildern dick aufgetragen, die Züge vergröbert, während bei Terenz.
auch diese Rolle vei-feinert und abgeblaßt ist.
Die Technik behandeln auch folgende Arbeiten:
E. Fraenkel, De media et uova comoedia quaestiones selectae.
Diss. Göttingen 1912.
J. Wagner, De nuntiis comicis. Diss. Breslau 1913.
F. Schmidt, De supplicum ad aram confugientium partibus scae-
nicis, Diss. Königsberg 1911.
H. Otter, De soliloquiis, quae in litteris Graecorum et Romanorum
occurrunt, observationes. Diss. Marburg 1914,
M. Forberg, De salutaudi formulis Plautinis et Terentianis. Diss.
Leipzig 1913.
Fraenkel iintersucht die Botenberichte bei Plautus und weist
den darin erkennbaren Einfluß der Tragödie nach.
Wagner betont mehr die Bedeutung, die die Boten bei Plautus
für die Entwicklung der Handlung haben , und das Streben des
Dichters , die Berichte leicht verständlich und lebhaft zu gestalten.
Schmidt sucht auf Grund von Haut. 975 zu erweisen, daß
das dem Leben entnommene Motiv, Sklaven am Altar Zuflucht
suchen zu lassen, das wir Most. 1094 und Rud. 706 fi". finden, in
der Spätzeit Menanders verbraucht gewesen sei.
Otter, S. 66 ff., weist darauf hin, daß Plautus die Monolog-
sprecher ohne weiteres zum Zwiegespräch mit sich selbst übergehen
läßt, während Terenz in solchem Falle Wendungen wie atqui ali-
quis dicat, roget quis einführt.
Forberg gibt eine sorgfältige Darstellung des Gefühlswertes
aller Stellen, die Gruß und Gegengruß enthalten: Plautus zeigt,
dem Gebrauch der Volkssprache entsprechend, großen Reichtum an
mannigfachsten Begrüßungsformeln : die Stellen, an denen der Gruß
fehlt , lassen besondere Erklärung z\i. Ganz anders ist es bei
Terenz, bei dem überhaupt viel weniger gegrüßt wird.
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 13
Über Akteinteilung und Aufführung liegen folgende Arbeiten vor :
F. M. Foster, The Divisions in the Plays of Plautus and Terence.
Studies in Laug, and Lit. I (1913), Nr, 3.
C. C. Conrad, The Technique of Contiuuous Action in Koman
Comedy. Diss. Chicago 1915.
E. F. Rambo, The Significance of the Wing-Enti-ances in Roman
Comedy. Class. Philol. 10 (1915), 412 ff.
K. R e e s , The Function of the jtqo^vqov in the Production of
Greec Plays. Class. Philol. 10 (1915), 117 ff.
E. Fiechter, Die baugeschichtliche Entwicklung des autiken
Theaters. München 1914.
J. Stein thal, De iuterpolationibus Plautinis. Diss. Berlin 1918.
Foster weist nach , daß weder Plautus noch Tereuz von der
üblichen Akteinteilung etwas weiß. Auch die Szeneneinteilung mit
den Überschriften , die oft nicht stimmen , kann nicht ursprünglich
sein, da die Schauspieler selbst ihr Auftreten und ihren Abgang
ausdrücklich angeben. Vielmehr wurden die Stücke ohne Unter-
brechung zu Ende gespielt. Selbst das Leerwerden der Bühne, der
einzige natürliche Grund für eine Akteinteilung, berechtigt nicht zu
der Annahme einer Pause , die etwa durch Auftreten eines Chors
oder durch Flötenspiel ausgefüllt wurde, ganz abgesehen davon, daß
dadurch nur in wenigen Fällen die Fünfzahl der Akte herauskommt,
sondern eine Mannigfaltigkeit, die zwischen 3 (Mostellaria) und 7
(Bacchides) Akten schwankt.
Hierauf baut Conrad weiter : Es ist unmöglich, wie es Leo,
Der Monolog im Drama, versuchte, aus den erhaltenen lateinischen
Stücken den Brauch der Griechen zu erkennen. Die äußere Über-
lieferung bietet nicht die geringste Handhabe, die Akteiuteilung des
Donat auf Terenz selbst zurückzuführen. Erst Varro versuchte unter
dem Einfluß hellenistischer Philologie, die der späteren griechischen
Tragödie eigene oder zugewiesene Einteilung in 5 Akte auf die
lateinische Komödie zu übertragen. Historisch betrachtet kann
Leersein der Bühne die Stelle ehemaliger Chorlieder bezeichnen,
aber aus den vorhandenen Stücken ergibt sich keinerlei Notwendig-
keit, mit Rücksicht auf den Unterschied zAvischen idealer Zeit, und
wirklichem Verlauf längere Pausen anzunehmen. Vielmehr ist
gerade bei weit auseinanderliegenden Teilen der Handlung der
Wille erkennbar , den Zusammenhang dadurch fühlbar zu machen,
daß eine Person auf der Bühne zurückbleibt. Selbst wirkliches
Leersein bedeutet nur ganz kurze Unterbrechung, keine Pause, und
24 Oskar Köhler.
berechtigt nur in den seltensten Fällen zu der Annahme , daß im
Griechischen xo^oü stand. Auch der tibicen (Pseud. 573) bedeutet
keine Akteinteihing. Sein Hereinziehen in die Handlung gebt auf
die alte Komödie zurück, und sein Spiel bildet nur die Einleitung
zur folgenden Monodie. Wenn aber, wie Leo annimmt, die Mono-
dien von Plautus selbst gedichtet sind an Stelle der griechischen Chor-
gesänge , so ist gerade das ein Beweis f ü r ununterbrochenes Spiel»
In diesem Zusammenhang wendet er sich mit Recht gegen die
seit Leo (Hermes 46 [1911], 292 fF.; vgl. auch Plaut. Forsch. ^ 227
Anm. 3 und Lindsays Bericht, Bursiau 167 [1914], 14 ff.) all-
gemein angenommene Auffassung, daß Bacch. 107 das Vorhanden-
sein des Zwischeuchors auch bei den Römern beweise (vgl. auch
R. C. Flickinger, Nochmals Bacch. 107. Berl. philol. Wochschr»
32 [1912], 1299), indem er unter Beibehaltung der handschriftlichen
Lesart schreibt:
105. Ba. Aqua calet : eamus hinc intro ut laves.
107. Simul huic nescioqui turbare qui huc it, decedamus (hinc),
106. Nam uti navi vecta's, credo, timida's. So. Aliquantum, soror.
108. B a. Sequere hac igitur me intro in lectum , ut sedes lassitu-
dinem.
Er streicht also nach 105 den in den Handschriften doppelt er-
scheinenden Vers 106, da die darin ausgesprochene Begründung nur
zu 107 recht paßt. Als die Schwester bejaht, mahnt Bacchis , vor
dem Bade erst auszuruhen. Zur Erklärung des turbare gentigt es
anzunehmen , daß Bacchis die Stimme des ihr unbekannten Lydus
hört (nescioqui), der 109 ff. spricht, oder an die 114 erwähnte pompa
zu denken. (In diesem Falle ist auch die Lindsaysche Lesung
turbae [vgl. S. 38] möglich ; im übrigen erinnert diese pompa an
die plus decem ancillae der Bacchis im Heautoutimorumenos [739] ;
für einen besonderen, mit dem Stück nicht zusammenhängenden y,tof.wg
bietet die Stelle jedenfalls keinerlei Anhalt.) Ferner ist der Dialog
der Schwestern (101 — 108) typisch und kennzeichnend für lanunter-
brochenes Spiel; denn durch ihn wird die Zeit zwischen dem Ab-
gang und dem Wiederaufti*eten des Pistoclerus ausgefüllt.
Damit fällt zugleich auch ein willkommenes Licht auf das völlig
Willkürliche der für den Leser hergerichteten Szeneneinteilung ;
treten doch Gas. 814 und Truc. 914 neue Personen mitten im Verse
auf, und Gas. 279 unterbricht die Szenenüberschrift den Redefluß
des Lysidamus oder die Antwort des Chalinus , worauf Lindsay,
Class. Rev. 83 (1919), 26 hinweist.
Jahresbericht über Piautus 1912-1920. 15
Rambo untersucht die Palliatkomödie auf die Bemerkung de&
Vitruv (de archit. V, 6, 8) hin, daß von den beiden Seiteneingängen
des römischen Theaters der eine a foro , der andere a peregre be-
deute, und findet, daß in 20 von den erhaltenen 26 Stücken der
Markt rechts vom Zuschauer , Hafen und Fremde links zu suchen
sind, während in den übrigen Markt und Hafen auf derselben Seite
liegen.
Rees schließt aus As. 880 ff., Most. 157ff., 817, Fers. 757 ff..
Stich 683 ff., daß das Prothyron (vestibulum, ambulacrum Most. 817),
wofür Piautus ante ostium , ante ianuam , ante aedes braucht , im
Gegensatz zu in via, architektonisch ein unerläßlicher Bestandteil
des griechischen Hauses war, der den üblichen Raum für Innen-
szenen in der klassischen Zeit wie zur Zeit der vea darstellte, mit
dem £y,y,vy.hjjiia aber nichts zu tun hatte.
Fi echter, S, 68 ff., vertritt die gegenteilige Ansicht, daß
solche Szenen sichtbar gemacht wurden durch Offnen der großen
Türen der Bühnen wand, wodurch eine Art Hinterbühne „außerhalb
des Hauses" entstanden sei.
Steinthal löst die vielbehandelte Sitzplatzfrage: Zu Piautus*
Zeit saßen alle Zuschauer in der an einen Hügel angelehnten
cavea, ob auf dem Erdboden oder auf mitgebrachten Schemeln, bleibt
dahingestellt. Wer keinen Sitzplatz fand , mußte umkehren (Capt,
10 ff., Mil. 79 ff.). Dagegen werden Amph. 65 f. und Poen. 19 f.
feste Sitzplätze (subsellia) erwähnt, und die Zuspätkommenden
brauchen das Theater nicht zu verlassen , sondern erhalten Steh-
plätze. Wann diese für die Aufführung jedesmal gezimmerten Sitz-
plätze aufgekommen sind , wissen wir nicht ; fest steht , daß sie im
Jahre 154 abgeschafft wurden und die Zuschauer während der
nächsten Jahre stehen mußten. Amph. 1 — 96 und Poen. 1 — 49
sind aus einem Gusse, aber nachplautinisch ; sie gehören zusammen
mit der Erweiterung des Casinaprologs (5 — 20) in die Zeit 159/4.
Damit ist F. H o r n s t e i n , Die Echtheitsfrage der plautinischen
Prologe. Wien. Stud. 36 (1914), 104 ff., überholt.
Ch. Knapp, References to Painting in Piautus and Terence. Class,
Philol. 12 (1917), 148 ff.
— , References to Literature in PI. and Ter. Am. Journ. of Philol,
40, (1919), 231 ff.
— , References in PI. and Ter. to Plays, Players and Playwrights.
Class. Philol. 14 (1919), 35 ff.
gibt eine sorgfältige Sammlung aller der Stellen, die sich auf Malerei,
16 Oskar Köhler.
Literatur, Schauspieler und Dichtkunst beziehen. Wenn er schließt,
daß zu Plautus' Zeit von den Zuschauern die Anspielungen auf
Fresko- und Tafelgemälde verstanden wurden, so ist das für die
oft sehr abgelegenen Beispiele aus der griechischen Mythologie und
Geschichte wohl nicht anzunehmen. Im übrigen ist die Frage, ob
Most. 832 ff. die gegen zwei Geier loshackende Krähe gemalt oder
in Mosaik dargestellt war, überflüssig, da das ganze Gemälde
nur in der Phantasie des Tranio vorhanden ist. Ob aus Stellen
wie Pseud. 338 sat sie longae fiunt fabulae auf eine Normallänge
von etwa 1000 Versen geschlossen werden darf, ist zweifelhaft.
Was sonst an Anspielungen auf Schauspieler und Publikum gegeben
wird , ist sehr lehrreich , z. B. der Hinweis , daß das plaudite viel
tieferen Sinn erhält , wenn man sich vergegenwärtigt , daß bei
schlechtem Spiel die Schauspieler geprügelt wurden , daß die Zu-
schauer schon früh am Morgen eintrafen (Poen. 5 ff.), daß Frauen,
sogar infantes und nutrices (ibid. 28 ff.) und auch Sklaven da sind
(ibid. 23 ff.).
In das Gebiet des Religiösen führen:
H. M e n d e , De animarum in poesi epica et dramatica ascensu.
Diss. Breslau 1914.
S. G. Oliphant, The Use of the Omen in PI. and Ter. Class.
Journ. 7 (1911/2), 165 ff.
ß. Staehlin, Das Motiv der Mantik im antiken Drama. Gießen
1912 (Religionsgesch. Untersuchungen XII).
Mende zieht S. 20 den Traum des Philolaches in den Kreis
seiner Betrachtung, in dem diesem die Gestalt des toten Gastes er-
schienen sein soll.
Oliphant findet bei Plautus 23 Beispiele von Vorbedeutungen,
während bei Terenz, der auch sonst Volkstümliches meidet, kein
einziges steht: sie bilden einen bedeutungsvollen Zug in der
Technik der Stücke und tragen nicht wenig zur komischen Wir-
kung bei.
Staehlin weist im Kap. 6 darauf hin, daß die bisher ge-
fundenen Fragmente des Menander das Motiv der Mantik nicht
haben. Bei Plautus ist es zu finden in Amph., As., Aul., Bacch.,
Gurc, Men., Merc, Mil., Most., Poen., Rud., Stich. Die Fragen
nach dem griechischen oder römischen Ursprung finden eingehende
Beantwortung.
W. Chislett, Three Ancieut Critics of Modern Education. Class.
Jouru. 9 (1913/14), 399 f.
Jahreabericht über Plautus 1912—1920. 17
setzt die Kritik, die Lydus Bacch. 437 ff. an der attischen Er-
ziehung übt, in Parallele zu Aristophanes, Wolken 1321 ff.
Das Bankwesen des Altertums behandeln:
F. Pringsheim, Der Kauf mit fremdem Geld. Romanist. Bei-
träge z. Eechtsgesch. 1916, 34 ff.
J. Hasebroek, Zum griechischen Bankwesen. Herm. 55 (1920),
113 ff.
Pringsheim schließt aus der Handlung des Curculio und
Pseudolus, daß das Surrogationsprinzip auch im hellenistischen Recht
wirksam war. Im Cure, wird der Gauner nicht Eigentümer, weil
er mit fremdem Gelde bezahlt hat; im Pseud. wird er es, weil er
mit eigenem Gelde, d. h. dem seines Herrn, bezahlt hat. Die Sache
ist Surrogat des Geldes. Weil diese Rechtsanschauung für den
römischen Hörer ziemlich versteckt liegt, sah sich Plautus nicht
genötigt, die Vorlage zu ändern.
Hasebroeck(S. 125) vergleicht die Geschäftshandlungen, die
in den Stücken des Plautus mit Hilfe des Bankiers vollzogen werden :
Die Zahlung geschieht Cure. 345 ff. auf Grund einer auf den In-
haber lautenden Anweisung, ohne daß der Bankier die Berechtigung
zum Abheben nachzuprüfen braucht; Bacch. 325 ff. tritt ein Siegel-
ring an deren Stelle. Daneben blieb mündliche Anweisung das
Übliche : As. 436 ff. geht der Schuldner mit seinem Bankier per-
sönlich in das Haus des Gläubigers, während Capt. 449 ff. Gläubiger
und Schuldner zusammen die Bank aufsuchen.
Die einzelnen Stücke,
Eine kritische Behandlung aller Stücke bieten :
Fr. Leo, Plautinische Forschungen^ 1912, Kap. III und Römische
Literaturgeschichte I, 1913, 109 ff.
K. K u n s t , Studien zur griech.-röm. Komödie, Wien und Leipzig 1919.
Amphitruo: Gegen die von Leo (vgl. Forsch. ^, 185 Anm. 2)
vertretene Kontamination wendet sich Kunst S. 174, der sich für
die Annahme einer „Zusammenschweißung verschiedener Sagenmotive
im Original" entscheidet; ebenso H. W, Pr esco tt, The Amphitruo
of Plautus. Class. Philol. 8 (1913), 14 ff., der während der „langen
Nacht" Szenenwechsel zwischen der Straße vorm Hause des Amphi-
truo und dem Hafen annimmt und in dieser mythologischen Travestie
neben rlem Persa das wichtigste Stück sieht, um die mittlere Komödie
lebendig zu machen (vgl. hierzu Leo, Litg. 132, Anm.); ferner
Schwering 184, Prehn 81 ff., Wieand 156. Die Rolle des
Jahresbericht für Altertumswiasenschaft Bd. 192 (1922, 11). 2
IQ Oskar Köhler.
Sosia behandelt J. Zoccoli, Un gabbato fra gli intriganti di Plautus^
Riv. d'It. 16 (1913), 601 S.
Asinaria: K. Meister, Das Original der Asin. des Plautus.
Festschrift für Ad. Bezzenberger , Göttingen 1921, 1 flF. weist als
griechischen Titel das in BD erhaltene Onagros 'WildeseP nach:
Da das Tier 20 Minen einbringt, muß es ein wertvoller Zuchthengst
gewesen sein; Plautus verwandelte ihn, weil der gemeine Esel für
seine Spaße sich besser eignete (341 f., 500) als das exotische, vielen
seiner Hörer vielleicht unbekannte Tier. — Das Gelage am Schluß
geht nach Kunst S. 156 im Hause der lena vor sich, so daß es
vom Parasiten und Artemona beobachtet werden kann ; 828 f. teilt
er mit Weise einer anderen Bearbeitung zu.
Aulularia: A. Krieger, De Aululariae Plautinae exemplari
Graeco. Diss. Gießen 1914, kommt zu folgenden Ergebnissen : Das
Urbild ist ein Stück Menanders, wahrscheinlich sein QrjaavQog-^ der
Schauplatz ist Athen ; den Bühnenhintergrund bilden das Haus des
Euclio, das fanum Fidei und das Haus des Megadorus, in dem auch
Eunomia und Lyconides wohnen. Strobilus, der Sklave des Mega-
dorus und des Lyconides, ist dieselbe Person ; aus inneren Gründen,
und weil die Athener einen Tempel der TliffTig nicht kannten, sind
starke Änderungen durch Plautus anzunehmen. Auch Kunst
S. 118 £P. sieht das Stück als kontaminiert an. G. Jachmann
wendet sich in der Besprechung Kriegers (Berl. phil. Wochenschr. 35
[1915], 1010 ff.) mit Recht gegen die Gleichsetzung der Sklaven,
und Enk, De Aulularia Plautina, Muemos. 47 (1919), 84 ff. nennt
den Sklaven des Megadorus Philodicus , der überall statt Strobilus
in den Text paßt, und behält den Namen Strobilus nur für den
pedisequos des Lyconides bei ; er sieht einen Retraktator am Werke,
der nicht bloß die beiden Sklaven durch einen Schauspieler dar-
stellen lassen wollte, sondern auch glaubte, das Stück hiamoristischer
zu machen , wenn er Oheim und Neffe als Rivalen im gleichen
Hause wohnen ließ. Ihm sind demnach die irreführenden Worte
727 ante aedes nostras zuzuschreiben , während 145 advento zeigt,
daß Eunomia ihren Bruder nur besucht. Auch Foster a. a. 0»
S. 11 weist völlig überzeugend nach, daß 361 ff. kein neuer Sklave
eingeführt werden kann ; Sprecher ist der Sklave des Megadorus ;
ebenso nennt A. Funck in seiner Übersetzung „Der Geizige und
sein Schatz", Berlin 1914, den Sklaven des Megadorus Philodicus^
Strobilus nur den des Lyconides. Prescott, Inorganic Roles 252
rechnet die Aulularia zu den lose komponierten Stücken.
Bacchides: Prehn S. 62 hält das Stück für reine Über-
Jahresbericht über Plauhis 1912—1920. 19
Setzung; er setzt das Original zwischen 317 und 307, aber näher
an 307, da die Rolle des Miles und des Parasiten bereits abgenutzt
ist. Wieand S. 148 sieht in den Bacch. ein gutes Beispiel dafür,
wie Plautus alles auf die Hauptintrige anlegte, weniger wichtige
Verbindungsteile wegließ. Ähnlich urteilt Kunst S. 106: „Sehe
ich recht, hat Plautus nicht die menandrische Intrige an sich, son-
dern nur ihre Auffassung durch besagte tripartitio (953 flF.) etwas
modifiziert", während Fraenkel, S. 100 ff., und Leo, Lit.-G. 119 f.
das Stack als kontaminiert erweisen zu können glauben.
Captivi: Aus Prolog 55 ff, schließt Kunst S. 176, daß das
Stück, dessen Ethos Philemon verrate, unmittelbar nach Zama fällt.
während es Westaway a. a. 0. für undatierbar hält. — G. Al-
bini, Note di estetica Plautina: Captivi e Trinummus. Atene e
Roma 17 (1914), 1 ff., rühmt die Einfachheit der Handlung und
die edle Menschlichkeit des Stückes.
Casina: Kunst S. 139: Plautus beschneidet den Ranken
zuliebe den Stamm und hat nun Zeit , die derbe Schlußfarce ent-
sprechend herauszuarbeiten. Ob er in den Schlußszenen das Original
noch vergröbert hat, ist nicht zu sagen. Der Schluß weist auf die
Ci Stellaria: Prehn a. a. 0. 10, Anm. 1 nimmt die ^üva-
QiOTwaai als Original an (vgl. v. 10). — Kunst S. 115, An. 1,
sieht in 126/9 eine Parallelfassung; Leo-Lindsays Bezeichnung
amplificatio hält er für irreführend.
Curculio: C. C. Conrad, The Role of the Cook in PI. Cure.
Class. Philol. 13 (1918), 389 ff., glaubt, daß die Annahme einer
Lücke bei 273 vermieden werden kann. Die Einführung des Kochs,
der in der Traumdeutung die Stelle des Palinurus vertritt, scheint
ihm den Zweck zu haben , daß der Schauspieler aus der Rolle des
Palinurus in die des Curculio schlüpfen kann. Da ferner der Koch
nicht stillschweigend verschwinden, noch weniger Palinurus so un-
motiviert wiedererscheinen kann, und da 277/9 in den Handschriften
teils dem Koch , teils Palinurus zugeteilt sind , so schließt er , daß
274 ff. und die in der nächsten Szene dem Palinurus zugeschriebenen
Worte dem Koch zu geben sind.
Epidicus: A. L. Wheeler, The Plot of the Epidicus. Amer.
Journ. of Philol. 38 (1917), 237 ff. folgt mit Leo, Lit.-G. 133 dem
Nachweis Dziatzkos , daß das griechische Stück mit der Hochzeit
eines Bruders mit seiner Halbschwester endete ; aber er bezweifelt,
daß das Stück in der erhaltenen Form plautinisch ist, und sieht
87/8 die Spur davon , daß es zusammengeschnitten wurde , noch
2*
nr. Oskar Köhler.
wäbrend es sich auf der Bühne hielt. Auch den fehlenden Hin-
weis, daß Periphanes die Philippa heiratet, legt er dem Zusammen-
streicher zur Last, da Plautus sonst die Züge der Intrige ganz klar
herausstellt. Zusammenfassend sagt er: In seiner gegenwärtigen
Oestalt ist der Epidicus kurz, verwickelt und dunkel, mit augen-
scheinlicher Absicht, die bloßen Hauptsachen der Handlung darzu-
bieten, besonders die komischen Stellen. Es ist eine Art „Auszug'",
und das ist eine Kompositionsform, die dem Plautus fremd ist. —
Kunst S. 168 dagegen ist der Meinung, daß Plautus selbst nicht
allein den römischem Empfinden als Inzest erscheinenden Schluß,
sondern auch die auf analogen Grundsätzen fußende erste List des
Epidicus (87 ff.) aus der Handlung in die Vorgeschichte abge-
drängt habe.
Menaechmi: Kunst S. 171 f. wünscht bereits von 1100 ab
Verteilung der Verse auf beide Menächmen und sieht in der ganzen
Stelle bis 1110 eine Schauspielern zuliebe gemachte Einlage. —
Auf den novellistischen Gehalt der Menächmenfabel weist hin
G. Thiele, Plautusstudien. Herrn. 48 (1913), 536 An. 1. —
E. Cuq, Revue des Etudes anciennes 21 (1919), 249, gibt eine
Interpretation der Verse 590/3. Er zeigt , daß Menächmus alles
daran setzt , den bei den Ädilen anhängigen Kriminalprozeß seines
Klienten nicht zum Austrag kommen zu lassen, um zu seinem
Liebchen eilen zu können. Es gelingt ihm auch, zu erwirken, daß
sein Klient sich zur Zahlung einer bestimmten Summe Geldes ver-
pflichten darf (sponsio), d. h. einen Zivilprozeß daraus zu machen.
Aber die Summe muß, wie jede dem Staat gegenüber eingegangene
Verpflichtung, durch einen besonderen Bürgen sichergestellt werden.
Mit dem Suchen dieses Bürgen vergeht aber so viel Zeit, daß Me-
nächmus trotz aller aufgewendeten Mühe doch das prandium ver-
säumt. Dieser Gedanke muß in dem um einen Fuß zu kurzen
Vers 593 ausgedrückt gewesen sein.
Mercator: Kunst S. 142 ff. weist auf die seltsame Ver-
schmelzung des Typs der nova nupta mit dem der matrona hin,
den Dorippa darstellt. Den Schluß hält er für verkürzt.
Miles gloriosus: J. Mesk, Die Komposition des Plautini-
schen Mil. glor. Wien. Stud. 35 (1913), 211 ff., schließt sich Leos
Kontaminationstheorie an. Demgegenüber kommt 0. K ö h 1 e r in der
Einleitung zu Brix-Niem ey er s Ausgabe * 1916, S. 13 zu folgen-
dem Ergebnis : Das uns vorliegende Stück stellt den Versuch dar, die
der Weltliteratur angehörenden märchenhaften Entführungsgescliichten p
ins Dramatische überzuführen und damit den Charakter eines mit
I
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 21
Frauengunst prahlenden Menschen zu verbinden. Das ist aber eine
Aufgabe, die sich nur ein wirklicher Dichter stellen kann, nicht ein
zusammenschweißender Bearbeiter zweier bereits vorhandener Bühnen-
werke. Nur die Szene III, 2, die C. Marchesi, Note Plautine
e Terenziane. Studi Ital. di filol. class. 19 (1912), 274 ff. als ein
Stück selbständiger Poesie des Plautus ansieht , macht als bloße
Episode den Eindruck, als ob sie mit Hilfe von Vers 585 aus einem
anderen Stücke durch Kontamination ganz im Sinne des Tereuz
eingeführt sei. Jetzt aber weist Prescott, Inorganic Roles 265,
nach, daß auch das Episodenhafte wohl zum Stil der via paßt und
nicht avif Kontamination zurückgeführt zu werden braucht. Auch
Prehn S. 34 nennt diese Szene embolium spectatorum gratia in-
sertum, glaubt aber, am Ende des zweiten Aktes die Arbeit eines
Retraktators zu erkennen, der III, 2 habe überflüssig machen wollen.
Mostella ria: Prescott a. a. 0. S. 283 weist daraufhin,
daß Scapha nur eingeführt ist, um ihre Herrin zu charakterisieren.
Persa: Prehn S. 6 gegenüber, der dem Parasiten 844 f.
heus vos! und hicin Dordalus est leuo '? geben will, bemerkt Kunst
S. 61 mit Recht , daß auch ohnedies Saturio beim Schlußgelage
nicht zu fehlen braucht.
Poenulus: W. Seh weriug. De Ovidio et Menandro. Rhein.
Mus. 69 (1914), 233 ff., führt Szene I, 2 auf Menanders Carche-
donius zurück. Gegen die Kontaminationshypothesen, die alle ver-
schieden ausfallen, wendet sich Kunst S. 124 ff. : Plautus habe
barbare vertendo manche Feinheit des Vorbildes seinem Publikum
zuliebe vergröbert ; offenbar habe er eine comedie larmoyante zu
einer derben Burleske umgeändert. — Viele Anstöße erklären sich
auch aus der starken nachplautinischen Überarbeitung, die zugleich
ein Zeichen für die große Beliebtheit des Stückes ist. — Über den
Prolog vgl. S. 15; über die beiden Schlüsse handelt W. M. L i n d -
say, Adnotatiunculae Plautinae. Class. Quart. 14 (1920), 49ff. •
Wie in den altenglischen Komödien am Schlüsse der Geldleiher
schachmatt ist, so ist das entsprechende Ende der römischen Komödie
Pers. 858 Leno periit. Plaudite ! In dem einen der beiden Schlüsse
des Poenulus , dem in trochäischen Septenaren , dem gewöhnlichen
zum Beifall ermunternden Metrum, geschriebenen erfährt der Kuppler
eine mildere Behandlung als gewöhnlich; in dem anderen heißt es
in üblicher Weise 1368 Multum valete , malum orane ad lenonem
reccidit. Offenbar hat die Kritik an der Behandlung des Kupplers
und an der Länge des Stückes Anstoß genommen und dadurch den
ersten Schluß veranlaßt. Erwähnung verdient auch , daß in der
22 Oskar Köhler.
trochäischen Szene über eine dicke Flötenspielerin gespottet wird,
ähnlich wie Aul. 332 at nunc tibi dabitur pinguior tibicina.
Für das Datum des Stückes erhalten wir möglicherweise einen
Hinweis durch 524 Praesertim in re populi placida atque interfectis
hostibus. So scheint das Ende des zweiten punischen Krieges
Plautus Gelegenheit gegeben zu haben , ein Stück zu übertragen,
in dem ein Karthager im Mittelpunkt steht. Den Titel Poenulus
hat das Stück erst später erhalten; Plautus selbst nannte es Vers 54,
d. h. in dem echten Teile des Prologs, Patruos, da Hanno der Oheim
des Agorastokles ist.
Pseu dolus: J. v. Harr er. Die Kompos. des Plautin. Pseu-
doliis. Progr. d. Sophiengymn., Wien 1912, macht einen neuen
Versuch zu erweisen, daß Plautus das Stück aus zwei griechischen
Vorlagen zusammengeschweißt habe. — Demgegenüber weist Kroll,
Teuflfels Lit.-Gesch. ^, 175 f., mit Recht auf die Möglichkeit hin, den
griechischen Dichter für die Mängel des Stückes verantwortlich zu
machen. — Kunst S. 160 ff. möchte mit Dietze das Original dem
Philemon zuschreiben ; das gäbe einen Grund weniger, alle Schwierig-
keiten des lockeren Aufbaues dem Übersetzer zuzuweisen. Die
Unrast des Sklavenspiels zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit dem
Heautontimorumenos.
Rudens: C. C. Coulter, The Composition of the Rudens of
Plautus. Class. Philo). 8 (1913), 54 ff., sucht zu erweisen, daß nur
der erste Teil des Stückes Züge des Diphilus zeige, der der fieat]
nahestehe, während Akt 4/5 einen anderen Autor und Schauplatz
verrate. Mit Recht verweist dagegen Kunst S. 136 auf Leo,
Forschungen ^ 160 : „Der Rudens hat eine zwar innerlich einheit-
liche, aber äußerlich zweigeteilte Handlung." — G. Thiele,
Plautusstudien, Hermes 48 (1913), 522 ff., hebt die starke Lokal-
farbe des Stückes hervor, die durch den Seesturm bedingt wird,
ein Motiv, das nicht der Tragödie, sondern den vom Epos ab-
hängigen Romanen und Novellen eigen ist. Mit dem romantischen
Charakter des Stückes hängt es zusammen, daß keine bestimmte
Zeit vorausgesetzt wird. Die eigentlich komischen und schwank-
haften Züge finden sich im Rudens ebenso wie im Trinummus nur
an einzelnen Stellen und zwar scharf gesondert von der Haupt-
handlung. Trotzdem hat in beiden Stücken Plautus absichtlich den
Titel der schwankhaften Nebenhandlung entlehnt, was der Absicht
der griechischen Dichter widerspricht. — E. A. Housman, Jests
of Plautus, Cicero and Trimalchio. Class. Rev. 32 (1918), 162 ff.,
erklärt die Worte des Daemones 767 quin inhumanum exuras tibi?
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 23
aus den mythologischen Kenntnissen der beiden Unterredner (vgl.
489 f., 509, 604): Wie Herkules den menschlichen Teil seines Wesens
im Feuer ablegt und zum Gott wird , so soll Labrax durch das
reinigende Feuer aus dem inhumanus erst ein richtiger Mensch
werden. — Lindsay, Adnot. Plaut., Class. Quart. 14 (1920), 49 ff.,
vergleicht mit dem Prolog Amph. 91 f. Etiam , histriones anno
quom in proscaenio hie lovem invocarunt, venit, auxilio is fuit und
schließt daraus, daß der Kudens das Stück war, für das die Schau-
spieler Jupiters Hilfe erflehten, und daß er ein Jahr vor dem Am-
phitruo aufgeführt wurde.
Stichus: Leo vertritt auch Lit.-G. 128 f. den Standpunkt, daß
Plautus jeden der drei Akte einem anderen Original entlehnt habe.
— P. J. Enk, De Stichi Plautinae compositione. Mnemos. 44
(1916), 18 ff., verteidigt die Zusammengehörigkeit der beiden ersten
Akte und sieht nur den Schluß, als zu lose angeknüpft, für un-
menandrisch an , obwohl auch er Adelphoe d in die Frühzeit Me-
uaiiders setzt. Aber die frühe Eutstehungszeit (um 317) und die
Ähnlichkeit mit dem Persa lassen die Annahme Schwerings
S. 184, Prehns S. 52 ff. und Langers S. 46 und 81 völlig be-
rechtigt erscheinen , daß dieses lose Gefüge von unterhaltenden
Szenen tatsächlich vom jungen Menander stammt, der die spätere
Geschlossenheit seines Stils durch die schöne Exposition voraus-
ahnen läßt.
Trinummus: Kunst S. 143 führt die Unklarheit in der
Charakteristik des Stasinus auf Philemon zurück.
Truculentus: Kunst S. 158: Plautus scheint seine Titel-
person einer weiteren Typenkomödie entlehnt zu haben.
Vidularia: Thiele S. 537 setzt das Original des ßudens
früher an, da aus diesem der Venustempel beibehalten ist.
in. Prosodie.
Die lambenkürzung haben folgende Arbeiten zum Gegenstand:
1. G. Jachmann, Studia prosodiaca, Habilitationsschrift, Marburg
1912.
2. — , Zur aitlateinischen Prosodie. Glotta 7 (1916), 39 ff.
3. W. Kroll, lambenkürzung. Glotta 7 (1916), 152 ff.
4. G. Jachmann, Bemerkungen zur plautinischen Prosodie. Rhein.
Mus. 71 (1916), 527 ff.
5. Fr. Vollmer, lambenkürzung in Hexametern. Glotta 8 (1917),
130 ff.
24 Oskar Köhler.
Jachmann weist nach, daß in der vorletzten Hebung iambischer
Senare und vor der Diärese asynartetisch gebildeter Septenare und
Oktonare die lambenkürzung sehr selten ist. Tritt an dieser Vers-
stelle Auflösung der Länge ein , so sind es entweder pyrrhichische
und solche iambische Wörter, die bereits pyrrliichisch empfunden
Avurden, wie male, quasi, ego, tibi, cave, abi, modo, oder Pronominal-
formen von mens, tuus, suus , ie. , die mit Synizese zu lesen sind,
da sie auch in Totalisation vorkommen. Denn der Rhythmus des
Verses sollte am Schluß nicht durch iambisches Wort verdunkelt
werden. Formen wie qui's illic, quid istuc hat schon Plautus nicht
mehr als lambenkürzung empfunden (vgl. Vollmer, S. 25), cale-
facit aber, patefacit, videlicet sollen durch Proklisis schon vor Plautus
gekürzt gewesen sein, ebenso sei diutius, diutinus bereits bei den
Szenikern prokeleusmatisch gewesen.
Diesen Standpunkt nimmt auch ein :
J. P. P o s t g a t e , Atnotauda in Latin Prosody. Class. Quart. 1 1
(1917), 169 ff.,
indem er Rud. 93 eo vos, aniici, detinui diutius hinter amici (tum)
einschiebt.
Dagegen verteidigt
W. M. Lindsay, The Prosody of diutius. Class. Quart. 12
(1918), 47
die handschriftliche Lesung und weist mit Recht darauf hin , daß
vereinzelte Proben alter Aussprache bei Plautus nicht selten sind ;
80 wird die ältere Form diutius gestützt durch diütine Rud. 1241
und diutinus Mil. 503. Die phonetische Entwicklung ist: diütius,^
diutius, diutius.
Ebensowenig wird man glauben müssen , daß Versschlüsse wie
suom patrem immer mit Synizese zu lesen seien; vielmehr ist bei
Emphase auch dort die zweisilbige Form des Pronomens anzu-
nehmen.
Im zweiten Aufsatz stellt Jachmann fest , daß in Kretikern
und Bakcheen die lambenkürzung sich in denselben Grenzen hält
wie in der vorletzten Hebung iambisch schließender stichischer
Verse, d. h. daß eigentliche lambenkürzung ihnen fremd ist. Ebenso
werden Silbenfolgen, die entweder an sich den Wert eines lambus
haben oder ihn durch Verwendung einer altertümlichen Laütgestalt
(siet, torquier, danunt, gegen deren Beschränkung auf iambischen
Versschluß er sich mit Recht wendet) oder bei der avvVeoig ovo-
l-iätiov (satis, magis mit positionsbildendem s) erhalten können, in
Jahre8t)ericht über Plautus 1912—1920. 25
diesen Versen im allgemeinen oder wenigstens mit Vorliebe iambisch
gebraucht.
Richtig ist die Feststellung, daß die lambenkürzung eine pho-
netische Eigenschaft der Umgangssprache ist, zu der der (daktylische)
Dichter nach Belieben Stellung nehmen kann ; unannehmbar aber
die, daß sie im allmählichen Absterben begriffen und zur Zeit Ciceros
erloschen war und dafür eine andere Kraft lebendig wurde , die
Endsilbenkürzung. Ich führe hierzu Lindsays AVorte an (Schul-
ausgabe der Captivi ^, Oxford 1921, S. 11): These pronunciations
are unfamiliar to us merely because the dramas of the Augustan
age have been lost. They would be used by Augustan comedians
as well. The belong not to early comedy, but to all comedy ; the
are the pronunciations of everyday talk.
Kroll betont vor allem, daß es sich bei den Kretikern und
Bakcheeu weniger um ein Meiden der lambenkürzung handelt , als
daß diese Maße in ihrer ursprünglichen Gestalt gar keinen Platz
dafür haben, daß es vielmehr im Lateinischen einen großen Vorrat
an Wörtern gibt, die sich bequem dem bakchisch-kretischen Rhyth-
mus fugen, der deshalb so häufig im römischen Drama zu finden ist.
Daß es überflüssig war, sich dabei auf das sogenannte Exonsche
Gesetz zu beziehen , gibt er selbst zu (Wissenschaftl. Forschungs-
berichte II, Latein. Philologie. Gotha 1919, S. 30).
In seiner Entgegnung auf diesen Erklärungsversuch hebt Jach-
mann mit Recht hervor, daß die Betonung facilius nicht ohne
weiteres als Rest von Anfangsbetonung erklärt werden kann , da
die Fälle, in denen facilius betont wird, immerhin zahlreich sind
(vgl. Sturtevant, S. 29).
Gegen die Ansicht, daß lamben- und Endsilbenkürzung zwei ver-
schiedene, zeitlich getrennte Vorgänge seien, wendet sich auch Vo 1 1 m e r :
Der bakchisch-kretische Rhythmus zerstört ebenso wie der daktylische
den üblichen Fluß lateinischer Rede; da die lambenkürzung viel mehr
auf die Teile der Rede wirkt, die durch scharfe Satzakzente verflüchtigt
sind, als auf einzelne Wörter, so begreift man, daß durch andere
Ae'^fg die Allegrowirkung einfach aufgehoben wird. Die natürliche
lambenkürzung verflüchtigte die Sprache viel mehr, als im Vers zu
finden ist. Unter griechischem Einfluß wurde die Sprache allmählich
konventionell ] daher blieb die lambenkürzung nur noch da fühlbar, wo
sie die Endsilben der Wörter traf; und gelegentlich konnten Wörter
wie rogäs aus der Alltagsrede in den Hexameter eingeführt werden.
Gegen diese wohl ziemlich allgemein angenommene Erklärung
des I.K.G. wendet sich in Anlehnung an E. A. Sonnenschein.
2Ö Oskar Köhler,
The Law of Breves Breviantes in the Light of Phonetics. Class.
Philol. 6 (1911), 1 ff., K. Kauer, mit dem ich in schriftlichen
Gedankenaustausch über die ganze Frage getreten bin. Wenn ich
auch glaube, daß Kau er trotz Berufung auf die Phonetik die Verse,
die eben nur fürs Ohr bestimmt waren, doch zu wenig hört und zu
sehr sieht, daß er die Versmelodie zerstört, wenn er Eun. 8 liest
£x Gra^cis bonis Lati'nas fecit nön bonäs, um bonis aus dem Wege
zu gehen , und daß er das rasche Leben der Umgangssprache ver-
gißt, wenn er der Verteilung der an der Kürzung beteiligten Silben
und Wörter auf verschiedene Sprecher zu großes Gewicht beilegt
— nimmt ja auch bei eintretender Elision ein Schauspieler dem
anderen das Wort aus dem Munde — , so führe ich doch um der
Wichtigkeit der Sache willen seine Zuschrift, deren weitere Ausführung
an anderem Ort er sich ausdrücklich vorbehält, hier im Wortlaut an :
„Die Hauptschwierigkeit bei dem LK.G. bildet für Sonnen-
schein die angenommene Kürzung positionslauger Silben, nament-
lich in Fällen wie z. B. qmd cocprohras, quid äpstulisti^ quid tgndve,
nöuo örndtu usw., wo auch ein Hinüberziehen der Konsonanten zur
folgenden Silbe ganz unmöglich ist.
Von entscheidender Bedeutung scheint mir aber folgende Be-
obachtung zu sein. Nach den bisher angenommenen Formulierungen
durch Skutsch und Lind say tritt die Kürzung eo ipso ein, bzw.
wird die Kürzung aus der Umgangssprache herübergenommen. Nun
finden wir aber eine ganz erkleckliche Anzahl von Stellen , sowohl
bei Plautus als bei Terenz , wo das Wort , das die brevis und bre-
vianda enthält und in der Senkung steht, von dem Schauspieler Ä
gesprochen wird, während das Wort mit der betonten Silbe, die als
brcvians die Kürzung erst bewirken soll , vom Schauspieler B ge-
sprochen wird, wobei es keinen Unterschied macht, ob die brevianda
natura oder positionc lang ist. Kann man sich vorstellen, daß eine
lange Silbe durch den Hochton, den ein anderer ausspricht, gekürzt
wird? Ist da die Berufung auf die Umgangssprache möglich?
An drei Stellen wird die brevians vom Schauspieler A ge-
sprochen, die brevianda dagegen vom Schauspieler B. Soll die lange
Silbe im Munde des zweiten Sprechers durch die angeblich stark
betonte Silbe des ersten Schauspielers gekürzt werden? Das ist
doch ganz unmöglich.
Und schließlich ein ganz singulärer Fall. Stich. 660 : Stiche
* Hern * quid uis? spricht die brevis der Schauspieler Ä^ die bre-
vianda der Schauspieler B und die folgende brevians wieder der
Schauspieler Ä, so daß auch brevis und brevianda von verschiedenen
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 27
Personen gesprochen werden. In diesem Falle von einer Kürzung,
die aus der Umgangssprache aufgenommen wurde, zu sprechen, ist
-eine reine Unmöglichkeit. Hier tritt überhaupt nie eine Kürzung
ein , wenn wir den Vers nicht für das Auge , sondern für das Ohr
berechnet betrachten ; denn Hern ist natürlich kurz , und die Posi-
tionslänge entstünde erst, wenn wir den Vers nur als für das Auge
berechnet ansähen.
Ich glaube, daß diese Stellen geradezu beweisen, daß von einer
ausnahmslosen Herübernahme der Kürzungen aus der Umgangs-
sprache überhaupt nicht die Rede sein kann, daß somit Sonnen-
schein mit seiner Annahme dieser Irrationalität wirklich recht hat.
Es wäre jetzt nur noch die Frage zu erörtern, ob durch schnelleres
Sprechen diese Überzeitigkeit beseitigt werden konnte , woran ja
schon Bentlej gedacht hat; denn es ist ja doch kein Zufall, daß
diese Erscheinung sich nur in solchen Versen findet (z. B. auch in
den sortes), die lediglich für das Sprechen berechnet waren. Dies
ist in gewissen Fällen (naturlange Vokale) zweifellos möglich. Aber
für das Auge wird dadurch die Unregelmäßigkeit nicht beseitigt.
Und für eine Sprache , die die Quantität bei-ücksichtigt , bleibt
Positionslänge immer lang, wenn man auch noch so
schnell spricht. Es fragt sich nur , ob diese Annahme einer
irrationalen Hebung oder Senkung für alle Fälle des I.K.G. not-
wendig ist, oder ob sich da nicht ein Mittelweg hei'ausstellt. Ich
glaube nämlich, daß wir es bei den Erscheinungen, die gegenwärtig
als Fälle des I.K.G. bezeichnet werden, mit einem Komplex zu tun
haben, indem nämlich in einer Reihe von Fällen tatsächlich bereits
wirkliche Kürze vorliegt , andererseits durch Synizese , die auch
Kroll noch nicht für abgetan hält, eine Anzahl ausscheidet, während
in einer großen Anzahl (Positionslänge oder Fälle wie tlhi aüt usw.)
mit der Irrationalität gerechnet werden muß.
Zu der ersten Kategorie gehören alle jene Fälle, wo neben
dem langen Vokal auch der kurze vorkommt (z. B. mihi, tibi usw.)
ego, uolo usw., caue und dergleichen , vgl. auch slquidem neben st-
quidem usw. Hier konnte der Dichter nach Bedarf entweder die
kurze oder lange Messung annehmen. Nur bezüglich einer Gruppe
von Erscheinungen möchte ich nur kurz das Nebeneinandervorkommen
kurzer und lauger Silben hervorheben, nämlich bei den Formen des
Pronomens ille, die ja sehr oft durch das I.K.G, getroffen werden.
Nur in ungefähr 30 Prozent der Fälle muß die erste Silbe lang
gemessen werden. Das scheint mir ein deutlicher Hinweis darauf
zu sein , daß hier das Nebeneinandervorkommen kurzer und langer
28 Oskar Köhler.
Messung anzunehmen ist (vgl. Marx, Leipz. Sitzungsberichte 1907
S. 129 ff.). Dadurch ist auch die Frage entschieden, welche
S kutsch noch Kopfzerbrechen gemacht hat. Da er nämlich bei
nie, wenn es zweimorige Geltung hat, Abwurf des e annahm, kam
er natürlich ins Gedränge, wo andere Formen, wie z. B. iJla, eben-
falls nur zweimorig bemessen werden können. Mit der Annahme der
doppelten Quantität ist natürlich diese Schwierigkeit behoben , und
eine Anzahl von Versen wird keiner Änderung bedürfen. Bezüglich
der Fälle , wo naturlauger Vokal ohne nachfolgende Positionslänge
bildende Konsonanten steht, möchte ich die Frage noch offen lassen.
Nehmen wir aber nur solche Fälle , wo auch im besten Falle eine
Vokalkürzung nicht zulässig ist. z. B. tibi aiit, dann ergeben sich
eben mit der großen Anzahl der Beispiele mit Positionslänge die
Fälle der Irrationalität.
Halten wir an diesem Ergebnis fest, dann ist wirklich nicht
einzusehen, weshalb nicht auch ein Trochäus an Stelle einer Hebung
oder Senkung stehen kann , und damit wäre an einer Reihe von
Stellen , wo ein solcher überliefert ist , wozu auch die Fälle mit
unde, nempe, quippe, omnis, vielleicht auch ipse, iste usw. kommen,
die Heilung ohne weiteres gegeben ; doch gehört dies nicht mehr
zur Frage des I.K.G.
So viel scheint mir aber festzustehen, daß der Ausdruck I.K.G.
nicht mehr paßt. Denn betrachtet man seine Erscheinungen als
solche der Umgangssprache, so hat das Gesetz nichts mit der Metrik
zu tun , und sofern die Metrik in Betracht kommt , hat es nichts
mit dem nur angenommenen Vorgang der Kürzung zu tun. Die
Metrik verwendet nur kurze oder lange Silben , kürzt aber nicht.
Praktisch bringt die Sache keine großen Veränderungen mit
sich. Höchstens daß wir einen Vers wie Eun. 233 nicht mit quid
interest, sondern mit quid interest beginnen, was vielleicht ein Licht
auf die so häufig vorkommenden einzelnen iambischen Verse in
trochäischen Reihen oder umgekehrt werfen kann. Mir handelte es
sich um den Versuch einer Erklärung, der man seit C. F. W. Müller
eigentlich aus dem Wege gegangen war. Daß durch Sonnen-
scheins Erklärung die Beschränkung auf iambische Silbenfolge,
worauf mich Maas aufmerksam machte, noch nicht erklärt ist, gebe
ich ohne weiteres zu, kann aber vorderhand nichts dazu sagen."
Über die wichtige Frage nach der Übereinstimmung von Wort-
und Versakzent handeln zwei Arbeiten:
(J. Hoischen, De verborum accentu in versibus Plautinis observato
quaestiones novae. Diss. Münster 1914.
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 29
E. H. Sturtevaut, The Coincidence of Accent and Ictus in Plautus
and Terence. Class. Philol. 14 (1919), 234 ff.
Hoi sehen gibt eine kritische Übersicht über die Ansichten,
die die Gelehrten seit Ben tley über diese Frage entwickelt haben,
und wendet sich dann der Betrachtung der einzelnen Wortklassen
zu: 1. Tribrachysche Wörter werden nie auf der Pänultima betont,
daktylische selten und nur im ersten Fuß iambischer Verse und im
fünften der Oktonare, während in Anapästen hostibus u. ä. zugelassen
ist. Die verschiedene Behandlung der beiden Wortklassen erklärt
sich daraus , daß die daktylischen Wörter einen Nebenakzent auf
der letzten Silbe hatten : perdite. Die Griechen haben keine der
beiden anstößigen Betonungen gemieden. 2. Die Proceleusmatiker
verwendet Plautus so, daß sie dem Prosaakzent (wozu H. auch die
Anfangsbetonung fäcilius rechnet!) entsprechen; sequimini läßt er
nur dort zu, wo Corpora stehen kann. 3. Anapästische und spon-
deische Wörter sind im zweiten Fuße des Senars nur oxytoniert,
wenn Monosyllabon folgt, im dritten Fuße nie wegen der Zäsur, die
als Ergebnis der Wortstellung zur Wahrung des Prosaakzents streng
eingehalten wird , während bei Menander ein Fünftel , bei Aristo-
phanes ein Zehntel der Verse zäsurlos ist. Im trochäischen Sep-
tenar werden vor der Diärese iambische Wörter von enklitischem
Monosyllabon begleitet, wodurch die falsche Betonung aufgehoben
wird. So zeigt sich überall, auch aus den im folgenden behandelten
Enklitizä und doppeliambischen Schlüssen, die Ansicht von Bentley
undRitschl bestätigt, daß starke Übereinstimmung zwischen Vers-
und Satzakzent vorhanden ist-, völlig widerlegt aber wird das
Meyer sehe Dipodiengesetz.
Den umgekehrten Weg schlägt Sturtevant ein. Er will die
Behauptung widerlegen, daß Übereinstimmung zwischen Wort- und
Versakzent mehr das zufällige Ergebnis sei des gleichen Gesetzes,
nach dem in der Sprache wie in der Metrik der Ton auf der Länge
oder der ersten von zwei Kürzen liegen müsse. Zu diesem Zwecke
untersucht er den natürlichen Fluß des Verses und vergleicht die
daraus sich ergebende Betonung von Silbengruppen mit der der
entsprechenden Eiuzelwörtex-. Das Ergebnis ist folgendes: Die
Silbengruppe - ^ ist auf der Pänultima betont bei Plautus in 58 *^/o,
bei Terenz in 56 ^/o der Fälle, die entsprechenden trochäischen
Wörter aber in 83 ^lo bei Plautus, in 86 ^/o bei Terenz ; die Silben-
gruppe ^^ hat Pänultimabetonung bei Plautus in 32 "/o, bei Terenz
in 26 "/o, die entsprechenden Wörter aber in 42 ® o bei Plautus, in
35 ^/o bei Terenz. In derselben Weise verfährt er bei drei- und
30 : Oskar Köhler.
mehrsilbigen Wörtern und den entsprechenden Silbengruppen ; immer
ist bei den Einzelwörtern der Prozentsatz der natürlichen Betonung
größer. Eine Ausnahme macht nur die Silbengruppe ^ww- und
die entsprechenden "Wörter wie facilius-, hier ist auf der drittletzten
betont die Silbengruppe in 30 "/o bei Plautus, in 37 ®/o bei Terenz,
die entsprechenden Wörter aber nur in 9 "/o bei Plautus, in 12®/o
bei Terenz , während sie Anfangsbetouung zeigen in 91 °/o bei
Plautus und in 88 *'/o bei Terenz. Von dieser Ausnahme abgesehen,
die ein Rest der ursprünglichen Anfangsbetonung sein mag oder
nicht, läßt sich überall eine starke Neigung erkennen, den Wörtern
ihren Prosaakzent zu lassen. Dabei bleibt der Satzakzent außer
Betracht, dessen Berücksichtigung noch manche anscheinend ab-
weichende Betonung erklären würde. Dies ist jedenfalls ein Beweis
dafür, daß der Dreisilbenakzent stark expiratorisch war.
Die „Kürzung durch Tonanschluß im alten Latein" behandelt
eingehend F. Vollmer in den Sitz.-Ber. d. Bayr. Akad. 1917.
9. Abhdlg.:
Wir dürfen aus dem Gesetz vom zerrissenen Anapäst schließen,
daß Wörter wie slquidem , töquidem die erste Silbe kurz haben,
außer wenn sie die erste oder fünfte Hebung trochäischer Lang-
verse bildet. Nirgends ist si quidem zu betonen; wohl aber findet
sich 82 mal bei Plautus sicheres siquid^m, 31 mal s'iquidem , dazu
noch 15 mal in Anapästen. An anderen enklitischen Verbindungen
steht trochäisches ecquis (über 90 mal) neben ecquis , siquis neben
slquis, nequis neben nequis, quisquis neben quisquis, numquis neben
nümquis (Meu. 548). Bei Zusammensetzungen mit -que , -ne, -ve
erscheint es zweifelhaft, ob an Tonkürzung oder Endsynkope wie
bei ac, seu zu denken ist. Die von S kutsch angenommene Syn-
kope von illic, illa, illud, istic hat keine Wahrscheinlichkeit; des-
halb ist für ille und iste neben der trochäischen Messung auch pyr-
rhichische (vgl. Kau er, S. 28) vorauszusetzen. Dieses Nebeneinander
von ille und ille, iste und iste erscheint begreiflich, wenn man
siquidem neben sl quid6m stellt. Kürzung durch Tonanschluß liegt
auch vor in hödie , sme , nüdius , quasi , ömitto , pröficiscor neben
pröficio, profanus neben pro fäno. Die Kraft dieser Kürzung
durch Enklise ist offenbar ebenso groß wie die lambenkürzung; sie
bewirkt sogar nösquidem, meäequidem, measquidem, hiquidem aus
höquidem. Kürzung von ö zu T liegt möglicherweise auch in ille
vor : *ölse >► *olle > *ulle, dies in Anlehnung an is zur Unter-
scheidung von ullus zu ille; so würde die doppelte Messung des
Stammes 11- bei den Szenikern die einfachste Erklärung finden.
Jahresbericht über Plautus 1912-1920. 31
Auch das Nebeneinander von Immo und immo spricht dafür , daß
das Wort unter Tonanschluß gefallen ist.
W. L i e b e u , De verborum iambicorum apud Plautum synaloephis.
Diss, Marburg 1915,
weist nach, daß iambische Wörter nicht unterschiedslos elidiert werden ;
mehr als die Hälfte aller Elisionen fällt auf auslautendes o. Dar-
unter sind Substantiva sehr selten; am häufigsten ist die 1. Pers,
Sing. Ind. Praes. solcher Verba elidiert, die dem Volksmund ge-
läufig sind, woraus deutlich hervorgeht, daß die Synalöphe aus der
Umgangssprache stammt. Vor langer Silbe ist Verschleifung häufiger
als vor kurzer (4 : 1), Im letzten Fuß des Senars und im 4. und
letzten des trochäischen Septenars kommt Synalöphe nur vor Inter-
jektionen vor. Hiat in iambischem Wort findet sich an denselben
Stellen, an denen Jacobsohn Diärese annimmt; daneben bleiben
22 Hiate unerklärt. Die von Lachmann aufgestellten Regeln
finden also keine Bestätigung.
IV. Metrik.
■ W. M. Lindsay, Class. Eev. 32 (1918), Aug./Sept. unterzieht
Stich. 1 ff., das Eingangsduett der Schwestern Panegyris und Pam-
phila, einer neuen Behandlung, um zu zeigen, daß Plautus ein viel
größerer Verskünstler war, als man gewöhnlich annimmt, und daß
man ein Canticum weder willkürlich ändern noch unmögliche
Messungen wie amäbo, oportet, verberari, martmis, amisha für ami-
citia einführen darf: Man soll einfach anerkennen, daß gewisse metri-
sche Typen des Plautus noch nicht entdeckt sind. Wenn „Des
Mädchens Klage" vermuten ließ, daß Plautus seine musikalischen
Vorbilder im Tingeltangel suchte , weil ihm' die neue griechische
Komödie keine liefern konnte, so erinnert jetzt Marx, Stobaeus
von 0. H e n s e V, praef. 28 daran, daß von Diphilus fr. 12 K. das be-
rühmte Maß des Archilochus, fr. 89 K. einen Wechsel von Kretikern
und Choriamben wie Gas. 628 f, As. 132 f., Most. 700 ff. enthält.
(Doch vgl. dagegen Wilamowitz, Die Samia des Menandros.
Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1916, 85 f.)
Den Grundton des ersten Teils des Canticums gibt die Zeile
- ' ^ I-
credo egö mispräm , ein in den glykoneischen griechischen Chören
oft gefundenes Metrum, z. B. Eurip., Ale. 990. Die nächsten vier
Zeilen haben dasselbe Metrum mit Auftakt ; dieser ist dreimal kurz,
I I i_
einmal lang : quae täm dm vidüä : Synaphie ist ausgeschlossen, weil
32 Oskar Köhler,
das a in vidua bereits zu Plautus' Zeit kurz war. Diese fünf Zeilen
behandelt Lindsay im Oxford-Text noch als Dochmien.
Die sechste Zeile nam nos eins (einsilbig) änimum ist ein Kolon
Keizianum : Diese werden bei Plautus so variiert wie im Griechi-
schen die Dochmien ; hier bildet es den Übergang vom Glykoneus
zu drei iambischen Dimetern mit Kolon Reizianum.
Es folgen zwei anapästische Dimeter als vorläufiger Hinweis
auf 24 ff., hierauf 8 und 8 a : Neque id magis facinüs Quam nös
mönet pietäs als Glykoneen wie 1 a, dann wieder iambische Dimeter
mit Kolon Reizianum.
10 Loqul de re virf mit Synkope wie Eurip., Hipp. 532.
11 — 14 folgen Variationen von la mit Kolon Reizianum, 15
zweimaliges Kolon Reizianum, 16 und 17 Übergang zu den folgenden
Anapästen; dabei klingt in 27 noch einmal das Echo des glyko-
neischen Teils an mit folgendem anapästischem Metron: fäc quöd
tibi tuos päter fäcere mlnätur, ebenso 50, nur mit sit als Länge.
Die Monodie der Alkmene Amph. 633 ff. behandelt C. Lind-
ström, Eranos 11 (1911), 125 ff.
F. W. Hall, Nuances in Plautine Metre. Class. Quart. 15
(1921), 99 ff., stellt fest, daß, abgesehen von dem Verse des Phädrus
*Palam muttire plebeiö piaculümst', der ein molossisches Wort vor
dem letzten Metron des Senars hat, da er dem Telephus des Ennius
entlehnt i.-.t, weder bei Seneca noch sonst bei Phädrus sich ein Bei-
spiel dafür findet. Ebensowenig kommt es vor in den Langversen
des Varro Reatinus und Lucilius , die zum Lesen , nicht zum Auf-
führen bestimmt waren. In der Tragödie aber des Livius Andro-
nicus und des Ennius war es gebi'äuchlicb.
Bei Plautus finden wir 20 unzweifelhafte Beispiele dafür , und
zwar wird in Versen mit dieser Besonderheit Zusammenfall von
Wort und Versakzent in den übrigen Füßen gesucht ; in den letzten
beiden Füßen geschieht dies durch vier- oder fünfsilbiges Wort;
spondeische und anapästische Wörter dagegen werden an dieser Vers-
stelle gemieden, da sonst im fünften Fuße Widerstreit zwischen
Iktus und Betonung eintreten würde. Wahrscheinlich ist dieser
Rhythmus ursprünglich tragisch und von Plautus übernommen,
1. um zu parodieren: Amph. 407 Et clandestina ut celetur consuetio ;
2. um der Steigerung willen: Aul. 95 cultrum securim pistillum
mortarium ; 3. des Gegensatzes wegen : Cure. 380 qui homo mature
quaesivit pecuniam Nisi eam nature parsif, 4. um hervorzu-
heben: Capt. 192 ibo intro atque intus subducam ratiunculam, d.h.
das Abzählen des Geldes zu kennzeichnen.
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 33
lu ähnlicher Weise bewirken dramatische Emphase die chor-
iambischen Wörter wie Bacch. 152 magistron quemquam discipulum
minitarier?
Bei Terenz ist von solcher Stimmungsmalerei so gut wie nichts
zu finden.
V. Wortschatz (Lexikographie) und Formenlehre.
G. Lodge, Lexicon Plautinum I, fasc. 7 (Fabula-Hercle), Leipzig
1914.
Eine wertvolle, von Lindsay angeregte Vorarbeit für dieses
allzu langsam erscheinende unentbehrliche Hilfsmittel bieten:
J. T. Allardice and E. A. Junks, An Index of the Adverbs
of Plautus, Oxford 1913.
W. Kahle, De vocabulis Graecis Plauti aetate in seriaonem Lati-
num vere receptis. Diss. Münster 1918,
behandelt die zu Plautus' Zeit im Lateinischen vorhandenen grie-
chischen Lehnwörter, die völlig lateinische Lautgebung und Endung
zeigen, wie purpura, sona, fucus , mina, und deren Ableitungen
und zeichnet an Hand dieser Wörter ein Bild davon, wie die
Römer von den Griechen kulturell beeinflußt sind in Nahrung,
Kleidung , Wohnung , Handelsverkehr , Kriegswesen , Kunst und
Wissenschaft, Religion \ind Kultur, Kenntnis des Tier- und Pflanzen-
reichs. Hierauf fuhrt er noch die griechischen Fremdwörter bei
Plautus an, die man einerseits durch die in Rom lebenden Griechen
kannte, und die andererseits aus den Originalen stehengeblieben
waren und in den Handschriften zum Teil in griechischen Buch-
staben überliefert sind (vgl. S. 5 N i e s c h m i d t). Ein sehr sorg-
fältiger Index, in dem die Fremdwörter besonders bezeichnet sind,
erhöht die Brauchbarkeit der wertvollen Abhandlung.
C. C. Coulter, Compound Adjectives in Early Latin Poetrj.
Transact. Amer. Philol. Assoc. 47 (1916), 153 ff. :
Die zahlreichen zusammengesetzten Adjektiva bei Plautus, von
denen 80 ",o a/ia^ eiQrjfiäpa sind , sind im allgemeinen häufiger in
den lyrischen Teilen als in den Senaren. Sie sind sehr ungleich
über die 20 Stücke verteilt; vergleichsweise wenig finden sich in
Men., Merc, Rud. und Stich., eine sehr große Zahl im Pseud. und
Trinummus. Terenz hat dagegen verschwindend wenig. Beigegeben
ist ein sorgfältig gearbeitetes alphabetisches Verzeichnis.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. 11). 3
34 Oskar Köliier.
A. Gagner, De hercle, mebercle ceterisque id geuus partlculis
priscae poesis Latinae scaenicae. Greifswald 1920,
txntersueht Ableitung ([o] Hercle von einem o-Stamm herclos ; me,
Hercle, iuvato! me Dius Fidius iuvet ! e Castor! e de Pol!), Pro-
sodie (vgl. hierzu Klotz, Philol. Wocheusclir. 1921, 392 ff.) und
Verwendungsart der ursprünglichen Götteranrufungen hercle, pol,
medius fidius, ecastor : Sie sind zu bloßen Beteuerungspartikeln ge-
worden; die Männer schwören nicht bei Castor, die Frauen nicht
bei Hercules; im Munde von Kupplern und Parasiten sind diese
Formeln verhältnismäßig selten ; auch hier zeigt Terenz , gemessen
an dem Reichtum des Plautus, Zurückhaltung gegenüber dem volks-
tümlich Derben. Eingehende Indizes erleichtern den Überblick über
die umfangreiche Arbeit.
A. Müller, Die Schimpfwörter in der römischen Komödie. Philol.
72 (1913), 492 ff.,
sammelt die reiche Fülle der Verschimpfungen bei Plautus und ordnet
sie unter folgenden Gesichtspunkten : Herren gegen Sklaven, Sklaven
gegen Herren, Sklaven untereinander, Sklaven gegen Kuppler usw.
M, Re ich e n b ech er , De vocum, quae sunt scelus, flagitium, faci-
nus apud priscos scriptores usu. Diss. Jena 1913:
Scelus heißt ursprünglich „unglückselige Sache", dann jedes
Handeln gegen die giiten Sitten, die Gesetze und die Religion (ver-
wandt mit impietas) ; ferner wird es als Schimpfwort auf den
Menschen übertragen und schließlich als Ausruf gebraucht. Die
Bedeutung „boshafte Gesinnung" wird erst in späterer Zeit mit dem
Worte verbunden. — Scelestus heißt „verbrecherisch", von Sachen
„durch Verbrechen befleckt", von sich selbst gesagt „elend". —
Scelerosus fehlt bei Plautus; sceleratus heißt „zu Verbrechen ge-
neigt" ; es findet sich nur zweimal bei Plautus. — scelerus als Adj.
nur Pseud. 817 sinapis scelera, während es in Wendungen wie
scelerum caput als von scelus gebildet aufzufassen ist.
Flagitium ist abzuleiten von flagellum, bedeutet also ursprüng-
lich „Auspeitschen", dann „übles Gerede in der Öffentlichkeit, Schande,
Freveltat".
Facinus bezeichnet leichteren Frevel, doch nie ohne Adjektiv;
es wird auch als Ausruf gebraucht; facinus committere gebraucht
Plautus ebensowenig wie scelus committere, wohl aber facinus facere.
L. Gurlitt, Plautinische Studien. Philol. 72 (1913), 225 ff.,
gibt dadurch , daß er asta den Nebensinn cpaXlög unterlegt , Most.
323 ff., As. 713 ff., Mil. 1011 ff. eine stark obszöne Deutung.
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 35
J. Köbm, Der ursprüngliche Sinu von animum despondere und
die zugrunde liegende Vorstellung. Ein Beitrag zur Geschichte
der Geisteskrankheiten besonders bei Plautus. Indog. Forsch. 31
(1912/13), 286 ff.
Animum despondere heißt bei Plautus ohnmächtig werden, die
Besinnung verlieren , weil der in Ohnmacht fallende Mensch sein
Bewußtsein wie ein Opfer der Gottheit hingibt, die ihn ergreift und
seinen Geist beherrscht. Capt. 547 ff. wird Geisteskrankheit vor-
getäuscht. Den Wutaufall in den Menächmi vergleicht Köhm mit
dem Botenbericht im Hercul. für., der mit Absicht travestiert sei ;
da die mittlere Komödie besonders mit dem Mittel der Travestie
arbeite, ist er geneigt, die Menächmi dazu zu rechnen.
W. Schwering, Dens und divus. Indog. Forsch. 84 (1914/5), 1 ff.
Beide Wörter stammen von *deivos. Dens ist der Gottesbegriff,
die himmlischen und niederen Gottheiten umfassend, so schon Capt.
313, Aul. 737 und 742, divus das Gottindividuum: Amph. 52 ff.
deus sum, commutavero . . . sed ego stultior, quasi nesciam vos velle,
qui divos siem , oder logisch ausgedrückt : Divus ist das konträre,
deus das kontradiktorische Gegenteil von homo. Welcher GottV
kann heißen: Quis deum? Quis deorum? Quis deus? aber nur:
Quis divum? (As. 716). Die Lyrik liebt mehr das vielgestaltige
deus. Zu neuem Leben wurde das altertümliche Wort divus er-
weckt durch die zu den Göttern erhobenen Kaiser. Aus dieser
Verwendung erwuchs dann erst in christlicher Zeit der adjektivische
Gebrauch.
E.A. Sonnenschein, Tam . . . quam. Class. Rev. 30 (1916), 158 f.
bespricht Most 809 und Pers. 851.
W. Coulin, Plautus Rud. 826. Hermath. 17 (1912/13), 178:
Controversiast heißt nicht: „Ich stimme nickt zu", sondern:
„Hier liegt eine Verwandlung vor", was apage bestätigt: Palästra
ist zum Mann geworden wie der Tempel der Venus zu dem des
Herkules.
VI. Sprachgebrauch (Phraseologie) und Syntax.
E. A. Sonnenschein, Ego Emphatic and Unemphatic , in Rises
and Falls of old Latin Dramatic Verse. Class. Philol. 16 (1921),
231 ff.,
weist nach , daß zum Verbum gesetztes ego keineswegs immer em-
phatisch ist , daß im Gegenteil die Fälle, in denen das Pronomen
3*
36 Oskar Köhler.
nur der Deutlichkeit dient und nicht anders gebraucht ist als in
den modernen Sprachen, überwiegen, und zwar im Verhältnis 95 : 74.
J. A. W a r t e n a , De geminatione figura rhetorica omnibus exemplis
illustrata, quae e fabulis Plautinis et Terentianis af'ferri possunt.
Diss. Groningen 1915,
will die „bisher vernachlässigte" psychologische Betrachtungsweise
auf die Gemination anwenden. Vgl. die Rez. von K ö h m , Berl.
philol. Wochenschr. 1916, 168 flF.
E. Lenz, De P. Terenti Afri et T. Macci Plauti figurarum phoneti-
carura usu. Programm Hörn 1911,
zieht von Plautus nur Capt., Men., Mil.. Most., Pseud. und Trin. in
den Kreis seiner Betrachtung. In diesen sechs Stücken kommen
1076 Fälle von Paronomasie vor, in denen des Terenz 728, während
in den Figuren, die es mit Wiederholung desselben Wortes zu tun
haben, Übereinstimmung herrscht. Bei beiden ist in den Cantica
die Zahl der phonetischen Figuren um mehr als ein Drittel größer
als in den Senarszenen.
E. Linpinsel, Quaestiones Plautinae. Plautus qua ratione verba
temporalia in versibus collocaverit atque praedicata obiecta sub-
iecta per binos versus distribuerit. Diss. Münster 1918,
stellt dar, wie bei Plautus bereits der Satz über den Vers hinaus-
gewachsen ist. Die verba finita stehen am Versende oder -anfang
oft so , daß der Vers von zwei Verben eingeschlossen ist , oder vor
und nach Zäsur und Diärese. Subjekt oder Objekt ist somit oft-
mals durch Versschluß vom Verbum getrennt.
H. Odenthal, De formarum faxo faxim similium in euuntiatis
secundariis condicionalibus positarum usu Plautino. Diss. Münster
1916.
Zugegeben ist, daß die optativischen und potentialen Formen
auf -sim und -rim aoristisch sind; daß dies bis auf Plautus auch
mit den Formen auf -so und -ro der Fall war, und wie sie all-
mählich in Fut. I und II übergegangen sind, wird an den kondicio-
nalen Nebensätzen nachgewiesen.
E. H. Heffner, The Sequence of Tenses in Plautus. Diss. Penn-
sylvania 1917,
weist nach, daß Plautus die consecutio temporum beachtet; wo Aus-
nahmen vorliegen, läßt sich bis auf ganz wenig Fälle eine Erklärung
dafür geben.
Jahresbericht über Plautus 1912-iy20. 37
E. Kiekers, Zur direkten Rede bei Plautus und Terenz, Glotta
10 (1920), 210 f.,
macht die Beobachtung, daß der „unechte" Schaltesatz und die
Ellipse des Verbum dicendi in dem die direkte Kede vorbereitenden
Satze schon bei Plautus vorkommt: Mil. 61 Pulcher est, inquit mihi,
et liberalis und Trin. 245 f. Atque ibi ille cuculus : o ocelle mi, fiat !
Ch. E. Bennett, Syntax of Early Latin II. The Cases. Boston
19U. Rez. von Schmalz, Berl. phil. Wochenschr. 1915, 559 ff.
E. Löfstedt, Sprachliche und epigraphische Miszellen. Glotta 4
(1913), 253 ff..
erklärt Poen. 659 tu si te di amant, agere rem tuam occasiost. Es
liegt Ineinanderfließen zweier Vorstellungen vor: tu agere potes
und te agere occasiost.
VII. Ausgaben und Textverbesserungen.
1. Captivi^ ed. J. P. Waltzing, Lüttich und Paris 1920.
2. Menaechmi ^ ed. M. Niemeyer, Leipzig 1912.
3. Miles* ed. 0. Köhler, Leipzig 1916.
4. Trinummus ^ ed. J. P. Waltzing, Löwen 1913.
5. V. C. Lindström, Plautina. Eranos 11 (1911), 107 ff.
6. E. Wallstedt, Spieilegium Plautinum III, ibid. 145 ff.
7. E. Löfstedt, Zu Plautus. Eranos 11 (1911), 240 ff.
8. J. Postgate, PlautineConjectures. Hermath. 138 (1912), 115 ff.
9. W. M. Lindsay, Notes on Plautus. Class. Quart. 7 (1913), 1 ff.
10. Ch. Exon, Apriorism and some Places in Plautus. Hermath.
38 (1912), 52 ff.
11. W. M. Lindsay, Adnotatiunculae Plautinae. Class. Quart. 14
(1920), 49 ff.
Amph,
626 ita nugas blatis Septenarende = Cure. 452 Senarende : Die
1. Person heißt blato , nicht blatio , wie der Thesaurus mit Hosius
annimmt. Lindsay (11).
Asin.
10 Huic Graece nomen Onagrost fabulae. Meister, Festschr.
f. Bezzenberger, Göttingen 1921, S. 1.
77 Volo amari obseculum (codd. obsecutum) illius , volo amet
me patrem. Lindström (5).
343 sedebam e me statt des überlieferten sedebam me me.
Löfstedt (7).
38 Oskar Köhler,
534 hie äies sumraus (quom est) apud me inopiae exusatio.
Löfstedt (7).
Aul.
471 Si id palam fecisset: (fecisset, set) exemi ex manu ma-
nubrium. Lind ström (5).
B a c c h.
51 Die Interjektion peri = perii wird elidiert wie Cist. 287.
L i n d s a y (9).
107 Simul huic (nos) nescio quoi turbae, quae huc it, decedamus
(sis). Havet. Simul huic nesciöquoi turbae, quae huc it, decedamus
(hinc). PI. zieht keine scharfe Grenze zwischen nescioquis irgend-
einer und nesciöquis ich weiß nicht wer. Lindsay (11).
495 f. Servatibi sodalem (una) et mihi filium.|| Factum volo, || Melius
esset multo, me quoque si cum illoc relinqueres. Wallstedt (6).
544 Sed sibi ne invideatur, ipsi ignavia recte cavent und
546 Atque etiam unum hoc: Wallstedt (ö).
673 Quid (malurn) igitur. Wallstedt (6).
738 At quidem hercle ad rem perdundam. Wallstedt (6).
797 Bene navis agitatur : pulchre haec confertur ratis soll navis
mit Leoscher Verschleifung zu lesen sein und an nave = naviter
anklingen. Lindström (5).
856 Dixin tibi ego illum te iuveuturum qualis sit. Wall-
stedt (6).
950 dolis ego deprensus ändert yl zu dolis ego prensus.
Exon (10).
963 f. Ab Helena cognitum esse proditum Hecubae ; sed ut
olim ille se Blanditiis (vix) exemit et persuasit se ut amitteret.
Wallstedt (6).
966 Post cum magnifico milite, urbis inermus qui capit. Wall-
stedt (6).
1068 f. Hoc est incepta efficere : evenit mihi,
Ut praeda ouustus veluti ovans incederem.
Wallstedt (6).
1106 Lindsay (11) läßt den anstößigen Vokativ Philbxene
weg und liest mit zweimaligem Hiat vor Personenwechsel: Salv6. ||
Et tu. II Unde agis? || Unde homo? Dagegen verteidigt Sonnen-
schein unter Berufung auf den anapästischen Rhythmus mit Recht
die handschriftliche Lesung (Class. Quart. 14 [1920], 81).
Cap t.
69 f. Juventus nomeu indidit 'Scorto' mi eo
Qiiia iuvocatus soleo esse in convivio. Lindsay (9).
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 39
102 Quod quidem ego nimis quam cupio cum impetrassere.
Wallstedt (6).
280 Tum igitür ei quom tanta gratia est, ut praedicas. Wall-
stedt (6).
826 proprius (pro-privus) hat in der religiösen Bedeutung
„fehlerlos" die ursprüngliche Quantität erhalten. Waltzing (1).
Vgl. Havet, Acad. Inscr., Compt. Rend. 1918, 161.
Gas.
23 Eicite ex auimo curam (fraglicher Hiat) atque alienum ahes.
Da bronzen im Altlateiu dreisilbiges ahenus und viersilbiges aheneus
ist und nicht zweisilbiges aenus und dreisibiges aeneus, so ist hier
vielleicht zweisilbiges ahes anzunehmen, und die feierliche Anrufung
der Fides mag die alte Form erhalten haben. Lindsay (11).
126 Post autem nisi (si) tu ervi acervom ederis. Wallstedt (6).
416 Jamne mortuo's? ]| Osteude. Mea (ea) est. || Malacruciast
quidem. Da mala crux praktisch ein Wort war, gab es vielleicht
auch ein Kompositum malacrucia ; vgl. Pers. 574 I sis [in] malum
cruciatum. II I sane tu — hanc eme ; ausculta mihi. Steckt auch
hier in malacruciam '? Lindsay, Class. Rev. 33 (1919), 26.
523 Sed facito dum, per viam puer versus quos cantat, colas.
Wallstedt (6).
536 Sed eccura egreditur (vir) senati. Walls-tedt (6).
Cist.
5 f. Nescio . . . arbitror ; it(a) Omnibus . . . dedistis. Lindsay (9).
7 Eo ego vos amo et eo magnam a me iniistis gratiam. Wall-
stedt (6).
88 Neque pudicitiam meam mihi alius quisquam imminuit. ||
Opsecro : Wegen der Prosodie von pudicitia (vgl. amicitia , vereba-
mini) hat A redigiert zu nee pudicitiam imminuit meam mihi quis-
quam alius. Exon (10).
524 Lies gnatam für filiam. Wallstedt (6).
531 Sed tamen ibo et persequar, amens quid faciat : cauto
opust? Wallstedt (6).
Cure.
44 Nempe huic lenoni qui hie habet mit Bothe Lindsay,
Journ. of Philol. 34, 262.
Epid.
15 scurra ist militärischer Fachausdruck für Stubenhocker. In
Trin. 202 Urbani assidui cives, quos scurras vocant ist Anspielung
auf assiduus = As-Geber und assiduus = seßhaft zu wittern. Lind-
say (11).
40 Oskar Köhler.
65 deperit. II (perii) degetur. Löfstedt (7).
353 meis his zu lesen für manibus bis, da liaec für haec manus
stehen kann (Ep. 10) und Leos Theorie von der us-Elision un-
haltbar ist. Lindsay (9).
541 Plane hicinest qui mihi in Epidauro primus pudicitiam
pepulit ist anapästischer Septenar. A ändert, um die durch Amph.
930 , Ep. 405 , Merc. 846 gesicherte Lösung von pudicitia zu be-
seitigen. Exon (10).
Merc.
598 f. :=^ 842 f. Die Verse sind ein wohlbekanntes Zitat aus
einer der Tragödien des Naevius oder Livius Andronicus, das eine
Mal von Eutychus, das andere von Charinus gebraucht, also an
beiden Stellen stehen zu lassen. In speratrix ist altlateinische Form
fiir prosperatrix zu sehen. Lindsay (11).
Mil.
1138 P neminem pol video nisi hünc quem adeo olfacio, A streicht
pol wegen der Prosodie von hünc. Exon (10).
1255 will Klotz, Philol. Wochschr. 1921, 392 ff. lesen quis-
vis? II Scio.
Most.
156 nunc postquam nili sum — id vero meopte mit Aposiopese
nach sum. Löfstedt (7).
740 Qui? II Quia venit navis nostra(m) nave (= naviter) quae
frangat ratem. Lindström (5).
871 Malum quom impluit ceteros, ne impluat me, da der Dativ
mi, den hier die Mss. haben, emphatisch mihi heißen müßte. Lind-
say (5).
992 Mihi nisi erum ut mit P zu schreiben , da erum hervor-
gehoben werden soll. Lindsay (9).
P ers.
57 Pater avos proavos abavos atavos tritavos. Plautus liebt es
nicht, iambische Verse mit Tribrachys anzufangen, dessen Auflösung
verschiedenen Wörtern angehört; er meidet also itä facit; daher
scheint hier, wie 355 und Mil. 878 die Skansion pater mit ursprüng-
licher Länge vorzuliegen; ebenso Poen. 1137 tua pletas. Lind-
say (9).
Poen.
1168 Thraecae sunt: in celonem sustolli solent: nach Art eines
Zuchthengstes pflegen sie sich zu erheben; 'jCI^Xcov: o Inißattcov
'irntoc,^ admissarius, Anspielung auf die thrakischen Pferde ; vgl. die
Geschichte von Diomedes und Herkules. Damit schwindet wieder
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 41
ein Beispiel der von Leo angenommenen gemeinsamen Korruptelen ;
denn A hat in celonem . P celumne. Lindsay, Class. Quart. 12
(1918), 140.
1317 Cur non adbibuisti, dum istaec loquere, tympanum? mit
viersilbiger Messung von adbibuisti. Lindsay (9).
1366 P ut bünc festum diem, A tilgt bunc wegen seiner Pros-
odie. Exon (10).
Pseud.
51 vendidit volüptas mea ändert A zu mea voluptas vendidit.
Exon (10).
146 f. Ut ne peristromata quidem : Stich. 378 Tum Babylonica
et peristroma (Plur.) tonsilia et tappetia und Trin. 247 Ibi illa pen-
dentem ferit: iam amplius orat: non satis mit Choriamb im 3. Metrum
lassen folgenden iambischen Oktonar mit Choriamb im zweiten Fuß
annehmen: Ut ne periströmä qnidem äeque picta sint Campanica.
Lindsay (11).
371 eassa nux = gefallene (taube) Nuß; cassus Part. Perf. Dep.
von cadere ; cf. occaso sole ; also incassum vergeblich = in casum.
Lindsay (11).
743 meo me ludo lamberas. In Rücksicht auf Poen. 296 meo
me lacessis ludo ist lambero der Sinn von lambo zu geben, ebenso
Lucilius 585 lamberat placentas. Eine falsche Interpretation des
Lucilius war der Grund von Paul. Fest. 105, 19 lamberat = scindit
ac laniat. Lindsay (11).
805 Nemo illum quaerit, qui optimus carissimust ^^ qui , cum
sit optimus, carissimust. Lindsay (9).
997 Propera pellegere epistulam ergo. || Id ago. tacitus sis modo
mit A zu lesen; P hat si taceas modo. Lindsay (9).
1276 Plaüdünt, 'parüm' cl4mitänt üt revörtär palimbacchisch zu
lesen. Lindsay (9).
Rud.
86 Non ventus fuit, verum Alcumena Euripidi. Die Lesung
interpretiert und verteidigt Sonnenschein, Class. Rev. 28
(1914), 40 f.
150 credo (e)laverunt heri. Postgate (9).
601 videbatur ad me simia adgredirier. A hat wegen der
lambenkürzung im 1. Fuß in videtur modernisiert. Exon (10).
829 Utpote sunt ignavi homines. Lindsay (11).
1003 arbitratu. || abi. {| ita enim vero. Löfstedt (7).
1141 non feret, nisi ver(o e)a dicet: nequiquam hariolabitur.
PoBtgate (8).
42 Oskar Köhler.
Stich.
4 apsentem ut est aequom , A ita ut aequomst beseitigt die
lambenkürzung. Exon (10).
9 sed hic mea soror, A läßt mea weg, um bic zu messen.
Exon (10).
27 tarnen si faciat, A modernisiert zu tametsi faciat. Exon (10).
44 tarnen pol , A quia pol ändert die plautiniscbe Skansion
Exon (10).
92 salsura evanescit. Postgate (8).
167 Audititavi saepe boc volgo dicier mit dem Frequeutativum
audititare. Lindsay (9).
213 quot aütem potiones, A ändert diese Prosodie. Exon (10).
237 quis baec est, diese lambenkürzung tilgt A. Exon (10).
256 negäto esse quod dem nee mibi nee mutuom, A bat wegen
der Kürzung des elidierten negato in nega geändert. Exon (10).
339 Nimio in parti multo tanta plus quam speras. || Salva sum.
Die Überlieferung ist zu halten. Lindsay (9).
451 ea ibo opsonatum ändert A fälschlich zu ibo opsonatum
atque ; vgl. Capt. 90 vel Ire extra portam. Exon (10).
597 qui malüm tibi ändert A zu quid malum. Exon (10).
632 P quid es capturus consili, A beseitigt den indirekten
Fragesatz und die Lesung es. Exon (10).
636 P ut pariere ist die bessereLesung, -4 hat ut perier int. E x o n (1 0).
696 Amicam uter utrubi accumbamus? [| abi tu sane superior.
Diese Lesung von P ist zu halten, da gegen die Kürzung von eli-
diertem amic(am) , zumal im 1. Fuß, nichts einzuwenden ist. Der
Herausgeber von A, dem diese Kürzung nicht einleuchtete, setzte
Mulierem ein. Exon (10).
Trin.
188 P nihil est qui respondeam , A modernisiert zu quod re-
spondeam. Exon (10).
293 Hisce ego te (de Bothe) artibus gratiam facio, ne colas neve
imbuas Ingenium. Lindsay (9) hält te , da es sich durch die
Schmiegsamkeit der plautinischen Ausdrucksweise erklären läßt.
328 P ego Uli facere, si tu non nevis, A mit klarster Moderni-
sierung illi facere, nisi tu non vis. Exon (10).
495 Ah!
Mirum quin ti'i illo tecum divitias feras. In den codd. sind
auch die außerhalb des Metrums stehenden Ausrufe an den Zeilen-
anfang gesetzt, Lindsay (9).
538 Magis 'apage' dicas, si omuiä me audiveris. Jacob-
Jahresbericht über Plautus 1912—1920. 43
s 0 h n s Hiat uud Syllaba auceps vor letztem Metrum ist unbewiesen ;
me ist kennzeichnend für die Biegsamkeit plautinischer Ausdrucks-
weise. Lindsay (9).
768 Ignota facies quae non visitata sit. Die Überlieferung ist
zu halten, da Plautus vorschwebte quae ignota facies. Lindsay (9).
Truc.
2 Die Schreibung deum eris für de vostris läßt sich datieren :
Die Abkürzung üeris für vestris findet sich nicht vor dem 9. Jahr-
hundert. Es zeigt sich das Uugeschick des Schreibers von B^ der
ungetrenate Majuskel vor sich hatte. Lindsay (9).
105 Scistis ist zu halten, da Lö fste dt wahrscheinlich gemacht
hat, daß nach Analogie von novi auch scivi = scio und nescivi =
nescio gebraucht wurde (Capt. 265, Poen. 629). Lindsay (9).
181 Amantes si q[ui non danunt — non didici fabulari. ||
181a Amans si qui 'quod non est, dabo?' — non didici fabu-
lari. Lindsay (9).
363 Velim , si fieri possit P ist die bessere Lesung, A hat
Vellem . . . posset. Exon (10).
695 f. larane autem ut soles? | lamne? || Nil dico. |j I iutro. Bei
solcher Verteilung entschwindet die letzte Stütze für nihil , und
Syllaba anceps vor Personenwechsel ist gesichert , ein großer Fort-
schritt gegenüber griechischer Eintönigkeit. Lindsay (11).
942 Campans dicit "^acceptavi' cousultum istuc, mihomo Lind-
say nach brieflicher Mitteilung. Class. Rev. 31 (1917), 132 The
Festus Glosses m a Monte Cassino Ms. (Nr. 90) hatte er auf Grund
der falschen Lesung Apaavi vorgeschlagen: 'abaavi'. (i) consultum,
mi homo ; jetzt hat eine genauere Vergleichuug des AJ.-Glossars
aptavi ergeben, worin Lindsay acceptavi vermutet.
Vm. Naclileben.
W. Heyl, De Querolo comoedia. Diss. Gießen 1912.
P. Dittrich, Plautus und Terenz in Pädagogik und Schulwesen
der deutschen Humanisten. Diss. Leipzig 1915.
C. C. Coulter, The Plautine Tradition in Shakespeare. Journ.
of Engl, and Germ. Philol. 19 (1920), 1 ff.
L. Havet, Piaute Asinaria 540/2. Rev. de philol. 87 (1913), 191.
W. Martini, Die große Episode in Lessings dramatischer Technik.
Neue Jahrb. 1920, 341 ff.
A. Denecke, Goethe und Plautus. Lit. Echo 14 (1911/12), 1034 ff.
Heyl handelt über die Abfassungszeit des Querolus: Er ist
44 Oskar Köhler.
in rhythmischer Prosa geschrieben , wie vor allem der Schluß der
Sätze zeigt. Der Dichter glaubte damit die Verse des Plautus und
Terenz nachzuahmen. So erklärt sich die Überschrift : Aululariara
hodie sumus acturi non veterem, at rudern, investigatam Plauti per
vestigia. Die Aulularia also wird nachgeahmt; aber nicht bloß an
Plautus und Terenz finden sich Anklänge, sondern auch an Cicero,
Virgil, Juvenal, Martial, Petron und Horaz. Der Verfasser ist kein
archaisierender wie Fronto und Apuleius; er ist, wie die Unter-
suchung seines Wortschatzes ergibt, in die zweite Hälfte des 4. Jahr-
hunderts zu setzen.
Dittrich weist nach, daß in Deutschland im 16. Jahrhundert
Plautus vernachlässigt wurde zugunsten des Terenz; vier Über-
tragungen des ganzen Terenz im 15. '16. Jahrhundert stehen von
Plautus nur Bacchides und Menächmi 1511, Aulularia 1535, Me-
nächmi 1570 \ind Captivi 1582 gegenüber; eine Gesamtübersetzung
erscheint erst Ende des 18. Jahrhunderts. In den maßgebenden
Schulordnungen der Zeit werden überall Aufführungen von Komödien
vorgeschrieben, die freieres Auftreten der Schüler hervorrufen sollen.
In dieser szenischen Verwertung der Dramatiker beruht die Stärke
der Pädagogik des 16. Jahrhunderts. Von der Lektüre läßt sich
weniger sagen. Erst ganz allmählich drang die Erkenntnis vom
wirklichen poetischen Wert der antiken Stücke durch, und langsam
bildete sich durch Nachahmung neues Schaffen.
Coulter verfolgt die Züge in Shakespeares Dramen, die seine
Bekanntschaft mit Plautus beweisen. Sie finden sich besonders in
den früheren Stücken und betreffen die Inszenierung , den Prolog
und Epilog, das Wiederfinden verlorener Kinder, Verwechslungen,
gewisse Charaktertypen, Prügelszenen.
Havet erinnert an eine Stelle in Balzacs M^decin de cam-
pagne, die den an As. 540/2 anklingenden Vergleich des Geliebten
mit einem Lamm enthält, das der Hirt besonders ins Herz ge-
schlossen hat.
Martini stellt fest, daß Lessing, der schon auf der Schule
den Plautus eifi-ig las und ihn den Vater aller Komödienschreiber
nannte, an der Technik der Alten nie ernstlich gerüttelt hat. Wohl
aber ist es eine wesentliche Abweichung vom französischen Brauch,
daß in Minna (Riccaut), Emilia (Orsini) und Nathan (Patriarch) im
vierten Akt stets eine neue, wichtige Person auftritt, die nur an
dieser Stelle erscheint. Diese Episoden gleichen ihrer Stellung uud
ihrem technischen Zwecke nach durchaus denen im vierten Akt des
Trin.j Truc, Merc, Poen., Pseud. und der Most. : Bei Plautus gibt
Jahregbericht über Plautus 1912—1920. 45
die im vierten Akt in die Verwicklung eintretende Person den An-
stoß zur scliließlichen Lösung, indem sie entweder Geheimnisse aus-
plaudert oder andere Personen zu Geständnissen veranlaßt. Zu-
gleich dienen diese Episoden dazu , den vierten Aufzug zu füllen,
dramatiscli zu beleben und komische "Wirkung zu erzielen. Die-
selben Zwecke verfolgt Lessing mit seinen Episoden , nur daß er
viel persönlicher und weniger gleichförmig verfährt.
Denecke weist daraufhin, daß Goethe schon in früher Jugend
den Plautus nachahmte. 1806/7 machte er den Versuch, ihn auf
die "Weimarer Bühne zu bringen. In einem Briefe an Salzmann
vom 6. März 1773 zeigt er, mit welchem Eifer er Lenz' Bearbeitungen
von Asinaria (Väterchen), Aulularia (Aussteuer), Miles (Entführungen),
Truculentus (ßuhlschwester), Curculio (Türkensklavin) verfolgte. Die
Gretchentragödie, die iu die Zeit von 1773/83 fällt, ähnelt in ihrem
äußeren Verlauf den Intrigenstücken des Plautus, und zwar be-
sonders dem Curculio ; auch der Brudersoldat tritt dort am Schlüsse
auf. An den Prolog zum Poenulus klingen die "Worte des Direktors
im Vorspiel zum Faust an.
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren
1919-1922^).
Von
A. Kürfeß in Charlottenburg.
Zum Besten , was über Sallust geschrieben worden ist, gehört
der tiefschürfende Aufsatz der für die Wissenschaft zu früh ver-
storbenen Lotte Alheit. Besondere Hervorhebung verdient die
kritische Handausgabe von Axel W. A h 1 b e r g , die die unzuläng-
liche von H. Jordan ersetzen soll. Die von dem um Sallust hoch-
verdienten Herausgeber Hans Wirz noch in Angriff genommene
') Zum letzten Berichte (1899—1918) ist nachzutragen:
Zu I: *1. Eene de Nack, Les prefaces de Salluste. Revue de Fribourg.
28. Jahrg. (1907), S. 499-. 513.
2. R.Laqueur, Ephoroa. Hermes (1911), S. 347 ff. L. glaubt, Sallust
sei durch die ^TiiSfi^eis des Ephoros, die auf Isokrates zurückgingen,
beeinflußt; daraus erkläre sich auch die Vernachlässigung der Chronologie.
Zu IIa: 3. Rob. Pöhlm an n, Geschichte des antiken Kommunismus und
Sozialismus. Bd. II. München 1903 (S. 479-486).
4. Münzer, Die Todesstrafe politischer Verbrecher in der späteren
röm. Republik. Hermes XXXXVII (1912), S. 161 ff. (zu Cat. 50/51).
*5. Hermann B. G. Speck, Catilina im Drama der Weltliteratur.
Ein Beitrag zur vergleichenden Stoffgeschichte des Römerdramas. Leipzig
1906 (Breslauer Beiträge zur Lit.-Gesch. hg. von Max Koch und G. Sarrazin).
Vgl. J. Ziehen, WS. f. kl. Phil. 1906, S. 1196.
Zu IIb: 6. E. Müller-Graupa, Mapalia. Philol. LXXIII (1914), S. 302 ff.
(zu Jug. 18).
7a). *A. Winkler, La bataille du Muthul. Revue Tunesienne 1907,
S. 493-503.
b) R. O e h 1 e r, Neue Forschungen zur Schlacht am Muthul. Jahresh.
des österr. arch. Inst. XII (1909), S. 327—340.
8. D. Detlefsen, Zu Charisius. Hermes XL (1905), S. 318 f. Da-
nach findet sich Exe. Bobiensia p. 552, 37 ein Sallustzitat (Jug. 89). Das
hat schon Goetz, Ind. lect. len. 1888, IX (vgl. C. Gl. L. VII 260) ver-
bessert, Avie P. Weßner, BuJb. 130 (1908 II, S. 119), gezeigt hat.
Zu III: 9. Pubblicazioni della societa italiana per la ricerca dei
Papiri greci e latiiii in Egitto. Vol. I. Florenz 1912. Dort finden sich
S. 180 f. (Nr. 110) Bruchstücke aus Sali. Cat. 10 und 11 mit darüber-
geschriebenen griechischen Glossen: ühei venalia (10, 4): TTQaatfxa, subegit
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919—1922. 47
11. Auflage der erklärenden Ausgabe hat A. Kurfeß zu Ende
gefuhrt.
Die Echtheit der unter Sallusts Namen erhalteneu Epistulae
ad Caesarem de re publica scheint durch die Dissertation
von Otto Gebhard t und die Klauselmethode Novotnys erwiesen.
Von diesen interessanten Dokumenten liegt jetzt auch eine kritische
Sonderausgabe von A. Kurfeß vor.
Was endlich die Invektive gegen Cicero betrifft, werden
neuerdings immer mehr Stimmen laut , die für die Echtheit ein-
treten, bzw. dafür, daß das Schriftstück, wie Reitzen stein nach-
gewiesen hat, im Jahre 54 verfaßt ist, während Ed. Schwartzens
Piso-Hypothese wohl endgültig aufgegeben ist.
I. Sallusts Leben und Werke.
In erster Linie sei auf den ausführlichen und im ganzen über
das Problem gut orientierenden Artikel „Sallustius" von Funaioli
in Pauly-Wissowas Realencycl. 2. Reihe I, 2 (Sp." 1913— 1955)
[Stuttgart 1920] verwiesen. Gleichzeitig hat der Referent seine
(10,5): xaT7]vayxnafv, in (om. codd.) promptum (ibid.) sv tw nQoyiQwi, pri-
vatim (11, 6): iSitt^ profanaque (ibid.): tu utxoa ifQu. Für die Überlieferung
bietet dieser Papyrus (saec. IV) nichts Wesentliches : er schreibt jmpJice
(11, 6) igitur (ei ora.) milites.
Zu yi : 10. Kurt Lerche, De quippe particula. Bresl. philol. Abh.
41. Heft. Breslau 1910. (Vgl. Schmalz, BphWS 1912, S. 1323).
11. W. Havers, Untersuchungen zur Kasussyntax der indo-
germanischen Sprachen. Straßburg 1911. Sie erstrecken sich auf den
sog. Dat. .sympatheticus, mit dem der Gen. abwechselt. Im Gegensatz
zu Cicero, bei dem dieser Dat. hauptsächlich auf das Pron. der 1. und
2. p. beschränkt ist, halten sich bei Sallust Gen. u. Dat. die Wage
(Anlehnung an archaische Muster): Vgl. W. Kroll, Glotta V, 340 ff
12. Kurt Cybulla, De Rufini Antiochensis commeutariis. Diss.
Königsberg 1907. Nach den Besprechungen von I. K. Wagner, WS. f.
kl. Phil. 1907, 1168 ff., nimmt C. über Pompeius Messalinus mit Unrecht
an, dieser habe einen proprium libellum de Sallustü sermone geschrieben ;
vielmehr sei aus den Worten nunc, si videtur, Sallustianae periodi numeros
inspiciamus (wo Sallustianae betont sei), nur zu schließen, daß Pomp,
vorher eine Stelle aus einem Rhetor analysiert habe und nun, um zu
zeigen, daß die Gesetze der rhythmischen Prosa auch für andere als
rednerische Prosa gelten, eine Stelle aus einem Geschichtsschreiber vor-
genommen habe. Als Beispiel habe ihm der Anfang von Sali. Historien
am nächsten gelegen. Damit falle auch der Hauptgrund für die Identi-
fikation des Pomp. Messalinus mit dem bei Sueton. de gramm. 15 er-
wähnten Lenaeus, dem Freigelassenen des Pompeius.
Vgl. auch S. 49 W. Jaeger und K. Strenger.
48 A. Kurfeß.
„Einleitung" für die 11. Auflage der Jacobs-Wirzischen erklärenden
Ausgabe [s. unten IV 2 b] fertiggestellt. Einen kurzen Überblick
über Sallusts Leben gibt A. Eosenberg, Einleitung und Quellen-
kunde zur römischen Geschichte, Berlin 1921 (S. 173 f.). Auch sei
hier verwiesen auf Franz Kramer, Der lateinische Unterricht,
Berlin 1919 (S. 448-451)'). Über das Nachleben Sallusts gibt
«ine gute Zusammenstellung Schanz, Gesch. d. röm. Lit. IV (Index).
Im einzelnen kommen folgende Schriften in Frage :
1. LotteAlheit, Charakterdarstellung bei Sallust. Neue Jahrb. 43
(1919), S. 17—53.
2. Otto Gebhardt, Sallust als politischer Publizist während des
Bürgerkiieges. Diss. Halle 1920 [vgl. unten VII, 3].
3. K. Münscher, Xenophon in der griechisch-römischen Literatur,
Leipzig 1920 (= Philologus, Suppl. XIII, 2).
4. Ed. Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus' Germania
Leipzig-Berlin 1920.
Nach L. Alheit (1) ist Sallust weniger Historiker als Partei-
schriftsteller, der seine Feder ganz in den Dienst der praktischen
Politik stellt. Er charakterisiert die Menschen als Typ, als An-
gehörige einer Partei. So behandelt die Verfasserin zunächst den
Nobilis, dann den Demokraten. Die Nobilität verfolgt nur egoistische
und parteipolitische Ziele und ist darum vom ethischen Standpunkt
aus zu verwerfen. Im Catiliua führt uns Sallust die verrottete Nobilität
vor Augen, im Jugurtha zeigt er sie auf dem Weg des Verderbens
in den Historien, die übrigens einen ruhigeren Ton zeigen, legt er
die Zerrüttung des Staates durch die Adelsherrschaft klar. Die
Gesellschaft ist schuld an den Fehlern des Individuums, bei dessen
Charakterzeichnung sich im Jugurtha im Vergleich zum Catilina
ein gewaltiger Fortschritt feststellen läßt. A. sucht nun klarzustellen,
wie S. es erreicht, durch Lob und Tadel die Nobiles als staats-
verderblich hinzustellen. Die drei Haupttypen des Nobilis sind
Catilina , die hervorstechendste Hauptfigur der Epoche, die er der
Figur des Sulla nachgebildet hat, der „dämonische" Sulla, dessen
Bedeutung er trotz seines Hasses anerkennt, und Pompejus, ein
Epigone, aber glühend vor Herrschsucht. — Die typische Demokratie
*) Gefreut habe ich mich, bei Ed. Spranger, Humanismus und
Jugendpsychologie, Berlin 1922 (S. 35), zu lesen: „Ich erinnere mich, daß
mir in Obersekunda an Sallust zum erstenmal aufging: das ist ein Mensch.
Von Stund an begann mir das Altertum etwas zu sein. Der Anstoß ging
aber von dem mehr modernen Typus aus."
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919—1922. 49
bildet für Sallust die Verkörperung der Gesellschaft. Im Catilina
ist Cäsar (im Gegensatz zu Cato) der Hort der Freiheit und des
Volkes; den Höhepunkt des Jugurtha bildet die Persönlichkeit des
Marius, der glänzendste Typ der Demokratie ; in den Historien war
Sertorius als möglichst tadelloser Charakter geschildert. Diese partei-
politische Einstellung hinderte den Sallust, ein großer Historiker zu
sein, ein großer Künstler war er doch.
Gebhardt (2) zeigt im Schlußkapitel, daß Sallust auch in
seinen historischen Monographien Tendenzschriftsteller geblieben ist.
Er wollte in seinen Geschichtswerken keineswegs bloß sagen, „wie
es eigentlich gewesen sei"; er wollte vielmehr auf seine Zeit politisch
wirken (ähnliph wie Heinrich v. Treitschke). „Sallust hatte sich
dem Eroberer Galliens aus reinem Egoismus angeschlossen, geradeso
wie Curio. Beide sind an dieser Allianz zugrunde gegangen. Curio
fiel als tapferer Offizier auf dem Schlachtfeld; Sallust erlebte vor
Gericht seinen politischen Bankrott. Aber dieser Zusammenbruch
vermochte den Kampfesmut des genialen Taugenichts nicht zu dämpfen.
Er vertauschte nur das parlamentarische Schlachtfeld mit dem der
politisch-historischen Publizistik. Die politische Leidenschaft ist ihm
bis zu seinem Tode treu geblieben ; sie ist es auch, die, unterstützt
von packender Darstellungskraft , den Leser seiner Schriften noch
heute in seinen Bann zwingt."
Was nun Sallusts Vo rbild er anlangt, so weist Münscher (3)
drei Stellen aus Xenaphon nach. Cat. 13, 3 == Mem. II 1, 30,
Jug. 107, 1 = Cyrup. III 3 , 45 , Jug. 10, 4 = Cyrup. VIII 7,
13 — 14. — Auf das Verhältnis des Sallust zu Poseidonios kommt
Norden (4) S. 145 ^ zu sprechen : „Auf die reflexionsmäßige Haltung
der Proömien — ■ von , Philosophie' zu reden , wäre doch eine zu
große Ehre — ist in diesem Sinne oft hingewiesen worden, zuletzt
wohl von W. Jäger, Nemesios v. Emesa (Berlin 1914) 130 f. Eine
bisher meines Wissens übersehene wichtige Ergänzung bietet ein
Vergleich des langen Exkurses de moribus mutatis Cat. 5, 9 — c. 13
mit dem großen Proömium, mit dem Poseidonios die Erzählung de»
Marsischen Krieges einleitete (bei Diodor XXXVII 3) ; die Kongruenz
der Betrachtungsweise ist hier besonders augenfällig." Dagegen
erscheint Norden die Benutzung des Poseidonios für die Geschichts-
erzählung im Jugurtha nicht erweisbar trotz der auffallenden Kon-
gruenz zwischen Strabo XVII 831 (= Poseid.) i^v ös 7] TtQcg rfj
MavQovaiq (xaiQu) TtQoooöixtüttQa re xal 6vvaixL/.o)i;iQa und Sali.
Jug. 16, 5 quae pars Numidiae Mauretaniam atlmgit agro virisque
opulentior [K. Strenger, Strabos Erdkunde von Libyen (Berlin 1913),
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1022. II). 4
50 A- Kurfeß.
S. 12]. Jedenfalls geht der ethnograpliisclie Exkurs Jug. 17 ff.
nicht auf Poseidonios zurück. — Auch auf das Nachleben Sallusts
kommt Norden a. a. 0., S. 411^ und 471 zu sprechen. Prokopios
hat schwerlich von dem berühmten Exkiirs über den Pontos im
III. Buch der Historien Kenntnis gehabt. Sein Zeitgenosse Laurentius
Lydus (de mag. prooem. p. 1, 15 III p. 93, 22 Wünsch) verdankt
sein Zitat aus dem I. Buch der Hist. den Vergilscholien. „Wo spätere
lat. Autoren Geographisches über den Pontus berühren, ptiegen sie
ihre Kenntnis dem Exkurs im III. Buch der Hist. zu verdanken.
Da nun von 19 uns erhaltenen Fragmenten dieses Exkurses nicht
weniger als 10 dem Servius verdankt werden , so wird die Ver-
mutung, daß er ihm auch seine Kenntnis der pontischen Hercules-
säuk'u entnahm (zu Aen. XI 262) , um so mehr erlaubt sein, als
Sallust in dem Exkurse über Sardinien in B. II auf die Wanderungen
des Hercules im Westen zu sprechen kam , wobei er auch die
spanischen „Säulen" erwähnt haben muß (vgl. fr. 4, 5 Maur.).
Interessant ist es auch, zu sehen, wie Sallusts historische Er-
kenntnis fortschreitet. Vgl. Th. Birt, BphWS. 1920, S. 670, Anm. 9 :
.,Bei Sali. Jug. 114 sind die Cimbern und Teutonen noch Galli;
die Historien schrieb er später, und da erscheinen die Germanen.
Die Unterscheidung, die Cäsar in seinem VI. Buch vollzog , setzte
sich eben nicht gleich durch ; erst in Anlaß des Sklavenkrieges gab
Sallust ihr Folge."
II. Die eiuzelnen Schriften.
a) Coniuratio Catiliuae.
1. A. Rosenberg, Einleitung und Quellenkunde zur römischen
Geschichte. Berlin 1921 (56. C. Sallustius Crispus: Bellum
Catilinarium, S. 174 — 177).
2. 0. Gebhardt, Diss. Halle 1920 [S. YII, 3].
3. W. Drumann, Geschichte Koms in seinem Übergange von der
republikanischen zur monarchischen Verfassung. 2. Aufl. hg. von
P. Groebe. 5. Bd.: Pomponii, Porcii, Tulli. 3. Teil (Schluß
des Bandes). Leipzig 1919.
4. F. ilünzer, Komische Adelsparteien und Adelsfamilien. Stutt-
gart 1920.
Kosenberg (1) läßt Sallust die Aufgabe übernehmen, der
Wirkung der nach Ciceros Tode im Jahre 42 herausgegebenen
Schrift de consiUis, in der Cäsar rücksichtslos als Anstifter der
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919—1922. 51
Catilinarischen Verschwörung bezeichnet war , kraftvoll entgegen-
zutreten. Dieser tat das nicht in der Form des schlichten commcnta-
rius , sondern schuf ein voraussetzungsloses Kunstwerk, als ob der
Stoff nur künstlerisches und ethisches Interesse hätte. „So trägt
das Bellum Catilinarium seinen merkwürdigen Zwittercharakter
zwischen Geschichtswerk und politischer Broschüre. Mit der letzteren
hat es den kleinen Umfang gemein sowie die schlichte Erzählung
der Tatsachen ; die dramatische Ausmalung der Einzelszenen, wie
sie der künstlerischen hellenistischen Geschichtschreibung eigen war,
fehlt durchaus. Dagegen mahnt an ein Geschichtswerk die kunst-
volle, durch alle Effekte eines vollendeten Redners gehobene Sprache
sowie die Einlegung von Reden und Charakteristiken der Haupt-
personen. Seine stilistischen Muster suchte Sallust in Thukydides
und Cato, aber von den jüngeren römischen Historikern hat er sich,
wie es scheint, keinem so verwandt gefühlt wie dem Fannius. Mit
ihm trifft er zusammen in der durchaus politischen Färbung der
Darstellung, die bei beiden sich gegen die Nobilität richtete, ferner
in der Aufnahme großer Parteireden und eindringlicher Charakte-
ristiken. Es scheint sogar, daß auch Fannius seinem "Werke ein
Proömium allgemeinen, philosophischen Inhalts vorausgeschickt hat,
so wie es Sallust zu tun pflegt. — Eine ,catilinarische Verschwörung'
im gewöhnlichen Sinne des Wortes hat es rjie gegeben. Tatsächlich
war Catilina in den Jahren 63 — QQ nur ein Gehilfe der Popular-
partei und ihrer Führer Cäsar-Crassus im Kampf gegen die Optimaten
und Pompejus. Indessen hatte Cicero in seinen , Catilinarischen
Reden' eine andere Auffassung vertreten. Er kämpft äußerlich nur
gegen Catilina und dessen Sozialrevolutionäre Freunde . . . Zweitens
hatte Cicero in einer Taktik, die dem Parteikampf aller Zeiten eigen
ist, den Gegensatz vom politischen auf das moralische Gebiet hinüber-
gespielt und seine Gegner als Lumpen und Verbrecher schlimmster
Art hingestellt. Dagegen in der Schrift de consilUs brauchte Cicero
keine Rücksicht zu üben . . . Sallust appelliert nun gewissermaßen
von dem Cicero der ,con8ilia' an den Cicero der , Catilinarischen
Reden' . . . Im ganzen genommen ist freilich das , Bellum Cati-
linarium' eine wenig erfreuliche Arbeit ; denn Sallust hat hier mit
vollem Bewußtsein die Geschichte der Jahre 64 und 63 verfälscht
und aus Catilina einen Romanhelden gemacht."
Gebhardt (2) glaubt (S. 19 f.), Sallust habe sich für die
Augriffe Ciceros, der sich auch in dem Sensatiousprozeß, der nach
Ablauf seiner Statthalterschaft in Afrika gegen Sallust angestrengt
wurde, als Redner beteiligt habe, in feiner, geistvoller Weise , die
4 *
52 A. Kurfeß.
alle plumpen Sclimähungen geschickt gemieden habe, gerächt: „im
Catilina. der Anklageschrift gegen die verrottete Nobilität, die ihn
gestürzt hatte. In der Darstellung des Anarchistenputsches der
sechziger Jahre billigte er dem Konsul des Jahres 63 v, Chr., dem
die Aufdeckung und Unterdrückung jener Verschwörung der Stolz
seines ganzen Lebens war und blieb, nur eine kümmerliche Statisten-
rolle zu und umgab auf dem Höhepunkt der Catilinatragödie, in
der Seuatssitzung vom 5. Dez., den strengen Moralisten Cato, der
nur designierter Volkstribun war, mit allem Glanz des Siegers, der
die Mehrheit des Senates durch seine Rede, die über die Ver-
schworenen das Todesurteil aussprach, mit sich fortriß. Aus Ciceros
eigenen Briefen wissen wir, wie bitter er eine Schmälerung seiner
Verdienste, die ihm den Ehrentitel , Vater des Vaterlandes' ein-
gebracht hatten, gerade in diesem Punkte empfand. So sprach er
Atttikus unverhohlen seine Entrüstung aus , daß Brutus in seiner
Lobschrift auf Cato ihm , dem Helden des 5. Dezember, nur die
dürftige Rolle eines Berichterstatters und willenlosen Gefolgsmannes
Catos zuerkannt hatte. Cic. ad Att. XH 21, 1 (17. März 45 v. Chr.)
mc autem hie laudat, quod rettulcrim, non quod patefecerim, Worte, die
Saliust boshaft in seine Darstellung übernimmt: Cat. 50, 3 consiil . . .
conrocato senatu refert , quid de eis fieri placeat. Brutus hatte dem
Retter des Vaterlandes nur das Lob ,optimus consul' zugebilligt,
und Saliust hatte nichts Eiligeres zu tun, als seinen Feind gleich-
falls mit diesem nichtssagenden Prädikat in seiner Darstellung zu
beehren: Cat. 43, 1 belUque gravissunii invidiam optumo consiili
imponeret. Das alles spricht dafür, daß Saliust einen Lebenden,
keinen Toten damit treffen wollte ; er konnte von Ciceros Unwillen
über die Herabsetzung seiner Verdienste durch Brutus bei dem
Mitteilungsbedürfnis des Redners gegenüber andern wissen. Dann
wäre der ,Catilina' noch zu Lebzeiten Ciceros, etwa im
Jahre 43 v. Chr., als dieser als Vorkämpfer der Nobilität auf dem
Höhepunkt seiner Macht stand, nicht erst nach seinem Tode er-
schienen."
Drumann-Groebe (3) suchen auf S. 517 ff. auf Grund des
gesamten historischen Materials eine ausführliche Darstellung der
Verhandlungen im Senat am 5. Dez. 63 zu geben. Über Cäsars
Gutachten S. 520 ff., über Catos Gutachten S. 533 ff.
Münz er (4) schließt sich S. 272 f. der Ansicht von Ed. Schwartz
(Hermes 32, 564. 570) an, daß Saliust in Sempronia den Sohn,
den Cäsarmörder Dec. Brutus, den die Getreuen Cäsars als Verräter
am bittersten haßten, habe treffen wollen, und vermutet, daß diese
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919—1922. gg
Frau „von holiem Adel und hohem Reiz, von feinster Bildung und
glänzendster Begabung, von kühnem Ehrgeiz und zügelloser Leiden-
schaft" das Kind der alten Stiefschwester ihres Mannes gewesen sei,
d. h. „die echte und rechte Tochter eines Vaters, dessen Cicero und
seine Altersgenossen mit einer Mischung von Ehrfurcht und Schauder
gedachten, des großen Tribunen G. Gracchus. In Geist und Wesen
war jedenfalls die Sempronia Sallusts diesem größten Träger des
Semproniernamens nicht unähnlich". — (S. 349.) Silanus mußte
sich in der Senatssitzung vom 5. Dez. 63, in der er als designierter
Konsul, zuerst um seine Meinung gefragt, die Todesstrafe für die
Catilinarier beantragt hatte, als er unter dem Eindruck von Cäsars
Ausführungen den Antrag mit einer gewundenen Erklärung zurückzog,
von seinem Schwager Cato eine scharfe öffentliche Zurechtweisung
gefallen lassen, die allerdings Sallust in seiner Rede (Cat. 51) ge-
strichen hat (doch vgl. Plut. Cat. min. 23, 1). ^)
b) Bellum Jugurthinum.
Nach A. Rosenberg (a.a,0., S. 177— 179, § 57: C. Sallustius
Crispus: Bellum Jugurthinum) ist auch diese Schrift eine „Tendenz-
arbeit, die die Unfähigkeit des Nobiles, den Staat zu regieren, zeigen
soll. Auf der anderen Seite konnte in C. Marius ein Heros der
Popularpartei gefeiert werden . . . Weil Sallust selbst Politiker durch
und durch war, konnte er der größte politische Historiker werden,
den Rom hervorgebracht hat. Die Darstellung ist zwar einseitig
nach dem Parteistandpunkt des Verfassers orientiert, aber Geschichts-
fälschungen wie im ,Catilina' sind hier nicht nachgewiesen". [Doch
sind die Ereignisse in tendenziöser Absicht stilisiert; vgl. die Diss.
von C. Lauckner, Leipzig 1911 (Jb. 1920, II, S. 140 ff.), die
merkwürdigerweise Rosenberg nicht zitiert]. Für die Urgeschichte
Libyens hat Sallust eine punische Schrift benutzt, die er während
seines dienstlichen Aufenthaltes iu Afrika sich hat übersetzen lassen.
Mit Recht weist R. die Historien des Sisenna als Quelle des b. J.
^) Vgl. auch W. iSchönbrunn, Erziehung zum kritischen Denken
bei der Lektüre lat. Klassiker (Cic. I. Catil.). Berlin 1921. — Durch die
Lektüre Sallusts erhalten wir das Bild eines sehr nervösen und reizbaren
aber außerordentlich stark empfindenden Menschen ; Catilina ist ein Idealist
und Schwarmgeist, der sich zur Rettung und Befreiung des geknechteten
Volkes berufen fühlte. Seh. zeigt nun, wie es dem „Streber" Cicero ge-
lungen ist, „diesen Schwärmer zum größten Schweinehund und Verbrecher
zu stempeln, zum Vaterlandsverräter, zum sinnlosen Mörder und Mord-
brenner, zum schamlosen Räuber und Totschläger".
54 A. Kurfeß
zurück; die polemischen Worte (c. 95) bezielieu sich nur auf Siseunas
Äußerungen über die Persönlichkeit Sullas.
c) Historiae.
A. Rosenberg, a. a. 0., S. 179 — 181: „Sallust ist allmählich
vom Parteijournalisten zum wirklichen Geschichtschreiber empor-
gestiegen . . . Daß die Historien gar keine politische Tendenz
haben sollen, ist bei dem Charakter ihres Verfassers gerade nicht
anzunehmen. Zunächst wurden wieder die Fehler der Nobilität ge-
geißelt. Sodann war das Buch ein Protest gegen den pompeianischen
Gedanken . . . Sallust suchte zu zeigen, daß der alte Pompejus
weder ein ,großer' noch ein sympathischer Mann gewesen ist. In
Spanien habe er trotz aller Anstrengungen den wirklichen Helden
Sertorius nicht überwinden können , und die Hauptarbeit gegen
Mithradates habe Lucullus geleistet, den nur die Intrigen seiner
Feinde um die Frucht seiner Siege gebracht hätten. Pompejus habe
nur in maßloser Eitelkeit seine eigene Persönlichkeit überschätzt
und durch Reuommierberichte den Senat zu täuschen gesucht ; einen
solchen Mann als ,römischen Alexander' hinzustellen, sei geradezu
lächerlich." — Über den Vorkämpfer der Popularpartei und Historiker
C. Licinius Macer vgl. Rosenb erg, a. a. 0., S. 136 f. — über
Lepidus und seine Rede vgl. Münzer, a. a. 0., S. 311.
III. Überlieferung.
A. Kurfeß, Zu Sallust III. BphWS. 1920, S. 1172 ff. gibt
die "^Lesarten eines alten Leipziger Druckes' der orationes et €i)htolae.
auf den L. Lange (Leipz. Stud. 2 [1879] S. 290) aufmerksam machte,
ohne eine Kollation mitzuteilen. Es ist die einzige Sonderausgabe,
die wir haben; Jahr und Druckort sind nicht beigefügt. Die Les-
arten schließen sich eng an die Editio princeps (Rom 1475) an.
Archaische Formen sind nur überliefert: (Ahlberg 1919), p. 149, 20
pessumc, 152, 21 novos, 156, 2 advorsa, 157, 38 quamvis (= quom
vis), besonders auffallend p. 153, 1 und 155, 2 queis. 153, 11 findet
sich bereits die Verbesserung sum^Hmim [sumptiim V).
* B. L. U lim an, The Vatican Manuskript of Caesar, Plinius
and Sallust and the Library of Corbie. (Reprinted fr. Philol.
Quaterly I, [1922], S. 17—21.)
IV. Ausgaben.
1. C. Sallusti Crispi Catilina, Jugurtha, orationes et epistulae ex-
cerptae de Historiis. Recognovit Axel W. A h 1 b e r g. Leipzig
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919 — 1922. 55
1919 (Teubner). [Vgl. A. Klotz, BphWS. 1919, S. 1204 bis
1210; A. Kur faß, Sokrates 1920, S. 318—320].
2 a. C. Sallusti Crispi de bello Jugurthino liber. Erklärt von
Rudolf Jacobs, 11. verb. Aufl. von Hans Wirz [bg.
von A. Kurfeß]. Berlin 1922.
2 b. C. Sallusti Crispi de coniuratione Catilinae liber, orationes et
epistulae ex Historiis excerptae. Erklärt von Rudolf Jacobs,
11., z. T. veränderte und verb. Aufl. von Hans Wirz und
A. Kurfeß. Berlin 1922 (Weidm.).
3 a. C. Sallusti Crispi bellum Catilinae. Nach Text und Kommentar
getrennte Ausgabe für den Schulgebrauch von J. H. Schmalz.
10. Aufl. (Bibl. Gothana). Gotha 1919.
3 b. C. Sallusti Crispi de bello Jugurthino liber. Von demselben.
10. Aufl. Ebd. 1920.
4 a. Des C. Sallustius Crispus bellum Catilinae. Herausgegeben
von Carl Stegmann. Text. 5. Aufl. Leipzig und Berlin
1920 (B. G. Teubners Schülerausgaben).
4 b. Des C. Sallustius Crispus bellum Jurgurthinum. Herausgegeben
von demselben. 4. Aufl. Ebd. 1920.
*5. Sallust. With an English translation by F. C. Rolfe. London-
NewYork (Loeb Classical library) [Vgl. Class. Review XXXV
(1921), S. 79].
*6. C. Sallustio Crispo. La congiura di Catilina commentato da
G. B. Cammozzi (Nuova collezione di classici latini commentati
ed illustrati ad uso delle scuole. Firenze 1918. [Vgl. Boll.
di Eil. cl. XXVII (1920/1921), S. 45 f.]
Ahlbergs Teubnerausgabe (1) ist eine bequeme Handausgabe,
die in knapper Form, doch in zuverlässiger Weise über die Über-
lieferung (auch die indirekte) Auskunft gibt. Im Vergleich zur
großen Ausgabe ist die Zahl der im Apparat vermerkten Hss etwas
kleiner; zum Teil ist auch eine andere Bezeichnung gewählt, so
A statt P^, C statt P-. M statt üf^, so daß sich jetzt das Stemma
folgendermaßen darstellt (vgl. Jb. 1920 II, S. 158):
H MTDF
56 A. Kurfeß.
Die Abweichungen der Lesarten von denen der Editio Upsaliensis
sind nicht wenige (vgl. meine ob. a. Besprechung). Neu hinzu-
gekommen sind die ''orationes et epistulae excerptae de Historiis'.
Während Maurenbrecher durchweg die modernen Formen einsetzte,
verfällt Ahlberg ins andere Extrem und setzt überall die archaischen
Formen ein. Im ganzen ist die Ahlbergsche Ausgabe verlälJlicher
als die von Maurenbrecher ^). Or. Phil 19 schrieb Maur. mit einer
Hs des Nonius ohrepsit, Ahlberg wieder mit den Sall.-Hss oppressit.
Als Druckfehler blieb bei Ahlberg, p. 150, 32 honis (statt honiis)
stehen. Ep. Mithr. 7 (p. 160, 7) war Eumenen (statt Eumenem) zu
schreiben (vgl. vier Zeilen vorher oben Fersen). P. 151, 23 hätte
im Apparat angemerkt werden können {pleheiy trih. pot. Prise,
gramm, I 243. Or. Lep. 17 (p. 147, 30) halte ich da,s üherl. parata
für möglich (vgl. Jug. 31, 17). Ep. Pomp. 9 (p. 155, 23) liest
Ahlberg sumptui onerique sunt; das geht nicht an: entweder ist
sumptui onerique (V) zu lesen oder sumptui aerique sunt (A); das
letztere ist erlesener. Or. Macri eb (p. 159, 5) setzt Ahlberg vor
quia (scilicct') mit Servius ein ; ich halte die Stelle ohne das ironische
scilicet^ das dem ernsten Macer (im Gegensatz zu Lepidus) wenig
liegt, für wirksamer.
Das bellum Jugurthinum hat Wirz (2) noch druckreif hinter-
lassen ; der Kenner wird viele feine Bemerkungen darin finden.
Keine Seite ist unverändert geblieben. Von 134 ist die Schrift auf
150 Seiten angewachsen. Der Eef. hat nur die Abweichungen von
der Ahlbergschen Ausgabe (1915) am Schluß verzeichnet, desgl.
einige neue Literatur im Anhang nachgetragen. Vom Catilina sind
die ersten 20 Kapitel noch in Wirz bearbeitet; außerdem finden
sich im Nachlaß zahlreiche Bemerkungen zu or. Lep. und Phil., die
am stärksten iimgearbeitet wurden. Im übrigen wurde die neuere
Literatur der letzten 25 Jahre sorgsam benutzt. Die Einleitung ist
neu geschrieben.
Die Ausgabe von Schmalz (3) ist ein unveränderter Abdruck
der 9. Aufl. Die Schulausgabe von Stegmann (4) legt bereits
die Ausgabe von Ahlberg (1919) dem Text zugrunde; an zirka 35
^) Durch Vergleich der beiden Ausgaben haben sich bei Mauren-
brecher folgeude Versehen herausgestellt: or. Lep. (I 55) 9 sceleris (statt
scelerum) et eontumeliarum [omyiium om. Mb.] finis est. Quorum [adeo om.
Mb.] Sullam etc. ; 21 bonorum (statt horwrum) or. Cott. (II 47) 5 fama et
fortuna (statt fortunis); cp. Pomp. (II 98) 2 vicem me (statt ine vicem\ 10 trans-
(jradientur (statt iransgeäientur); or. Macr. (III 48) 15 tolerate (statt toleratis)
ep. Mithr. (IV 69) 2 liceret (statt licet).
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919—1922. 57
bzw. 50 Stellen ist der Text geändert. Vielfachen Wünschen ent-
sprechend, ist jetzt die Einleitung dem Text vorangestellt.
V. Erklärimg einzelner Stellen (Textkritik).
[Einige Stellen sind auch unter YI (Sprachliches) behandelt.]
Von vielen Seiten in Angriff genommen wurde Jug. 38, 10
quia mortis metu mutabantur. A. Kunze (BphWS. 1919, S. 140
bis 144) rollt das ganze bis dahin bekannte Material auf; er ändert
mortis metu movehantur. F. Krohn (ebd. S. 501) schlägt vor:
iugulubantur, M. Wallies (ebd. S. 983) motahantur. Im Gegensatz
dazu erklärt A. Kurfeß (ebd. S. 983) mit J. Fuchs, ohne den
Text zu ändern: „Die drückenden und schmachvollen Bedingungen
erfuhren durch die Todesfurcht in den Augen der Römer eine
wesentliche Änderung, sie erschienen in milderem Lichte." Unab-
hängig davon kam W. A. Baehrens zu derselben Auffassung.
A. Schöne endlich (ebd. 1920, S. 862 — 64) vermutet: guia atro-
cissima metuebantur [vgl. auch A. Klotz, ebd. 1919, S. 1205],
Einige Vermutungen von Hans Wirz (erkl. Ausg. des bell.
Jug., 11. Aufl. 1922, Anhang S. 153 — 156) verdienen Erwähnung.
Jug. 16, 3 verteidigt er mit den Hss m amicis (statt des bisher üb-
lichen in inimicis), 52, 2 nam (pro) Metello virtus militum erat, 110, 5
{alii) a jjueritia . , . habuisse, 114, 1 Cn. Mällio. — Kurfeß liest
(ebd.) Cat. 35, 5 sicvti esset effcta partu.
L. Vallmazzi, Appuntil (Boll. di filol. class. 27 [1920], S. 13)
hält die bisher übliche Interpretation von Cat. 12, 2 pudorem pudi-
dtiam, divina atque humana promiscua habere 'non fare distinzione
tra pudore e pudicizia', vielmehr ist promiscuus im Sinn von com-
munis 'gewöhnlich' zu fassen: vgl. Tac. Ann. XI 25, 18 promiscum
patris patriae cognomenium, Germ. 5 Schi. pro wiscwa etvilia mercantibus
[vgl. dazu Gudeman 1916; schon Wirz^^ 1894 faßte es im Sinne
von vilia u. verglich or. Cottae 3].
*E. Bolaffi, Note a Sallustio [Cat. 19, 1; 35, 5; Jug. 42, 3]
Kivista indo-greco-italica di filologia, lingua, antichitä IV (1/2).
VI. Si)racliliclies.
1. F. Härder, Zu der Mischkonstruktion. Glotta X (1919) S. 141.
2. K. Löechhorn, Kleine grammatische und kritische Bemerkungen
zu Sallust. BphWS. 1919, S. 45—48.
3. A. Kunze, Zu Sallust. BphWS. 1919, S. 860—864.
58 A. Kurfeß.
4. A. Kurfeß, Zu Sallust I. II. BpliWS. 1919, S. 692—694,
959—960.
5. A. W. de G r o o t , De numero oratorio Latino. Diss. Groningen
1919. [Vgl. G. Ammon, BphWS. 1920, S. 244 ff.]
6. A. Re inert. Zum kritischen Infinitiv im Lateinischen. Wiener
Blätter I 3 (1922), S. 20—22.
Härder (1) vergleicht zur Konstruktion nach Art von metus,
maeror — pars dole^^e, pars timere Sali. Jug. 39, 1; 21, 4; Cat. 6, 1
(ab — ba). Die logische Anordnung der Gedanken ist aufgegeben
und wird freier und willkürlicher angeführt (ab — Chiasmus). Noch
künstlicher Cat. 3, 3:abc — acb; 14, 2 a (= aa) b — b(/3/?)a. —
Löschhorn (2) rennt offene Türen ein, indem er daraufhin-
weist , daß Sallust nach quippe qui stets den Indikativ setzt und
quippe häufig im Sinne von „nämlich" gebraucht, ebenso, daß Sallust
statt loca im Jug. öfter locos setzt. Ferner glaubt er, es entspreche
nicht sallustischem Sprachgebrauch dehinc in der Aufzählung zu ge-
brauchen, darum sei Cat. 3, 2 deinde zu lesen. Endlich sei nach
der Schreibweise Sallusts die für diei zu lesen (Jug. 21, 2). Die
übrigen kritischen Anmerkungen gibt er — man staune — zur
erkl. Ausgabe von Jacobs, 3. Aufl. 1858!! — Mit Eecht wendet
sich A. Kunze (3), der Herausgeber des Lexicon Sallustianum, gegen
diese unzulänglichen Ausführungen und ergänzt die Ausführungen
über quippe, locos statt loca auf Grund des ihm zu Gebote stehenden
vollständigen Materials, wendet sich mit Kecht gegen die Uniformierung
der Formen wie die] auch dehinc, glaubt er mit Karl Nipperdey,
dürfe, obwohl es höchst aulfällig in der Aufzählung sei, gegen alle
Hss nicht geändert werden. — Kurfeß (4) faßt Cat. 37, 5 das
überlieferte alii qui jetzt im Sinne von aV^i ziveg und vgl. Jug. 45, 2
aut quem alium cibum {ij tiva alXov ohov^ Jug. 17, 6 haud saepe
quem (Fronto) [vgl. bes. or. Macri 15 aut alium quem deum]. Schon
Jb. des Phil. Ver. (Sokrates 1916) S. 205 las er Jug. 3, 1 mit den
führenden Hss quibus per fraudem iis fuit uü und faßte esse im Sinne
der griecli. l'oTi (licet). Daß diese Auflassung für Sallust möglich
ist, bestätigt A. Kunze, BphWS. 1919, S. 622 mit dem Hinweis
auf Hist. II 77 culus erat de nomine exaudiri sonores. Endlich macht
K. darauf aufmerksam, daß der Wechsel zwischen Praes. und Perf.
hist. bei Sallust nicht Avillkürlich ist; Jug. 104, 1 ist rediit (nicht j
redit) zu lesen; Cat. 70, 1 schreibt Ahlberg mit Recht secedit (Jordan
secessit). Im zweiten Aufsatz behandelt K. die Cons. temp., beim]
Praes. hist. Jug. 103, 3 glaubte Tosatto placeat in placeret ändernj
Bericht über die Literatur zu Sallust aus deu Jahren 1919 — 1922. 59
zu müssen ; K. hält an der Überlieferung fest, delegit ist nicht Perf.,
sondern Praes. [Diese Stelle hatte schon A. Kunze Sallustiana IUI
(1897), S. 27 und 28 ausführlich besprochen]. Darnach ist endlich
Jug. 75, 5 mit Gruter pro esfo forent zn schreiben. — Nach Grroot (5)
vertreten Sallust und Livius im Gegensatz zu Cicero den echten
lateinischen Rhythmus; nach der Silbengruppierung kann man diese
beiden geradezu als metrische Prosaiker bezeichnen. Sie bevorzugen
Zäsuren wie urhibus essent - ~w | - — , meiden esse liceret, wodurch der
Versausgang ohrenfälliger wird. — Reinert (6) greift vier Bei-
spiele aus Sallust heraus (Cat. 6, 3 f., 13, 3; 31, 2. Jug. 39, 1),
die dadurch bemerkenswert sind, daß mehreren erzählenden Infinitiven
ein Substantiv vorausgeht, das einen Erregungszustand bezeichnet.
Am bedeutungsvollsten aber ist die Verwendung des Inf. bist, in der
Charakteristik Caesars (Cat. 54, 4) und Sullas (Jug. 96, 2). Daraus
schließt er: „Für die antiken (und auch modernen) Schriftsteller ist
der Infinitiv in der Form des Selbstbefehls ohne Bezeichnung der
Person der gegebene Ausdruck für lebhafte Darstellung seelischer
Vorgänge".
Von A. Kunze, Sallustiana II (Leipzig 1893) ist demnächst,
wie mir der Verf. in liebenswürdiger Weise mitteilt, ein anastatischer
Neudruck zu erwarten. [Vgl. hierüber Schlee, Jb. d. Phil.-Ver-
zu Berlin 1895, S. 110 fi".]
VII. Die strittigen Sallustiana.
1. Jos. Kiek, Symbuleutici qui dicitur sermonis historia critica
per quattuor saecula continuata. (Rhet. Stud. hg. v. Drerup.
8. Heft) Paderborn 1919. [Vgl. F. Levy, BphWS. 1920,
S. 577 fi'.]
2. F. Novotny, Nova klausulova methoda a pochybna Sallustiana.
Listy filol. XLV (1918), p. 257—264.
3. 0. Gebhardt, Sallust als politischer Publizist während des
Bürgerkrieges. Zwei offene Briefe an Cäsar. Diss. Halle 1920.
4. F. Levy, Sallust ad Caesarem H 13. BphWS. 1920, S. 1198 f.
5. C. Sallusti Crispi ad Caesarem senem de re publica epistulae.
Recensuit A. Kurfeß. Leipzig 1921. [Vgl. A.Klotz, Lit.-
Z.-Bl. 1921, S. 421; F. Levy, Phil. WS. 1921, S. 945ff.]
6. A. Kurfeß, Zu Sallust IV. Phil. WS. 1921, S. 527.
7. A. Kurfeß, Zur Frage der Echtheit der Epistulae ad Caesarum
senem de re publica. Phil. WS. 1922, S. 165 f.
60 A. Kurfeß.
8. A. Kurfeß, Die luvektive gegen Cicero, ein eclites Stück
Sallust. Jaliresb. des Phil, Vereins zu Berlin 48 (1922), S. 66 £F.
9. A. Kurfeß, Zu Sali. inv. in Cic. Phil. WS. 1922. [Erscheint
demnächst.]
10. A. Kurfeß, Zu Ps.-Cic. inv. in Sali. 7, 19. BphWS. 1920,
S. 168.
Kiek (1) analysiert p. 106 — 113 ('De Sallustii qui ad Caesarem
seuem inscribuntur symbuleuticis') die 'oratio' und 'epistula' und
findet zwar ähnliche Gedanken in beiden, doch verschiedene neqi-
Gtaaig. Im Anschluß an K. Pöhlmann [das Buch von Ed. Meyer
hat er noch nicht benutzt] tritt er für die Autorschaft Sallusts ein
(S. 112 f.): „Adeo autem inter se similes sunt symbuleutici Sallustio
tributi , ut aut unius auctoris opera eos dicas aut auctorem, qui
alterum couscripsit, priorem imitatum esse sumas. Si vero eum, qui
symbuleuticum alterum scripsit, alterius exemplum secutum esse
ponimus , fieri non potest, quin praeclari alicuius scriptoris hoc
exemplum fuisse censeamus, quoniam utrumque scriptum rhetorum
commentum putare mihi quidem absurdum esse videtur. Cuiuslibet
enim rhetoris opus vix imitatus esset alter. Ego tarnen unius viri
esse scripta putare malim , et quamquam Sallustium auctorem esse
certissimis argumentis comprobari posse vix confido , tamen veri
simillimum duco illius esse scripta . . . Symbuleutici autem speciem
utramque scriptum totam praebet : ostendunt prooemium symbuleutico
accomodatum, consilium Universum, praecepta singula cum admonitione
et dehortatione coniuncta , exemplorum usum , cohortationem. De
negotiis autem veris imprimis est consilium, ita ut scripta symbuleu-
ticis deliberativis, non suasionibus iure subiciamus.
Mit Benutzung der in der BphWS. 1917, 217 ff. dargestellten
Methode weist Novotny (2) als charakteristischen Unterschied
zwischen Sallusts und Ciceros Stil das Verhältnis zur daktylischen
Silbenfolge in der Klausel nach : bei Cicero wird diese gemieden,
bei Sallust gesucht; dagegen die Verbindungen .. -v^, — ^ oder
. . . — ^, '^^ — Kj, die bei Cicero einen hohen Klauselwert haben, er-
scheinen als Klauseln bei Sallust relativ selten. Die so gefundenen
Kriterien des sallustianischen Stils, verglichen mit Ergebnissen der
analogen Analyse der drei strittigen Stücke, zeigen bestimmte Ver-
wandtschaft des Stiles der beiden Suasorien mit dem echten Sallust ;
das Material der Invektive ist zwar gering, aber auch so kann man
wenigstens sagen, daß es keine positiven Merkmale des sallustianischen
Stiles enthält.
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919 — 1922. 61
Gebhardt (3) fügt dem bereits von Ed. Norden [bei Ed.
Meyer, Cäsars Monarchie etc., S. 582, 2] beigebrachten Zeugnis
Gell. XVn 18, wo die seria et severa oratio Sallusts nur die Schrift
vom J. 46 gemeint sein kann, die das ganze Altertum als „Rede''
galt, ein bisher noch nicht verwertetes Zeugnis bei Cassius Dio
XLIII 9, 2 bei ; die Worte xoiavTa GvyyQccfifxata (plur. !) avyyqäxpag
können nach dem Zusammenhang nur auf die beiden politischen
Broschüren vom J. 49 und 46 gehen. Die zweite, zeitlich frühere
Schrift, die als „Brief" hinter der „Rede" steht gemäß der sonstigen
Anordnung der Reden und Briefe aus den Historien, läßt sich noch
näher datieren: 21. — 23. Februar 49. Eine eingehende Analyse
der beiden „Programmschriften" und ihre Vergleichung mit Cäsars
Reformbestrebungeu lassen auf überraschend intime Kenntnis auch
der geheimsten politischen Absichten des Diktators schließen. Sallust
hat sein Talent bewußt in den Dienst der Sache Cäsars gestellt,
der dafür den aus dem Senat Gestoßenen wieder rehabilitierte und
ihm schließlich die Statthalterschaft von Africa nova übertrug. Die
Notiz von Lenaeus (Suet. gramm. 15) ist nach Gebhardt nicht auf
die Historien, sondern auf diese beiden offenen Briefe zu beziehen.
[Die etymologisierende Form" viritute (II, 8, 7) ist zu streichen, da
sie nicht überliefert, sondern auf einem Versehen Jordans beruht.]
Über weiteres vgl. meine Besprechung Phil. WS. 1921, S. 52 — 55.
In einer Anmerkung am Schluß (S. 45 f.) behandelt G. die schwierige
Stelle II 4, 2.
Levy (4) ist gleichfalls von der Echtheit der Epistulae über-
zeugt. Mit dem Schlußkapitel der zweiten Schrift (c. 13) vergleicht
er Plat. Crit. 50 a — e. Doch ist die Anlehnung nur eine äußer-
liche. Sallust klammert sich nicht eng an sein Vorbild, sondern
ist bemüht, trotz der fremden Form etwas Eigenes zu geben.
Die bisherigen Ergebnisse der Forschung sucht die kritische
Ausgabe von Kurfeß (5) zusammenzufassen. Im Apparat werden
sämtliche Abweichungen des cod. V gegeben , in einem zweiten
Apparat die wichtigsten Parallelen aus Sallust. Für das übrige ist
zu vergleichen Index IV: Congruentiae Sallustianae. Dazu gibt
er (6) die genaue Kollation aus einem alten Leipziger Druck (Phil,
lat. 74 == 1 der Ausgabe, ein Apographon der Editio Romana 1475).
Endlich greift er (7) eine für die „Mentalität" des Verfassers
charakteristische Stelle heraus II, 7, 4fi". = 1 7, 2 f. und vergleicht
sie mit Cat. 10, 2 und 12, 7.
Was nun die Invektive gegen Cicero betrifft, so tritt
62
A. Kurfeß.
Kurfeß (8) neuerdings für die Autorschaft Sallusts ^) ein. Die
politisclie Gesinnung entspricht durchaus der des jungen Sallust,
dem der Schwätzer Cicero von Anfang an ein Greuel war. Hervor-
gerufen ist das Pamphlet durch Ciceros politische Schwenkung im
J. 54, nicht zuletzt auch durch seine Selbstverherrlichung in seinen
Epen, von denen das eine {de temporibus) gerade im J. 54 abgefaßt
zu sein scheint. Darum das zweimalige Zitat, das andere Mal sogar
parodiert. Der Stil ist nicht sallustisch ; vielmehr sucht der Ver-
fasser Cicero nachzuahmen, doch so, daß die z. T. wörtlich herüber-
genommenen Stellen und die vielen sonstigen Anklänge geradezu
sarkastisch wirken. Und doch lassen sich nicht unwesentliche
Parallelen aus dem echten Sallust beibringen. Ja, sogar die Solöcismen
lassen sich aus Sallust erklären (9). Natürlich ist das Schriftstück
kein Exzerpt aus einer wirklich oder angeblich gehaltenen Rede,
sondern als Ganzes genommen ein politisches Flugblatt, das eben
durch seine Kürze besonders wirksam war. Das Pamphlet wurde
selbstverständlich anonym herausgegeben und verbreitet. (Zu der
Praxis solcher Pamphlete vgl. Cic. ad Att. III 12, 1). Aber Quintilian
war Kenner genug, um dieses Produkt für sallustisch zu halten.
„Es wäre geradezu unbegreiflich", meint Gebhardt (a. a. 0.,
S. 17), wenn Cicero die überaus günstige Gelegenheit, seinen Wider-
sacher vernichtend zu treffen [bei dem Sturm auf Sallusts gesell-
schaftliche und politische Stellung anläßlich des Skandalprozesses
nach seiner Provinzialverwaltung] , hätte unbewußt vorübergehen
lassen, er, der so gern seine Wut an den verhaßten Handlangern
Cäsars ausließ, da es gefährlich war, den noch verhaßteren Meister
selbst anzugreifen." Cicero brauchte nur in einer Rede im Senat
') Des Referenten frühere Auffassung hat A. Rosenberg, Eiuleitg.
usw. zur röm. Gesch. (1921) S. 72 angenommen: „Die Invectiva ist die Arbeit
eines — wenn auch kundigen — cicerofeindlichen Literaten der frühen
Kaiserzeit, der für seinen Angriff die Maske des Sallust vornahm. Die
Invektive ist nämlich gutenteils ein Flickwerk aus ciceronischen Phrasen,
die in gewandter Weise gegen Cicero selbst ausgespielt werden." —
Funaioli tritt a. a. 0. für die Echtheit der Epistulae und der Invektive
ein. Zu inv. 2, 2 bemerkt er (S. 1984): „Das Haus war ja nach der Zer-
störung neu errichtet worden und von Cicero wieder bewohnt. Die Pointe
der Anspielung liegt eben nur darin, daß jenes Haus früher einem Crassus
gehörte, ob in jetzigem Zustande oder nicht, das ist eine Sache, die die
Gelehrten angeht, nicht aber einen Menschen, der unter dem brennenden
Druck des Hasses im Kampf des Tages maledicta schleudert. Gerade hier
sprudelt das Leben." — Auch Groebe (Drumann V-, 551) scheint für die
Echtheit der Invektive zu sein.
Bericht über die Literatur zu Sallust aus den Jahren 1919 — 1922. 63
nach bewährter Methode auf den grellen Widerspruch zwischen
seinen hohen Worten und seinen schändlichen Taten hinzuweisen.
Dafür spricht inv. in Cic. 1, 1 und 1, 3; mit oratione kanu nur die
zur Zeit der betr. Senatssitzuug gerade aktuelle „Rede" des J. 46
gemeint sein. — Inv. in Cic. 7, 19 verteidigt K. (10) die Über-
lieferung tamquam somno (statt somnid) heatus.
[Abgesclilossen am 1. Juli 1922.]
Bericht aber die Literatur zu Varro aus den Jaliren
1909-1918.
Von
Karl Mras in Graz (Wien).
Dieser Bericht schließt sich in seiner äußeren Form sowie in
der inneren Ausgestaltung an meinen ersten Varrobericht (Bu 143. Bd.
1909, S. 63 — 111) an. Auch diesmal habe ich auf Übersicht-
lichkeit und zusammenhängende Darstellung Wert gelegt. Die
Schrift De lingua Latina ist hier nicht berücksichtigt. In dem Zeit-
raum, der dem Berichte zugrunde liegt, hat sich die Forschung be-
sonders mit Varros Werk über die Landwirtschaft befaßt; auch die
Frage des Ursprunges und der Entwicklung der Satire ist viel be-
handelt worden. Zu meiner großen Freude habe ich die ausländische
Literatur fast vollständig in meine Hände bekommen. Für besonderes
Entgegenkommen schulde ich Herrn Prof. Dr. Plinio Fraccaro
in Pavia großen Dank.
Übersicht.
Allgemeines.
Erstes Kapitel. Der Katalog der
varrouischen Schriften.
Zweites Kapitel. E. R. 1. III.
1. Allgemeines.
2. Ausgabe.
3. Übersetzungen.
4. Textkritik.
5. Quellenfrage.
a) Die Quellen für E. R. 1. III.
b) E. E. 1. III. als Quelle.
6. Sachliches.
7. Sprachliches.
Drittes Kapitel,
ischen Satiren.
1, Allgemeines.
Die menippe-
2. Ausgabe.
3. Textkritik.
4. Die Vorbilder der Satiren.
5. Die Nachwirkung der Satiren.
6. Sachliches.
7. Sprachliches.
Viertes Kapitel. Geschichtliche
und geographische Werke.
Ausgabe. '
Die Logistorici.
Die Imagines.
De familiis Troianis.
Eine Schrift über die Zeitrech-
nung.
Geographisches.
Fünftes Kapitel,
rische Werke.
Literarhisto-
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 65
Sechstes Kapitel. Werkeantiqua- SiebentesKapitel. Varroswissen-
rischen Inhalts. schaftliche Tätigkeit auf anderen
1. Die Antiquitates Ker. Hum. Gebieten.
a) Die StoflPverteilung in der 1- I^ie Disciplinarum libri.
2. Hexade. 2. Die Libri iuris civilis.
b) Varros Zeitrechnung in Anhang. Die sogenannten Senten-
diesem Werk. tiae Varronis.
2. Die Antiquitates Rer. Div. 1. Ausgabe.
3. Die Antiquitates als Quelle. 2. Sachliches.
Allgemeines.
M. Schauz, Geschichte d. röm. Literatur (Haudb. d. kl. Alter-
tumswiss. VIII. Bd., 1. T. , 2. Hälfte), München 1909 ^ S. 422
bis 450.
W. S. Teuffels Geschichte d. röm. Literatur, 6. Auflage, L Bd.,
Leipzig 1916, S. 321—344.
E. Martini, Grundriß d. Gesch. d. röm. Literatur, I. Teil, Münster
1910, S. 192—206.
W. Kopp, Gesch. d. röm. Liter., 9. Aufl., Berlin 1913, S. 48—51.
E. Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft (herausg. v.
A. Gercke u. E. Norden)], L Bd., Leipz. 1910, S. 481 ff. u.
548 ff., 2. Aufl. 1912, S. 347 ff. u. 416 ff.
Fr. Leo, Die Kultur d. Gegenwart (herausg. v. P. H i n n e b e r g) ,
T. I, Abt. VIII, II 1, 3. Aufl. 1912.
C. B a r d t , Röm. Charakterköpfe in Briefen, voruehml. aus Cäsar.
u. Trajan. Zeit, 1913, S. 216 ff.
F. Lübkers ßeallexikon d. kl. Altertums, 8. Aufl. 1914 (Tereutius
Nr. 21).
E. Zell er, Die Philosophie der Griechen, III. T., 1. Abt., 4. Aufl.
(herausg. v. E. Wellmanu), 1909, S. 692 ff.
A. Lebouton, Poesie u. bildende Kunst im Zeitalter des Augustus,
Zeitschr. f. d. österr. Gymn. 66 (1915), S. 111.
C. Morawski, De contentionibus litterariis apud Romanos, iuprimis
apud Ciceronen, Eos XIX (1913).
In der neuen Auflage von Schanz sind Varro neun Seiten
mehr gewidmet als in der zweiten Auflage; ganz umgearbeitet ist
der jetzt „Charakteristik Varros" betitelte § 193a. In der neuen
Bearbeitung der Literaturgeschichte Te uff eis sind die allgemeine
Charakteristik und die Stilcharakteristik des Autors neu hinzu-
> gekommen. Vollständig neu ist gegenüber der Darstellung M.Zo ellers
die E. Martinis. Auch im neuen „Lübker" ist der Abschnitt
■Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 5
66 Karl Mras.
über Varro ganz umgestaltet, der biographische Teil gekürzt;
dafür sind Literaturaugaben dazugekommen. Bardts Charakteristik
ist ebenso ausführlich als wohl abgewogen. Die Widersprüche in
Varros Wesen und in seiner Schriftstellerei werden von Norden,
Martini und Bar dt gut hervorgehoben: Jst Varro einerseits
als Forscher (d. h. in rein wissenschaftlichen Werken) formlos, - so
ist er anderseits als Schriftsteller (d. h. in Werken der schönen
Literatur) formgewandt. Als Gelehrter läßt er es oft an dem nötigen
Schai'fsinn fehlen , auch mangelt ihm die Fähigkeit, das Quellen-
material zu durchdringen imd zu verarbeiten ; andei'erseits ist er
aber doch ein scharfsichtiger Beobachter. Ein Fehler ist auch seine
Vorliebe für allzu schablonenhafte , pedantische Gliederung. Mit
Kecht heißt er bei Teuf fei einer der größten Kompilatoren aller
Zeiten. Diese Schattenseiten werden aber durch schwerwiegende
Vorzüge aufgewogen : sein kernrömisches Wesen (Martini), die
sein ganzes Wirken beherrschende Liebe zu seinem Volke (Schanz),
seinen warmherzigen Patriotismus (Teuf fei). Mit einer auf
J. Geffcken, Hermes 27, S. 388 zurückgehenden Bezeichnung
Avird er von Xorden, Schanz und Martini ein Romantiker
genannt. Lebouton weist kurz darauf hin, daß damals Literatur
und Kunst aus denselben Gründen gleichzeitig retrospektiv geworden
sind. Interessant ist der Vergleich — den Norden und Bar dt
ziehen — zwischen Varro und Cicero, zwischen dem schwer-
fälligen Gelehrten und dem beweglichen Künstler, wie sich Norden
ausdrückt. Das Verhalten C i c e r o s gegenüber dem Reatiner ist
von Eifersucht auf dessen , dem seinigen weit überlegenes Wissen
nicht frei. Im Einklang mit der Forschung der letzten Jahrzehnte,
dfe — m. E. allzusehr — die Persönlichkeit des Posidonius in den
Vordergrund geschoben hat, betonen N ord en und die Herausgeber
der Werke von Teuffei, Kopp und Zell er (s. Z eller '* S. 699,
Anm. 1) den Einfluß des pythagoreisch gefärbten Stoizismus des
Posidonius auf Varro. Auch Leos sonst nur wenig veränderte
Ausführimgen a. a. 0. haben in der neuen Auflage bezeichnender-
weise gerade in dieser Hinsicht eine bedeutendere Veränderung
erfahren: man vergleiche S. 34^1 f. der 1. Auflage mit S. 439 der
dritten: S. 440 f. steht ein in jener Auflage gänzlich fehlender
Abschnitt über den jnächtigen Einfluß des Posidonius auf Mit-
und Nachwelt, Griechen und Römer. Varros Einfluß auf die Nach-
welt Avar unzweifelhaft größer als der des Posidonius; seine
Wirkung auf die nachfolgende literarische Produktion bezeichnet
Martini mit vollem Recht als enorm.
Bericht über die Literatm- zu Varro aus den Jahren 1909—1918. 67
Morawski untersucht die Art und Weise der philosophischen
und literarischen Polemik bei Cicero, Lucrez und Varro, wo-
bei der Hauptteil der Arbeit Cicero gilt und Varro mit Lucrez
am Schiuli kurz abgetan wird (S. 15 f.).
Erstes Kapitel.
Der Katalog der varronischen Schriften.
A. Klotz, Der Katalog der varrou. Schriften, Herni. 46 (1911),
1—17.
G. L. Hendrickson, The Provenance of Jerome's Catalogue of
Varro 's Works, Classical Philology VI (1911), 334—343.
Die Geschichte der Entdeckung dieses Kataloges, die in jeder
Literaturgeschichte pachgelesen werden kann, setze ich als bekannt
voraus. Kaum entdeckt, wurde er von R i t s c h 1 in einem Aufsatze
(Rh. Mus. N. F. VI 481—560 = Opusc. III 419—505) einer ein-
gehenden Behandlung unterzogen. Bezüglich des Ursprunges des
Verzeichnisses nahm dieser an, dalJ es offenbar auf Varro selber
zurückgehe, jedenfalls nicht erst von Hieronymus zusammengestellt
worden sei , da er seine Liste mit den Worten schließt : et alia
phirima, quae emmierare longum est . vix medium descripsi indicem
et legeni'ihus fastidmm est. Hier knüpft Klotz an und meint, daß
die Liste aus der Einleitung zu den Imagiues stamme, wo Varro
von der Bedeutung der Siebenzahl (vgl. den Nebentitel Hebdomades)
gesprochen und sich dabei über sich selber folgendermaßen ge-
äußert hat (Gell. III 10, 17): se quoque tarn duodecimam annorum
hebdowadam ingressum esse et ad eicni dietn septuaginta hebdomadas
librontm conscripsisse, also 490 Bücher, genau so viele, wie das Ver-
zeichnis des Hieronymus umfaßt. Da bekannte Werke, wie De
gente pop. R., fehlen, nimmt Kl. an, daß Hieronymus, dem es
nur auf die Zahl der Bücher angekommen sei (bekanntlich vergleicht
er die iimfangreiche wissenschaftliche Tätigkeit des Origenes mit
der Varros), in den Titeln mehrfach eine Zusammenziehuug vpr-
Lrenommen habe, so gleich unter Nr. 1 XLV (statt XLI) lihros
antiquitatum^ wo sich die Zahl 45 durch Hinzufügung der vier Bücher
De gente p. R. ergebe. Dagegen nimmt Hendrickson mit Recht
t Stellung. Mahne schon die Tatsache zur Voi-sicht, daß Hieronymus
der naheliegenden Versuchung widerstanden sei, 13. De scaenicis
adionibus III und 14. De actis scenicis III unter einer Nummer
anzuführen, so sei es vollends unwahrscheinlich, daß unter den
68 Karl Mras.
XoyioiOQL'AWV LXXVI (Nr. 4), wie Kl. S. 8 meint, Werke wie De
anti(|uitate litterarum ad Accium und De utilitate sermonis inbegriffen
seien. M. E. erklärt sich XLV statt XLI (unter Nr. 1) einfach als
Verschreibung: und ist vor Nr. 2 (IUI de vita populi Romani) das
bis auf ein Wort gleichlautende (IUI de gente p. ß.) ausgefallen.
Klotz' Ansicht, daß der Katalog aus der Vorrede der Imagines
stamme , lehnt H. ab ; er läßt die Alternative gelten, daß V a r r o
entweder in seiner Autobiographie am Schluß seines Lebens eine
vollständige Liste seiner Werke mitgeteilt oder aber solche Infor-
mationen gegeben habe, daß sie die Grundlage für einen von einem
späteren Gelehrten verfaßten Katalog bilden konnten ^) (wenn er für
den zweiten Teil seiner Alternative die Bezeichnung s a t i r a r u m
1. und satirarum Meuipp. 1. ins Treffen fuhrt, so geht er dabei
von einer falschen Voraussetzung aus; s. unten, Drittes Kapitel, 1).
Allein H. möge bedenken, daß die Gleichheit der Zahl (490 Bücher
nach Varros Angabe in der Vorrede der Imagines und ebenso-
viele in Hieronymus' Verzeichnis) die Möglichkeit eines bloßen Zu- '
falls übersteigt. Auch irrt er, wenn er Kl.' Auslegung des duo-
decimam annorum hebdomadam ingressum bekämpft : in der Tat konnte
Varro auch in seinem 80. Jahre noch sagen, er stehe im Beginn
seiner 12. Lebenshebdomade. Trotzdem glaube ich nicht an die
Herkunft des Verzeichnisses aus der Vorrede der Imagines. Nicht
nur daß Varro dort gar keinen Anlaß hatte, eine genaue Liste zu
entwerfen, spricht auch der Umstand dagegen, daß nicht bloß ima-
giniivi XV (Nr. 3), sondern auch eine snizoiurj ex imagin. l. XV
(Nr. 27), in vier Büchern, im Katalog genannt wird, was zu der
ganz unwahrscheinlichen Annahme nötigen würde, daß Varro seine
Vorrede zu den Imagines erst nach Vollendung des Auszuges aus
-diesem Hauptwerk niedergeschrieben habe. Die Sache dürfte sich
m. E. so verhalten: Varro hat wahrscheinlich in seiner Auto-
biographie (De sua vita 1. III). wie bereits Ritschi annahm, Rh. -
Mus. a. a. 0., S. 551, d. h. offenbar in seiner letzten Lebenszeit,
eine Liste seiner Werke gegeben [vielleicht hat er sie nach der
Plünderung seiner Bibliothek zur Zeit der Proskriptionen begonnen,
um den Bestand des ihm verbliebenen Restes neu aufzunehmen^),
^) Letzteres nimmt auch W. A. Baebrens an, Herrn. 50(1915), S. 264,
Anmerk. 1.
-) Darauf scheinen mir seine Worte bei Gellius a. a. O. hinzuweisen:
... ex quibus aliquam multos (sc. libros), cum proscriptus esset, direptis
bibliothecis suis non comparuisse.
Bericht über die Literatur zu VaiTO aus den Jahren 1909 — 1918. 69
und später die Neuerscheinungen nachgetragen] , die Zusammen-
stellung aber nach der Siebenzahl vorgenommen (man denke an
seine Vorliebe für pythagoreische Zahlenspielerei und schablonen-
hafte Systematisierung !) ; dabei machte er natürlich nach 7x70
Hebdomaden (= 490 Büchern) einen bedeutungsvollen Einschnitt.
Wenn Hieronymus sich äußert „vix medium descripsi indicem",
so hat er außer den 39 Nummern , die er anführt, noch ungefähr
ebensoviele vorgefunden (aber natürlich mit weit geringerer Bücher-
summe, denn Rit schi hat die Gesamtzahl der Werke des Polyhistor
auf etwa 620 veranschlagt). Was das Ordnungsprinzip der Liste
betrifft , so wird sie weder von einem chronologischen noch von
einem sachlichen Prinzip beherrscht ; wohl aber sieht man, daß die
Hauptwerke an die Spitze gerückt sind, die belletristischen Werke
(hauptsächlich Dichtungen) an den Schluß (in der vollständigen
Liste mußten sie in der Mitte ihren Platz haben). S. 9 f. und S. 12
bespricht Kl. Differenzen zwischen dem Katalog und sonstigen Zitaten.
Zweites Kapitel.
R. R. libri III.
1. Allgemeines.
G. Ferrero, Grandezza e decadenza di Roma, vol. III (Mailand
1904), S. 400—408.
F. gibt a. a. 0. eine wundervolle Charakteristik ^) , voll tiefer
Gedanken, von Varros Werk über die Landwirtschaft, das er in
politisch-sozialer und nationalökonomischer Hinsicht würdigt, und
damit auch von Varros Persönlichkeit selber. Varro steht in-
mitten des Kampfes zwischen den alten bäuerischen Traditionen
und dem merkantilen Geist der neuen Zeit. Sein zwiespältiges
Wesen macht sich auch in dieser Schrift bemerkbar : er betrachtet
die großen Städte als Pflanzschulen der Verderbtheit, des Müßig-
ganges und der Verschwendung, preist die strenge Reinheit des Land-
lebens ■ — und schreibt doch das III. B. , um den Landwirten An-
weisungen zur Ausnützung der Laster der Großstädte , besonders
Roms, zu geben (Vorschriften über die Zucht von Drosseln, Gänsen,
Tauben, Hühnern, Pfauen und anderen Kleintieren, deren Fleisch
als Leckerbissen galt).
') 1909 war sie noch nicht zu meiner Kenntnis gelangt; ich trage
ihre Besprechung daher jetzt nach.
70 l^arl Mras.
2. Ausgabe.
Gr. Goetz, M. Ter. Varr. ler. i-ust. 1. tres. Post H. Keil iterum
ed., Leipzig 1912.
Nach seiner eigenen Praefatio (S. III f.J wiederholt G. S. IV
bis X die Keils von 1889, woran er Ö. X — XVI eine textkrit.
Besprechung zahlreicher Stellen schließt. Von derselben Voraus-
setzung wie Keil ausgehend (alle Hss. gehen auf den verlorenen
Marc, zurück), will G. pietätvoll seine Ausgabe nur als eine Er-
neuerung der Keil sehen betrachtet wissen, obwohl sehr viel eigene
Arbeit — entsagungsvolle und wertvolle zugleich — in ihr steckt.
Die Zweiteilung des Apparates hat er mit Hecht aufgegeben und in
orthographischen Dingen die Schreibweise des Archetypus trotz aller
Schwankungen abgedruckt. S. 2 steht jetzt eine (in Keils kleiner
Ausgabe fehlende) Übersicht über die hs. Überlieferung (die dort
gegebene Erklärung von v = lectiones eiusdem ed. correctae a
Politiano ist die richtige, s. Keils große Ausgabe S. XV, S. 2 u.
112; daher hätte G. S. VIII die damit in Widerspruch stehende
Erklärung dieser Sigle aus seines Vorgängers kleiner Ausgabe nicht
übernehmen sollen; über G. Merulas Vorgehen vergleiche man die
große Ausgabe, S. XIV). Mit eigenen Konjekturen ist er sparsam
(z. B. II 1, 10 alia multa sc. cognomina, für (dil muUi, sehr wahr-
scheinlich; III 10, 1 nomine (iilieno) [Keil {graeco) nom'me] cheno-
boscion appcUntis: m. E. ist womme prägnant gebraucht und ein Zu-
satz daher unnötig). An zweifelhaften Stellen hat er sich noch viel
öfter als K. an die Lesart des Archetypus angeschlossen, so I. 34, 1
putescere (semina soleant: K. putrescere) wie macescit I, 55, 1 (sc.
olea; marc. K.) und macescat III, 16, 9 {marc. K.), wo übrigens
die Überlieferung auf maciscat weist, wie schon Scaliger ge-
schrieben hat; I, 55, 6 in acervis (von K. getilgt) iactando vcnülare
oportet (sc. oleas: solange sie in Haufen beisammen sind, s. S. XH);
57, 1 parietes et solum , . . loricandi (Keil — um); II 5, 7 Icviter,
sc. Spina remissa (K. Icniier): 9, 2 diversos (von Schörl in seinem
im 4. Abschnitt zu erwähnenden Aufsatz S. 100 gut verteidigt;
Keil adver sos). Die Überlieferung hätte noch an einigen anderen
Stellen gehalten werden können, z. B. III 16, 30 qitac (apes) primo
cum (G. wie K. quae primiim) exierunt. Die von mir, Varrobericht,
Bursian 143, 66 (s. auch G.' Praef. XIV) verbesserte Konjektur
von Ellis zu II, 8, 4 ut cibo svffundemus vires besteht auch jetzt
noch zu Recht. Denn was soll das heißen : vires suffundere (sc. asinis
admissariis) ? Dagegen gibt suffundare (stützen) den verlangten Sinn ;
IJericht über dit; Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 71
zudem ist es aus deu Sat. Men. (524 B.) bezeugt. Im Index no-
minura ist unter Diophanes Bithynus (p. 158) ein Versehen aus
Keils Ausgabe übernommen: nicht dieser wird „81. 2", d. i. 11 1,
27 erwähnt, sondern Cassius Dionysius. Ein Verzeichnis der
Autoren, die Varro zitiert, oder auf die er anspielt, wird schmerz-
lich vermißt (so zu III 17, 10 endo suam domum). Es ist sehr zu
bedauern, daß G. zu H. Schörls wichtigem Aufsatz (s. weiter
uuton. 4. Abschnitt) nicht mehr in seiner Ausgabe Stellung nehmen
konnte.
3. Übersetzungen.
Lloyd Storr-Best, Varro on Farraiug. The three Books Rer. rust.
translated with Introduction, Commeutary and Excursus, LonJo,
1912.
Roman Farm Management. The Treatises of Cato and Varro, done
into English with Notes of Modern Instances by a Virginia Farmer.
New York 1913.
Von diesen beiden AVerken, die mir nur aus den erschienenen
Besprechungen bekannt sind (W. AVarde Fowler, Classical review
27, S. 105 f.; F.F. Abbott, Classic, philology 9, S. 450 f. :
W. Becher, Berl. philol. Wochenschr. 34, S. 278 f.), scheint das
zweite das bedeutendere und interessantere zu sein. An beiden
Übersetzern rühmen die englischen Kritiker, daß es ihnen gelungen
sei, eine Vorstellung von Varros eigenartigem Wesen zu geben.
Beide kennen das heutige Italien und ziehen moderne Verhältnisse
zur Erklärung antiker Erscheinungen heran. Mit dem Text gibt
sich nur der erste Mühe, der auch gelegentlich Verbesserungen vor-
schlägt. Seine Übessetzung scheint genauer zu sein, während es
sich beim zweiten um eine Umsetzung in modernes Denken handelt,
wie die originelle Übertragung von Cato 5 bei Abbott anschau-
lich zeigt. Dafür liegt ihr Hauptwert in den Anmerkungen, die auf
ausgebreiteter Lektüre, persönlicher Erfahrung, weiten Reisen und
guten Fachkenntnissen beruhen (Abbott). Der Verfasser, der mit
F. H. zeichnet, ist nach A b b o 1 1 s Vermutung Fair fax Harrison.
ein in Amerika wohlbekannter Finanzmann und Eisenbahnpräsident,
'der — wofür sein Werk Zeugnis ablegt — für die antike Literatur
warme Begeisterung hegt.
4. Textkritik.
H. Schörl, Textkrit. Untersuchungen zu Varros Büchern von der
Landwirtschaft, Wien. Stud. 35 (1913), 75—112.
72 Karl Mras.
W. A. Ba ehren s, Beiträge zur lat. Syntax, Philol. Siippl. Bd. XII,
(1912).
W. B a n n i e r , Wiederholungen bei älteren griech. und lat. Autoren,
Rh. Mus. 69 (1914).
J. van Wageningen, Ad Varronem, Classical Quarterly VI (1912),
206.
E. Kaiinka, Partitives ab, Berl. phil. Wochenschr. 37 (1917),
572 ff.
0. Keller, Zu Varro rer. rust. IT 1, ebenda, 1252 f.
L. Havet, La note L dans Varron, Rer. rust. libri, Eevue de phil.
N. S. 37 (1913), 131 f.
V. Lund ström, Smäplock ur Columellas sprak, Ei-anos 15 (1915),
S. 202, Anmerk. 1.
Im I. Abschnitt seiner Arbeit („Über unsere Überlieferung und
insbesondere über den Wert des Cod. Vindob. 33", S. 75 — 79)
nimmt S c h ö r 1 Stellung gegen die zuerst von A. Schleicher,
Meletematon Varronian. specimen I (1816) S. 15 vermutungsweise,
dann von Keil mit Bestimmtheit vorgetragene Ansicht, daß alle
Hss. der landwirtschaftlichen Werke Catos und Varros aus einem
Kodex stammen, der sich noch im 16. Jahrh. in der Markusbiblio-
thek in Florenz befunden hat, seitdem jedoch verschollen ist. Er
macht besonders auf den Cod. Vindob. Latiuus 33 aufmerksam, von
dem er vermutet, daß er nicht auf den Marc, zurückgehe, sondern
aus derselben Quelle wie dieser stamme. Wirklich schlagende Be-
weise für seine Ansicht hat Seh. nicht beigebracht, er darf aber
das Verdienst für sich beanspruchen, zu erneuter Untersuchung der
Hss. Varros angeregt zu haben. Da über das Alter des Kodex
weder Keil noch Seh. sich äußern, habe ich ihn selber eingesehen.
Der erste Blick ließ erkennen, daß er dem 15. Jahrh. augehört
und aus Italien stammt (Humanistenhs.). Er erhält (fol. 1 ^ — 29^)
die drei Bücher Varros^), ist aber am Anfang durch Ausfall von
Blättern so verstümmelt, daß er jetzt erst mit I 48, 1 pro inde ut
beginnt; darauf folgt ColumeUa, doch ist dessen letztes Buch
ebenfalls verstümmelt. Jedenfalls könnte der Vindob. aus dem Marc,
nicht nach dessen Verstümmelung abgeschrieben sein, da in ihm
der Schluß, von III, 17, 4 gregatim an, vorhanden ist. Um den
Kodex zu qualifizieren, bespreche ich einige Stellen, axxs deren Tat-
*) Die Bemerkung im Katalog der National- (früher Hof) Bibl., Ta-
bulae codd. mss in Bibl. Palat. Vind. asservat. vol. I ]p. 5, daß bloß
zwei Bücher enthalten seien, ist falsch.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909—1918. 73
Sachenmaterial ich einen ganz anderen Schluß als Seh, ^) ziehe :
II 2, 11 quaad refrigeratu aere vesperfino rursus pascunt (sc. oves)
Cod. Marc, quoad refrigerato e. q. s. A m. 1 corr,, Vind., Edit. I:
Gerade die Parallelität zu dem vorhergehenden dum defervescant
(sc. meridiani aestus) spricht nicht gegen (wie Seh. S. 93 meint),
sondern für quaad refrigeratiir (Keil), das auch durch aere vespertino
gesichert ist (neben vespert, wäre doch refrigerato überflüssig , ja
unhaltbar). Also hat der Vindob. hier keine ursprünglicha Lesart,
sondern eine Konjektur. II 4, 12 scio me isse spectatum suem] esse
Marc, isse Vind., Ursinus „ex vetere codice", wie unzweifelhaft
richtig ist und auch Keil (desgleichen Goetz) schreibt. Isse war
leicht durch Konjektur zu linden. II 5, 10 quod — non tarn fre-
qiientes quam in Thracia] quamqnam cod. Marc, quam qui v, quam
(richtig!) Vind. (allein, Seh. S. 99): einfache Konjektur (^wamgwam
Dittographie). Upi die Beseitigung einer Dittographie handelt es
sich auch II 8, 4 cum peperit equa (peperit v Vind., pepererit PAB).
III 16, 22: die hs. Lesart (PA^B) ist sed et transiturae sint. An
et ist wegen des folgenden ef, das damit korrespondiert, nicht zu
rütteln; sed si (A^ v Vict.) ist jedenfalls eine Humanisteukonjektur,
die durch einige vorhergehende si nahegelegt worden ist. Da nun
der Vind. ebenfalls sed si bietet (Seh. S. 112), haben wir darin
wohl einen Fingerzeig zu erblicken für unser Urteil über die Her-
kunft und das Wesen dieser Hs. Daß sie mit A (einem Paris, s.
XII Xin) und besonders mit B (Laurent. 51, 4, s. XV) überein-
stimmt, hebt Seh. S. 78 hervor.
Von S c h ö r 1 s Vorschlägen zur Textgestaltung sind einige evident
richtig, andere sehr beachtenswert. Ich mache besonders auf folgende
aufmerksam: I 45, 3 hat Goetz Keils co^fMM^tfr mit Recht wieder
aufgegeben (er schreibt -f iinguntnr) • vom Zusammenziehen , Ge-
frierenlassen ist hier ja nicht die Rede. Da nun an der zugrunde-
liegenden Theophraststelle (De caus. pl. I 12, 3) es heißt did tbv
71t QL^ atqa iI'vxqov ovta (Gegensatz ra öi '/.dTco .... inb x.
i^EQi-iov ovyxazayJ^EioiuEva) ist Schneiders Konjektur cinguntur (nach
einem Cod. Venetus), die Schörl S. 82 wieder aufnimmt, sehr
wahrscheinlich. I 55 , 2 hat quae mit Keil auch Goetz; über-
liefert ist jedoch qui (sc rami), woran man festhalten muß (Seh. S. 88),
wenn auch im folgenden zu adversam wieder oleam zu denken ist.
III 16, 11 cum dicerent velle expectare (Keil und Goetz)] cum eis
^) Im II. Abschnitt, Textkrit. Besprechung einiger Stellen aus Varros
landwirtsch. Werke.
74 Karl Mias.
et (Vind. ex) velle expectare Codd. Mit Keil einen Ausfall von
dicerent anzunehmen , ist sehr unwahrscheinlich. Ich stimme Seh.
(S. 111) bei, der cum ei vellent expectare vorschlägt, erkläre aber
die Entstehung der Korruptel anders: et vor velle ist m. E. die ur-
sprünglich am Rande »tehende Emeudation — et (also vellent für
velle). Über eis als Angleichung an die vermeintliche Präposition
cum brauche ich kein Wort zu verlieren.
Baehrens' Untersuchungen ziehen auch zahlreiche Stellen
von Varros E. K. 1, in ihren Bereich. In manchen Stücken hat
er unzweifelhaft recht; z. B. darf au Wiederholungen von Kon-
junktionen (wie im Griech. ort) nach längerem Einschub kein An-
stoß genommen werden ,11,2 das nt vor ipse , das nach sechs
Wörtern wieder aufgenommen wird, nicht getilgt werden (B. S. 407 ;
III 16, 32 dagegen ist eine ganz verderbte Stelle) '). Et zur Ein-
leitung eines Hauptsatzes bei vorangehendem Nebensatz ist Erbgut
aus alten Zeiten , wo Koordination und Subordination noch nicht
geschieden waren, darf also z. B. II, 7, 9 vor ille nicht gestrichen
•werden (S. 427). Manchmal (vor Konjunktionen) bedeutet et ,und
zwar', ist also nicht überflüssig: II 7, 15 et ideo (B. S. 428) und
III 12, 7 et quod (S. 406, wo B. noch andere Belege aus anderen
Autoren beibringt). Anderseits geht aber B. entschieden zu weit,
wenn er die hs. Überlieferung auch in solchen Fällen verteidigt,
wo Präpositionen fehlen. Wörtchen, die doch aus paläographischen
Ursachen oder infolge Mißverständnisses einer Konstruktion leicht
ausfallen konnten, wie I 15 {de) terrae {de ist doch nicht aus dem
vorhergehenden de und den beiden nachfolgenden zu ergänzen, sondern
vor te- ausgefallen); er kann mir auch nichteinen bloßen Akk. der
Richtung in Prosa bei Verben wie conicere, addere, adferre glaub-
haft macheu, auch nicht die Annahme, daß III 9, 9 (B. bietet
fälschlich III 8) aequinoctio verno ad autumnale^ weil durch ad die
'Richtung wohin' angedeutet ist, infolgedessen aeCjuinoctio als Ablat.
separ. eindeutig bestimmt ist und der Präposition entbehren kann
(daran glaubt auch Kroll nicht, Glotta VI 350).
Bann i er beleuchtet durch beweiskräftige Belege die bekannte
Tatsache, daß die Alten gegen Wiederholungen derselben Wörter
wenig empfindlich waren. Damit entfällt der Anlaß, III 1, 4 ([uod
^) Auch A. Klotz, Zur Kritik einiger ciceronischer Reden,
Rh. Mus. 68 (1913), S. 501 und Anm. 1 hält R. R. I 1. 2 das doppelte ut
für richtig unter Hinweis auf Stellen aus Plautus u. Terenz, so Trin.
141, ebenso wie er Cic. Verr. V 73 das doppelte se bewahrt.
Bericht über die Litenitur zu Vano aus den Jalireu 1909 — 1918. 75
et in pace a rusticis Rom. alebantur et in hello ab Ms alebantur das
zweite alebantur zu änderu, in allevabantur mit Gemoll (der Wochen-
sclir. f. klass. Pliilol. 29, S. 978 f. die Priorität dieser Konjektur für
sich reklamiert) und E 1 1 i s , oder mit S c h o e 1 1 in o? (ae sum) ebantur
oder gar mit Keil in ducebantur, zumal da Bann i er aus Catos
landwirtschaftlichem Werk — dessen Sprache, wie ich bemerke, auf
Varros Werk infolge weitgehender Benutzung stark abgefärbt
hat — ähnliche Beispiele beibringt (S. 497) : 83 coicere — coicere,
134, 4 dato — dato, 157, 1 habet — habet.
J. van Wageningen schlägt zu 11. K. l 13, 2 vor: ut sit
(soUy aclmota (sc. culina) , weil man einen Dativ vermisse und es
von der Küche bei Vitruv VI 6, 1 heiße: in corte culina quam
calidissimo loco designetur. Zunächst ist die Konjektur bestechend,
allein sieht man näher zu, so muß man sie ablehnen : gemeint ist
ja adniota ad cellam vilici (s. Keil, Kommentar S. 46), von der
unmittelbar vorher die Kede ist. Ich bemerke, daß, da der vilicus,
was in der Küche vorgeht, zu beaufsichtigen imstande sein muß,
deshalb diese ihren Platz in nächster Nähe seiner cella hat. Daß
es heißt . . . quod ibi hieme , . . aliquot res conficiuntur usw. ist
ganz natürlich, denn im Sommer ist das Gesinde auf den Feldern,
ich verweise auf I 36 cum in agris opus fieri non potest, quae sub
tecto possunt tunc couficienda antelucano tempore hiberno, wo auch
die Beaufsichtigung dieser häuslichen Arbeiten durch den vilicus
ausdrücklich erwähnt wird : quae dixi scripta et proposita habere
in villa oportet, maxime ut vilicus norit.
II 1, 5 etiam nunc in locis multis genera pecudum ferarum sunt
aliquot, ab ovibus, ut in Phrygia ,* ubi greges videntur complures, in
Samothracc caprarum quas latine rotas appcllant, nehmen Kaiinka
und Keller an ab ovibi(S Anstoß, aber während sich dieser damit
begnügt, durch ein + eine Korruptel andeuten zu wollen, sucht
Kaliuka, unter Ablehnung partitiver Bedeutung des ab sowie der
Auffassung, diese Präposition könnte hier den Ursprung oder den
Ausgangspunkt bezeichnen , ab ovibus als eine in den Text ein-
gedrungene Randbemerkuung zu dem unmittelbar vorhergehenden
Satz zu erklären . . . a vita pastorali ad agri culturam descenderunt
(nach Varro gründete sich die vita pastoralis wesentlich auf den
Besitz gezähmter Schafe). M. E. liegt hier ein schönes Beispiel
der bei Varro häufigen variatio vor: ab ovibus = auf dem Ge-
biete, im Bereiche der Schafe (wie nQcg mit Genet ) ist selbständig,
dagegen hängt caprarum wohl eher von greges als von genera ab.
Kellers Vorschlag, für rotas zu lesen r(upicapr)as, ist wenig wahr-
7(> Karl Mras.
scbeinlicli, sfrepsicerotas (Schneider; nach Keller eine afrika-
nische Antilopenart) und platycerotas (Turnebus und Scaliger;
nach Keller Damhirsche) sind gänzlich abzulehnen.
An mehreren Stellen der R, R. 1. finden wir die Sigle . 1 . oder
einfach 1, mitten im Text, manchmal sogar mitten in einem Wort
(z, B. I 55, 4 h\\l\vium). Havet möchte — wenig wahrscheinlich —
L als mißverständliche Umgestaltung eines Z auffassen, der Abkürzung
einer Form von Cr]Teiv (aber wie sollten wir uns die Verwendung
dieses griech. Zeichens in einer latein. Hs. erklären?)^). M. E. ist
es sicher ein kritisches Randzeichen, dafür spricht ja der Umstand,
daß es fast nur im ersten Buch vorkommt (außerdem schwache
Spuren im zweiten)^), begreiflich, wenn wir uns vorstellen, daß ein
Gelehrter die Schrift von Anfang an durchging. Bedeuten wird es
„laudabilem locum", wie schon Scaliger vermutet hat (vgl. Keil
a. a. 0.) und wie das Zeichen schon in unserer hs. Überlieferung
des Werkes gelegentlich aufgelöst worden ist: I 55, 1 [laudahtUor L]
und 59, 2 [L laudabiliter] ; besonders verweise ich auf den drama-
tischen Abschluß dieses Buches , wo nach den Worten des Frei-
gelasseneu, der von dem eben vorgefallenen Messerattentat auf den
Tempelhüter erzählt, . . . tarnen xmtareß,] se fecisse rede, steht: L.
Dann würde L etwa dem (u = cjQalov der griechischen Hs. ent-
sprechen. Möglicherweise hat es, später mißverstanden, dann eine
weitere Verwendung gefunden und bezeichnete nun, wie Keil a.
a. 0. meint, „emendationem corruptae lectionis vel adnotationem ali-
(|uam in margine adscriptam". Für ganz ausgeschlossen halte ich
es endlich nicht, daß es nichts weiter als ein mißverstandenes Ver-
weisungszeichen ist. Aber für die Annahme, daß L laudabiliter
u. dgl. bedeute, finde ich eine starke Stütze in der Tatsache, daß
der Cod. Vind. III 16, 4 zu dem Vers i/tttcov — insliOGai den Ver-
merk hat (unmittelbar nach melisc) : iocande = scherzend, witzig
(Schörl a. a, 0., S. 77).
Wie sich Lundström an zwei Stellen ColumeUas (I, 3, 1
und im Inhaltsverzeichnis nach dem 11. Buch) für die Beibehaltung
der hs. Überlieferung inspiciendo agro (ohne in) einsetzt, so verwirft
er auch bei Varro I 2, 8 duo in primis spectasse videntur Italici
homines colendo die von Keil vorgenommene und von G o e t z bei-
1) Heraus in seiner neuen Petronausgabe (von der weiter unten die
Rede sein wird) hält z in einem Kodex des Nonius für ein Fehlerzeichen
(zu Sat. Men. 320 B).
2) S. die Liste bei Keil, Komm. S. 18.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 77
behaltene Einschiebuug des in vor colendo, unter Hinweis auf Kühner -
Stegm. Lat. Gr. II 1, 752 f. (modal-temporaler Ablat. des Gerundiums).
Dazu bemerke ich, daß hier offenbar jene Verwendung des Gerund,
vorliegt , die sich später in der Volkssprache so ausgebreitet hat,
daß dadurch das Particip. praes. verdrängt wurde (übrigens könnte
au unserer Stelle auch das hi von in primis nachwirken).
5. Quellenfrage.
a) Die Quellen für R. R. 1. III.
0. Hempel: De Varronis rer. rust. auctoribus quaestiones selectae.
Dissert. Leipzig 1908.
M. Waehler: De Varronis rer. rust. fontibus quaestiones selectae.
Diss. Jena 1912.
Hempels in schiechtem Latein (Si euim qua, certe haec
conclusio est iusta, S. 62) geschriebene Dissertation, deren Stil durch
das für das genus tenue einer Dissertation höchst unpassende Lieb-
lingswort des Verfassers autumare nicht gehoben wird, noch weniger
durch exorditus S. 20, befolgt den in vielen Dissertationen üblichen
Grundsatz, einen erhaltenen Autor zugunsten eines verlorenen herab-
zusetzen. Hier ist Var r o der „homo neglegens", Cassius Dionysius,
von dem wir nichts besitzen, der „homo diligens" (S. 61). Eigent-
lich soll aber Varro sein Wissen nicht einmal dem Cass. Dionys. ,
sondern dem Epitomator Di ophanes verdanken (s.S. 83) — eine
Annahme , die sich schon dadurch als unstichhaltig erweist, daß
Varro I 9, 7 nicht wie sonst den Cass. Dionys., sondern den
D i o p h a n e s zitiert, also beide Autoren auseinanderhält. Daß Varro
Aristoteles und T h e o p h r a s t bloß indirekt benutzt haben soll,
ist ganz unrichtig; darüber habe ich ausführlich im letzten Varro-
bericht S. 68 gehandelt, in der Besprechung der ausgezeichneten
Arbeit von G. Gentilli (De Varron. in 1. K. R. auctoribus, Stud.
ital. di filol. cl. XI 99 — 163). Die Untersuchung der Geoponika
wird , davon abgesehen, daß es noch keine moderne textkrit. Aus-
gabe derselben gibt, dadurch erschwert, daß Varro selber (zum
Teil mit Nennung seines Namens) in sie verarbeitet ist. Was
übrigens die gelegentlichen Mißverständnisse betrifft, die Varro
bei der Benutzung seiner Quellen unterlaufen, so dürfen wir nicht
vergessen, daß wir das Werk eines Achtzigers vor uns haben. Eine
wichtige Quelle lassen sowohl Hempel als auch die anderen Varro -
kritiker fast 2;anz außer Betracht : seine eigene landwirtschaftliche
78 Karl Mras.
Praxis^); welche Bedeutung diese für die 1. K. R. hat, erhellt schon
aus der Häufigkeit, mit der Varro auf seine Heimat (wo er auch
dieses Werk schrieb) , Reate uud Umgebung, zu sprechen kommt
(s. den Index bei Goetz-Keil). Seine Vorlagen las er mit dem
kritischen Blick des Fachmannes und paßte ihre für nichtitalische
Länder bestimmten Vorschriften den Verhältnissen Italiens an (siehe
meinen Varrobericht 1909, S. 69).
Fachkenntnisse Varros nimmt auch Waehler au (S. 62),
dem natürlich H e m p e 1 , sein Rezensent, widerspricht, Berl. ph,
Wochenschr. 33 (1913), 777 f.. W. geht in seiner Dissertation mit
trefflicher Methode vor: Indem er zunächst das Verhältnis zwischen
Varro undColumella untersucht (S. 8 — 42), konstatiert er, daß
dieser jenen noch weit öfter benutzt hat, als er ausdrücklich sagt
(charakteristisch besonders Colum. V 1, 5 die auffallende Bezeich-
nung eines Feldmaßes acnua, die er offenbar aus V. R. R. I 10, 2
hat , ohne daß er ihn nennt) ; manches varron. Gut verdankt er
Zwischenquellen, Celsus, Hygin u. a. Die nach Ausscheidung
dieser Stellen verbleibenden ähnlichen, aber keineswegs identischen
Abschnitte beider Werke werden auf eine gemeinsame Quelle, Magos
E p i 1 0 m e (C a s s. D i o n y s. ), zurückgeführt. Im 2. Kapitel wendet
sich der Verfasser der Untersuchung der varron, Schrift zu. Stoff
und Form der 1. R. R. sind echt römisch; römische Schriftsteller
zitiert V a rr o und verquickt ihre Ansichten mit seinen eigenen,
zieht aber auch seine eigenen früheren Werke (so die Antiquit.)
zur Illustrierung und Belebung des spröden Stoffes heran, zum Teil
aus dem Gedächtnis, wie W. mit Recht bemerkt (S. 51 f.). Wie
steht es nun mit Varros nichtrömischen Gewährsmännern? W. prüft
S, 66 — 70 die in Betracht kommenden Aristotelesstellen und S. 71
bis 75 die Stellen aus Theophrast. Durch diese Untersuchung
werden G e n t i 1 1 i s Ergebnisse (s. oben) im wesentlichen betätigt.
Von vornherein hätte man nicht daran zweifeln sollen, daß der aus-
gezeichnete Kenner der griech. Philosophie, dem selbst Cicero
ein Kompliment macht (vgl, Acad. I 1, 3), seine Schrift auf' dem
Grunde der genauen Kenntnis der Werke beider Philosophen auf-
gebaut hat. Das richtige Urteil über Th eophrast (I 5, 1 f.) kann
nur auf eigener Lektüre beruhen; die Ähnlichkeit zwischen Varro
und Theophrast (Histor. plant, u. De caus. plant.) ist oft so
^) Die auch Norden zu wenig würdigt (Einleit. in d. Altertumswiss. I
S. 482* = 3492): „. . . deren (K. R. 1.) Stoff er mehr aus griech. und lat.
Büchern als aus eigener Erfahrung nahm, obwohl die Resultate dieser
nicht irnnz fohlen."
Bericht über die IJteratur zu Varro aus den Jahren 1909-1918. 79
groß, daß sieh Varros Worte wie eine Übersetzung ausnehmen.
Die Benutzung des Mago (Cass. Dionys.) schränkt W. gegenüber
Hempel stark ein (4. Kapitel, S. 77—79).
b) R. R. 1. III als Quelle.
E. Weiss, De Columella et Varrone rer. rust. scriptoribus. Disser-
tation, Breslau 1911.
C. Engelke, Quae ratio intercedat iuter Vergilii Georgica et
Varronis rer. rust. libros. Leipziger Dissertation (Blankenburg)
1912.
G. W i s s 0 w a , Das Prooemium von V e r g i 1 s Georgica, Herrn. 52
(1917).
Weiss' Vorgehen ist analog dem von Hempel, von Varro
auf Columella umgesetzt (begreiflich also, daß es Hempels
vollen Beifall gefunden hat, Berl. phil. Wochenschr. 32 [1912]
S. 368 f.). Weil von allen landwirtschaftlichen Autoren Celsus
von Columella am häufigsten genannt wird (S. 3), sucht er zu
beweisen, daß auch Columella nur eine Hauptquelle gehabt
habe, nämlich Celsus, der seinerseits als Hauptquelle Dionysius-
Diophanes benutzt habe. Trotz der handgreiflichen Überein-
stimmungen zwischen Columella und Varro und ausdrücklichen
Zitate — bes. instruktiv ist in dieser Hinsicht Columellas Vor-
rede zum VI. B. (s. die Zusammenstellung S. 31 ff.) — geht er
so weit, Columella die direkte Benutzung der R. R. 1. des Reatiners
abzustreiten (S. 40) ! Wenn man sich nun vor Augen hält, daß
Celsus' Werk über die Landwirtschaft bloß fünf Bücher umfaßte,
das des Columella hingegen zwölf hat, muß man sich erstaunt
fragen, woher dann C. diesen großen Überschuß bezogen haben soll.
Selbst Hempel muß (in der oben erwähnten Besprechung von
Waehlers Dissertation [S. 777]) zugeben, daß dieser die Kraft
einiger Beweise von Weiss wesentlich geschwächt hat.
E n g e 1 k e s Dissertation ist hauptsächlich gegen P. Jahn ge-
richtet, der in verschiedenen Schriften (s. meinen Varrobericht 1909,
S. 70 ff.) Abhängigkeit Vergils in den Georgika von Varros
K. R. 1. annahm. Von vornherein aber ist — was E. statt am
Schluß, S. 52, an der Spitze seiner Arbeit hätte hervorheben sollen —
die Wahrscheinlichkeit höchst gering, daß Vergil, der 37 v. Chr.
mit der Abfassung seiner Georg, begann, Varros in demselben
Jahre erschienenes Werk benutzt habe, zumal da jener in Neapel
lebte. E. prüft zunächst (Pars I , p. 10 — 38) das Verhältnis des
vierten Buches der G. (Bienenzucht) zu Varros R. R. III IG : nirgends
gQ Karl Mras.
resultieren zwingende Beweisgründe dafür, daß Vergil den Varro
benutzt habe. Aucli im III. B. der Georg. (Pars II, p. 38 — 48)
findet sieb durchaus nichts, was mit zwingender Notwendigkeit auf
Varro als Quelle hinweisen würde; z. B. ergibt die Beschreibung
der Merkmale einer guten Kuhrasse bei Varro II 5, 7, verglichen
mit der bei Vergil, Georg, III 51 ff. bemerkenswerte Unterschiede,
ja Gegensätze (S. 39 f.). Auch in der Beschreibung des Fohlens,
dessen Merkmale zu guten Hoffnungen berechtigen (Verg. G. III
72 — 94 t^»-' Varro 117, 5) ist Varro als Hauptquelle für Vergil
ausgeschlossen (S. 41 f.). Hier wie dort bringt Vergil Merkmale
vor, die bei Varro fehlen. Für das 2. Buch nimmt nicht ein-
mal P. Jahn Varro als Quelle für Vergil an (sondern T h e o -
phrast) und für das 1. Buch kommt Varro ebensowenig in Be-
tracht (Pars III, p. 48 ff.). Während 0. Gut hl in g (Wochenschr.
f. kl. Philol. 29 [1912[ 1373 f.) mit Engelkes Kesultat durchaus
einverstanden ist (nur tadelt er sein schwerfälliges und oft nicht
einwandfreies Latein), wendet sich Jahn in seiner Kritik (Berl.
philol. Wochenschr. 33 [1913] 551—557), die eher als Selbstver-
teidigung zu bezeichnen ist, heftig gegen ihn.
Auf Varro führt Wisse wa, wie schon andere vor ihm, bei
Vergil die Anregung zurück, das Prooemium seiner Georgica in
Form einer Anrufung von zwölf ländlichen Gottheiten abzufassen.
Das sei keineswegs gewöhnlich, wie Varro selber hervorhebe (I 1, 4),
der diesen Kalimen (die Zwölfzahl) römischem Kultbrauch entlehnt,
die Götter selbst aber nach eigenem Gutdünken zusammengestellt
habe (S. 95 ff.)*, wie willkürlich und schrullenhaft er dabei vorging,
könne man daraus ersehen , daß die wichtigen agrarischen Gott-
heiten Saturn und Consus fehlen. Was nun Vergil betrifft, so
gibt W. selber zu, daß er nicht die varronische Auswahl über-
nommen habe. Sehr besonnen urteilt über diese Frage (S. 50 — 52)
Engelke (gegen ihn Wissowa a. a. 0. S. 95, Anm. 2): Vergil
zählt gar nicht gerade zwölf Gottheiten auf, von denen bloß fünf
beiden gemeinsam sind, Sol, Luna, Liber, Ceres, Minerva (daß beide
diese Götter anrufen, darf uns bei ihrer Bedeutung für die Land-
wirtschaft nicht Avundern) ; Varro führt sechs Paare an, Vergil
ordnet sie nicht paarweise; Vergils Götter stehen zu den einzelnen
Teilen seines Werkes in Beziehung, Varro ruft nur Götter an, die
den Ackerbau , den Gartenbau und die Olgewinnung beschirmen.
Mit Kecht Aveist er ferner darauf hin, daß Vergil sich hier der
typischen Gepflogenheit der Verfasser von Lehi'gedichten anschloß
(also keine Anregung von anderer Seite brauchte), man denke an
Bericht übi-r die Literatur zu Varro aus den Jahrou 1909—1918. 81
Arat (Zeus), Lucrez (I 21 Veuus, „quae . . . rerum naturam sola
guberuas"), Grattius (Diana), Manilius (Merkur).
6. Sachliches.
A. Geiss, Die politio iu der röm. Landwirtschaft. Dissertation,
Freiburg i. B. 1910.
J. Kromayer, Die wirtschaftliche Entwicklung Italiens im II. u.
I. Jahrb. V. Chr. Neue Jahrb. f. d. kl. Altert. 33. Bd. (1914),
145 — 169. '^
J. Curtis, The Double Flutes. Journ. of Hellenic Stud. 34 (1914),
89—105.
E. Fehrle, Die Heuschrecke im Aberglauben. Hessische Blätter
f. Volkskunde, Bd. 11 (1912), 211.
W. Vollgraff, Ad Callimachi hymnum in Cererem. Mnemos.
N. S. 42 (1914J, 410 ff.
W. Soltau, Roms Gründungsjahr bei Ennius. Piniol. 71 (1912),
317—319.
V. Lundström, Nya Enniusfragment. I. Erauos 15 (1915), 2 f.
Kurz erwähnt seien hier einige allgemeine Darstellungen,
die für die sachliche Erklärung in Betracht kommen : der gut
orientierende Artikel über Landwirtschaft im neuen Lübker (S. 577
bis 579), der an die Stelle des ganz ungenügenden Artikels über
Ackerbau (7. Aufl.) getreten ist; der Abschnitt über Getreide (von
Orth) in Paulys neu bearbeiteter Real-Encyclopädie, 13. Halbband
(1910), S. 1336—1352; die Artikel über Düngung und Obstbau von
J. H 0 0 p s im Reallexikon d. germanischen Altertumskunde.
Geiss behandelt einen terminus technicus der röm. Landwirt-
schaft, der nur selten vorkommt: bei Cato de agri cultura 136 (die
Hauptstelle), ebendort 5 und einmal in den Digesten : ferner gibt es
noch einige wenige Stellen, an denen ganz kurz von (de)politio
oder (de)polire in landwirtschaftlichem Sinne die Rede ist, darunter
Varro, Sat. Menipp. 589 B. Ich mache auf eine bisher übersehene
Stelle, R. R. I 2, 10 aufmerksam (Cn. Tremelium Scrofam, virum
Omnibus virtutibus politum, qui de agri cultura Romanus peri-
tissimus existimatur . . . fundi enim eins propter culturam iucundiore
spectaculo sunt multis quam regle polita aedificia aliorum), wo
jetzt klar ist, daß Varro ein Wortspiel beabsichtigt hat und beide
Varrostellen einander illustrieren: aus jener ^) folgt, daß Varro hier
') Quid mirum? ex agri depolitionibus eiciuntur, hie in cenaculo polito
recipiuiitur.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 6
g2 Kiirl Mi-as.
auf die politio agri anspielt, und umgekelirt aus dieser, daß dort
der Gegensatz zwisclien agri cultura und städtischer Kultur vorliegt.
Über die Bedeutung von politor vmd politio gibt es zwei Haupt-
ansicliteu: 1. Der politor ist ein gewöhnlicher landAvirtschaftlicher
Arbeiter, der aushilfsweise bei der regelmäßigen Ackerbestellung
verwendet wird. 2. Der politor ist ein besonders qualifizierter land-
wirtschaftlicher Ai'beiter, welcher nicht im regelmäßigen Wirtschafis-
betriebe Verwendung findet (man denkt dabei an Meliorationsarbeiten)
[G eiss S. 14— ;31]. Da den Verfasser weder die bisherige Erklärung
noch die bisherige Ableitung des Wortes polio und seiner Derivativa
(von der y' li + po) befriedigt (a. S. 32 — 39), leitet er es von yrolelv
ab = öearÄern, Brachacker heslellen (S. . 39 — 45). ein unglückseliger
Einfall , da JCoXslv^ das nur bei Dichtern vorkommt, der gewöhn-
lichen Sprache gar nicht angehört, ein Umstand, der die Möglich-
keit, polio als ein auf tioXeIv zurückgehendes Lehnwort anzusehen,
völlig ausschließt. Überall kommen wir mit der der bisherigen Ab-
leitung entsprechenden Bedeutung glätten, in den Zustand der Fcrtig-
strUint'j, Vollkommenheit bringen aus.
(Jicero spricht Ad Attic. I 19, 4 (vom 15. März 60) von der
Verödung Italiens^), Varro hingegen preist die landAvirtschaftliche
Blüte des Landes 11. R. 12, 3") u. 6, das er an letzterer Stelle
geradezu mit einem Obstgarten vergleicht^). Wie löst sich dieser
Widerspruch? Kromayer verweist auf Urkunden aus Süd- und
Norditalien (CIL IX 1455, Benevent und XI 1147, Veleia und
Placentia), aus denen sich folgendes ergibt : Unter 89 Besitztümern
in der Mai-k von Veleia und Placentia umfassen bloß 8 mehr als
10 Hektar und auch diese halten sich in den sehr bescheidenen
Grenzen von 11 — 26 Hektar. Und noch günstiger für den kleinen
Besitzer ist das Resultat in Benevent: Hier gibt es unter 92 Besitz-
tümern auch nur 8 mit mehr als 10 Hektar", aber das größte unter
ihnen hat bloß 14. Es ist also in diesen beiden Landschaften alles
Ackerland , das in den Tafeln zur Verzeichnung gekommen ist,
in der Hand von Mittel- und Kleinbesitzern. Die Bauernkolonien
Avaren zum größten Teil auf Nord- und Süditalien vei'teilt. Dagegen
wurden die Lücken des kleinen Bauernstandes in Latium und den
umliegenden Gebieten nicht durch Auffüllung desselben ergänzt.
^) ... et sentinam urbis exhauriri et Italiae solitudiuem frcquentari
posse arbitrabar.
-) Vos, 4U! nuiltas porambulastis terras, ecquam cultiorem Italia
vidi.stis?
^) Non arboribu.s consita Italia, ut tota pomarium videatur?
Bericht über die Literatur zu Varro aus don Jaliren 1909 — 1918. 83
sondern hier trat dafür der Großgrundbesitzer ein, der die in der
Nälie Roms gelegenen kleinen Güter als Kapitalist aufkaufte und
zusammenschlug, während der kleine Mann in die Kolonien und
Landanweisungeu in Süd- und Norditalieu abgeschoben wurde (S. 152).
Also beziehen sich die Klagen der Autoren auf Mittelitalien, Varro
hat Gesamtitalien im Auge.
0. Keller (der Verfasser des Wei-kes Die antike Tier-
welt) macht ander oben (unter Textkritik) angeführten Stelle
darauf aufmerksam, daß die von Varro (R. R. 11 1, 5) erwähnten
phrygischen Wildschafe noch moderne Reisende wie Hamilton lierden-
weise angetroffen haben : es wird sich um den dickhornigen Argali,
Ovis argali oder ammon, handeln, der jetzt noch in Armenien und
weiter östlich vorkommt.
Curtis erörtert in seinem Aufsatz die Konstruktion der Flöten
zu verschiedeneu Zeiten und die Skalen , die auf ihnen gespielt
werden konnten. Bei Varro R. R. I 2, 15 liegt kein Irrtum vor,
wie C. annimmt, denn Varros Worte besagen nicht das, was C.
in sie hineinlegt; übrigens stammt der Vergleich der vita pastoralis
mit der tibia incentiva, der vita rustica mit der succentiva, wie aiis
j:^ 16 folgt, aus Dikäarch.
Varro nimmt R. R. I 2, 25 und 27 voller Spott auf aber-
gläubische Vorschriften der beiden Sasernae (Vater und Sohn) Bezug.
Auf erstere Stelle beruft sich, für die Heil- und Zauberkraft der
Gurke, Fehrle, auf letztere Vo 11g raff, zum Beweis des Glaubens
an die große Kraft des menschlichen Speichels.
Nach Varro R. R. HI 1, 2 ließEnnius zu seiner Zeit etwa
700 Jahre seit Roms Gründung vergangen sein'^). Diese Worte
wurden entweder auf einen Irrtum Varros zurückgeführt — wenig
wahrscheinlich , vor allem , wie ich bemerken Avill , deshalb, weil
Varro selber dem Enuius einen Irrtum zuschreibt — '^), oder man
suchte sie von einem besonderen chronologischen Gesichtspunkt aus
zu erklären (Luc. Müller: Ennius habe Karthagos und Roms
Gründung in die gleiche Zeit gesetzt, um 900 v. Chr.), S o 1 1 a u
mt'iut, wenn Ennius wie Naevius den Romulus zum Enkel des Aencas
inachte (L. Müller), also Roms Gründung um 1100 erfolgen ließ,
konnte er nicht an anderer Stelle das augustum angurium 200 Jahre
') Ann. 501 Vahleii": septiiigenti sunt paulo plus aut minus ainii,
augusto augurio postquam inclita condita Roma est.
^) Nam in hoc nunc denique est ut dici possit, non cum Ennius scrip.?it:
septingenti sunt e. q. s. : d. h. Jetzt erst stimmt d'm Behauptung, nicht zu
Ennius' Zeit usw.
6*
84
Karl Mras.
später ansetzeu : s. E. waren die Worte vielleiclit einem Staatsmann
bei besonderem Anlaß in den Mund gelegt, etwa beim Herannahen
der Gallier (vgl. Liv. V 40, 1).
Lundström gewinnt (evident richtig!) durch Vergleichung
von Colum. I. praef. 20 mit Varro K. li. II praef. 4 u. L, L. V 42
folgende Fassung von Frg. Ann. 25 V. ^ : hoc Latium et Saturnia terra.
7. Sprachliches.
G. G 0 e t z , Sprachliche Bemerkungen zu Varro de re rustica. Indo-
german. Forschungen, 31. Bd. (1912/13), S. 298—308 (vgl. auch
die Fraetatio seiner Ausgabe, S. XI ft'.).
Varro bietet einige seltene, ja auch sonst nicht belegte "Wörter
und Formen. Obaerarius (K. R. 1 17, 2) verteidigt G. S. 298 f.
durch die maßgebende Überlieferung sowie durch Corp. Glossar. V
630, 15 obaerarius ob aes obligattis (dagegen L. L, VII 105 . . . ut
ab acre obaeratus)\ er vermutet, daß obaeratus die juristische Form
war, obaerarius hingegen der Bauernsprache angehörte. Schwierig
ist die Entscheidung II 4, 16, wo die Überlieferung zwischen delici
und deliti schwankt : cum porci depulsi sunt a mamma, a quibusdam
d. appeUaniur. Delicus aus dc-lac-os zu lac (Walde, Etym. Wörterb. ^
S. 227 •, aber warum die t-lose Form des Stammes ?) oder dcicli =
deiculi, lacte depulsi (Francken, Mnem. N. S. 28, 285, s. Varro-
bericht 1909, S. 67) oder delicti von linquere (Vanicek 238) oder
deliti = ausgestrichen, nämlich aus dem Verzeichnis der Sauglämmer,
das der Schäfer hatte (Goetz a. a. 0., S. 301)? Gegen delitus
verhält sich F. H a r t m a n n im Literaturbericht der Glotta , VI
(1915), S. 335 ablehnend (im Text seiner Ausgabe schreibt G. delici).
Jedenfalls hat das Wort nichts mit Catos armenta delicula und oves
delicuJae (De agri cultura 2 , 7) 'zu tun , wo Tiere gemeint sein
müssen, die mit irgendeinem Mangel behaftet sind und die man
deshalb verkauft. S. 301 — 303 führt G. andere Beispiele singulärer
Formen aus Varro an, die z. T. durch die roman. Sprachen be-
stätigt werden, pullitris III 9, 9 (von pullus wie porcetra von porcus,
ital. puledro), vcllimna II 11, 9 (unter Hinweis auf meinen Varro-
bericht 1909 , S. 66) u. a. Daher empfiehlt es sich, so seltsame
Wörter wie frit und urru (I 48, 3) bis auf weiteres einfach hinzu-
nehmen (S. 303 f.). Schörls Annahme a. a. 0., S. 83 f. (s. oben
unter Textkritik), urru sei darauf zurückzuführen, daß teils
OVQLaxog in lat. Schrift wiedergegeben , teils dessen Übersetzung
veru{tum) beigeschrieben war, ist nicht annehmbar, weil nicht ein-
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909—1918. 85
mal metaphorisch mit ovQiaxog (Lanzenschuh) etwas bezeichnet werden
kann, was, wie Varro sich ausdrückt, mimts est quam granum.
S. 304 f. verteidigt G. zu I 31, 5 seine Schreibung (/arraf/o) contra
ex segete . . . aut quo {ä) [fart] ferro caesa^ ferrago ^) dicta aut inde,
quod primum in farracia segete seri coepta. Nun ist klar, daß es sich
um zwei Etymologien desselben Wortes handelt (F. Hartmanu
a. a. 0., S. 336 stimmt bei). Besonders einleuchtend ist Goetz'
Verbesserung und Erklärung von II 1, 7 (S. 305 — 307): . . . nosiri
. . . . oves baelarc (in seiner Ausgabe schreibt ev + halare) vocem
efferentes^ c quo post halare dicunt extriia littera, ut in miätis (von
Keil in seinem Kommentar gänzlich mißverstanden, s. S. 136).
Baelare ist mehrfach bezeugt, ist auch die roman. Grundform, z. B.
ital. belare , frz. beler. Für i] = ae führt er einige Belege an.
S. 307 f. zeigt er, daß die richtige Namensform Tremelius, wie der
Archetypus an einigen Stellen bietet, ist (vgl. H e r a e u s , Arch. f.
lat. Lexikogr. XIV 466, Anmerk.). Tremellius berxiht auf Konfun-
dierung mit Trebellius (das damit gar nichts zu tun hat).
Drittes Kapitel.
Die meuippeischen Satiren.
1 . Allgemeines^).
r. Geffcken, Studien zur griech. Satire. Neue Jahrb. f. d. kl.
^ Alt. 27 (1911).
r. A. Gerhard, Satura und Satyroi. Philol. 75 (1918).
r. L. Hendrickson, Satura — The Genesis of a Literary Form.
Classical Philology VI (1911).
p. W. D. Ingersoll, Roman Satire: Its Early Name? Ebenda VTI
(1912).
Kroll, Satura. Neue Bearbeit. von Paulys Keal-Encyclop.,
t 2. Reihe, 3. Halbband 3).
') Der Beistrich nach' ferrago muß entfalleu.
^) Wegen der Fülle der Namen wähle ich hier die alphabetische An-
Jrdnung.
") Ich bespreche diesen Artikel in meinem jetzigen Bericht, weil er,
^obwohl der Halbband, in dem er steht, erst 1921 erschienen ist, doch
)ereit=i 1916 in einem Sonderabdruck 0. Weinreich zugänglich war (sieh^
lerm. 51. Bd., S. 411), damals also bereits im wesentlichen für abgeschlossen
selten konnte.
86 Karl Mras.
V. Leo, Geschichte d. röm. Literatur, 1. Bd. (Berlin 1913).
E. Lommatzsch , Bericht über die Literatur der röm. Satiriker
von 1908—1917. „Bursian" 175. Bd. (1919 erschienen).
F. De P a 0 1 a , Le origini della satira romana. Citta di Oastello.
1909.
B. L. Ullmann, Satura and Satire. Classic. Philol. VIII (1913).
R. H. Webb, On the Origin of Roman Satire. Ebenda VII (1912).
A. L. Wheeler, Satura as a Generic Term. Ebenda VII (1912).
Die mit der Satire in Zusammenhang stehenden Fragen, die
nach einem treffenden Ausspruch von Lommatzsch a. a. 0., S. 91
besonders in Amerika in den letzten Jahren fast sportmäßig be-
handelt worden sind, sollen hier nur insofern berlihrt werden, als
ich auf die Untersuchungen der Herkunft und dos Alters der Be-
zeichnung Satire kurz verweisen will. Im übrigen diene Lommatzsch'
Bericht zur Orientierung. Bezüglich des Namens der Satire stehen
sich zwei Auffassungen gegenüber, nach deren einer satura ein als
Sing. fem. verwendeter urspr. Plur. neutr. ist wie farsum (statt
fartum) — farsa (ital.), farce (frz.): Ullmann S. 174, Gerhard
S. 261 f. (vgl. auch Leo S. 423, Aumerk. 1). Der andern, von
Paola vertretenen Auffassung zufolge (s. S. 22 f.) war satura ur-
sprünglich Adjektiv und fabula zu ergänzen, wie (fabula) togata,
palliata u. dgl. ; von Paola ist Webb durchaus abhängig. Diese
Auffassung ist wenig wahrscheinlich, weil ^vir, während fabula palliata
u. dgl. mit dem alleinstehenden palliata u. dgl. stets wechselt, keinen
Beleg für fabula satura anführen können.
Die Bezeichnung satura lassen bereits für Ennius (beziehungs-
Aveise Naevius) gelten und Lucilius wie Varro sie von diesem
übernehmen: Norden, Einleitung 1910 ^ S. 472 f. (= 1912 ^
S. 338 f.), Webb, der mit Recht (gegen jene, die den Ausdruck
erst 40 — 30 v. Chr. zum term. techn. werden lassen) S. 180 auf
den Katalog der Werke Varros hinweist, in dem zweimal satyra
vorkommt (aus welcher Verlegenheit sich Hendrickson nur da-
durch zu helfen weiß , daß er die Abfassung dieses Kataloges in
nachvarroiiische Zeit versetzt; s. a. a. 0.^) S. 842 f.), Ullmann, der
sich S. 186 f. außer auf den Katalog auf N o n i u s' Zitate aus Ennius
und Lucilius beruft, die stets lauten Ennius {Lucilms) satyrarum
libro . . ., sowie auf Sueton, De gramm. 2 (Lucilii saturas) und
Gell ins 11.18, 7 {saturae 3Ienippeae) , Leo S. 19 f. u. 422 f.,
Gerhard S. 261 f. und schließlich Kroll S. 194, die beide aus
') Oben, Erstes Kapitel.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 87
der Eigenart des Dichters L u c i 1 i u s , wenn dieser aucli die herkömm-
liche Bezeichnung tibernahm, etwas Neues hervorgehen lassen. In
der Tat , erst L u c i 1 i u s hat die Satire zu dem gemacht, was sie
seitdem geblieben ist; daß durch ihn to OA.i07Tiiy.6v in die erste
Reihe der konstitutiven Merkmale der Satire gerückt ist, dessen ist
sich ra. E. auch Horaz bewußt gewesen, s, Serm. III sunt quibus
in satura vklcor nimis acer.
Hingegen läßt im Anschluß an Marx (s. Yarrobericht 1909,
S. 78) Hendrickson, Class. Pbilol. VI, 8. 130 ff. satura als term.
techu., weil ihn Cicero (De orat. H 25 und De fin. I 7) und Varro
(R. R. III 2, 17) nicht gebrauchen, erst zwischen 40 und 30 v. Chr.
aufkommen; bevor eine genaue technische Bezeichnung dieses litera-
rischen Geniis aufkam, sei die Satire des Lucilius und seiner Nach-
folger vielleicht scliedium genannt worden, meint I n g er s o 1 1 S. 59 — 65.
Daß aber aus der Seltenheit des Gebrauches der Bezeichnung satura
keine Schlüsse auf das Aufkommen desselben gezogen werden dürfen,
zeigt Wheeler in seinem interessanten Aufsatz, S. 457 — 477, dessen
Material er zum Teil zwei Linzer Programmen von F. B ar ta (1889
und 1890) entlehnt hat. Wirklich überraschend ist die Wahrnehmung,
wie selten Varro in seinem grammatischen Werke (De 1. 1.), in dem
man doch ganz besondere philologische Genauigkeit erwarten sollte,
bei Anspielungen auf Dichterwerke termiui techn. gebraucht; das-
selbe gilt auch von seinem Werke über die Landwirtschaft (ß. 471 ff.).
Bei Cicero sind Gattungsbezeichnungen von Dichtungen ebenfalls
selten (S. 474).
Norden S. 472 f., 1. Aufl. (= S. 338 f., 2. Aufl.) und Kroll
S. 195 charakterisieren Varros Satiren und heben au ihnen besonders
den seltsamen Wechsel von Prosa und Poesie sowie ihre Polymetrie
hervor, für die letzterer auch auf Phoenix von Kolophon und
Kerkidas verweist. Norden sieht in der Buntheit ihres Inhaltes
und ihrer Form eine Anlehnung an Enuius. Auch hier offenbart
sich Varros widerspi-uchsvoUes Wesen : neben archaischer Simplizität
steht neoterische Kompliziertheit, neben kyklopischer Periodisierung
asianische Raffiniertheit.
Daß wir bei der Rekonstruktion der menippeischen Satire
hauptsächlich auf Lukian, nicht auf Varro angewiesen sind, be-
hauptet ganz richtig Geffcken, S. 482, Anmerk. 2. „Man kann",
sagt er, „mit aller Phantasie diese Phantastik (die der Satiren Varros)
nicht zurückgewinnen, vollends aber nicht dahinter Menippos . . .
erkennen''.
88 Kall Mras.
2. Ausgabe.
Die Bruchstücke der Satiren Varros siud von W. Heraeus
in der von ihm besorgten fünften Auflage von Fr, Büclielers
Petronii Saturae (Berlin 1912) neuerdings herausgegeben worden.
Neu ist die Praefatio. Noch ^ehr als sein Vorgänger hat sich H.
an die Überlieferung angeschlossen. Zu Varros Satiren gibt er
zahlreiche eigene Konjekturen, ohne sie in den Text anfzunehraen.
Dank verdient die Hinzufügung eines Conspectus Saturarura und
die Erweiterung der Indices. Im übrigen verweise ich auf die
Eezensionen von E. Thomas, Revue critique , N. S., tome 74
(1912), S. 108 f. und J. Tolkiehn, Berl. phil. Wochenschr. 33
(1913), 426.
3. Textkritik.
W. B. Anderson, Some ' Vexed Passages' in Latin Poetry. Classical
Quarterly V (1911), S. 181.
Sat. Men, 183 B. (bei Nonius 314 M.) ubi graves paseaniur
atque alantur pavonum greges will er grues für graves lesen (vgl.
Hör. Sat. II 8, 87, wo der Krauich als Delikatesse erwähnt wird) —
sehr unwahrscheinlich, weil Nonius die Stelle gerade wegen grave
zitiert. Nur glaube ich nicht, daß gravis hier im Sinne von multos
gebraucht ist (Nonius), sondern fasse es proleptisch = so dafs sie
schwer tcerden, also zur Mästung.
4. Die Vorbilder der Satiren.
K. Mras, Varros menippeische Satiren und die Philosophie. Neue
Jahrb. f. d. kl. Altert., 33. Bd. (1914), S. 390—420.
Ein römischer Optimat Freund des Kynismus und Nachahmer
Menipps? fragt man sich verwundert. Ich habe zu zeigen versucht,
wie mau das Verhältnis des Polyhistor zu den Kynikern aufzufassen
hat. Ihm, dem an Einfachheit gewöhnten biederen Landedelmann,
sagten die ethischen Grundsätze des gemilderten Kynismus zu,
er wahrte sich aber ihnen gegenüber die Selbständigkeit seines
Denkens und ging über ihre bloß negative Betätigung (im leiden-
schaftlichen Kampfe gegen alle Arten des Tvfpog) hinaus, indem er
positive, echt römische Grundsätze empfahl. Auf den beiden andern
Gebieten der Philosophie, in der Logik und Physik, sowie auf dem
der allgemeinen Bildung, der ey/.v/.?ua ^ad^rjfxata, auf die die
Kyniker gänzlich verzichtet hatten, schloß ersieh an dogmatische
Philosophen an, wobei der Einfluß seines Lehrers, des Neuakademikers
Antiochos von Askalon, deutlich zu erkennen ist. Die Stoa hat er
Berieht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 89
vom Standpunkt des Antiochos aus betrachten und einschätzen ge-
lernt. Menipps Satiren haben ihn durch ihren bunten Inhalt, ihre
barocke Form und ihren moralischen Gehalt angezogen, er hat sich
aber auch diesem Muster gegenüber seine Selbständigkeit gewahrt.
5. Die Nachwirkung der Satiren.
0. Wein reich, Zur röm. Satire. II. Die Anordnung von Horazens
zweitem Satirenbuch. Herrn. 51 (1916), 412 — 414.
J. Geffcken, Kynika und Verwandtes (Heidelberg 1909).
Nach W. setzte sich Horaz zwar nicht theoretisch, wohl aber
praktisch mit der menippeischen Satire auseinander: Serm. II 5 sei
seine Menippea, in der er ein menippeisches Motiv mit aktuell-
römischem Inhalt (Erbschleicherei) und horazischem Geist erfülle.
Auch II 3 habe er Varro vor Augen, sie sei eine Koukurreuzsatire
zu seinen Eumenides (Thema beider : ozi rtäg a (pQOJV /Lialvetai).
Von G e f f c k e n s Schrift kommt für Varro seine eingehende
Analyse der Abhandlung TertuUians De pallio, S. 58 — 138 in
Betracht. Mit Rücksicht auf die ebenso eingehende als treffliche
Kritik W. Capelies, Neue Jahrb. f. d. kl. Altert. 27 (1911),
S. 386 ff., kann ich mich hier kurz fassen. Geffckens Annahme,
dali TertuUians Schrift eine menippeische Satire Varros zugrunde
liege, bat Capelle dahin eingeschränkt, daß sie nur für den 2. Teil
(Kap. 3, 2. Hälfte — Kap. 5) gelten könne, während im 1. Teil
(Kap. 2 und Kap. 3, 1. Hälfte) das Material allerdings größtenteils
aus Varro stammt , aber augenscheinlich nicht aus einer Satire,
sondern aus seinen Antiquitates ; das eigentlich Satirische fehlt ja
hier vollständig, auch ist nicht anzunehmen, daß Varro mit solcher
Ausführlichkeit in einer Satire den Wechsel des Gewandes begründet
haben sollte.
6. Sachliches.
K. Morawski, Quaestiones convivales. Sonderabdr. aus den Sitzungs-
ber. d. Krakauer Akad. Wiss. philolog. Kl. 55. Bd. (1916), 19 Seiten.
G. Schmid, Die Fische in Ovids Halieuticon. Philol. Suppl. B. XI
(1907—1910), S. 330.
W. W. Jaeger, Zum Philipperbrief. Herm. 50 (1915), S. 550.
G. Zottoli, Un proverbio varroniano ed un „calembourg" pom-
peiano. BoUett. di tilol. cl. XVI (1909/10), S. 185.
Morawski verwertet in seiner in flüssigem Latein geschriebenen
Abhandlung Stellen aus Varros Satiren und E. R. zur Illustrierung
von Gastmahlsitten und der Beliebtheit gewisser Leckerbissen (S. 4, 6 f.,
90 Karl Mras.
15, 19), wobei er das Fortschreiten des TaPelluxus durch Varro,
Horaz und Plinius veranschaulicht. Vgl. die liezension von J. Mesk,
Berl. ph. Woch. 1916, S. 1271 ff. InVarros Satire JTe^t edea^aTcov (Gell.
VI 16) sind nachSchmid die aseUi Pessiniinüi [hg. 403 B.] keine
Fische [obwohl sie zwischen der murcna Tartesia und der ostrea
Tarenti genannt werden!], denn Pessinus liege tief im Binnenlande,
auch nicht unmittelbar an einem Fluß ; vielmehr seien wirkliche
junge Esel gemeint (vgl. Plin. VIII 43, 170).
Die von Paulus Phil. 2, 6 gebrauchte Eedensart ovyi a^Tiayf-ibv
^yi]oaTO t6 sivai \'aa ^£(p gibt Jaeger den Anlaß, die Geschichte
der Phrase zu erörtern. Varro Sat. Men. 499 B. (Sexagessis XV)
avidiis iudex reiim duccbat esse y.oivoy EQf.it'^v verwendet eine ver-
wandte Kedcnsart (Egi-triv könnte man durch Vqf.iaiov, aQuayf.ia er-
setzen) von einer Person , desgleichen Lucian , Advers. indoct. 1
fQiiaiov el und Josephus Ant. lud. XI, § 162 ootiog agriayfia
yial Xa(fvQOv yevoi-isvov (sc. xo td-vog t^iiiüv). „Nachdem also die
Phrasö", sagt J., „aus den niederen Regionen des Alltagsjargons
der Erotik und Kynik den Zugang zur großen historischen und zur
wissenschaftlichen Prosa gefunden hat, ist sie literarisch approbiert
und kann auch in einer so hochpathetischen , feierlichen Periode
wie der des Philipperbriefs nicht mehr als Eriovov empfunden
werden".
Daß Sat. Men. 539 B. (Tacfi) Mevinjcov) (homiues) cum peius
formidcoit quam fidlo ulidam mit fiülo nicht der Walker, sondern
ein Käfer gemeint sei, der geradeso heißt (Plin. N. H. 30, 30 [100]),
glaube ich Zottoli nicht. Daß aber in einer von einem Walker
Cresce(n)s geschriebenen pompejau. AVand Inschrift (CIL IV 4118)
Cresces fidlonibxis et idulae suae scd(idem^ eine erotische An-
spielung vorliegt (auf den Cr. ist seine Geliebte so erpicht wie das
Käuzchen auf den Käfer), wäre immerhin möglich; allein warum
heilU es dann nicht Cresce(n)s fidlo uhdae s. sal.?
7. Sprachliches.
E. Norden (Ennius und Vergilius, Leipzig 1915) faßt S. 2,
Anm. 2, Sat. Men. 58 B novo partu poeticon das letzte Wort als
genet. plur. auf (wonach er einen Abschnitt seines Werkes, I 1,
Vergilius in novo partu poeticon überschreibt) und schließt S. 11,
Anmerk. 1 aus Sat. Men. 223 fcra . . munera heUi in Hinblick auf
Lukrez I 32 belli fera moenera. daß diese Phrase ennianisch sei.
Bericht über die Literatur zu Varro aus tion Jahren 1909 — 1918. 91
Viertes Kapitel.
Geschichtliche und geographische Werke.
1. Ausgabe.
H. Peter, Historicorum Koman. reliquiae, vol. I, 2. Auflage
(Leipzig 1914). Sie enthält zwar keine Bruchstücke der historischen
Werke Vai-ros, die vielmehr im 2. (von mir im lezten Varrobericht
S. 81 f. rezensierten) Bande stehen. Allein da nicht wenige Frgg.
alter Historiker aus Varros beiden erhaltenen Schriften stammen
oder Quellenschriftsteller sich auf nicht erhaltene Werke desselben
berufen , muß diese Ausgabe hier erwähnt werden. Leider ist ihr,
so reichlich sie sonst mit Indices versehen ist, kein Index der nicht
erhaltenen Schriften (z. B. Varros) beigegeben, die von den Quellen-
schriftstellern angeführt werden.
2. Die Logistor ici.
Pliuio Fraccaro, lieminiscenze catoniaue in Virgilio. Bollett.
di filol. cl. XVn (1911), 161—163.
K. R e e h , De Varrone et Suetonio quaestiones Ausonianae. Dissert.
Halle 1916.
Fraccaros kurzer, aber gehaltvoller Aufsatz gilt eigentlich mehr
Varro als Cato. Servius bemerkt zu Verg. Aeu. IX 600: Italiae
discipUna et vita landatur: quam et Cato in Originibus et Varro in
Genie p. R. commemorat. Freilich ist uns kein Bruchstück aus den
Büchern De gente p. R. erhalten, das davon handeln wüi-de, aber
wir können uns aus Varros Logistoricus Catus de liberis educandis
eine Vorstellung davon machen, wie er über diese Dinge dachte '^).
Schon der Umstand, daß Vergils Schilderung die alte spartanische
Zucht im Auge hat, weist auf Varro hin, der nach dem Vorgange
des Posidonius, welcher die röm. Verfassung für eine i.iif.ir^aig der
spartanischen hielt , Beziehungen zwischen den Gebräuchen beider
Völker aufgestellt hatte (S. 161, Anm. 2; s. De gente p. R. frg. 37 F
und des Verfassers Studi Varron. p. 226). Das XIX. Bruchstück
des genannten Logistoricus^) wird gewöhnlich auf Varros eigene
Jugend bezogen. Aber Fr. nimmt m. E. mit vollem Rechte an.
1) Vgl. auch W. Kroll, Neue Jahrb. f. d. kl. Altert. 37 (1916), S. 10.5,
Anmerk. 2, der darauf hinweist, daß Varro seiner Zeit deu Spiegel der
Vergangenheit vorzuhalten pflegte.
-) Bei A. Riese, M. T. Varr. Sat. Men. reliquiae S. 250: Mihi puero
modica una ßiit tnnica et toga, sine faseeis calceamenta, uns sine ephippio,
bahieum non cottidimmm, idveus rctrits.
92 Karl Mras.
daß in diesem Logistoricus (der Ciceros Cato de senect. zum Muster
diente) Cato die Hauptrolle gespielt hat, und weiter, da sich be-
merkenswerte Ähnlichkeiten zwischen jenem Bruchstück des Logistori-
cus, einem Frg. der Rede Catos De suis virtutibus (XI, 1 Jordan)
und den Vergilianischen Versen ergeben, daß jene Stelle des Logist.
nicht auf Varros , sondern auf Catos Jugend zu beziehen ist und
Vergil nicht aus Cato, sondern aus Varro geschöpft hat.
Im 2. Kapitel (S. 25 ff.) der Dissertation von Reeh (auf die
ich im folgenden und außerdem noch im 7. Kapitel zurückkomme),
dreht sich die Untersuchung hauptsächlich um das Verhältnis von
Censorin, Kap. 7 ff. zu Varro. Reeh leitet im Anschluß an H. D i e 1 s
die Kapitel 7,9, 11 und 14 aus Vai*ros Logistoricus Tubero de
origine humana ab, unter Zustimmung P. Wessners, der in der
Berl. ph. Wochensclir. 1917, S. 67 — 74 eine vortreffliche Rezension
dieser Dissertation geliefert hat.
3. Die Imagines.
Im 1. Kapitel behandelt Reeh S. 7 — 21 Auson, Moseila 298
bis 320 (Vergleich der Bauten an den Ufern der Mosel mit be-
rühmten Bauwerken früherer Zeiten), für welche Verse Auson nach
seinem eigenen Zeugnis (30G/7) das 10. Buch von Varros Heb-
domaden (Imagines) herangezogen hat. Unstimmigkeiten ergeben
sich aus der Verwendung einer Nebenquelle.
4. De familiis Troianis.
H. Dessau, Vergil und Karthago. Herrn. 49 (1914), S. 508—537.
W. A. Baehrens, Literarhistorische Beiträge. Herm. 50 (1915),
S. 261-265.
Dessau sucht das Zeugnis des Servius zu Verg. Aen. V 4
sane scienduni Varronem dicere Äeneam ab Anna amatum und das
ausführlichere des erweiterten Servius zu Aen. IV 682 Varro ait non
Didonem, sed Annam amore Aeneae impulsam se supra rogum intereniisse
S. 519 ff. zu beseitigen, unter Hinweis auf Dionys. Hai., Antiquit. I
47 — 55, wo nichts von einem Besuche des Aeneas bei der karthagi-
schen Fürstin steht (obwohl Varros Antiquit, nach Dessau die
direkte Quelle für Dionysius' Erzählung von den Irrfahrten des
Aeneas sind), und in Hinblick auf andere Verselien des Servius
(S. 521 — 525), wobei er aber ziigeben muß, daß deren größte Zahl
im eigentlichen Serviuskommentar, nicht im „Servius Danielis" zu ,
finden sind. Varro habe die karthagische, von ihm Anna genannte i
Fürstin den Selbstmord infolge der Treue verüben lassen, die sie
ihrem heimatlichen Gemahl wahren wollte. Erst Vergil habe den
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 93
Stammvater des röm. Volkes uach Afrika und mit der Phönikeriu
in Verbindung gebracht. Diese Hypothese , die D. im 52. Bande
des Herm. (1917), S. 470 — i72 aufrechthält, scheitert daran, daß
bereits Naevius nicht bloß Dido mit ihrer Schwester Anna erwähnt,
sondei'n auch die Phönikeriu mit Aeneas zusammengebracht hat,
vgl. das 24. frg. (Baehrens F P R) aus dem II. Buch seines
B. Poen. blande et docfe percontat, Aenca quo pacto Troxam urhem
liquisset, wo blande doch auf eine Frau hinweist. Das nimmt auch
Baehrens an, obwohl er sich in der Erklärung von blande ganz
seltsam vergreift. Seine eigene Hypothese, daß Servius an den oben
erwähnten Stellen nicht aus Varros Antiquitates, sondern aus seiner
Schrift De familiis Troianis schöpfe, hängt in der Luft. Als ihre
Abfassuugszeit nimmt er die Zeit Cäsars (oder des Augustus) an,
das beweise schon die Tendenz des Inhaltes ; daher sei sie auch
dem Dionys bei der Ausarbeitung des 1. Buches noch nicht bekannt
gewesen.
5. Eine Schrift über die Zeitrechnung.
C. Fr ick, Varroniana. 1. In welcher Schrift hat VaiTo über die
nach ihm benannte Ära gehandelt? Berlin, phil. Wochenschr. 30
(1910), 1023.
Derselbe, Varroniana II. 2. In welcher Schrift hat Varro über die
nach ihm benannte Ära gehandelt? Ebenda 31 (1911) 1323 — 1326.
0. Leuze, Das synchronistische Kapitel des Gellius. lih. Mus. 66
(1911).
Fr ick stimmt Fraccaro (Studi Varron. S. 100 ff.) bei, daß
das große Varroexzerpt über die Epochen der Geschichte bei
Censorin, Kap. 21, § 1 — 5 nicht aus der Schrift De gente p. R.
stamme. Aus AA^elchem andern Werke Varros also? Dieses müsse
erst nach dem Annalis des Atticus (47/46 verfaßt) entstanden sein,
da es auf demselben weiter baute. Andererseits aber kenne es
Cicero im Jahre 45, denn er meine es Acad. I 3, 9 mit den Worten:
Tu aetatem patriae (sc. aperuisti). Diese Grundlage der Beweis-
führung ist zu morsch, als daß sich auf ihr ein dauerhaftes Gebäude
errichten ließe. Lesen wir nämlich Ciceros Worte im Zusammen-
hang von Tu bis apennsti, so drängt sich uns die Überzeugung auf,
daß den dem aperuisti vorangehenden Worten tu omnium divinarum
humanarumque rerum nomina, genera, officla, causas die Bedeutung
einer das Voransteheude zusammenfassenden Anspielung auf Varros
Antiquitates rerum humanarum et divin. zukommt, auf die Fr ick
selber alles von tu discriptiones temporum an bezieht (1911, S. 132E,
94 Karl Mras.
Anmerk. 4). Damit erledigt sich aiicli seine Annahme, daß man
aus Tu aetatem patriae aperuisti die Entstehung der Schrift unmittel-
bar nach Cäsars Kalenderreform, frühestens im Dezember 46, er-
schließen müsse, denn nur so wäre es Varro, wie Censorin 21, 5
versichert, möglich gewesen, das Alter Boms bis auf den Tag genau
zu berechnen. Da demnach Atticus' Annalis — meint Fr. weiter —
für Varros Schrift die Grundlage abgegeben habe, sei damit die
Frage entschieden, ob Varro nur dessen Arbeit weitergeführt habe
(Mommscu), oder ob die Begründung der röm. Ära durchaus für
VaiTO in Anspruch zu nehmen sei (L e u z e , Römische Jahrzählung,
1909, S. 240 ff.). Varro habe sich hierbei nicht damit begnügt, das
Alter Roms zu berechnen, sondern, ähnlicli Avie später in den
Büchern De gente p. R. die römische Zeitrechnung in den universal-
historischen Synchronismus eingereiht. Führer sei ihm hier wie
dort der Chronograph Kastor gewesen. Welchen Titel diese Schrift
gehabt habe, weiß Fr. nicht anzugeben (1911, S. 1326); H, A.
Sanders' Annahme (Annales; Americ. Journ. of Philol. 23, 1902,
S. 30 ff.), der sich zAveifelnd auch Leuze a, a. 0., S. 243 an-
schloß, lehnt er ab (S. 1325, Anm. 4).
Gellius gibt Noct. Att. XVII 21 eine kurze synchronistische
Übersicht der politischen und der Literaturgeschichte der Griechen
und Römer von Roms Gründung bis zum Beginn des 2. punischen
Krieges. Gellius sagt, er habe die Angaben exzerpiert ex libris
qui chronki appellavtur , nennt aber bloß die Chronica des Nepos.
Leuze sucht zu zeigen, daß er daneben auch noch an verschiedenen
Stellen dieses Abschnittes eine (oder mehrere) varronisch rechnende
Chronik benutzt habe (Übersicht S. 269), deren Verfasser unbenannt
zu lassen am geratensten sei (S. 273).
6. Geographisches.
Douglas W. Freshfield, Hannibal Once More, rezens, Athenaeum
(London), 1914 (18./7.), S. 77.
W. A. B. Coolidge, The Alpine Passes of Varro, ebenda 1914
(1./8.), S. 153.
1). Detlefsen, Die Anordnung der geograph. Bücher des Flinius
und ilire Qviellen. Qiiellcn und Forschungen zur alten Geschichte
u. Geographie, herausg. von W. Sieglin, 18. Heft (Berlin 1909).
Freshfield lenkt in seiner Abliandlung (von der weder Jahr
noch Verlag angegeben ist) nach den Mitteilungen seines anonymen
Rezensenten die Aufmerksamkeit auf eine von Servius zitierte
Varrostelle (zu Aen. X 13), wo der Polyhistor fünf Übergänge über
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren li)09— 1918 95
die Alpen aufzählt , darunter an zweiter .Stelle den von Hannibal
benutzten (leider ohne die Route zu beschreiben). Fr. scliwankt
bei der Indentifikation des Haunibahveges zwischen dem Mont
Genevre und dem Col de 1' Argentiere, wobei er aber doch eher an
letztere Koute denkt. Coolidge macht dazu die interessante Be-
merkung, daß die modernen Identifikationen, von den geographischen
Verhältnissen der Jetztzeit ausgehend, die Tatsache außer Betracht
lassen, daß es neben den großen im 19. Jahrh. angelegten Alpen-
straßen nicht wenige nicbtvergletschevte Übergänge über die Gebirgs-
kette gibt , die seit uralter Zeit von den Einheimischen benutzt
werden. Als Route Hannibals dünkt ihm die über den Mont Genevre
i\m wahrscheinlichsten.
Plinius gebraucht in seinen der Geographie gewidmeten Büchern
neben griechischen Fachausdrücken auch lateinische, z. B. mare
Macedonicum und mare Graecieuse (Detlefseu, S. 19). Spricht
schon dies für eine lateinische Quelle, so macht er anderseits
außer griechischen Gewährsmännern ausdrücklich lateinische nam-
haft, unter ihnen Varro (D. S. 19). Eine Hauptquelle für Plinius
bildete ein Werk des Polyhistors, das von den Meeren, ihrer Ge-
staltung und ihrem Zusammenhang untereinander handelte (S. 16 ff.),
wie D. bereits im Herm. 21. B. (1886), 8. 240 ff. angenommen
hatte. Die Einteilung des Mittelmeeres in 4 sinus bei Plinius, wo-
mit dieser die Provinzialbeschreibung verquickt, hat offenbar ihre
Wurzel bei Varro, S. 150 ff. [unter 11. Die Quellenschriftsteller des
Plinius, zunächst die lateinischen, a) Varro] gibt D.'eine Zusammen-
fassung seiner Ansichten über Varros Verhältnis zu Plinius. Die
Quellenschrift des Reatiners behandelte nicht allein den Zusammen-
hang und die Verteilung der Binnenmeere sowie den Ozean, sondern
enthielt höchstwahrscheinlich zugleich eine , wenn auch zum Teil
nur kurze , Beschreibung der Küstenländer , einen vollständigen
yceQiTilovg der Erde. Ob dieser einen Teil der Antiquitates bildete
oder die Schrift De ora maritima war, läßt D. unentschieden.
Zu dieser — trotz mancher Mängel im einzelnen — im ganzen
vmtreff liehen Abhandlung, die man gewissermaßen als das wissen-
schaftliche Testament des alten Pliniusforschers bezeichnen kann,
hat A. Klotz in den Götting. Gelehrt. Anzeigen, 172. Jahrg. (1910),
S. -1:69 — 498 eine ebenfalls bedeutende Rezension geliefert. Die
Quellenschrift Varros war nach Klotz (S. 471 f.) weder das Werk
De ora maritima noch ein Teil der Autiquitates. Sie muß der
Schrift des Posidouius Ifeqi vr/.Eavov ähnlich gewesen sein. Kl. be-
mängelt an D., daß er zu wenig scharf das Kontaminationsverfahren
96 Karl Mras.
des Piiuiüs liervorliebt , z. B. hat dieser in der Behandlung Nord-
europas den Varro durch jüngere Quellen ergänzt (wie auch Mela
verfährt). D. geht einer wichtigen Frage aus dem Wege, nämlich
wie Plinius Varro und Agrippa miteinander verbunden hat (letzterer
bildet mit ersterem und einem statistischen Werk des Augustus „die
Hauptbestandteile des Gerüstes der Erdbeschreibung des Plinius'",
s. D. S, 11). Varro hatte Italien zum Ausgangspunkt seiner Dar-
stellung genommen, Plinius hingegen mit Agrippas Erdkarte Spanien.
Aber sonst hat dem PI. das Gerippe nicht Agrippa, sondern Varro
geliefert und die Indices des Plinius sind auf die Geographie Varros,
nicht auf die Agrippas zugeschnitten (Kl. S. 473 ff.). S. auch Klotz'
Bemerkungen über das Lob Kampaniens (Plin. 3, 60), S. 481. Kl.
führt S. 485 f. auch Plinius' Darstellung Griechenlands in ihren
Grundzügen auf Varro zurück (D. auf Isidorus von Charax), wobei
für Kl. auch das sprachliche Moment eine Rolle spielt, während es
D., wie Kl. wiederholt mit vollem Rechte rügt, fast ganz vernachlässigt
(einen wichtigen Prüfstein bildet die Verwendung der Wörter amnis
und flumen). Auch sonst , z. B. bei Kleinasien und den Inseln,
schreibt D. dem Isidor zuviel zu ; zugrunde liegt hier dem Plinius
ebenfalls das varronische Schema (Kl. S. 489). Anderseits weist
D. in der Beschreibung der Gegenden im Osten Kleinasiens dem
Varro zuviel zu, nach Kl. ist er hier nur akzessorisch benutzt worden
(S. 491). Von den übrigen Rezensionen bietet die von J. Solch
(D. Litei-aturzeit. 32, 1911, S. 2162 ff.), der sich namentlich in allem,
was mit der Benutzung Varros zusammenhängt, rückhaltlos an Klotz
anschließt, nichts Neues; die von B. A. Müller (Berl. ph. Wochen-
schr. 32, 1912, S. 1159 f.) macht Forderungen in methodischer Hin-
sicht geltend.
Anhangsweise will ich bemerken, daß für den letzten Enzyklo-
pädisten des Altertums, Isidorus Hispalensis, Varro in den geo-
graphischen Partien ebensowenig wie in den übrigen als direkte
Quelle in Betracht kommt: s. H. Philipp, Die histor. - geogr.
Quellen in den Etymologiae des Isidorus von Sevilla, 1. Teil, Quellen
und Forschungen zur alten Geschichte u. Geographie, 25. Heft (1912),
S. 47 f.
Fünftes Kapitel.
Literarhistorische Werke.
In der viel behandelten Frage nach der Herkunft der Satire
und ihrer Entwicklung haben zwei Stellen eine wichtige Rolle ge-
spielt, eine bei dem Grammatiker Diomedes und eine bei Livius.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909—1918. 97
Diese auch für die VarroforschuDg in Betracht kommenden Unter-
suchungen liegen außer in der zum 1. Abschnitt des 3. Kapitels
angeführten Literatur noch vor bei Weinreich (s. oben, 5. Ab-
schnitt desselben Kapitels) und ferner bei
Ch. Knapp, The Sceptical Assault on the Roman Tradition
Concerning the Dramatic Satura. American Journal of Philol. 33
(1912)
und
R. Reitzenstein, Livius und Horaz über die Entwicklung des
röm. Schauspiels. Nachrichten von d. Gesellschaft der Wiss. zu
Göttingen, Philol.-hist. Kl. 1918.
Diomedes sagt (Gr. L. I 485, 34 ff.) . . Satira autem dicta
sive a Satyris .... sive satura a hnce . . . sive a quodam genere
farciminis, quod multis rebus refertum saturam dicit Varro vocitatum.
Est autem hoc positum in seaindo libro Plautinarum quaestionum :
satura cd uva passa et polenta et nuclei pini ex mulso consparsi.
Varro kam also in seinen Quaestiones Plautinae auf die Satura zu
sprechen, vielleicht, wie Hendrickson S. 136 ff. meint, bei der
Erklärung der Phrase per saturam, die irgendwo bei Plautus vor-
gekommen sein mag. Webb glaubt (S. 180), daß bei Diomedes
zwei Varrozitate vorliegen, so daß also Varro in den Quaest. Plaut,
bloß das Rezept des farcimen ^), andei'swo aber (etwa in der Schrift
De compositione saturarum) die Ableitung der Satire a quodam
genere farciminis geboten hätte. So unwahrscheinlich auch diese
Annahme ist, so hat sie dennoch in Knapp (S. 137) und Uli mann
(S. 176) Anhänger gefunden. M. E. stammt das ganze Etymo-
logiennest von Satira autem dicta bis consparsi aus Varro, und zwar
aus seinen Quaestiones Plautinae, was aber, bei seiner Gewohnheit,
sich selbst zu zitieren, nicht ausschließt, daß er auch anderswo darauf
zu sprechen kam. Jedenfalls hat Gerhard unrecht, wenn er die
Herleitung der Satire von ^divgoL für unvereinbar mit Varros
„prinzipiellem, überwiegend patriotisch-etymologischem Standpunkt"
erachtet (S. 268); in Wahrheit folgte er der Meinung, nach der die
lateinische Sprache ein Ableger des äolischen Dialektes war, und
viele seiner falschen Konstruktionen und Etymologien sind gerade
darauf zurückzuführen (s. Teuf fei, Gesch. d. röm. Lit. ^ S. 326).
Es ist auch methodisch bedenklich, daß Gerhard eine Stelle, an
der Varro genannt wird, diesem abspricht, während er ihm eine
^) Das Kroll S. 193 richtig erklärt: keine Wurst, sondern etwa aur
Füllung von Geflügel dienend.
Jahresbericht für AltertunmwitsenBchaft Bd. 192 (1922. II>^ T
98 Karl Mras.
benachbarte Diomedesßtelle zuspricht, an der von diesem keine Rede
ist, ja wo er, wie die Erwähnung des Horaz zeigt, als Gewährs-
mann gar nicht in Frage kommen kann: I 485, llff. : iambus est
Carmen mahdicum .... cuius carminis praecipui scriptores apuä
Graecos Archihchus et Hipponax, upud Bomanos Lucilim et Catullus
et Horatius et Bibaciilus.
Betreffs der Liviusstelle, die von der dramatischen Satire handelt,
VII 2, 4 — 13, stimmen die Forscher zwar darin überein, daß eine
antiquarische Quelle vorliegt (Webb S. 182ff., Weinreich S. 408 ff.,
Reitzenstein S. 2-i7, Kroll S. 199), sehen aber davon ab, mit
Bestimmtheit den Namen eines Gewährsmannes zu nennen ; nur
Wein reich, Gerhard (S. 263) und Kr oll halten die Ableitung-
der Stelle aus Varro für möglich. Daß der Parallelbericht des Horaz
(Epist. n 1, 139 ff.) auf eine ganz anders orientierte Quelle als der
des Livius zurückgeht, dieses Ergebnis der Forschungen Leos^)
(Livius und Horaz über die Vorgeschichte des röm. Dramas, Herm. 39,
1904, S. 63 ff.) haben die eingehenden Untersuchungen von W e i n -
reich S. 397 ff. neu bestätigt.
An beiden Stellen, bei Livius wie bei Horaz, werden die versus
Fescennini erwähnt. Festus (Paulus) gibt zwei Etymologien, p, 85,
18 M. : Fescennini versus, qui canebantur in nupiiis, ex urhe Fescennina
dicuntur allati, sive ideo dicti, quia fascinum putdbantur arcere. Da
nun Lucan II 368 non soliti lusere sales nee more Sabino e. q. s.
die iocatio Fescennina als einen sabinischen Brauch auffaßt,
möchte Reitzenstein S. 256 diese Auffassung auf den Reatiner
Varro, der ja Sabiner war , zurückführen , eine Etymologie, durch
die die Herleitung des Namens von der etruskischen Stadt aus-
geschlossen werde. Darum könne von Festus' Etymologien bloß
die zweite von Varro herrühren. Dazu bemerke ich: Varro wird
mehrere Ableituugsversuche nebeneinander gestellt haben (sive . . .
sive . . . sive . . .).
Auf Varros Werk De poetis, dessen Bedeutung für die Ge-
schichte der römischen Literatur E. Norden in der Einleitung iij
die Altertumswissenschaft I. Bd. * S. 549 = ^ S. 417 gebührend
hervorhebt, kommt dieser auch in seinem Buche Ennius und VergiUus
zu sprechen. Gell ins zitiert XII 4 Verse des Ennius (234 ff. V. ^),
*) Der seinerseits auf einem ausgezeichneten Aufsatz von G. L.
Hendrickson weiter gebaut hat: A Pre-Varronian Chapfer of Roma«
Litcrary Hißtory, Amer. Journ. of Philol. 19 (lö98), S. 285—311. Bei Horaz
liegt V 0 r varrouische Tradition (Accius) vor: s. meinen Varrobericht 1900,
S. 91 ff.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 99
die nach L. Aeliiis Stilo eine Selbstcharakteristik des Dichters
enthalten. Norden läßt S. 132 im Anschluß an andere den Gellius
hier Varros Werk De poetis benutzen und bezieht S. 140 flF. diese
Verse auf die Schlacht bei Cannae. Allein da erhebt sich eine
große Schwierigkeit: Gellius sagt in annali sej)timo, obwohl doch
diese Schlacht von Ennius erst im 8. Buch erwähnt wurde. Norden
schafft die Schwierigkeit leicht aus dem Wege, indem er (S. 142)
nicht einmal eine handschriftliche Verderbnis (VII statt VIII) an-
nimmt, sondern meint, Gellius habe die Verse aus Varro genommen,
aber da bei diesem — das lasse sich auf Grund der erhaltenen
Bücher De 1. 1. wohl sicher annehmen — ein Buchzitat zu den
Versen nicht gestanden sei, dürfte G. selber die Buchnummer aus
dem Gedächtnis hinzugefügt und sich dabei geirrt haben.
Sechstes Kapitel.
Werke antiquarischen Inhalts.
1. Die Antiquität e|s Eer. Hum.
a) Die Stoffverteilung in der 2, Hexade.
C. Fr ick, Varroniana (s. oben 4. Kapitel, 5. Abschnitt). 2. Die
Stoffverteilung in der 2. Hexade von Varros Antiquitates rerum
Humanarum, S. 1024.
Der Inhalt von Buch IX und X war bisher nicht festzustellen.
Nun haben aber Goetz-Schoell in ihrer Ausgabe von Varros
Werk De I. 1. (1910), Proleg. S. XLV Anm. 1 auf ein bis jetzt
übersehenes Bruchstück des 10. Buches aufmerksam gemacht (Non.
S. 471, 2 M), das, wie der Vergleich mit L. L. VI 87 lehrt, aus
den tabulae censoriae stammt. Daraus zieht Fr. die richtige Schluß-
folgerung, paß Varro im 10. B. von den tabulae censoriae gehandelt
hat. Das führt auf Rom; also wird Varro die im 8. Buch begonnene
Beschreibung der städtischen Altertümer fortgesetzt und an irgend-
einer Stelle, vermutlich bei Erwähnung des Atrium Libertatis (vgl.
Liv. XLIII 16, 13), der tabulae censoriae Erwähnung getan haben,
b) Yarros Zeitrechnung iu diesem Werk.
Derselbe, Varroniana II (s. oben a. a. 0.), 1. Die von Varro iu
den Antiquitates Humauarum gebrauchte Gründungsära, S. 1322 f.
Durch Vergleich von Solin I 16 — 26 mit beweiskräftigen Kon-
kordanzen stellt Fr. fest, daß hier tatsächlich Varro Solins Haupt-
•juelle ist (aus den A. R. H.). Vavro veranschlagte demnach in den
7*
100 ^^^^ Mras.
Ä. R. H. die Königszeit auf 240 (241) Jalire, was er offenbar aus
Fabius nahm; später hingegen berechnete er die Königszeit auf
244 Jahre. Folglich wird er sich in den Antiquitates auch der
Gründungsäi-a des Fabius (Ol. 8, 1) bedient haben.
2. Die Antiquitates Rer. Div.
G. W i s s o w a , Religion und Kultus der Römer. Iw. Müllersches
Handb. V. B. 4. Abt., 2. Auflage (München 1912).
W. F. Otto, Römische Sondergötter. Rh M 64 (1909), S. 448
bis 468.
Über die indigitamenta — die in der Varroforschung eine nicht
unwichtige Rolle spielen — hat W. in der 2. Auflage seine Ansicht
geändert. Er erklärt jetzt S. 37 , Anmerk. 3 , daß sie alle An-
rufungsformeln (conpi'ecationes de(or)um inmortalium: Gell. XIII
23, 1) umfaßten, nicht, wie man früher annahm, nur Litaneien^)
der einzelnen Akten und Momenten vorstehenden sogenannten Sonder-
götter ^). Neu ist in der 2, Auflage die Hervorhebung des be-
sonderen Einflusses, den Posidonius auf Varros Religionsphilosophie
ausgeübt hat (S. 69).
Varros „Sondergötter" beruhen, wenigstens zum großen Teil,
auf falschen Voraussetzungen und Etymologien des Reatiners: das
hat Otto a. a. 0. unwiderleglich dargetan. Wie Vari-o einen Gott
Caeculus, der nichts anderes war als der göttliche Ahnherr der gens
Caecilia, durch falsche Ableitung zu einem Gotte machte qui oculos
sensu exanimat, so brachte er auch Edula mit edere und Potina
mit potare in Beziehung, obwohl diese Namen damit nichts zu tun
hatten, vielmehr mit den Geschlechtsnamen Edusius (Etusius) und
Potin(i)us in Zusammenhang standen (S. 453 ff. •, daselbst noch andere
Belege).
Die Erwähnung der sogenannten UXovTiövia Italiens mit der *
richtigen Etymologie des Namens Ampsancti bei Varro (Servius zu
Verg. Aen. VU 563 ff. Ampsancti valles) führt Norden (Ennius
und Vergiliiis S. 23) vermutungsweise auf das VII. Buch der
A. R. D., das de locis religiosis handelte, zurück. Aus Plin. N. H. II
207 f. können wir uns eine Vorstellung von der varronischen Auf-
fassung machen (ebenda, Anmerk. 2).
*) So er selber in der ersten Auflage S. 22 (s. Varrobericht 1909, S. 104f.).
') So noch Sam Wide, Römische Religion. Einleit. in die Alter-
tumsw. 11. Bd. (1910) S. 257.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909—1918. 101
3. Die Antiquitates als Quelle.
C. Franke, De Ovidii fastorum fontibus capita tria. Dissertat.
Halle 1909.
M(aria) Marchetti, Intorno alla nota dei Fasti Prenestini al
secondo giorno dei 'Carmentalia'. Bullettino della Commissione
archeolog. comunale di Roma, Anno XLI (1913), S. 154 — 184.
Th. Stangl, Bobiensia. Rh. Mus. 65 (1910).
B. Boehm, De Cornelii Labeonis aetate. Dissert. Königsberg 1913.
Daß Ovid Festkalender für sein Werk eingesehen, bezeugt er
selber mehrmals (z. B. Fast. I 289 f., II 7). Einen kurzen Über-
blick über den Stand der Frage der Quellenbenutzung in Ovids
Fasten habe ich im Varrobericht 1909 S. 100 gegeben. Franke
lälJt Ovid im wesentlichen zwisclien Verrius und Varro hin- und her-
schwanken, bringt aber kein Material bei, das mit zwingender Not-
wendigkeit die Benutzung der sogenannten Fasti Maffeani (von
Praeneste-Palestrina) sichern würde. Nur ganz singulare Tatsachen
könnten, wenn sie diesen mit Ovid gemeinsam wären, für die Autor-
frage entscheidend sein. Dasselbe gilt natürlich auch für Varro,
wenngleich hier von vornherein die Wahrscheinlichkeit, daß Ovid
an dieser Autorität nicht vorübergegangen sein kann, sehr groß ist.
Freilich solche Schlüsse darf man nicht ziehen, daß z. B. Ovid III
73 ff. die Ableitung des Namens des März von dem Vater des
Romulus oder von dem Kriegsgott der Latiner aus Varro haben
muß (S. 35); ebensowenig, daß Ovid, der IV 721 f. dieselbe Ab-
leitung der Palilia von der Göttin Pales wie Varro (L. L. VI 15)
bietet, während Verrius neben dieser noch eine andere Etymologie hat
(Parilia a pariendo, s. Paulus p. 222, 12 M.), von den beiden
Ableitungen sich nicht die eine ausgesucht hätte, wenn sie ihm
nicht als varronisch bekannt gewesen wäre (S. 43 f.). Manchmal ist
die Differenz zwischen Verrius und Varro bloß scheinbar. Be-
sonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht Ovid IV 631 f. Forda
ferens hos est fctuncluque^ dkta ferenda^ Jiinc cüam felus nomcn habere
puiarit; Varro sagt L. L. VI, 15 Fordicidia a fordis huhus] hos
forda quac fert in venire, Verrius (Paul. p. 83, 13) Fordwidis
hoves fordae, id e^t gravidae, immolahantur, dictae a fetu. Auf Grund
dieses Materials nimmt Fr. S. 46 an, Ovid habe hier sich Varro
angeschlossen, dagegen Verrius ganz beiseite gelassen. Sieht man
jedoch genau zu, so erkennt man, daß Ovid beide Etymologien
hat: fecunda und fetus beweisen, daß die Grammatikerquelle auch
diese Wörter mit ferre in Verbindung brachte (der Grammatiker
102 Karl Mra».
stellte sich jedenfalls die Entwicklung so vor: fer(e)cundus <C /e-
cundus und fertus <C, fetus) ; das Licht, das daraus auf die Paulus-
stelle fällt, läßt uns sehen, daß auch Festus-Verrius fetus von ferre
abgeleitet hat; dann sieht aber die Varrostelle wie ein Auszug aus
einer au anderer Stelle ausführlicheren etymologischen Darstellung
aus. Anderes führt Fr. mit großer Wahrscheinlichkeit auf V a r r o
zurück, so I 617 — 636 (2. Carmentalia), wo allerdings Pinta rch,
wie Marchetti gezeigt hat, in den Quaestion. Rom. 56 die varro-
nische Tradition reiner wiedergibt als Ovid. Bei Ovid wie bei
Plutarch finden wir die Verknüpfung von Carmenta mit carpenta,
aber ein wesentlicher Unterschied liegt darin, daß nach Ovid das
2. Fest der Göttin durch einen Senatsbeschluß eingesetzt wird,
während Plutarch die Matronen durch Privatinitiative nicht ein
Fest, sondern ein Heiligtum der Carmenta gründen läßt. Die
Schlüsse , die Marchetti hieraus für die Fasti Praenestini (zum
18. Tag vor den Kaleuden des Februar) zieht, kommen für uns
nur insofern in Betracht, als sie mit großer Wahrscheinlichkeit die
darin angedeutete Version von der Erweiterung der Carmentalia
über Verrius auf Varro zurückführt (S. 174). Unter Varros
Werken kommen natürlich die Antiquitates in erster Linie in Be-
tracht. Wir dürfen freilich nie die Tatsache aus dem Auge ver-
lieren, daß Ovid ein viel umfangreicheres Material zu Gebote stand,
als uns erhalten geblieben ist, ferner daß er auch ältere, Verrius
und Varro gemeinsame, Gewährsmänner benutzt haben kann (z. B.
Aelius Stilo). Jedenfalls bleiben G. Wissowas Worte zu Recht
bestehen : Ovidium diversa diversae aetatis hemerologia inspexisse
et in uuum consarcinavisse (Ges. Abhandl. z. röm. Religions- und
Stadtgeschichte S. 271). Ergänzend möchte ich zu Franke S. 67
bemerken, daß Varro auch Sat. Men. 516 B von der Kugelgestalt der
Erde spricht : hie (sc. Menippus) liquit homines omnes in terra(e) püa.
Cornelius Labeo, dessen Lebenszeit B o e h m in das erste
nachchristliche Jahrhundert setzt ^), weist in seinen Lehren Einflüsse
der Stoa auf; insbesondere schöpft er aus Varro undPosidon^)
(s. Boehm S. 41 f. und 78).
^) Was nicht unwidersprochen geblieben ist, s. W. A. Baehreus,
Über die Lebenszeit des Cornelius Labeo, Herrn. 52 (1917), S. 396?.;
vgl. auch W. Kroll, Die Zeit des Com. Labeo, Rh. M. 71 (1916), 309ff.
2) Das gibt an und für sich keine Gegeninstanz gegen die bisherige
Ansetzung seiner Lebenszeit in der Epoche der Neuplatoniker, da ja in
die neuplatonische Philosophie die Strömungen der andern Philosopheme
(mit Ausnahme der Lehren Epikurs) wie in ein Sammelbecken einmünden,
daher auch viel Stoisches (bes. Posidonischer Färbung).
Bericht über die Literatur zu Varro auB den Jahren 1909 — 1918. 103
Auch für die Bobiensischen Ciceroscholien kommt Varro als
Gewährsmann in Betracht. Methodisch bezeichnende Merkmale der-
selben sind, wie S tan gl a. a. 0. S. 110 dartut, folgende: sie ver-
breiten sich gelegentlich über den Ttgiotog evQEtyg, dann über das
atztov (eines Festes z. B.) , etymologisieren und führen italische
Sitten auf ausländische, besonders griechische, zurück. Das alles
deutet ofifenbar auf Varro als Vorlage hin, und zwar ohne Zwischen-
quelle; das Mittelglied einer christlichen Schrift ist ausgeschlossen, da
z. B. Augustin die Varroniana mit polemischen Spitzen durchsetzt,
die in den Schollen gänzlich fehlen (Stangl S. 112).
Siebentes Kapitel.
Varros wissenschaftliche Tätigkeit auf anderen Oebieten.
1. Die Disciplinarum libri.
K. Praechter, Eine Stelle Varros zur Zahlenthcorie. Herrn. 46
(1911), S. 407—413.
P. Maas, Varro bei Gellius, Noct. Att. XVIII 25 [richtig 15].
Herm. 48 (1913), S. 157—159 (und Berichtigung S. 636).
Die methodisch einwandfreien Untersuchungen von R e e h (siehe
oben 4. Kapitel, 2. Abschnitt) haben ergeben, daß Varros Disciplinae
für Censorins 8. Kapitel (über Astrologie), 10. (über Musik) und
13. (über Geometrie) Quelle sind (s. S. 50). Auson hat dasselbe
Werk, und zwar dessen 6. Buch (über Astrologie), für seine 8. und
wahrscheinlich auch für die 6. und 7. Ekloge herangezogen (siehe
S. 53 f.).
Praechter knüpft an den Aufsatz von K. Fries an (De
M. Varrone a Favonio Eulogio expi-esso, Rh. M. 58, 1903, S. 115
bis 125 ; s. Varrobericht 1909, S. 110). Es handelt sich um zahlen-
theoretische Erörterungen, die besonders die Sechszahl betreffen.
Pr. macht nun S. 408 auf Augustin De civ. dei 11, 30 aufmerk-
sam, eine Stelle, die zu Favon stimmt, aber, da sie mehr bietet,
nicht von diesem abhängig sein kann. Da anderseits Augustin
bloß die Sechszahl bespricht, Favon hingegen die Zahlen 1 — 9 in
gleicher Weise und offenbar nach derselben Quelle behandelt, ist
umgekehrt die Abhängigkeit des Favon von August in ebenfalls
ausgeschlossen. Als gemeinschaftliche Quelle nimmt Pr. S. 409 Varro
an, der über diese Fragen wohl in der Schrift De principiis nu-
merorum oder in den Arithmetica der Disciplinarum libri gehandelt
104 I^'^'^l Mras.
hat. Im folgenden sucht er den Gedankengang der Varrostelle zu
ermitteln.
Varro (der ausdrücklich genannt wird) betrachtet an der
Gelliusstelle die ersten 5 und die letzten 7 HalbfülJe des Hexa-
meters als mathematisch gleichwertig. Worauf beruht diese selt-
same Theorie? Maas hat in dem erwähnten Aufsatz seine ur-
sprüngliche Annahme, Varro habe in der Gleichung 3^-j-4^ = 5^
(Pythagoreisches Grunddreieck) die Quadratzahl außer acht gelassen,
zunächst verworfen und durch eine andere ersetzt, die sich auf eine
Aristotelesstelle stützt, ist aber nachträglich (S. 636) zu jener wieder
zurückgekehrt, nachdem er aufmerksam gemacht worden war, daß
H. Weil bereits auf Grund von Augustin De musica 5, 26 (Migue 32,
1160) gezeigt hatte, daß jene Ratio geometrica wirklich auf der
Gleichung 3^-}-4^ = 5^ beruht. Die Stelle stand in dem Disci-
plinarum libri, wie Gell iu.s ausdrücklich angibt, u. zw. in dem
Abschnitt De musica (7. Buch).
Kurz verweise ich auf den Bericht von H. Gleditsch über
die Erscheinungen auf dem Gebiete der griech. u. röm. Metrik
1903—1908, Bursian 144. Bd. (1Ö09), S. 80 f., wo er eine in
tschechischer Sprache erschienene Schrift von K. Wenig bespricht,
Über die Quellen der Schrift des Augustinus de musica, Listy filo-
logicke XXXIII (1906): Augustin liat sich in der Derivations-
lehre an Varro angeschlossen, daneben aber auch andere Schriften
über Rhythmik und Metrik benutzt.
Ebenso kurz streife ich den in demselben Band des 'Bursiau'
erschienenen Bericht von H. Abert über die Literatur zur griech.
Musik 1903 — 1908, S. 13, wo er über seinen eigenen Aufsatz {Ztt
Cassiodor, Saramelbände der Internat. Musikgesellschaft III 439 bis
453) referiert: Die ästhetischen Anschauungen, die Cassiodor in
dem musikalischen Abschnitt seiner Enzyklopädie vertritt, stammen
durchwegs aus dem 7. Buch von Varros Disciplinarum libri.
2. Dielibriiuriscivilis.
G. M e r e a t i , Aggiunta zu seinem Aufsatz II libro Ttegl Gtad^niZv
di Dardano tradotto anticamente in latino? Rendiconti del r.
istit. lombardo, Serie II, vol. 42 (1909), S. 316 f. (der Aufsatz
selber steht S. 149—156).
P. Bonfante, Sui „Libri iuris civilis" di M. Terenzio Varrone.
Ebenda S. 318—323.
Max Conrat (Cohn), lustitutiones civiles des Varro bei Petrus
Diaconns. Zeitschrift f. Rechtsjreschichte, XXX. Rom. Abt. S. 412 f.
Bericht über die Literatur zu Varro aus den Jahren 1909 — 1918. 105
Mercati hatte auf eine noch nicht vollständig veröffentlichte
Epithoma . . . super regulam sancti Patris Benedkti des Petrus
diaconus (12. Jahrh.) aufmerksam gemacht, aus der die Mönche von
Montecassino einen kurzen Auszug publiziert haben (Biblioth. Casinen-
sis, tom. V 1 [1894], Fiorilegium p. 73 - 76). Auf S. 74 a dieses
Florilegiums erwähnt Petrus Insfitutiones civiles des Marcus PuUius
(so !) Terentius Varro und charakterisiert ihren auf die Streitigkeiten
dieser Welt gerichteten Inhalt, um ihn der auf das Jenseits ge-
richteten Regula Benedicti gegenüberzustellen. Bonfante neigte
ebenso wie Mercati (in seiner Antwort auf eine Anfrage Bon-
fantes, s. S. 322 f.) dazu — mit aller Vorsicht natürlich — , das
Zitat als eine wirkliche Reminiszenz der bloß aus Hieronymus'
Katalog bekannten XV Bücher V a r r o s De iure civili anzusehen.
Woher sollte aber Petrus seine Kenntnis genommen haben? Nun
hat Conrat gezeigt, daß hier Petrus, ein als „erfindungsreich"
bekannter Autor, eine Entlehnung aus Laktanz' Institutiones divinae
(I, 1, 12) verwertet hat. Die Gegenüberstellung der beiden Texte
läßt darüber keinen Zweifel, daß es sich um eine wörtliche Ent-
lehnung handelt; nur hat Petrus die Worte des Laktanz et si
quidam prudentes et arhitri acquitatis institutiones civiles iuris covnpo-
sltas edlderunt, quihus civium dissidentium Utes contentionesque sopirent
durch et si Marcus Puhlius Terentius Varro Inailtutiones civiles com-
posltas edldlt, quihus Romanoriim d. l. c. que sopiret ersetzt, wobei
die Erwähnung des Varro wohl damit in Zusammenhang steht, daß
er nach der Legende in Cassino eine Schule hielt (s. Mercati,
Rendic. a. a. 0. S. 317, Anm. 3: Hinweis auf eine Notiz in dem
ebenfalls von Petrus abgefaßten Catalogus regum, consulum usw.,
Florileg. p. 40; in Wahrheit besaß Varro dort ein Landgut, vgl.
R. R. III 4, 2).
Anhang.
Die sogenannten Sententiae Varronis.
P. Germann, Die sogenannten Sententiae Varronis. Studien zur
Geschichte u. Kultur d. Altert. Im Auftrage u. mit Unterstützung
d. Görresgesellsch. herausg. von E. Drerup, H. Grimme,
P. Kirsch, IH. Bd., 6. Heft (Paderborn 1910).
C. Weyman, Miszellen, Rh. Mus. 70 (1915), S. 154, 6.
Germ an n hatte seine Ausgabe bereits im A L L XV (1908J,
S. 425 f. angekündigt (s. meinen Varrobericht 1909, S. 111). Vor
ihm hatte Ch. Cliappuis die meisten Hss. herangezogen (für seine
106 I^arl Mras.
Ausgabe, Sentences de M. T. Varrou, Paris 1856). Das hs.
Material, das G. verwertet, ist zum Teil neu. Sein Text beruht
auf einer dreifachen, durch Hss. des 13. — 15. Jahrh. vertretenen
Überlieferung, die auf einen gemeinsamen Archetypus zurückgeht;
der Stammvater der besten Familie war, wie A. Klotz in seiner
Rezension, BphW. 31 (1911), S. 1024 ff. gezeigt hat, recht jung^).
Die Gruppe a (Stemma S. 28) bietet die bemerkenswerte Über-
schrift Sententiae Varronis ad Papirianum Äthenis audientem] eine
Dubliner Hs. bezeichnet den Papirianus als Senator urhis Romae
(Parianus in einem Paduaner Kodex ist offenbar verderbt aus
Papirianus ; daß letzteres selbst korrumpiert sei aus Papirius FabianuSf
dem Namen des Lehrers Senecas, war eine im ALL a. a. 0. ge-
äußerte Vermutung des Verfassers, an der er jetzt mit Recht nicht
mehr festhält, s. S. 85 f.). Bedeutungsvoll ist m. E. auch die Tat-
sache, daß die Sentenzen 153 — 156 außerhalb der übrigen Über-
lieferung stehen und bloß im „Liber moralitatum" des "Wiener
Karmelitermönches Matthias Farinator (14. Jahrh.) vorhanden
sind, dort aber die 155. Sentenz mit Varro in scntentiis libro
septimo und die 156. mit V. in s. libro sexto eingeführt wird:
das erweckt den Eindruck, daß unsere Sammlung einst viel um-
fangreicher gewesen ist. Ob sie noch dem Altertum oder erst der
Karolingerzeit angehört, könnte, wie Klotz a. a. 0. bemerkt, erst
nach Untersuchung der übrigen Spruchsammlungen festgestellt werden.
Stammen diese Sentenzen tatsächlich von Varro, d. h. aus jetzt
verlorenen Werken des Reatiners? G. leugnet es; aber schon die
früheren Herausgeber, der Paduaner Professor V. Devit (1843)
und C h a p p u i s , haben auf bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen
einigen dieser Sentenzen und Äußerungen Varros hingewiesen. Mir
erscheinen folgende Parallelen besonders auffallend (die Nummern
bezeichnen die Sentenzen): 56 f>-> Varro R. R. H 1, 2; 33 rv>
Varro bei Serv. zu Aen. VII 601 (Thilo II 169); 99f. c^ Varro
bei August. CD. IV 27 u. 31; vgl. außerdem noch die von
G e r m a n n im' Anschluß an seine Vorgänger aus Varro beigebrachten
Stellen zu 11, 34f., 36, 37 und 109. Vgl. auch F. Härders
Rezension, WklPh. 28 (1911), S. 397 ff., der S. 400 auf einige
Stellen hinweist, au denen Ger mann mit Unrecht Beziehungen
*) Auf drei Hss,, die Germann entgangen waren, hat P. Lejay,
Revue de philol. 35 (1911), S. 309 aufmerksam gemacht; auch sie sind
nicht älter als die von G. verwendeten. Eine sekundäre Überlieferung,
die auf die Specula des Vinceutius Bellovac. zurückgeht, besitzt für die
Textkritik keine selbständige Bedeutung (s. G. S. 22).
Bericht über die Literatur zu Van-o aus den Jahren 1909 — 1918. 107
zu Varro ablehnt. Wenn Weyman a. a. 0. sagt, die 45. Sentenz
{. . . fides est media opinionis et scientiae, neutram atiingens) gemahne an
die Scholastiker, speziell an Hugo von St. Victor (etwa 1096 bis
1141 ; der Glaube sei "certitudo quaedam animi . . . supra opinioaem
et infra scientiam constituta") und an Johannes von Salisbury (etwa
1110 — 1180; der Glaube sei "media inter opiniouem et scientiam"),
so ist das allerdings richtig, aber die Varrosentenz ist sicherlich
nicht von den beiden Scholastikern, vielmehr sind diese von jener
abhängig ; daß die Sentenz mit der Religion nichts zu tun hat, lehrt
ihre 1. Hälfte: Non in disciplinis fidem, sed scientiam habe. Ebenso-
wenig verrät die 157. Sentenz: (. . . melius enim senem uddiscendo
pati eruhesccntiam quam per ignorantiam poenam promereri aeternam)
christliche Anschauung', denn J. Golling verweist in seiner Be-
sprechung dieser Ausgabe, Zeitschr. f. d. österr. Gym. 64 (1913),
S. 23 ff., ganz richtig auf Lukrez I 111 aeternas quoniam poenas
in morte timendum est. Unverkennbar sind dagegen in den Sentenzen
Beziehungen zu den Werken des Philosophen Seneca und der
Herausgeber hat recht, ihnen im Anschluß an seine Vorgänger
weiter nachzugehen. Den Beweis aber, daß Senecas Schriften den
Grundstock für unsere Sammlung bilden, hat er, wie Härder
a. a. 0. S. 401 richtig bemerkt, nicht erbracht. Ich stelle mir das
Verhältnis zwischen den Sentenzen und Seneca gerade umgekehrt
vor: Da nämlich Varro von August in C. D. 6, 2 als doctrina
tarnen atque sententiis refertus bezeichnet wird — sententiis heißt
da freilich nicht Sentenzen, sondern Gedanken — , ferner in unseren
Sentenzen mehrfach Anschauungen der stoischen Schule zutage treten
(s. S. 77) und endlich manche Sentenzen metrische Spuren auf-
weisen *), aus allen diesen Gründen möchte ich annehmen, daß die
Sprüche tatsächlich aus Werken Varros, auch poetischen (daher die
Metren), stammen, und die Anklänge an Seneca so erklären, daß
dieser Stoiker zahlreiche Gedanken seines großen römischen Vor-
gängers übernommen und neu geprägt hat. Auf die Entstehung der
Sammlung wird vielleicht einmal ein Licht fallen, wenn es gelingen
sollte, die Persönlichkeit des in der Überschrift genannten Papirianus
zu ermitteln. Ich denke, daß es sich um das Werk eines Gramma-
tikers handelt, das dieser zu Studienzweckeu ftir einen in Athen
*) 98 ist ein vollständiger Pentameter. Wir finden Anklänge an Hexa-
meter, z. B. 10, und jambische Senare; statt an die Ursprünglichkeit des
Metrums zu glauben, anzunehmen, wie der Verfasser S. 88 tut, daß der
Epitomator manche Gedanken metrisch umzuformen bemüht war, heißt die
Dinge auf den Kopf steilen.
108 Karl Mras, Bericht über d. Lit. zu Vairo aus d. J. 1909—1918.
studierenden vornehmen jungen Römer verfaßt hat, und habe dabei
ähnliche Erzeugnisse der griechischen Literatur im Auge, wie das
an einen vornehmen Römer Gaiatianus gerichtete Platonische Lexikon
des Sophisten Timaeus (im VI. Bd. der Hermannschen Plato-
ausgabe). Unerläßlich für die Entscheidung der Autorschaft der
Sentenzen wäre deren sprachliche Untersuchung, die Germann
merkwürdigerweise unterlassen hat, obwohl von ihm selber dazu
durch seinen trefflichen Wortindex (S. 90 — 98) eine tragfähige Grund-
lage geschaffen worden ist. Zum Text und zum Kommentar macht
Härder a. a. 0. S. 402 f. einige Vorschläge; Golling liefert
wichtige sprachliche und sachliche Beiträge.
K. Mras.
Bericht
über die Seneca-Literatur aus den Jabren 1915—1921.
Von
Professor Dr. Karl Müuscher in Münster (Westf.).
Bei Ausarbeitung meines Buches 'Senecas "Werke, Unter-
suchungen zur Abfassiingszeit und Echtheit' (= Philol. Suppl. XVI.
Heft 1 , Leipzig 1922) habe ich mich in die Seneca-Literatur der
letzten Jahre, welche die literarhistorischen Fragen betraf, soweit
sie mir bekannt und erreichbar war, eingearbeitet. Deshalb habe
ich mich nicht ungern entschlossen , dem "Wunsche A. Körtes zu
entsprechen und über die neuere Seneca-Literatur einen Bericht zu
geben. Es war dafür vor allem noch eine Durchsicht der textkri-
tischen Arbeiten meinerseits erforderlich. Seneca ist im ganzen bis-
her in den Jahresberichten nicht vertreten gewesen, nur über seine
Tragödien ist neben anderer römischer Literatur der Kaiserzeit von
Job. Tolkiehn mehrfach, zuletzt in Bd. 171, 1915, 15 — 31 über
die Erscheinungen der Jahre 1911 — 14 berichtet worden. Bei den
Tragödien habe ich mich natürlich zeitlich an diesen letzten Bericht
Tolkiehns angeschlossen , im übrigen habe ich mich bei dem Ver-
suche, über die gesamte Seneca-Literatur der letzten Jahre zu orien-
tieren, nicht ängstlich auf die Jahre 1915 — 21 beschränkt, sondern,
wo es angebracht schien , auf die vorangehenden Jahre zurück-
gegiüffen. Im einzelnen war ich auf Kürze bedacht; sie ergab sich
leider zum Teil von selbst aus der Tatsache, daß die ausländische
Literatur seit Beginn des Weltkrieges in Deutschland ganz all-
gemein und auf der Münsteraner Universitätsbibliothek im beson-
deren fast völlig fehlt. Es finden sich also viele * in meinem Be-
richte , um nur dem Titel nach mir Bekanntes zu bezeichnen. —
Ganz kurze Berichte über die Seneca-Literatur sind schon kürzlich
geboten worden von W. Kroll, Lat. Philologie ("Wiss. Forschungs-
berichte 1914—18, her. von K. Hönn II), Gotha 1919, 67/9 und
110 K. Münscher.
F. Levy, Römische Poesie der Kaiserzeit 1913 — 21 in den Jahres-
berichten des Philol. Vereins zu Berlin (Sokrates) XLVII 1921^
103—6.
Da die Dialoge Senecas sich über seine gesamte Lebenszeit
verteilen und die Tragödien gruppenweise den Jahren vor und nach
Neros Regierungsantritt sowie den letzten Lebensjahren zuzuweisen
sind, mußte von der Anordnung des Berichtes nach der Ent-
stehungszeit der Werke im ganzen abgesehen werden, um die Kor-
pora der Dialoge und der Tragödien nicht zu zerreißen. Ich stelle
als Teil I die Arbeiten zusammen, die Seneca selbst und seine
Werke im allgemeinen betreffen, in Teil II folgen die Arbeiten zu
den einzelnen Werken, und zwar beginne ich die Besprechung der
erhaltenen Prosawerke mit der Literatur zu den Dialogen, es folgen
die anderen in chronologischer Reihe (Apokolokyntosis, de dementia,
de beneficiis, naturales quaestiones und epistulae ad Lucilium), dar-
auf die Literatur zu nicht erhaltenen und unechten Schriften, end-
lich die zu den poetischen Werken, den Epigrammen und Tragödien.
Das Interesse an Seneca und seinen Werken ist zweifellos zur-
zeit im Zunehmen , und ich darf wohl hoffen , daß mein Seneca-
Buch, wie dieser Bericht, manchem nicht unwillkommen sein wird.
Vor allem hat sich auch das Gymnasium des Seneca philosophus
neuerdings entsonnen : je mehr der klassizistische Bann durchbrochen
und zerbrochen wird, um so mehr gewinnen Seuecas Werke in der
lateinischen Primalektüre an Boden. Die Forderung, den Umkreis
der in den obersten Gymnasialklassen zu lesenden Autoren auch in
der lateinischen Literatur zu erweitern , ist mit Recht und Nach-
druck vielfach erhoben worden. Der für das humanistische Gym-
nasium persönlich ernsthaft begeisterte Inhaber der Firma Teubner,
A. Giesecke, hat in dem von ihm angeregten schönen Sammel-
buche 'Das Gymnasium und die Neuzeit, Fürsprachen und Forde-
rungen für seine Erhaltung und seine Zukunft', Leipzig 1919, in
seinem eigenen Beitrage 'Gymnasium und Leben' (S. 51 Anm. 2)
es ausgesprochen, daß neben Ciceros philosophische Schriften Seneca
und Augustin treten müßten wie 'neben Ciceros Briefe die Zeug-
nisse des ersten Erwaihens der Persönlichkeit in der Renaissance'.
Mehrfach sind angesehene Schulmänner für Seneca als Primalektüre
eingetreten: G. Rosenthal, Seneca als Schullektüre, Woch. f. kl.
Philol. XXVIII 1911, 754/8, empfiehlt die unten genannte Hauck-
sche Ausgabe der epist. auch für das Realgymnasium. H. Bern-
hardt, Seneca in der Prima, N. Jbb. XV 1912, Bd. XXX, 404—15,
empfiehlt, auf Grund 5 jähriger eigener Seneca- Lektüre in Prima,
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 111
nach den epist., die in die Lehren der Stoa einfiihren , einzelne
Dialogi zu lesen ; als minder geeignet sieht er ad Polyb. an und
die Apokol. *P. Dörwald, Seneca- Lektüre in Prima, Lehr-
proben und Lehrgänge 131, Halle 1917, 15 — 21. Auch in dem so
viel Treffliches bietenden Handbuche für Lehrer Fr. Cramers,
Der lat. Unterricht (Berlin 1919), wird unter den 'mehr seitwäi-ts
des Weges liegenden Schätzen' (S. 243) der Philosoph Seneca
genannt und (S. 459 f.) auf seine Briefe hingewiesen sowie (S. 461)
einige Literatur über seine schulmäßige Behandlung kurz angeführt.
Vereinzelt hat man als Stoff der Schnllektüre einzelne der Dialogi
erprobt, z. B. auch W. Kaiser die Konsolationen (Prgr. Berlin
1914, 7 ff., s. unten S. 140). Im allgemeinen pflegt man aber noch
heute, wie ich es aus der Praxis mir bekannter Schulmänner weiß,
die epist. zu wählen. Dafür liegen zAvei brauchbare Schulausgaben
vor: L. Annaeus Seneca, Ausgew. moralische Briefe als Einführung
in die Probleme der stoischen Philosophie von P. Hauck, Berlin
(Weidmann) 1910, I Textband, II Kommentar (Rez. W. GemoU,
Woch. f. klass. Philol. 1911, 323 ff.) und handlicher, weil nicht mit
einer so breiten Einführung in die Philosophie belastet, L. A. Se-
neca ad Lucil. epist. mor. sei. erkl. v. G. Hess, 2. Aufl. v. R.
Mücke, Gotha (Perthes) 1913 (einige Einwendungen gegen die
Textgestaltung, bes. Überschätzung des cod. Uelcensis, den Mücke
zuerst näher untersucht hat, und gegen die Erklärungen macht
W. Gemoll, Woch. f. klass. Philol. 1914, 241 f.). Das Ausland
hat gleichartige Ausgaben geschaffen, die zu nennen zwecklos ist.
Die Beschränkung auf die Briefe ist aber für die Schullektüre
kaum zu empfehlen. Mehr bietet die Chrestomathie aus Schrift-
stellern der silbei-nen Latinität von Th. Opitz u. A. Wein hold,
4. Heft: Abschnitte aus Sen. und Celsus. 3., unveränderte Aufl.
Leipzig (Teubner) 1920, worin Stücke aus prov., ira I, Marc, brev.
vit., Helv., benef. II und IV, nat. quaest. u. epist. geboten werden.
Daß man auch ganz anderes wählen kann , zeigen die Selected
Essays of Sen. and the Satire on the deification of Claudius with
introduction and notes by Allan P. Ball, New York 1908, worin
Polyb. ganz sowie die beiden Bücher dem. nebst einigen Briefen
neben die Apokol. gestellt sind. Keine dieser neueren Sammlungen
'ist so reichhaltig wie die schon weit über ein Jahrhundert zurück-
liegende Sammlung auserlesener Stellen aixs den sämtlichen philo-
sophischen Schriften des L. A. Sen. für die Schüler der ersten
Klassen an Gelehrtenschulen bestimmt u. her. v. Joh. Wilh.
Olshauseu , Altona 1807, die recht wohl eine Erneuerung verdient.
112 Karl Münscber.
I. Allgemeines.
Sen. ist zweifellos eine überaus problematische Gestalt. Er ist
nia die Mitte des 1. Jabrh. n. Chr. der bedeutendste Schriftsteller
Roms, der in einer Fülle von Prosawerken eine edle Humanität
predigt und daneben seltsame Dramen schreibt , die menschliche
Leidenschaft fast widerlich abstoßend zeigen; er ist der wahre und
großzügige Leiter des römischen Reiches während der ersten Jahre
der Regierung des Kaisers Nero , nachdem er vorlier durch dessen
Mutter Agrippina des Prinzen Nero Erzieher geworden war, aber
er war gezwungen , wüste Lasterhaftigkeit und blutige Schandtaten
im Kaiserhause selbst nicht bloß zu dulden, auch zu entschuldigen,
ja zu rechtfertigen; er selbst, der Prediger der Bedürfnislosigkeit,
lebte in fürstlicher Pracht; wie schon in der Zeit seiner Ver-
bannung nach Korsika, wurde er am Schlüsse seines Lebens, nach
dem Bruche mit Nero, zu einem mit geistiger Arbeit reich erfüllten
otium gezwungen; schließlich wird auch er ein Opfer der Rache
Neros. Es ist kläglich wenig , was der Leser der Geschichte der
römischen Kaiser A. v. Domaszewskis (II Leipzig 1909) in
dem 'Senecas Staatsleitung' überschriebenen Kapitel (47 flP.) von Se-
necas Persönlichkeit erfährt. Zwar wird nicht geleugnet, daß Mieser
feingebildete Geist die Gabe zu herrschen wirklich besaß, wenn er
auch den Tugendmantel des Philosophen nur als ein gefälliges
Kleid trug', im ganzen wird er aber mit dem Wort vom 'glatten
philosophischen Schwätzer Sen.' abgetan, und es ist ein wirkliches
Verdienst Th. Birts, mehrfach die grundlegende Bedeutung von
Sen.s Wirken betont und ihn als eine Hauptfigur der römischen
Kaisergeschichte des L Jahrh. hingestellt zu haben. Das hat B.
getan in seinem Buche 'Römische Charakterköpfe, ein Wellbild in
Biographien', 3. Aufl. Leipzig 1918, in der Biographie des Kaisers
Claudius 223 ff. (4. Aufl. 1920), und danach den Versuch gemacht,
ein, wenn auch skizzenhaftes Sonderbild von Sen.s Persönlichkeit
zu entwerfen, die heterogenen Züge im Wesen des Mannes zu einen
und zu begreifen, dessen Schriftstellerei stets im Dienste seiner
ethisch-politischen Wirksamkeit gestanden hat: Sen., ein Vortrag,
Preuß. Jbb. CXLIV 1911, 282 ff., aufgenommen in das Buch: Aus
dem Leben der Antike, 2. Aufl. Leipzig 1919, 165 ff. m. Anm.
253 ff. — Erwähnt sei auch die kurze Würdigung Sen.s, die H.
Bernhardt gegeben hat (Hum. Gymnasium u. modernes Kultur-
leben, Dankesgrüße ehemal. Schüler zur Feier des 30Ojähr. Be-
stehens des Erfurter Gymnasiums, Erfurt 1911, Nr. 19, S. 259 bis
Bericht über die Senccaliteratur aus den Jahren 1915 — 1921. 113
263 ff.) unter dem Titel : L. A. Sen., ein moderner Mensch ; trotz
der unverkennbaren Schwächen im Charakter Sen.s sieht B. in ihm
den Ausläufer und Übermittler einer großen wertvollen vergehenden
und den Propheten einer neuen, unserer modernen Kultur. — Fol-
gende ausländische Charakteristiken Sen.s sind mir unzugänglich :
*Vinc. Ussani, Sen., Atene e Roma XVI 169/170, 1—14.
171/2, 84—101.
*J. van Wageningen, Sen.s leven en moraal, Voordracht,
Groningen 1917. Selbstanzeige * Museum XXVII 1919, 56 ff.
* F. Holland, Sen., bespr. von * R. M. Gummer e, Class.
Weekly XIV, 93 ff. (nach Philol. Woch. 1921, 524, eine inter-
essante Biographie des sehr sympathisch geschilderten Sen.).
Eine Biographie Sen.s , die den Mann allseitig in seineu poli-
tischen und schriftstellerischen Leistungen würdigt unJ zugleich sein
wahres Wesen ergründet und klarstellt , besitzen wir noch nicht.
Wer sie zu schaffen berufen ist, wird sich aber doch mehr als Birt
davor zu hüten haben , vor dem blendenden Lichte im Bilde Sen.s
allzusehr die tiefen Schatten zu übersehen. Ich möchte ein paar
schöne Worte anführen, die mir U. v. Wilamowitz, als er für
Übersendung meines Sen. -Buches dankte, über Sen. als Persönlich-
keit sclirieb : 'Wer Brudermord , vorher Kaisermord , dann sogar
Muttermord entschuldigte oder hinnahm, wer sich das Fett ansetzen
ließ, das das Porträt zeigt, der ist ein anderer gewesen, als der
sich in den Briefen darzustellen weiß. Ein großer Sünder. Aber
daß eben der doch diese Briefe geschrieben hat, auch Dialoge und
Dramen, ist ein Beweis dafür, daß hier kein geringer Mensch steht,
ein ewig denkwürdiger, aber ein Problem. Den Menschen gilt es
erst noch einmal zu fassen.'
Kein so hohes Ziel habe ich mir gesteckt in meinem eingangs
erwähnten Buche. Es leistet aber eine unerläßliche Vorarbeit für
den kommenden Sen. -Biographen , indem es die Chronologie der
Schriften Sen.s , der prosaischen wie der poetischen , aufzubauen
unternimmt. Nicht daß Versuche in dieser Beziehung früher ge-
fehlt hätten. Aber das Buch , welches diese Untersuchungen bisher
am meisten gefördert hat und das mir bei meiner Arbeit als Grund-
lage dienen mußte, A. Gerckes Sen.-Studien (Jbb. f. Philol.
Suppl. XXII 1895 in dem Abschnitt: Sen.s Abhandlungen im
Rahmen der Zeitgeschichte S. 282 ff.), ließ die poetischen Werke,
besonders die Tragödien , unberücksichtigt. Auch der Franzose R.
Waltz hat in seinem Buche La vie politique de S6n. (bes. S. 7, 2)
wie in seiner Sonderausgabe von de otio , 6d. accompagn6e de
•Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 8
114 K.^ri Münscher.
notes critiques et d'un commentaire explicatif in der Vorrede (beide
Schriften Paris 1909) zu einigen chronologischen Fragen Stellung
genommen. Seine Ausätze hat R. Pichon kritisch beleuchtet (Les
travaux recents sur la Chronologie des oeuvres de Sen., Journal des
Savants, N. S. X 1912, 212 — 225); auch zu den chronologischen
Schlüssen A. Bourgerys in seinem Aufsatze Sur la prose m^,-
trique de S6n. le philos. (Rev. de philol. XXXIV 1910, 167-172)
nimmt Pichon Stellung ; er findet in den statistischen Nachweisungen
über die Frequenz der rhythmischen Klauseln keine ausreichende
Grundlage für B.s von Gercke teilweise abweichende Ansätze.
Ich habe den Versuch gemacht, Sen.s Prosawerke, die erhaltenen
wie die nichterhaltenen , auf die im Leben Sen.s sich von selbst
durch seine Verbannung und seinen Rücktritt ins Privatleben er-
gebenden vier Perioden zu verteilen; wichtige Einschnitte innerhalb
dieser Perioden bedeuteten jeweilig der Regierungsantritt eines
neuen Kaisers, des Caligula und Claudius in der ersten, des Nero
in der dritten Periode , in der ein dritter Abschnitt sich deutlich
am Ende des viel gerühmten ersten Quinquennium Neros nach dem
Muttermorde abzeichnet. Meine Untersuchungen bestätigen teils die
früheren Ansätze, teils fiibren sie zu neuen Ergebnissen. In einem
5. Kap. erörtere ich gesondert das chronologische Problem der
Tragödien.
Falls meine Ergebnisse Anerkennung finden, werden die Dar-
stellungen über Sen.s Werke in den Literaturgeschichten in manchen
Punkten Abänderungen erfahren. M. Schanz behandelt Sen. in
seiner Gesch. d. röm. Lit. II, 2^, München 1913, in unglücklicher
Verteilung auf zwei Stellen, S. 51-76 den Dichter Sen. {^ 368—380)
und S. 375 — 423 das Biographische und die Prosawerke (§ 452 — 472a).
Teuf fei -Kr oll, Gesch. d. röm. Lit. II', Leipzig 1920, S. 215
bis 230, § 287—240.
Einzelheiten des Lebensganges Sen.s besprechen:
*0e. Hupka, Seu. szämuz6se (Verbannung), Eygetemes Philo-
logiai Közlöny XXXV, 799—813.
W. L. Friedrich, Burrus und Sen., Reichsverweser unter
Nero, Berl. philol. Woch. 1914, 1342/4, die Zeugnisse für beider
Männer gemeinsames Wirken darbietend, die Verschiedenheit ihres
Wesens und infolgedessen auch ihres Einflusses auf den Kaiser ab-
wägend.
Wir pflegen unsern L. A. Sen. den 'Philosophen' zu nennen
im Unterschied zu seinem gleichnamigen Vater, dem Rhetor. Aber
■wie dieser kein zünftiger Rhetor war, so war der Sohn kein 'Philo-
d
Bericht über die Senecaliteratur aus den Jahren 1915 — 1921. 115
Boplx', kein philosoplws cathedrarius ; aber auch kein verus et anti-
quus philosophus (brev. vit. 10, 1) wollte er sein ; er war sein Leben
lang ein Vertreter des 7tQaxTiy.bg ßiog^ nur gezwungenermaßen hat
er sich dem ^ßw^jjTfxog ßiog, dem otium ergeben und es gepriesen
(die betr. Stellen verwendet F. Boll, Vita contemplativa, Festrede,
Sitz.-Ber. Akad. Heidelberg 1920, 8. Abhdlg.; 2. Aufl. Heidelberg
1922, Anm. z. S. 6 f.) und auch in diesem noch für Mit- und Nach-
welt gearbeitet (vgl. Sen.s Werke 1 f.). Die Mehrzahl seiner
Schriften ist durch bestimmte Lebensumstände veranlaßt worden,
und es ist eine notwendige Aufgabe , jede einzelne aus diesen be-
sonderen Umständen heraus zu begreifen. Diese historische Be-
trachtungsweise wird leicht vernachlässigt, wenn es sich darum han-
delt, von der Philosophie Sen.s zu sprechen.
Sen. gibt nirgends eine systematische Pädagogik ; aber er äußert
nicht selten treft'liche Gedanken über Erziehung, und so ist gerade
seine 'Pädagogik' mehrfach in neuerer Zeit behandelt worden.
Rob. Kenner, Sen. und die Jugend, Blätter f. d. bayer.
Gymnasialwesen XLVI 1910, 333 — 43, zeigt, wie Sen. mit Vorliebe
das Kind und seine Welt als protreptisches Gleichnismittel verwendet.
loan Marinescu, Die stoischen Elemente in der Pädagogik
Sen.s, Diss. München 1911, behandelt sein Thema nach einleitenden
Kapiteln über den Stoizismus am Anfang des 1. Jahrh. n. Chr. in
Rom, wie über Sen.s Eklektizismus, seine Psychologie und Ethik.
* C h. B u r n i e r , La p6dagogie de S6n. ; Le9on inaug. h l'Univ.
de Neuchätel, Lausanne 1914 (95 S.).
Joh. Gottfr. Beringer, Moderne und antike Willensbildung,
ein Beitrag zum Vergleich heutiger Willenspädagogik mit jener
Sen.s, Prgr. Freising 1915, bespricht die Erziehung des Willens
zur Höhe, zur Kraft (durch Vermittlung des Körpers, durch die
Verstandes- und Gefühlswelt sowie durch Beeinflussung der Be-
gehrungen und Triebe) und zur sozialen Betätigung, um schließlich
den Unterschied zwischen dem christlichen Erziehungsziel und den
heutigen Mitteln, es anzustreben, und Sen.s Anschauung darzulegen.
Den 'Philosophen' Sen. betreffen des weiteren:
Rud. Reich, Quid c Sen. philos. eius(][ue patris scriptis de
luxuria illius aetatis colligi queat et quid las de rebus censuerit
philosophus, Prgi'. Lundenburg 1912, eine Stellensammlung (Luxus
in der Körperpflege, im Häuserbau, im Essen), die natürlich nichts
wesentlich Neues lehrt (Rez, Max. Adler, Zeitschr. f. d. österr.
Gymn. LXV 1914, 381 f.).
*Dom. Bassi, Sen. morale: studi e saggi, Florenz 1914 (205 S.).
8*
116 Karl Münscher.
*M. Salomone, Seu. e suoi pensieri di filosofia e di pe-
dagogia, Turin 1914.
Herrn. Steiner, Theodizee bei Sen., Diss. Erlangen 1914.
Das Problem spitzt sich bei Sen., bes. in prov., allein auf die Frage
der praktischen Ethik zu: quare muUa bonis viris adversa evenhmi?
Trotzdem untersucht Verf. das Theodizeeproblem bei Sen. im Ver-
hältnis zu Metaphysik, Ethik und Religion (S. 51 Anm. wird der
tiefe Gegensatz zwischen Sen. und Paulus berührt) ; erst am Schluß
hinkt, recht unhistorisch, ein Abschnitt nach über die Theodizee
bei den übrigen Stoikern.
Ernst Howald, Die Weltanschauung Sen.s, N. Jbb. XVIII
1915, Bd. XXXV 353—360; sie erscheint H. nicht konsequent,
und er spricht davon , inwiefern Sen. von der strengen Stoa (im
Verhältnis zur großen Masse, im fast Epikureischen Grundsatze des
onimo frui, in der Stellung zum 'Ich', zum Weibe, zu den Göttern),
abweicht.
Sen.s und seiner Werke Fortleben.
Tum autem solus hie fere in manibus aduhscentium ftiit bezeugt
Quintiliau (inst. X 1, 125) von Sen. Als solcher überaus fleißiger
Sen. -Leser erscheint Martial nach dem, was G. Friedrich, Zu
Sen. und Martial, Hermes XLV 1910, 583—594, aufgezeigt hat.
Sen.s eigene Redeweise ist durchaus epigrammatisch , und so hat
der Epigrammatiker Martial seinen Geist genährt durch Sen. -Lektüre.
Fr. vermag Berührungen Martials zu fast allen Prosawerken wie zu
den Tragödien und Epigrammen Sen.s nachzuweisen; noch mehr
derartiger Beobachtungen gedachte er in einem Kommentar zu
Martial vorzulegen. Manche Martialstelle findet nur aus Sen. ihre
Erklärung, so z. ß. die cena ambulans VII 48, 5 aus Sen. epist.
78, 23. Sogar für die Wahl der Lesart ist bei Textvarianten im
Martial mitunter das Vorbild Sen. wertvoll (XII 82, 4 acceptas pilas
wie bei Sen. benef. II 32 , 1). Auch Lukan hat Martial gelesen
wie den Vater Sen.; die Epigramme III 66 und besonders V 69,
die Ciceros Tod durch Antonius mit dem Untergang des Pompeius
parallelisieren, stammen nach Form und Inhalt aus suas. 6. Zu weit
geht allerdings 0. Immisch, wenn er (Hermes XL VI 1911, 489
Anm.) auf Grund dieser Tatsache nun umgekehrt suas. 6, 6 den
Namen des Eunuchen Pothiuus einsetzen will. Das wäre doch nur
dann annehmbar, wenn jener Pothinus dem Martial aus keiner
anderen Quelle als aus Sen. rhetor hätte bekannt werden können.
Das ist aber keineswegs der Fall. Schon Cäsar bell, civ. III 108, 1
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 117
erwähnt den eunuchus nomine Pothinus, ohne ihn allerdings mit
Pompeius Tod in Verbindung zu bringen. Das ist aber, wie man
mit Sicherheit sagen kann, bei Livius zu lesen gewesen: denn
Florus erzählt (II 13, 52), daß Porapeius' Ermordung imperio vilissinii
regiSi consiliis spadonum erfolgt sei, und wer diese Eunuchen waren,
erfährt der Leser ein wenig später (60), wo Florus den Tod des
Pothinus und Gauymedes berichtet, der ne virilia quidem pottenta.
Als Sen.s ^philosophischen Schriften 'näher verwandt' bezeichnet
0. Roßbach des Florus Dialogfragment Vergilius orator an poeta,
sowohl bez. der sprachlichen Form (kurze , unverbundene Sätze,
Klausel-Rhythmus) wie sachlich in der Behandlung eines literarischen
Themas, wie solche auch von Sen., zumal in den letzten Briefen,
gern besprochen werden (Art. Florus Nr. 10 P.-W. VI, Sp. 2767 f.).
Vom Fortleben Sen.s in neuerer Zeit handelt *Th. Eustachie-
wicz, Sen. in Polen (poln.), Eos XIX 1913, 177 ff.; nach der In-
haltsangabe Berl. philol. Woch. 1914, 379, sind in Krakau und Lem-
berg viele mittelalterliche handschriftliche Pseudo-Annaeana vor-
handen, alte Handschriften der Dialoge und 3 Ti-agödienhand-
schriften s. XV, und es sind in der Zeit der Renaissanc wie in den
späteren Jahrhunderten in Polen viele Ausgaben , Kommentare,
Übersetzungen und Nachahmungen erschienen. S. aiich unten S. 161.
G. W. Robinson hat Joseph Scaligers Estimates of Greek
and Latin Authors aus seinen Werken gesammelt und herausgegeben
(Harvard Studies in class. Philol. XXIX, Cambridge 1918, 133—176)
und damit eine recht amüsante und interessante Lektüre geschaffen.
Auch die Urteile über Sen. sind beachtenswert (169 f.): moralis
philosophiae primas tenet, dignissimus qui semel atque iterum lega-
tur. De remediis fortuitorum non est Sen., sed Sen. collectorum.
Epistolae Sen. ad Paulum sunt antiquae ; citantur ab Hieronymo,
non sunt confictae a monachis, quia tunc non erant. Aber auch
der Dichter Sen. ist ein bonus auctor. Von den Tragödien gelten
ihm die Troades als princeps omnium, und Lipsius' Urteil, der sie
fUr das Werk magistelli potius cpam Sen. erklärte, wird höhnisch
zurückgewiesen. Herc. f. vergleicht Sc. mit dem Euripideischen, von
der Thebais (das sind die Phoenissenszenen) sagt er: Haec fabula
est... totum scholasticum drama, declamatorio charactere , multa
putida sunt et affectata. Auch die Octavia weiß Sc. zu schätzen:
neque inepta sei sie, wie Lipsius geurteilt habe, neque futilis auc-
toris aut sub Domitiano viventis; er meint: ego video auctorem
Octaviae ipsius Octaviae domesticum et Sen. amicum fuisse et Op-
timum poema esse. Abweichend äußert er sich an anderer Stelle
118 Karl Münscher,
(iu einem Briefe an Salmasius) : Octaviam autem Memoris fratris
Turni esse non dubitamus ; das ist der Scaevus Memor tragicus poeta
(Vallascholion zu Juv. I 20. Mart. XI 9 u. 10), von dem wir ein
paar anapästiscbe Metra aus einer an Hecuba, die Cisseis, gerichte-
ten Klage eines Chores aus einer Troades- oder Hecubatragödie
besitzen (Kibbeck^ TR F. 269).
Mit dem Abschluß des Manuskripts für diesen Bericht be-
schäftigt, erhalte ich noch ein amerikanisches Buch, das in diesen
Abschnitt über Sen.s Fortleben gehört. Es ist das erste Stück einer
Schriftenreihe, die in Boston, Massachusetts, erscheint unter dem Titel
Our debt to Greece and Korne; die Herausgeber sind zwei Uni-
versitätsprofessoren Gr. D. Hadzsits (Pennsylvania) und D. M.
Robinson (John Hopkins). Der Plan des ganzen auf 50 Bände
berechneten Sammelwerks wird am Schluß des Bandes 'Authors and
Titles', S. 149 f., mitgeteilt. Eine Editors' Preface (p. VH— XI)
setzt Ziel und Richtung der Sammlung auseinander; es sollen the
inherited permanent factors in the civilization of the twentieth Cen-
tury gezeigt werden, die Griechenland und Rom entstammen; Greece
has been the source of most of our aspirations and Rome the great
mediator. Als erster erscheint dieser XVI. Band: Rieh. M. Gum-
mere, Sen. the philosopher and bis modern message, 1922. Nach
einer kurzen Preface , die Sen.s wesentliche Bedeutung darin er-
kennen will, daß sein Lebenssystem einen Fortschritt bedeutet habe
über seine Vorgänger und Zeitgenossen, folgen 8 Kapitel, deren
erstes unter dem Titel The Cid and the New Sen. als den Neuerer
in Philosojjhie , Politik und Literatur im Gegensatz zum früheren
Römertum vorführt i;nd eine flott geschriebene, mit Anspielungen
auf moderne Literatur gewürzte Skizze von Sen.s Lebensgang bietet,
Avobei die Einflüsse der spanischen Heimat und der Eltern besonders
ins Licht gestellt werden. Auch die Mehrzahl der Werke Sen.s
wird erwähnt; die Bücher über Ägypten und Indien werden mit
Recht der Frübzeit zugewiesen , die Tragödiendichtung in der bis-
her üblichen Weise fälschlich der Verbanuungszeit in Korsika.
Diese wird recht gut in drei Epochen zerlegt: in der ersten zeige
Sen. die Haltung of heroic and philosophic resignation ; dieser Zeit-
spanne weist H. drei Schriften zu: brev. (zu Unrecht, s. unten S.
146), const, und Helv. ; der zweiten Epoche gehört der cringing
letter an Polybius; die dritte sei eine Epoche of quiet despair;
dahin gehört in Wahrheit brev. Sonst werden die Werke nicht ge-
nauer chronologisch festgelegt. Am Schluß wird betont, wie schwierig
bzw. unmöglich es sei, aus unseren Quellen über Sen. und seine
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 119
Zeit volle Wahrheit zu gewinnen, denn the pictures of the period
are bodly drawn and usually with prejudice. In den beiden folgen-
den Kapiteln behandelt G. zunächst Sen.s und seiner Werke Ein-
fluß und Bewertung im Altertum selbst, III: His influence upoa
pagan Rorae , IV : How he appealed to the church. Mannigfach
schwankend sind die antiken Urteile über Sen., die G. anzuführen
hat; besonders ausführlich werden Quintilians, Gellius und Frontos
Äußerungen besprochen. Dabei wird Sen. als Stilist gewürdigt, der
als der Neuerer , the early advocate of a Silver Latin style , nach
dem Einerlei der Tiberianischen Zeit sich erhebt und sich in der
Diatribe, dem Essay, sein geeignetes Medium schafft. Als high-water
mark dieses subjektiven Essaystils erscheinen die epist., deren Art,
vom Konkreten zum Abstrakten überzugehen, im Gegensatz zu den
Ciceronischen Briefen, die from general matters to objective affairs
überspringen, fein charakterisiert wird. Im ganzen huldigt das
spätere Rom dem Verstand und der Weisheit Sen.s; den Radikalis-
mus seines Denkens und seines Stils lehnt man ab. Den Einfluß
des Dichters Sen. auf die zeitgenössischen und bald folgenden Poeten
Roms übergeht G. Die Beurteilung der politischen Tätigkeit Sen.s
knüpft an Tacitus an ; Suillius erscheint als Repräsentant der Re-
aktionäre gegenüber dem homo novus. Clem. wird in diesem Zu-
sammenhang gewürdigt, wie schließlich die nat. qu. im Anschluß
au Plinius des Älteren Urteil über Sen. als Naturwissenschaftler.
Das Kap. schließt mit dem Gedanken, sich selbst und seinen Zeit-
genossen sei Sen. der gewandte Stilist und der Mann der Tat ge-
wesen; uns erscheine er als Philosoph. Um im III. Kap. Sen.s Ver-
hältnis zur christlichen Kirche zu beleuchten, gibt G. zunächst eine
Darstellung des Stoizismus, und wie dieser, durch Poseidonios ver-
mittelt, bei Sen. erscheint: seine moderne Art zu denken, macht
Sen. den Christen vertraut und lieb ; möglich auch , so meint G.
(s. unten S. 183), daß Sen. mit Paulus in Rom tatsächlich in Ge-
dankenaustausch getreten ist, wie denn der Briefwechsel zwischen
Sen. und Paulus frühzeitig in frommer Absicht gefälscht wurde. Als
Apostel der Humanität, mit seinem Protest gegen die Sklaverei, in
seiner Stellung zum weiblichen Geschlecht, in seiner Ablehnung
des Alkoholismus als lebenslänglicher Temperenzler (teetotaller),
erwarb sich Sen. die Sympathien der Christen. Recht knapp be-
handelt das V. Kap. How he touched the Medieval mind. Die Hand-
schriften des 9./10. Jahrb., die noch älteren Sentenzensammlungen,
die Sen.s Namen tragen , beweisen seine Geltung im M.-A. , und
G. führt eine Fülle bekannter Namen auf von Leuten , die Sen,
120 Karl Münscher.
kannten und benutzten. Besonders sind ja die nat. qu. ein Stan-
dard work für die naturwissenschaftliclien Kenntnisse des M.-A.s als
das fortgeschrittenere Gegenstück zu den Physiologi. Wie vereinzelt
andere zitiert Roger Bacon dies Werk oft (s. unten S. 170). Außer
den Briefen, nat. qu., benef. und den Tragödien sind es aucli die
Deklamationen, die man von Sen. kennt; erst ßapliael und Lipsius
Laben den Irrtum berichtigt und in ihrem Verfasser den Vater
Sen. erkannt. Im V. Kap. How the renaissance viewed him sind
es zunächst drei große Männer , die Sen.s bedeutenden Einfluß er-
kennen lassen : Dante , Chaucer (hier stand G. eine neue Mono-
graphie zur Verfügung: *H. M. Ayres, Chaucer and Sen., Ro-
manic Review X 1919, 1 — 15) und Petrarca, bei dem die Anfüh-
rungen aus Sen. nur wenig geringer sind als die aus Vergil, dessen
Briefe sorgfältig gearbeitete Essays sind, gleich denen seines Musters
Sen., wie seine Bibliothek in Vaucluse zwei Handschriften der Lu-
ciliusbriefe enthielt. Dante zeigt Bekanntschaft mit Sen. ; Chaucer
benutzt ihn reichlicher, aber Petrarca mad him a very part of his
mind and soul. Noch andere Einzelheiten führt G. an, Sen.s Be-
deutung in der Renaissance zu erläutern: Piaceuza besaß eine Seu.-
Professur, Thomas von Kempen scheint Sen.s 7. Brief zu kennen.
Mit dem Ende des 15. Jahrh. beginnen die Sen. -Drucke; der erste
erscheint 1475 in Neapel; Erasmus Ausgaben folgen 1515 und 1529;
Calvins Übersetzung von dem. 1532 (Pincianus Castigationes von
1530 sind keine Ausgabe, s. unten S. 155); so wanderten Sen.s
Werke frei durch Europa , immer weitere Wirkung ausübend. Bei
niemand war Sen.s Einfluß größer als bei Montaigne, den Pasquier
einen 'französischen Sen." genannt hat. In England tut Sen. seine
Wirkung seit Thomas Lodges Übersetzung vom Jahre 1614; davon
handelt G. im VI. Kap. Montaigne and the Elizabethans, endend
mit Shakespeare. Im nächsten (VII.) Kap. behandelt G. endlich
The modern view und führt seine Leser von Francis Bacon, der
voll ist von detaillierten Beziehungen zu Sen., bis ins 20. Jahrh.
Aus der Fülle der Einzelheiten sei nur weniges herausgehoben.
Die berühmte Stelle Med. 375 ff. haben Columbus (s. unten S. 188),
Roger Baco und Cardinal d'Ailly mit der Entdeckung Amerikas in
Verbindung gebracht. Milton empfahl in seiner Abhandlung von der
Education die Lektüre der nat. qu. Im 17. Jahrh. empfinden eng-
lische fromme Kreise besonders lebhaft die geistige Verwandtschaft
zu Sen.; im 18. aber macht zur Zeit der Aufklärung der Enthusias-
mus in England und Frankreich einer nüchternen, beinahe gehässigen
Bevirteilung Sen.s Platz : da singt man : I have no further use for
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 121
you (Plutarch und Sen.), und La Rochefoucauld porträtiert Sen. als
Schurken mit der Tugendmaske ; aber Rousseau und Voltaire lassen
ihm seinen Platz unter den führenden Denkern, und so fehlen bis
in die neueste Zeit nicht Stimmen , die für Sen. eintreten , wie
Jefferson und Emerson: die Lehre vom retreat, vom Leben mit
sich selbst, das erscheint G. als Sen.s greatest contribution to the
thought of the world. Auch die Deutschen fehlen nicht in dieser
Übersicht: die Namen Niebuhr, Goethe, Nietzsche begegnen dem
Leser. Ein VIII. Kap, gibt Conclusions. G. konstatiert, daß neuer-
dings Sen. seineu Platz im Jugendunterricht wieder behauptet; wie
hoch Maeterlinck Sen. schätze, wird betont. Ein Wort Euckens wird
angeführt, ob nicht vielleicht das spätere Altertum (vertreten durch
Lukrez, Sen., Plutarch, Mark Aurel) uns wieder, wie vor der Zeit
des modernen Humanismus , nähertreten werde. Beim Auftauchen
neuer Ideen habe Sen., so meint G., immer Material geboten for
the Promoter and for the Interpreter of progress, und so sei es viel-
leicht noch Sen.s Mission, eine Hilfskraft zu werden in the world's
progress toward a deeper Christianity. — G. selbst bezeichnet sein
Buch als Skizze. Als solche ist es ausgezeichnet; den Stoff allseitig
und tiefgründig zu behandeln , wäre eine gewaltige Aufgabe für
einen vergleichenden Literarhistoriker. Auch über Sen. in Deutsch-
land wäre da manches zu sagen. So sah ich jüngst, daß Grimmeis-
hausen sich im Simplizissimus zweimal (I. Kap. 7 u. III. Kap. 18)
auf Sen. beruft (s. Nachträge). Dem Zweck der Sammlung Cur
debt to Greece and Rome entsprechend, hat G. nur wenige Notes
(S. 141 ff.) beigegeben, in denen man viele Nachweise schmerzlich
vermißt, und wenig Bibliography (S. 145); daß darin deutsche Lite-
ratur kaum vertreten ist, darf nicht verwundern. Ein neues Buch
führe ich daraus noch an: * F. L. Lucas, Sen. and Elizabethan
Tragedy , Cambridge 1922. Über das Fortwirken der Tragödien
vgl. auch unten S. 192 f.
n, Senecas Werke.
A. Prosaische Schriften.
Von neueren Untersuchungen über Sen.s Prosastil verdient
besonderes Interesse die oben (S. 114) genannte Abhandlung
A. Bourgerys Sur la prose metrique. Zunächst gibt B. eine
Tabelle der Frequenz der Klauseln an den Schlüssen der Briefe
und der Kapitel der Abhandlungen. Zieht man seine Angabea
zusammen auf die Hauptklauselu und ihre Variationen, so ergibt
122 Karl Müuscher.
sich, daß in 36«>/o der Fälle cret. + troch., 22^lo ditr., IS'^lo dicret.
sich finden ; im allgemeinen muß man mit B. anerkennen, daß bei
Sen. manche 'gesuchte' Klausel nicht besonders oft, mancbe 'ge-
miedene' nicht besonders selten ist: ce qui prouve que des raisons
de style penvent pr^valoir souvent chez S6n. sur les consid6rations
m^triques. Des weiteren untersucht B. die Satzschlüsse der einzel-
nen Schriften Sen.s und gibt in °/o die Anzahl der Klauseln ins-
gesamt und derjenigen mit Kretikus an vorletzter Stelle. Daß die
chronologischen Schlüsse, die er aus seiner Tabelle zieht, nicht stich-
haltig sind, hat Pichen (s. oben S. 114) bereits gesagt; Einzel-
heiten berühre ich bei den einzelnen Schriften. Nur kurz geht B.
auf die Frage ein, inwieweit die Klauseltechnik für die Textkritik
wirksam sein kann; so meint er z. B. nat, qu. IV 2, 18 calicUssimtts
[cbt] mit P und Skutsch streichen zu sollen, um den Doppelanapäst
zu vermeiden. Am Schluß von epist. 78 lehnt B. Wolters Konjektur
(die noch Hense ^ aufnimmt) lentüs äccedtt ab. Das überlieferte Jeviüs
gibt zweifelsohne die bessere Klausel und ist doch auch im Sinne
nicht unpassend. Es folgt bei B. eine Bemerkung über das Ver-
hältnis der Klauseln zur Interpunktion und schließlich ein prozen-
tualer Vergleich der kretischen , der sonstigen gesuchten und der
gemiedenen Klauseln in der Apokol., dem. u. const. In den text-
kritischeu Beiträgen zu Sen.s Prosaschriften ist noch von manchem
Gelehrten der Prosarhythmus berücksichtigt und manche Beobachtung
über Sen.s Gebrauch dieses Kunstmittels gemacht worden : eine Zu-
sammenstellung aller dieser Beobachtungen und ihre Ausdehnung
auf den ganzen Sen. wäre zu wünschen.
Sonst befassen sich mit Sen.s Sprache und Stil:
Fr. Steiner, Der 'moderne Stil' des Philos. Sen., Prgr,
Rosenheim 1913; eine Zusammenstellung von Antithesen und Wort-
spielen aus Sen, philos. u. trag, und dem Deklamationswerke seines
Vaters, um zu zeigen, daß der Sohn auch 'als Philosoph u. Dichter
Deklamator geblieben ist'.
Petr. Brodmuehler, De particulis interrogativis nonnullorum
scriptorum aetatis argenteae, Diss. Bonn (gedr. Köln) 1914, sammelt
in Kap. 8 (S. 41 — 51) auch das Material aus Sen. philos. Schon
C. Naegler, De particularum usu ap. L. A. Sen. philos. I.,
Diss. Halle 1873 , hatte p. 18 ff. von den part. interrogativae ge-
handelt. Da B. auch Phaedrus (in Kap. 7) heranzieht, sieht man
nicht ein , warum er Sen.s Tragödien unberücksichtigt läßt. Ver-
gleichende Tabellen am Schluß S. 67 ff. ermöglichen bequeme Über-
sicht des Gebrauchs bei den verschiedenen Autoreu. Einzelheiten
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 123
beanstandet C. Stegmann, Jahresberichte des philol. Vereins zu
Berlin (Sokrates LVII) 1921, 122.
Rob. Fischer, De usu vocabulorum ap. Ciceronem et Sen.
Graecae philosophiae iaterpretes, Diss. Freiburg i. Br., 1914. Verf.
beschränkt sich auf die von Cicero und Sen. gewählten Ausdrücke
zur Wiedergabe der griechischen Termini der Ethik, weshalb ein
volles Bild von der Bedeutung Ciceros als Übersetzer nicht gewonnen
wird (vgl. C. Atzert, Berl. philol. Wochenschr. 1915, 144/46) —
was aber auch nicht beabsichtigt war. Der Mangel, dalJ die Arbeit
sonst ganz ungegliedert ist, wird einigermaßen aufgewogen durch
einen Index der besprochenen griech. und lat. Worte (p. 113 ff.)
und eine tabula, in der die Übersetzungen der beiden Römer und
der griech. Ausdruck in drei Rubriken nebeneinandergestellt werden
(p. 105ff., vgl. Fei. Hartmann, Glotta IX 1918, 251). Die
Ergebnisse sind p. 99 ff. zusammengefaßt. Während Cicero nur
weniges schon von Vorgängern übernehmen konnte , selbst seine
lat. Übersetzungen griech. Termini schuf, dabei auch vor neuen
Wortbildungen sich nicht scheute und stets möglichst sorgfältig das
Griechische in elegantem Latein wiederzugeben suchte , verfährt
Sen., wie zu erwarten war, viel sorgloser; er neuert wenig,
folgt naturgemäß meist Cicero (nur zwei Bezeichnungen philos.
Termini bietet er , die Cicero nicht hat , pditio = eq'EOig und cx-
pefibilis = aigereog), und wählt mit Vorliebe recht hoch und schön
klingende Ausdrücke : Der Rhetorenschüler wird auch hier deutlich
erkennbar.
Edgar Howind, De ratione citandi in Ciceronis Plutarchi
Sen. Novi Testamenti scriptis obvia, Diss. Marburg 1921. Während
Ciceros Art, die Zitate aus anderen Schriftstellern einzuführen, aus-
reichend behandelt erscheint, kommen Plutarch und Sen., denen
Kap. 2 (S. 23 — 37) gilt, entschieden zu kurz (vgl. Rez. Fr. Bock,
Philol. Woch. 1922, 465/67). Bei Sen. beschränkt sich Verf. auf
die epist. ; also ist sein Material unvollständig. Sen. zitiert wie
Plutarch gern ; ob man das auf den Einfluß der sog. Diatribe zurück-
führen darf, sei dahingestellt. Mit Dichterzitaten, bes. solchen aus
Vergil, geht Sen., unabsichtlich oder manchmal auch bewußt, recht
frei um ; ob seine Abweichungen für die Textkritik Bedeutung
haben, bleibt unerörtert; auch griech. Anführungen gibt Sen. lateinisch ;
nur einmal läßt er (epist. 99, 25) seiner lat. Paraphrase den griech.
Wortlaut aus Metrodoros folgen. Die Arbeit bedarf der Ausdehnung
auf den ganzen Sen.
Auf die Luciliusbriefe beschränkt sich aitch Walth. Nie-
124 ^^^'1 Münscher.
Schmidt, Quatenus in scriptura Romani litteris Graecis usi sint,
Diss. Marburg 1913, in seinem Abschnitt V (S. 42 — 47) über Sen.s
Art, die griech. Worte zu schreiben. Als Regel, die freilich keines-
wegs unverbrüchlich gilt , ergibt sich , daß Sen. im allgemeinen
griech. Worte mit lat. Buchstaben schreibt, griech, nur dann an-
wendet, wenn er zugleich durch ein paar Worte der Begründung
hinzufügt, daß ein geeignetes lat. Wort fehle oder der griechisch an-
geführte philosophische Begriff einem lat. Worte zur Erläuterung
beigefügt werde. — S. Nachträge.
Jeder neue Bearbeiter eines Sen. -Textes wird sich die Frage
vorlegen müssen , inwieweit er glaubt syntaktische Besonderheiten
anerkennen zu dürfen, wie sie W. A. Baehrens in seinen Bei-
trägen zur lat. Syntax (Philol. Suppl. XII, 2, 1912, 233—556) unter
Vorlegen eines gewaltigen Stellenmaterials für viele spätere römische
Autoren, unter ihnen auch für Sen., zu erweisen unternommen hat.
Hos ins undHense haben das bereits in ihren zweiten Auflagen 4er
Ausgaben von benef. dem. und der epist. getan. W. Kroll hat
in seinen Randbemerkungen, Rhein. Mus. LXIX 1913, 95 ff. zu
B(aehrens) Untersuchungen kritisch Stellung genommen. A. Bour-
gery ist dadurch zu seinen Notes sur le texte de Seu., Rev. de
philol. XXXVII 1913, 95 — 109 angeregt worden, in denen er B.s
Aufstellungen durch weiteres Sen. -Material zu stützen sucht. Bei
der prinzipiellen Bedeutung der von B. behandelten Dinge ist eine
ausführlichere Besprechung auch in diesem Bericht unerläßlich.
Im ersten Abschnitt behandelt B. einige Verbindungen aito
V.OLVOV und Verwandtes , zunächst das Fehlen der Präposition in
zweigliedrigen Ausdrücken gerade im ersten Gliede ; daß solche Fälle
bei Dichtern zweifelsohne sich finden , steht fest (sicheres Beispiel
Catull 33, 5 cur non exilium malasque in oras itis), und Kroll (95 ff.)
glaubt bei den römischen Dichtern griechischen Einfluß annehmen zu
dürfen (vgl. Homer fi 27 rj aXog i^ snl y^g dXyrjOeTe Tcr^a naO^ovisg).
Aber daß die von B. (240 f.) aus Sen. angeführten Beispiele an-
zuerkennen seien (wie tranqu. 12, 4 cucutrerunt . . . aut {ad) iu-
d'iciitm mepe litigantis aut ad sponsalia saepe nubenüs) wird kaum
jemand glauben. An den vier aus den Briefen gegebenen Stellen
ist Hense ^ B. nicht gefolgt. Kroll hat gewiß recht, wenn er sagt :
*Nun weiß jeder, der sich praktisch mit Textkritik abgegeben hat,
wie leicht diese unscheinbaren Wörtchen ausfallen , und wie wenig
man sich oft bedenken darf, sie hinzuzufügen.' Bou(rgery) (100)
fügt noch andere Stellen hinzu (wie vit. beat. 3 , 4 nam {pro) vo-
lu^tatihus et pro Ulis quae parva . . . sunt, ingens gaudium subit) und
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 125
Briefstellen, wo einzelne deteriores die Präposition fortlassen (epist.
20, 3. 82, 12. 124, 4), die ihm selbst teilweise bedenklich erscheinen.
Viel glaubhafter ist das Umgekehrte, daß die Präposition im zweiten
Gliede fortgelassen wurde; dafür führt Bou. an Helv. 14, 3 in erepto
filio desiclerari qiiae incolutni mcmqiiam ad te pertinere duxisti (bei
Hermes in vor incoluini wiederholt), epist. 90, 35 non de ca pliilo-
sophia loquor . . . sed Hin (Hense^ noch {de) illa). Wenn man auch
diese Beispiele anerkennen mag, ist aber kein Grund deshalb
benef. I, 7, 1 das zweite in vor ipsa . . . volvntate mit RMP weg-
zulassen oder dem. I, 21, 4 kein ab vor animalihus einzuschieben. —
Daß epist. 117, 26 der Zusatz von id unnötig sei (B. 264), kann
ich nicht glauben: Sic fit {nf) negemur sapere, itt hoc totum Studium
deridcatiir schreibt Hense ^ mit Recht. In anderen Fällen wird man
B. (269 f.) eher zuzustimmen geneigt sein •, so wenn er die von den
letzten Editoren noch beliebten Zusätze unter Annahme einer dno
xoivo D-Stellung ablehnt ira II 28 , 4 non enim illoriwi (sc. de-
orum) {vi), sed lege mortalitatis patimur. const. 12, 1. epist. 81, 8.
83, 15 folgt auch Hense ^ und behält die Stellung sed mersum et
vino madenfem bei, ebenso S4, 61 qui ante se agant agmina et tergis
hostium [et] graves instent (ohne Büchelers Umstellung von hostiwn
hinter agmina); auch 109, 9 würde ich mit B. (gegen Hense) für
ausreichend halten et qxn in summo est, opus est (überl. in summa
motus est) calore adiecto , ut summum teneat (ohne calore vor opus).
epist. 95, 61 hat Hense nunmehr seine frühere glatte Form si
prohationes necessariae {sunt^, s\int et decreta selbst aufgegeben, aber
statt sunt in den Nebensatz zu stellen, halte ich B.s (283) Fassung
für die echte: si prohationes necessariae, sunt et decreta (nach epist.
118, 12. 120, 3). Bou. (101) fügt hinzu: epist. 85, 2: qui prudens
est, et temper ans est; qui temperans , est et constans (Hense ^ qtii
temperans est, et constans). Daß Polyb. 9, 8 iUic fehlen darf (nur
in zwei jlingeren Handschriften in schwankender Stellung überliefert),
wird man B. (291 f.) zugeben. Aber epist. 108, 31 erscheint selbst
B. (302 f. ira Abschnitt über verwandte Konstruktionen) die Streichung
des (a) vor regihus bedenklich, weil dadurch die Deutlichkeit leidet.
Bou. (101) fügt zwei ebenso undenkbare Fälle hinzu: const. 7, 2
iniuria in bonos nisi {a) (add. A^) malis non temptatur. benef. V 6, 1.
Sehr gewagt erscheint es, schon bei Sen. Marc. 15, 2 bloßes quam
statt tarn . . . quam zu statuieren (]i. 308); ein zweites Beispiel, das
Bou. (102) beibringt (epist. 13, 9 tarn vor perniciosi om. p), macht
die Sache nicht glaublicher. Benef. II 6, 1 bat Hosius nicht mehr
mit Haase {itd) vor idetn est eingesetzt (B. 310). Auch Polyb. 6, 3
126 Kall Münscher.
wird man mit B. (312) das tiberlieferte autem beibehalten und ein
quantum ohne vorhergehendes tantum anerkennen. Ebenso dürfte
die Streichung des von Gercke nat. qu. VII 30, 1 eingefügten (si)
berechtigt sein (B. 320). Die Beispiele für Ellipse des Dcmon-
strativunis (B. 325 ff.) wird man anerkennen dürfen; epist. 109, 9,
auch bei Hense^ ohne ei vor gw?, ebenso ira III 14, 6; benef. II 23, 1
hat Hosius nun schon evm vor ciii fortgelassen, wie V 1, 4 üs nach
grat'ms. Auch epist. 119, 10 ist qui se ad quod exigit natura com-
posuit ohne das id vor quod, welches Hense^ noch schreibt, in
Ordnung; Bou. (104) führt eine bisher schon unbeanstandete Par-
allele an ira I 1, 2 In quod coepU pertinax. Zweifelhaft sind die
Fälle, in denen B. (361 f.) einen bloßen abl. separationis glaubt an-
nehmen zu dürfen (z. B. Helv. 12, 4 Zenoni (a) quo coepü Stoicorum
. . . sapictiüa), außer epist. 90, 20 quam facUe , . . dulcedo orationis
abducat vero, wo jetzt auch Hense ^ a vor vero bei dem mit ah zusammen-
gesetzten Kompositum fortläßt. Eine Fülle von solchen Ellipsen
von Präpositionen will Bou. (103) halten (wie epist. 90, 33 lapides
(in Schweighäuser) Jioc utiles. 94, 53 nulla {ad B) aures nostras vox
perfertur), aber die Beispiele sind durchweg kaum annehmbar. Da-
gegen sind unter denen, die Bou. für das Auslassen einer Partikel
an dritter oder vierter Stelle bei mehrfacher Wiederholung anführt
(102), einige glaublich (z. B. ira I 5, 2 braucht man das dritte quid
wohl nicht einzuschieben); andere sind zweifelhaft, manche ganz ab-
zulehnen, wie benef. III 31, 1 ohne cum vor sentiens, das in N
steht und durch consevtiens in GP bestätigt wird, oder benef. VI
25 , 2 das Fortlassen des ut vor magis (mit N ^). Das Fehlen von
est hinter dem zweiten contentus (epist. 9, 17) scheint mir Bou. gut
zu begründen. Wie benef. II 16, 2 kein ut nach quam notwendig
ist (so schon Hosius ^), ebensowenig otio 3, 3 si res publica corruptior
est quam adiuvari possit (B. 375). Bou. (103) gibt ein weiteres
Beispiel für dies Fehlen des ut nach Komparativ mit quam epist. 21,
8, wo es in der besten Überlieferung sogar zweimal fehlt: ei apertior
i^a sentcntia est quam interpretanda sit, et disertior quam adiuvanda.
Dagegen erscheint es mir ausgeschlossen nach Bou.s Vorschlag (104)
epist. 90, 45 ut nach tantum aberat (mit BA) fortzulassen. Bou.
meint, besonders gern habe Sen. Personalprouomina ausgelassen,
und manches unter seinen Beispielen wird man anerkennen, so wenn
er brev. vit. 3, 4 tihi^ das nur in A^ zugefügt ist, fortläßt, oder
epist. 24, 16 (mit Th. Stangl, Berl. philol. Woch. 1910, 1071)
quod faccre te moneo, scio certe fecisse die Einschiebung von te hinter
certe filr tiberflüssig hält. Aber für sehr bedenklich halte ich das
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 127
von Bou. für etliche andere Stellen vorgeschlagene Fortlassen des
Subjektsakkusativs beim Infin., z. B. tranqu. 1, 16 non est enm,
quod magis aliena iudices adulaiione {nos) perire quam nostra.
epist. 1, 4 non possum diccre nihil perdcre, wo ich lieber, wie <^ tut,
me hinter statt (wie Hense^) vor diccre stellen würde. Daß benef. VI
40, 2 quare ohligatum moleste {te) fers die Klausel durch das zu-
gefügte te gestört würde, beruht auf der falschen Vorstellung, daß
beim Klauselrhythmus Symmetrie erstrebt würde (vorher geht mwiils
meüm nön vTs, dem soll entsprechen ohligatum möUstc ßrs). prov. 4,
9 glaubt Bou. ohne Zusatz von manent, ira I 16, 6 ohne im-
prdbos^ epist. 100, 5 ohne ein drittes parum (Hense^ schreibt mit
^ non und schlägt im Apparat minus vor) auskommen zu können.
Nat. qu. I praef. 15 stellt B. her exp>crs consilii aut ferri (überl.
aiiferri, ein cod. Genevensis hat das Richtige) iemeritate quadam aut
natura nesciente quid faciat, weil, wie er (379 ff. im Abschnitt Einiges
zur Wortstellung) zeigt, vielfach ein Verbum, das zu zwei Gliedern
gehört, nicht vor beide die Glieder verbindenden Partikeln gestellt
wird, sondern hinter die erste. Ob aber Polyb. 18, 1 studia quae
optime et felicitatcm extcHlunt et facülime minuunt calamitatem nicht
doch (gegen B. 386) et optime herzustellen ist, erscheint zweifelhaft.
Freie Stellung von quoque (wie epist. 60, 1 exaudiant di quoque
nostram pro nohis vocem, wo man mit Bücheier bisher nostrani quo-
que liest) wird mit B. (387 f.) auch bei Sen. anzuerkennen sein
(Hense^ folgt nicht); Kroll (101 f.) zeigt, daß solche Freiheit bei
quoque schon in ältere Zeit hinaufreicht. An autem am Satzanfang
(B. 387 ff.) glaubt man bei Sen. nicht gern (epist. 103, 5 autem
ipsam seit Muret umgestellt). Dagegen ist cnirn an erster Stelle
doch vielleicht anzuerkennen ; benef. VII 5, 1 ist es überliefert
(Guelferb. etenitn), desgl. vit. beat. 17, 4 (wo Hermes ego cnim stellt);
die Korrektur in etenim ist jedenfalls ausgeschlossen , da diese
Partikel sonst bei Sen. im Eingang einer Parenthese fehlt nach
G. Reinecke, De coniunctionum usu apud Sen. philos. , Diss,
Münster 1890, 18). Bou. (105) will auch vit. beat. 9 , 4 in einer
viel geänderten Stelle enim am Satzanfang belassen : nxMl enim
habet (sc. virtus) melius, enim ipsa piretium sui. Aber das zweite
enim schwächt nur ab ; offenbar ist melius enim Korrektur, an falscher
Stelle in den Text geraten , andeutend , daß vor enim ein melius
einzusetzen ist ; also ist herzustellen — ein Beispiel der von A.Brink-
mann (Rhein. Mus. LVII 1902, 481 ff.) behandelten Korruptelen —
nihil melius enim habet, ipsa pretium sui. Die von B. (396) ver-
teidigte Stellung nos ita non epist. 74, 5 nimmt auch Hense* auf.
128 Karl Münscher.
desgl. (nacli B. 397) et haec autem epist. 92, 1 und et hoc quoque
71, 1. Als familiäre Ausdrucksweise will Bou. (105) epist. 60, 2
qiioiisque poscemus dlhiuid deos quasi Ha nondum ipsi alere nos
possimris bestehen lassen; bisher schreibt man ifa quasi. — Et vor
dem Relativum in steigerndem Sinne (= und zwar) beläßt Hense^
epist. 90, 18 im Text, obwohl er bemerkt: integrum esse 'et quae'
mihi non persuasit B. (403 im Abschnitt über einige Pleonasmen) ;
man wird dann ebenso Marc. 26, 1 et ciii tantum mit B. halten
dürfen. Daß die Wiederholung von sl (nat. qu. I 3, 13) und von
ut (brev. vit. 4, 3) im selben Satze von Seu.s Hand stammt, glaube
ich nicht (B. 408), trotz der aus den kritischen Apparaten des
Livius und Cicero beigebrachten Parallelen. Für abundierendes in
beim abl. instrum. hat B. (441) nur ein Sen.-Beispiel (epist. 90, 20
telas [hi\ quibus vestis nihil celatura conficitur), das Heuse ^ mit Recht
nicht anerkennt, wie auch nicht instrumentales pro epist. 113, 30.
Bou. (105 f.) findet vielleicht mit mehr Recht das in berechtigt
benef. II 18, 7 nemo in id accipiendo ohligafur, wo man seit Mutet
in gestrichen hat. Im Abschnitt zur Constructio xara gvveolv will
B. (455) auch epist. 90, 32 fornicem, vt lap'rdum curvatnra md'ma-
torum medio saro alligaretur das in x\B überlieferte alligarerdor als
solche constr. x. G. auffassen , was schwerlich jemand anerkennen
wird (ablehnend Hense ^), ebensowenig prov. 4, 6 qnicquid Ulis in-
ciderit den in A^ überlieferten Plural inciderint (B. 463). Dagegen
lehnt B. (468) Murets Konjektur Marc. 3, 1 ab und liest intraverat
(Brusus) peniti^s Germaniam et ibi signa Romani fixerant; aber weder
der Plural signa (den B. als überliefert ansieht) noch das Plusquam-
perf. fixerant scheint mir notwendig (ebenso urteilt Bou. 96 f.). Ein
paar weitere Beispiele gibt Bou. (105): otio 5, 5 inveniant mit A,
weil in Wahrheit nicht die inquisitio, sondern die inquirentes finden
(zu hart nach dem vorhergehenden inquisitio transeat). epist. 90, 2
sei fecisset (B) richtig, weil dii für Sen. = deus. 90, 5 horum pru-
dentia . . . suis providebant (B, aber n gestrichen): weil h.p. = hi]
doch erscheint auch in diesem Falle der Singular als das Richtige,
weil bei den folgenden Substantiven (fortdiido, beneficentia) singu-
larische Verben (arcebat , augebat ornabatquc) stehen. Auch 91, 15
ist es zu hart, itaque formctur animvs . . . et sciant diesen Plural
sciant stehen zu lassen , zu dem die in animus steckenden homines
Subjekt sein sollen. Auch 104, 15 erscheint mir facicnt, wenn es
auch durch eine Reihe von Zeilen von seinem Subjekt peregrinatio
getrennt ist, unerträglich ; weit annehmbarer ist Henses ^ Vorschlag
(im Apparat) ceterum nequc meliorem facient (Jtaec) neque saniorcni.
Beriebt über die Seneca-Literatur aus den Jabreu 1915—1921. 129
Daß schon bei Sen. epist. 40 , 3 eine Miscbkou^truktiou von ut
mit dem Infinitiv anzuerkennen sei (B. 468 im Abschnitt über
einige sog. Gräzismen), erscheint wieder ganz unglaublich (Heuse ^
tilgt ui). Dagegen sind die Fälle von Infinitiven pro imperative,
die B. (475 f.) gibt, zuzugeben: Polyb. 18, 1 te studiis twis im-
mergere acrhis (im zweiten parallelen Satze folgt circumda). epist.
20, 3 ohservare itaque. 87, 38 (hier von Hense^ angenommen),
benef. VI 42, 1 recipere. Auch in dem Kapitel vom singularischeu
Prädikate beim Neutr. plural. (dazu Kroll 104 fi".) taucht ein Sen.-
Beispiel bei B. (493) auf (epist. 104, 32), das man ablehnen muß
(qui id slbi . . . constituerat, quae condHuta esse . . .pofcrant)-^ Heuse ^
behält sein qid ipse sihi bei. Als 'griechischen' Dativ will B. (497)
nat. qu. IV a praef. 3 proditioni si capieris halten-, als einziges Bei-
spiel abzulehnen (proditione nötig) ; benef. VII 16, 3 pccuniam . . .
libidini et aleae adsumpsit (ahsumpsit P, insumpsit Gertz.) ist natür-
lich kein Instrumental-Dativ (wie B. will), sondern ein Dativ des
Zwecks. In seinem Schlußkapitel zum Konjunktiv (vgl. Kroll 106 £F.)
schützt B. (503) den Wechsel von Konjunktiv und Indikativ tranqu.
17, 3 miscenda tarnen ista et aUernanda sint mit Hinweis auf ira II
20, 2. Ebenso wird der Konjunktiv nach quotiens nat. qu. I 13, 1
in ^ existant geschützt durch epist. 110, 17, wo Konjunktiv und
Indikativ nach quotiens variiez-en (B. 509). Die gleiche variatio im
Modus wird nach siciit vit. beat. 26, 3 spectant-intellegant anzuerkennen
sein (B. 510). Auch die Indikativs nach cum (epist. 77, 3. 83, 26)
sind vielleicht mit B. 517 (anders Hense^) zu halten, wie auch
benef. V 9, 3, nat. qu. IVa 2, 30 und ira II 14, 2 (B. 519), eben-
so die anderen von B. (520 f.) vorgelegten Beispiele von Modus-
variation (wie ira II 27, 1 quaedam sunt, quae nocere non possint
nullamque vim nisi heneficam . . . hahent u. a.) ; zu Unrecht hat wohl
Hense^ epist. 4, 4 und 30, 12 den Moduswechsel, den der Parisinus
bietet, beseitigt. Auch der Indikativ nach quamvis (benef. VI 5, 2)
ist anzuerkennen (Hosius folgt B. 522 nicht). Für den Indikativ
in der indirekten Frage führt Bon. (106) noch nat. qu. III praef. 9
quam multa . . . fracta sunt (Überlieferung schwankend) an und VII
25, 1 qualia sunt ignoramus (sint Muret).
Seine Ergänzungen zu Baehrens syntaktischen Beiträgen hat
Bourgery umrahmt mit zwei weiteren wertvollen textkritischen Ab-
schnitten. Voran stellt er die Besprechung einer Anzahl von Stellen,
an denen er für das Beibehalten der besten Überlieferung eintritt.
Ich kann ihm in fast allen Fällen zustimmen, ira I 12, 5 mit
leichter Interpunktionsänderung ipso officio ducente volente, iudicantem
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. U). 9
130 Karl MÜDScher,
providentem, non inipulsum et rahiäum; II 1, 1 kein non oder sonstige
Änderung nötig. II 29, 2 SKspkdX = smpiciendi cupidus. Marc. 3, 1
(s. oben S. 128). tranqu. 5, 5 und 14, 4 Text, wie Hermes ihn bietet,
verteidigt, epist. 26, 8 vel si commodius Sit transire ad nos, mit
Gedankenstrich vor vel. 53, "10 idem philosophia rebus omnihus (so
jetzt auch Hense^). nat. qu. III 11, 4 Gerckes Zusatz (sucidae, non)
unnötig. III 16, 5 id stagna ohsessa tenehris etlocis ampUs zu halten
als in Prosa umgesetzter Vers eines unbekannten Dichters. IV b
5, 1 etsi richtig, da Haases Behauptung, dies Wort fehle Sen.,
unrichtig; nach C. Naegler, De particularum usu apud Sen. I,
Diss. Halle 1873, 6 steht etsi ira I 16, 5; brev. 13, 3; nat. qu. IVa
praef. 20 ; deshalb auch V 8, 3 aus d- aufzunehmen. Zweifelhaft
ist mir, ob epist. 109, 7 uno modo {=eodem m.) gehalten werden
darf. Unmöglich kann aber Marc. 19, 3 der Inf. praes. mori richtig
sein, bei dem auch der Subjektsakkusativ fehlen würde; nur die
Vulgata gibt passenden Sinn semper enim scisti morituncm. Daß
außer der Endung noch eine verbindende Partikel ausgefallen sei,
bezweifelt Hermes nicht ohne Grund. — Am Schluß seines Auf-
satzes läßt Bou. eine Reihe korrupter Stellen folgen, die er in mög-
lichst engem Anschluß an die Überlieferung zu heilen sucht. Auch
darunter findet sich sehr Beachtenswertes. Marc. 9, 5 statt der un-
sinnigen Überlieferung qui non e populo eri et, woraus Haupt-Hermes
e pulpito exiret machte, liest Bou. qui non e Publili ore exiret; denn
der folgende Vers ist nach tranqu. 11, 8 wirklich einer des von
Sen. hochgeschätzten (epist. 8, 8) Publilius Syrus. Marc. 16, 7
agricola . . . inmissa eantm (sc. arhorum, überl. in missarum, Schultes-
Hermes in scissuram) semina statim plantasque disponit. otio 2, 2
ad alios actos annos (überl. actus animos) referre, jedenfalls besser
als das von Marouzeau (s. unten S. 134) vorgeschlagene actui ani-
mosos\ epist. 19, 6 tcdem esse (necesse) (schon Brakman neccsse est)
cupidifatum. Nur als möglich möchte ich bezeichnen tranqu. 9, 1
nee uUae nun{dinae) satis patent^ Polyb. 5, 3 (wo A fehlt) inertem
statt inhaerentem mit ed. Venet. 1493, Helv. 11, 6 expers (oneris)
(überl. et), nat. qu. I 16, 5 quemnani (überl. quid non und num). Die
Vorschläge zu benef. 11,1 und dem. 13,1 hat Hosius ^ schon
als unsicher in den Apparat verwiesen. Ebenso unsicher sind die
Vorschläge Marc. 23, 5 nemo prudens non {ante) dixit (ante aus dem
Schluß des vorhergehenden Satzes genommen , wo es sinnlos) und
Helv. 12, 2 transeanms ad locupletes: ea (sc. incomnioda paupertaiis) ;
pe,rsaepe non ohveniunt iJs. const. 11, 3 will Bou. das zweite et ut i
als falsche Wiederholung des ersten streichen; mich dünkt, daß
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 1^1
wieder (s. oben S. 127) eine durch et id eingeleitete nachgetragene
Auslassung vorliegt, die hinter dem zweiten et ut stehenden Worte
also hinter das erste gehören und der Text lauten muß : et vt htdihrium
est quisqne contemptissumSj ita sdlutissimae Unguae est.
Auch in den Abschnitten des 'Vermischten über lat. Sprach-
gebrauch', Glotta lY 1913, 265 ff.; V 1914, 79 ff. berührt W.
A. Baehrens hier und da Seu. Er meint (IV 271 f.), daß ge-
legentlich sich der Genitiv im Singular fände, das regierende Wort
im Plural, und führt als Beleg an ira II 2, 5 timor qui . . . lectoris
(ledonim Gertz-Hermes) percurrit animos (animum Muret) und
Marc. 16 , 1 naturam maligne cum midieris (seit Fickert geändert
in mulierum) ingeniis egisse et virtutes illarmn in aritcm retraxisse.
Im Abschnitt 'Indicativus pro Imperative' führt B. (V 80) nat. qu. VII
27, 4 an: vides (vielfach geändert, Gercke nach Haase quid) enim:
simillima est; für omnia = omnino (V 85) nat. qu. VII 2, 2 itaque
si omnia (omnino Gercke) terrena sidera sunt, Ms quoqiie eadem
sors erit.
*A1. Castiglioni, Electa Annaeana , Tifernum 1911, eine
Hochzeitsgratulationsschrift, die Konjekturen zu ira und anderen
Dialogen und zwei Luciliusbriefen enthält; nach C. Hosius, Berl.
philol. Woch. 1912 , 300 zeigen die Vorschläge alle 'Geschmack
und Verständnis Sen. scher Denk- und Sprechweise (wie const. 18,
3 languido sono , ira I 19, 4 quam tandem iram), ohne daß alle
als treffend zu bezeichnen n^ären'.
Auch Castiglionis weitere Studia Annaeana sind mir nicht
zugänglich *Atheuaeum VIII 4, Pavia 1920;. ebenda *IX 3, 1921;
*Rivista di filol. IL 1921, 435—455. 0. Roßbach berichtet dar-
über Phil. Woch. 1921, 988 f., und 1922, 745—747. Mit Beob-
achtung der Klauseln bessert C. in der ersten Abhandlung Stellen
der Dialoge , von benef. und dem., so const. 8, 2 proxtmusque dis
constitit [—^ — w-, st. consistlt). Polyb. 18, 6 ut et sapientibus te
adprohare possis et fratri (— ^ für fratribus, das doch —^ ^-
ergibt). Schon an diesen Stellen erscheinen mir die Änderungen
keineswegs zwingend; an andern prov. 3, 3, Polyb. 17, 4 folgt schon
Roßbach nicht, ira II 11, 4 bestätigt auch die Klausel , daß C.
früher zu Unrecht et hat streichen wollen terret et irepidat — w — w\^-^;
da A deterret bietet, möchte Roßbach daraus te terret machen, was
kaum nötig, dem. II 5, 3 bestätigt die Klausel die Lipsius-Kon-
jektur portumque adversus fortunam certissimum mutui anxUi (st. miduo
auxilio) dudit (-.^ ). C.s occludit lehnt Roßbach ab, da Sen.
nadi Thes. 1. L. III 1300 eine Vorliebe für cludere hat. An C.s
9*
132 Karl Münscher.
zweiter Abhandlung rühmt R. die sorgfältigen sprachlichen Beob-
achtungen , die die Grundlage der Kritik bilden , z. B. über Ab-
wechslung im Ausdruck (z. B. nat. qu. III 27, 6 in luhrico [Gercke
schlecht lubricä] et lutosa humo), den Unterschied von quid ergo est
und quid ergo (zu ira II 5, 3) u. a. Mehrfach verteidigt C. gut
die Überlieferung, und auch unter seinen eigenen Vorschlägen sind
sehr treffliche (so ira II 11, 2 sapienti ohici, st. dici, überl. adici.
vit. beat. 15, 5 timori fit aditus , für timoris ita ditus A^); auch
Marc. 11, 2 tot (st. et) caiisis . . . repetita rechne ich dazu. Über-
flüssig erscheint mir const. 6, 2 inter micantis undique (st. ubique)
gladios. Andere Vorschläge C.s lehnt schon E. ab, so ira II 20, 4
sed inertiora (st. maiora) vitia metuenda sunt-^ andere versuchten
anderes , R. jetzt sedatiora. Marc. 20 , 3 ist memhris sicher keine
falsch aufgenommene Randnote; in der Textgestaltung schließe ich
mich aber Becker (s. unten S. 138), nicht R. an. Gut erklärt R.
vit. beat. 25, 4 iura reges (Porus und Taxiles) penatiuni (= häus-
liche Angelegenheiten) petant. — S. Nachträge.
Mehrfach hat der Holländer C. Brakman anerkannte cruces
der Sen.-Überlieferung zu heilen versucht, bei seiner ziemlich kind-
lichen Methode, wie sie besondei-s A. Klotz, Berl. philol. Woch.
1911, 831 — 839 mit berechtigter Schärfe beleuchtet hat, meist mit
sehr zweifelhaftem Erfolge. In den Annaeaea nova Velleiana etc.
Leiden 1910, 8 f. ergänzt B. ira II 7, 3 das im Schlußsatz fehlende
Verbum gewiß nicht richtig mit einem schwächlichen orat; was das
Richtige ist, kann man nicht sagen. Unnötig ist vit. beat. 15, 4 semovet
statt movet. Gegen die Vorschläge zu vit. beat. 25, 2 und tranqu.
9, 2 siehe Klotz 833 f. Nicht besser erscheint vit. beat. 12, 5
adidcscenti (petulantiae) für das unsinnige adulescentiae. Dem Sinne
nach möglich Polyb. 17, 4 fritillo pernoctans für die sinnlosen Worte
foro et pervocatis. — Derselbe, Ad Sen. dial. X, Mnemos. XLII
1914, 389 — 391 macht den Vorschlag brev. vit. 2, 4 (statt spatio)
zu lesen usurpatio (vgl. Cic. Brut. 250) und sucht den Text durch
Zusätze zu heilen: 9, 1 potestne quicquam {vanius esse) sensu[s] hominum
eorutn qui-^ 17, 6 (patriae) civiles scrvatorem agitahant seditiones;
19, 2 vigentihus {viribus); 20, 2 grandem natu {orantem). Berechtigt
scheint mir B.s Verteidigung des 9, 5 überlieferten sciunt im Sinne
von sentiunt (das man dafür eingesetzt hat) durch Parallelstellen. -
*Derselbe, Miscella tertia, Leiden 1917, Konjekturen außer zu Sen.
(und zwar dial. und epist) zu Celsus u. a. ; darüberhatW. A. Baehrens,
Berl. philol. Woch. 1917, 1548 — 52 berichtet. Baehrens nimmt
seinerseits mehrfach im Sen. -Texte das Eindringen von Glossemen
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 133
in den Text au , z. E. auch Marc. 11 , 1 in morbos neben causis
(s. unten S. 136). Nur au zwei Stellen erkennt Baehrens B.s Ver-
suche als möglich und wahrscheinlich an : Marc. 25 , 1 beneficio
(Jiberae mortis} liheros (wo mir der Vorschlag von Gertz beneficio (suo)
ausreichend erscheint) und tranqu. 11, 8 numquam me in bona
{gnoma) mali pudebit auctoris (aber ist gnoma sonst aus Sen. belegt?).
*ß. Waltz, Notes critiques, Rev. de philol. XXXVIII 1914, 1
behandelt zahlreiche Briefstelleu und je eine Stelle aus otio und
tranqu.
Vor Vergessenheit möchte ich noch ein paar textkritische Ver-
suche bewahren, die der Holländer L. A. J. Burgersdijk in den
seiner Dissertation, De tribus Ovidii heroidum codicibus Leidensibus,
Leiden 1899, beigefügten Thesen vorgelegt hat (S. 258 f.\ Nat. qu. VII
25, 3 hat er, vor Skutsch, qiiare (sot) obumbretur hinzugefügt, das auch
Gercke aufgenommen hat. epist. 121, 15 ergänzt B., wie Gertz, von
Heuse im Apparat gebilligt, unicuique aetati sua constitutio est, alia
infanti , alia puero , {alia adulescentt), alia seni, entsprechend dem
Eingang von § 16. Helv. 10, 3, wo Hermes, Gertz folgend, liest
undique convehunt omnia, nota {ignota), fastidienti gulae, schlägt B.
für das überlieferte nota ein recht passendes nova vor.
a) Erhaltene Werke.
1. Dialogo r um libri XII.
Im Jahre 1905 hat Emil Hermes die dialogorum 11. XII
in der ßibl. Teubneriana neu herausgegeben , fußend auf der von
Gertz in der Kopenhagener Auyg. von 1886 gebotenen sorgfältigen
Kollation des Mailänder Ambrosianus C 90 inf. s. X/XI und auch
Gertz Ansicht vollständig sich anschließend, daß die sog. deteriores
der folgenden Jhh. im wesentlichen unberücksichtigt bleiben dürften.
Für die deteriores als notwendige Textquelle in den Dialogen wie
anderen Schriften Sen.s war seinerzeit 0. Kossbach eingetreten
(De Sen. philos. librorum recensione et emendatione, Bresl. philol.
Abhandlungen II, 3, 1888), ohne allseitig Zustimmung zu finden
(dagegen M. Gl. Gertz, Berl. philol. Woch. 1889, 372 £F.), und doch
müssen Gertz und Hermes selbst zugeben, daß es unmöglich ist,
ihrer in emendatione plane carere ; Beweis dafür z. B. ira III 8, 8,
wo die beiden unentbehrlichen Worte robur accipiat in A fehlen.
Mögen die deteriores also noch so sehr durch Interpolationen entstellt
sein, sie bieten doch zweifellos hier und da das Richtige nicht durch
Konjektur, sondern aus Überlieferung; darf man sie dann aber so
134 Karl Münscher.
ignorieren und das Einquellensystem als das Eichtige proklamieren,
wie es Gertz und Hermes tun? Es mag ein opus plenum taedii
atque aleae sein, diese jüngere Überlieferung durchzuarbeiten, aber
es ist eine Arbeit, die getan werden muß und in der H.schen Aus-
gabe nicht getan ist ; vgl. Kez. E. B i c k e 1 , Berl. philol. Woch.
1906, 264 — 7, der auch ungenügende Benützung der indirekten
Überlieferung, für ira z. B. das Martin von Bracara, rügt.
Für Untersuchung und Auswertung der deteriores sind also
m. R. zwei ausländische Gelehrte erneut eingetreten :
J. M a r 0 u z e a u , Ce que valent les manuscrits des Dialogi de
Sen., Eev. de philol. XXXVII 1913, 47—52. Auf Grund eigner
Kenntnis der wichtigsten deteriores , zweier Mailänder Hdschrn. D
und E, eines F(lorentiuus), zweier Laurentiani, eines B(erolinensis)
und V(ralislavieusis) kommt M. zu der Ansicht , daß das einzige
Verdienst von A sein Alter sei, zusammengehörig mit B V in einem
Überlieferungszweig, wie D E und einer der Laurentiani (1) einen
zweiten bilden. B gäbe die unsinnigen Lesarten des Urarchetypus
der gesamten Überlieferung noch sorgfältiger wieder als A; E biete
wichtige Randvarianteu, , D oft eine gewiß richtige lectio difficilior,
V wichtige Abweichiingen in der Wortstellung. M. gibt dann einige
Beispiele von Stellen, in denen nach seiner Meinung die lectio de-
terior an Stelle von A zu setzen ist (z. B. prov. 6, 8 conedit D,
copnedit VI, statt commitit A) oder eine Konjektxir dadurch bestätigt
wird (wie tranqu. 5, 3 Madvigs inerlia durch E) oder die Ver-
gleichung der Varianten eine in A eingedrungene Glosse erkennen
läßt (z. B. const. 2, 2 ahstradus in A Glosse für arreptiis , das in
A am Rand, in den andern Hdschrn. neben ahstradus im Texte
steht) oder schließlich durch die Lesarten der deteriores Konjekturen
nahegelegt werden (z. B. tranqu. 15, 4 im Bionwort: omnia Jiominum
ncgotia simillima neniis - statt initiis A, nutrus D, nutiis E, viciisy).
Zu den beachtlichen deteriores tritt eine Handschrift der im J. 1620
von Angelo Rocca gegründeten bibliotheca Augelica in Rom, auf
die H. Wagen vo ort aufmerksam gemacht hat: De codice Sen.
Angelico (ms. lat. 1356), Mnemos. XLI 1913, 153—163. Die
Handschrift enthält prov., brev. \it. und Polyb., und zweifellos bietet sie
hier und da beachtenswerte Lesarten : so in dem Ovidzitat (aus met. II
63 ff.) prov. 5, 10 fi.t^ was Heinsius konjizierte, trepidet und ima mit
den Ov.-Hdschrn. ebda 6, 1 removd (st. des Perf. removit), brev.
1, 1 ingemuimt, 3, 2 et hinter adice, nachträglich getilgt. 7, 1
licet vel iracundos. Man wird also W.s Grundsatz billigen müssen:
mea quidem opiuione id agendum est, ut Codices deteriores parcis-
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. I35
sime cautissimeque adhibeaiuus ueque tarnen desinamus eorum
lectiones inter se conferre , communes stirpes indagare , uova sub-
sidia quaerere. Auch eine Anzahl eigene Konjekturen hat W.
unter die Besprechung der handschriftlichen Varianten gemischt,
von denen manche mir trefiend scheinen, z. B. prov. 5, 1 lioc est
proposHuni deo, {ut) [quod] sapienÜ viro ostenderet. 6, 7 {nori) tra-
hitur. hrev. 7, 5 tota (sc. vita) (st. ioium) ipsi vacavH. 13, 2 niliil
tacitafmj conscienüa [m] iiivant. 19, 1 « neglegentia {acdpkniiutvC).
Polyb. 3, 4 Fragezeichen hinter imminuere, so daß tarn hene — vohdsti?
eine zweite selbständige Frage bilden.
L. Schmidt, Zu den Dialogen des Sen., Philol. Woch. 1921,
92 f. macht Mitteilung von den Bruchstücken einer Handschr. (ent-
haltend dial. IX 4, 6—9, 3. X 10, 4—14, 3), zwei Pergament-
blättern, die vom Umschlage eines Bandes der früheren Schloß-
bibliothek zu Öls (jetzt in der sächsischen Landesbibl. zu Dresden)
stammen, von einer Hand s. XIII geschrieben, so daß sie als älteste
der deteriores erscheint.
*L. Castiglioni, De quibusdam codicibus Sen. opuscula de
ira continentibus, Athenaeum (Studi periodici di letteratura e storia),
I Pavia 1912, ein Vorläufer einer von C. geplanten Ausgabe der
Bücher de ira.
Im Gegensatz zu der oben entwickelten Anschauung hat R. P i -
c h 0 n zweimal Stellen zweier Dialoge besprochen in der ausgesprochenen
Absicht, die Überlegenheit des Ambrosianus gegenüber den deteriores
und gegenüber modernen Herstellungsversuchen zu erweisen : Ob-
servations sur le texte de la cons. ad Marc, de Sen., in Melanges
offerts ä Emile Chatelain, Paris 1910, 230 f. und Note sur quel-
ques passages du de vita beata de Sen., Rev. de philol. XXXVII
1913, 258 — 61. In der ersten kleinen Abhandlung sind es fast
durchweg schon bisher als in A korrupt und in F willkürlich ge-
ändert angesehene Stellen, die P. zu heilen sucht-, seine Vorschläge
Marc. 3, 4 mala sua {suo) nomine (überl. non) augere. 10, 3 tan-
(juam excmpturo auctore. 21, 1 quas (aetates) incredibüi celeritaie
{fatuni oder natura) convolvit erscheinen mir annehmbar ; zu ge-
künstelt ist der Versuch 12, 1 cep)isti — potuisses zu schreiben (cepisses,
wofür seit Erasmus cepisti gelesen wird, — potuisti A) wie 13, 1
quam (cum) üle exaudisse dissimularet (dissimidavit et C, dissimulare
et A). Falsch ist der Heilungs versuch 11, 1 causis (in) morhos re-
petita; causa wird oft allein für morbus gebraucht (vgl. Thes. 1. L.
III 680, 82 ff.), und auch Sen. benutzt das Wort in gleicher Weise:
im selben Kap. § 4 temdssimis causis atque offensionihis worhidum
\
136 Kfii'l Münscher.
(animäl). epist. 58 , 24 (liomo) fluvida materia et caduca et Om-
nibus öbnoxia causis (Thes. III 680, 68 ff.); dem entsprechend hat
V. d. Vliet 11, 1 causis omnibus repetita vorgeschlagen; dabei
bleibt aber morbos unerklärt ; entweder muß man es als Glossem zu
causis tilgen oder mit Gertz lesen causis 7norbo(rum), oder — was
ich vorziehen würde — causis morbo(t'um omnibus) repetita herstellen;
die Verbindung causa morbi ist aus den Prosaikern Cic. Varro und
Quint. belegt (Thes. III 680, 64 ff.). — In vit. beat. behandelt P.
mehrere Stellen , die zweifelhaft bleiben , weil die von ihm ver-
worfenene Lesart der deteriores sehr wohl auf Überlieferung und
nicht auf Konjektur beruhen kann; so ändert er 7, 2 iniucunda
(statt iucunda), um nicht sed (noti) aus c^ aufzunehmen; ebenso 13,
2 : A bietet itaque non dicunt qiiod plerique nostroriim . . ., sed illud
dico ; statt dicunt die deteriores (denen Hermes folgt) dicam ; P. hält
dicunt für richtig ; nur stehe es an falscher Stelle und gehöre hinter
quod. Mit Kecht hält er dagegen 4, 4 lioc (statt liunc) ita fundatum
esse und ut quae suis gaudeat (Subj. laetitia). Aber sein Vorschlag-
IS, 2/3, lebhafte Wechselrede herzustellen, at immerito. — lioc scire
qui potes nisi interitis admissus? ist mit zwei unnötigen Textände-
rungen (at für et, potes für polest) erkauft. 25, 2 will P., statt erit
und substernetur aus ^ aufzunehmen, sit, was A hinter der Kor-
ruptel aminiclu bietet, halten und substernatur aus A aufnehmen:
Dabei muß aber, was ganz unwahrscheinlich, das auch in A stehende
einwandfreie erit gestrichen werden. Jenes sit gehört gewiß zu dem
korrupten Worte , für das P. statt des bisher üblichen amiculum
bedeutend passender amminiculum vorschlägt. 27, 4 tritt P. für
fera Scabies (statt foeda c^) mit guten Gründen ein.
An sonstigen textkritischen Arbeiten zu den Dialogen sind zu
verzeichnen :
Jul. Martha, Sur un passage de la cons. ad Marc, de Scn.,
M61anges Chatelain, Paris 1910, 219 f. M. scheidet 2, 3/4 das Sätzchen
bene legerat nulli cessura ponderi fundamenta als Randbemerkung
eines Grammatikers aus, der damit habe andeuten wollen, daß der
Verf. (Sen.) das jambische Hemistichium nuUi cessura ponderi (funda-
menta) gekannt und danach seineu Ausdruck fqiiantumcunique im-
ponere Uli [MarcelloJ avunculus [Awjustus] et, ut ita dicam, inaedi-
ficare voluisset laturum) geformt habe. Wer soll das glauben? Der
Subjekts Wechsel — bei legerat ist der avunculus Aiigustus Subjekt,
sonst in der ganzen Periode Octavia — vei'liert allen Anstoß, wenn
man den beanstandeten Satz als Parenthese faßt (in Gedanken-
striche einzuschließen), so daß das weit vornstehende Subjekt Oc-
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 137
tavia in den Worten nullum finem . . . fecit sein richtiges Objekt
und Prädikat findet.
*P. Tliomas, Notes critiques sur Sen. etc., Bulletin de
TAcad^mie R. des sciences ... de Belgique , classe des lettres,
Brüssel 1914 (bebandelt Stellen aus otio und tranq[u.).
C. Weyman, Rhein. Mus. LXX 1915, 152 macht darauf auf-
merksam, daß Sen.s Redewendung vom med'icamentnm immortalitotis
(prov. 3, 12) dem auch bei gr. Kirchenvätern sich findenden Aus-
druck cf>(XQ(.ia'/.ov dd^avaoiag entspricht, der ursprünglich ein medi-
zinischer terminus technicus für ein bei verschiedeneu Krankheiten
angewandtes Heilmittel war , und W. meint , diese technische Be-
deutung klinge bei Sen. zum mindesten als Nebenton mit und habe
die Wahl des Ausdrucks beeinflußt.
J. J. Hartman, Mnemos. XLVII 1919, 331 ändert vit.
beat. 24, 3 den Satz quis enhn liheralitatem iantum ad togatos vocat?
kaum richtig ab zu der allerdings weniger geschratibten Form : q. e.
ad liberaUtatem tantum togatos vocat?
Pet. Becker, Zu Sen. ad Marc, de consol. , Philol. Wocli.
1922, 548 — 552, sucht meist schon mit vielen Versuchen bedachte
Schäden der Überlieferung zu heilen. Oft zeigen seine Vorschläge
nur geringfügige und kaum bessere Abänderungen älterer: 11, 2
hatte schon Hermes (im Apparate) vorgeschlagen hoc videlicet {dicHy
üla Pythicis oraculis adscripta (vox): nosce te, nicht leichter B.s Vor-
schlag hoc {vult dicere) videlicet. 15, 4 Hermes (im Apparat)
privatimque congesta (Jionestav)erant, B. {extiil)erani. 25, 1 et henc-
ficio {suo} liberos Gertz, B. (suo) beneficio. 26, 3 ostendi tarn (überl.
quam) magno me quam vi{deybar animo scripsisse Haase , B. quam
moriebar. Mehrfach sind andere , neuere Vorschläge , die B. un-
bekannt geblieben sind, den seinigen vorzuziehen ; so ist 3, 4 die
unverständliche Überlieferung et mala sua non augcrc von Pichon
(s. oben S. 135) gefälliger geheilt mit stia {suo') nomine augere als
von B. mit Zusatz von cessare vor augere. 11, 1 ist B.s causis
morhisque petita dem Gertzschen Vorschlage causis morborum nicht vorzu-
ziehen (s. oben S. 136). 16, 7 mag man zweifeln, ob Bourgerys inmissa
earum [sc. arborum s. oben S. 130) oder B.s inmissarum (sobolum)
das Richtige ist. Aber 23, 5 ist der von andern (auch Bourgery)
gemachte Versuch, das sinnlose ante am Schluß des einen Satzes
im nächsten unterzubringen, B.s ambulantem, das in den Zusammen-
hang gar nicht paßt, weit vorzuziehen. Wenig glücklich sind auch
folgende Vorschläge B.s: 11, 4 quem (so schon Lipsius statt qua)
parvus repentino (überl. partim repentinum) auditus (schon andere
138 Karl Münscber.
st. audiet) ex improviso sonus auribus gravis exciUit, wo mir repen-
tinus neben ex improviso auf einen zweigliedrigen Ausdruck zu
führen scheint; 18, 5 aliae (sc. nationes) ripis lacu valUbus pavidae
(dies Wort übergeht B.) circumfunduntiir ist unmöglich richtig.
Beachtenswert und recht wohl möglich dagegen: 11, 4 solii (== Sarg,
überl. soJli) semper sihi nidrimentum. 22, 2 aut sera (eos) eoque
foedior luxuria invasit coegitqiie (F , cogitque A, Hermes-Schultess
coepilque) dehonestare speciosa principia. 22, 5 Iwmineni . . . inte-
meratum (überl. imperiatum). 25, 3 aeternaruni rerum per Jihera
metu ista (überl. et vasta) spatia dimissi! . . . omnia Ulis (überl.
omnium) plana. Etwas Richtiges steckt m. E. auch in B.s Vorschlag
zu 20, 3, nämlich die Einschiebung eines quae, das als Subjekt zu
docuerunt das macliinamenta vorwegnimmt; statt aber mit B. ?newi&ri5
singuUs articulisque zu lesen, nehme ich aus den deteriores, die ja
auch Überlieferung bieten , auf m. s. et a. und stelle das zu er-
gänzende quae hinter singula^ also niemiris singulis et articulis sin-
gula {quaey docuerunt macliinamenta. Zustimme ich B., wenn er am
Schluß von Kap. 11 den Zusatz von est, 20, 5 den von si vor Uherata
(so daß servator Apposition zu M. Cicero) für überflüssig hält.
Recht viel Treffendes enthalten die Bemerkungen Fr. Walters
zu den Dialogen Sen.s, Philol. LXVIII 1922, 180—3. Als Ver-
schreibung von seltenen oder ungewöhnlich gebrauchten Wörtern im
Ambrosianus heilt er: ira II 11, 4 venena et offae (st. ossa) pesti-
fera(e) et morsus. tranqu. 11, 7 et uncus (st. iunctas) sodalimn
manus cop>ulatas interscidit. Sehr wahrscheinlich auch tranqu. 9, 2
etiam si multos pudcbit eins (sc. fnigalitaiis) populos (st. plus) und
brev. vit. 11 2 niliil ex illa (sc. vita) delibatur (st. delegatur). Minder
sicher brev. vit. 2, 4 cotidiana ostentandi ingenii sparsio (st. spatio).
Unrichtig gestellte Wörter oder Buchstaben nimmt W. an : vit.
beat. 10, 3 nee si quas (quasi A, quas vulgo) (sc. voluptates virtus)
probavit, magni pendit. brev. vit. 7, 6 putes nihil (überl. hinc st.
nichfil], Hermes nach Madvig non) illos aliquando infellegere dam-
num suum. Gegen die Klausaltechnik verstößt aber W.s Vorschlag
vit. beat. 23, 4 sie pauper si poterit, dives esse volet] die überlieferte
Stellung esse dives ist offenbar der Klausel wegen gewählt, Komma
hinter dives zu setzen. Möglich auch ein paar weitere Vorschläge : t
ira I 16, 6 quam {nequam') florere quosdam (improbos fügten hinter
florere Gemoll-Hermes hinzu). Marc. 21, 7 agunt rite (agurii A,
agtint Muret) opus suum fata. tranqu. 16, 1 actum (ohne esse). Un-
glaubhaft die Herstellung Marc. 23, 5 fuisse statura ingentifsj, viri-
{bus) anle{luctantes).
Bericht übur dit- Scncca-Litoratiu- aus den Jahren 1915 — 1921. 139
Von erklärenden Ausgaben einzelner Dialoge sind außer der
oben (S. 113) erwähnten von R. Waltz, de otio, Paris 1909, zu
nennen :
*Sen. dial. libri X— XII by. J. D. Duff, Cambridge 1915.
(*P. Faider, Mus. beige XXV 62 rühmt daran klare Einleitung
und reichhaltige Erklärung).
*L. A. Sen. dial. lib. XII ad Helviam matrem de cons. Texte
latin publie avec uue introduction et un commentaire explicatif par
Ch. Favez, Lausanne-Paris 1918. (*P. Faider, Mus. beige
XXV 84 findet die Ausg. verdienstlich wegen der reichhaltigen
Erklärung. C. Hos ins, Berl. philol. Woch. 1919, 1064—6 er-
kennt besonders die 'weit ausholende' Einleitung au und gibt zur
sprachlichen und sachlichen Erklärung einige ergänzende Bemer-
kungen.
Hier sei auch hingewiesen aiaf *Sen., Vom glückseligen Leben,
her. V. A. V. Gl eichen -Ruß wurm (Deutsche Bibliothek), Berlin 1912.
Was sonst an erläuternden Schriften zu den Dialogen er-
schienen ist, verbinde ich mit der Betrachtung der chronologischen
Probleme.
Ich habe (Sen.s Werke. 6 f.), Gercke (Sen. -Studien 284)
folgend, als ältesten der erhaltenen Dialoge VI ad Marciam de
consolatione angesehen, ohne zu wissen, daß ein anderer Zeit-
ansatz neuerdings für diese Schrift versucht worden ist. A. Bourgery
glaubt in der oben (S. 114) angeführten Abhandlung über die prose
metrique Sen.s festgestellt zu haben , daß Marc, fühlbar metrischer
komponiert sei als die anderen Schriften vor Sen.s Rückkehr aus
dem Exil, bes. Helv. und Polyb. Daß sie deshalb später als diese
beiden, nach der Rückkehr aus der Verbannung verfaßt sein müßte,
ist aber ein überaus voreiliger Schluß. Wenn auch im allgemeinen
der Prosarhythmus von Sen. in den Alterswerken sorgfältiger be-
haudelt zu sein scheint, so hat doch gerade Marc, wie R. Pichon
220 ff. (s. oben S. 114) bemerkt, eine besondere Bestimmung; c'est
un ecrit destine (sagt P.) ä une personne etrangere, ä une grande
dame, et il est tout naturel qxxe Sen. en ait poli plus scrupuleuse-
ment la forme que celle de ses premiers essais philosophiques. Trotz-
dem glaubt P. die Abfassung der Trostschrift 49/50 ansetzen zu
dürfen. Er hält das für möglich, da Marcia in ihrer Jugend Livia
(die bis 22 lebte) gekannt haben könnte ; ihr Sohn Petilius könnte
21/22 geboren, 46/7 gestorben sein und Sen. die Mutter drei Jahre
später, also 49/50, getröstet haben. Demgegenüber ist erneut auf
Gercke zu verweisen , der aus mehreren Stellen der Konsolation
140 Karl Münscher.
(auch 20, 2, die P. anders deutet) einwandfrei erschlossen bat, daß
die Zeit nach dem Exil ausgeschlossen ist, also — da sie nach
16, 2 in Eom geschrieben ist — vor das Exil, und da nichts auf
Caligulas Tod und Claudius Regierung weist, sicherlich im J. 40
geschrieben ist. Es liegt auch nach P.s Äußerungen, die mir ent-
gangen waren, kein Grund vor, von diesem Zeitansatze abzugehen.
W. Kaiser, Beiträge zur Erläuterung von Seu.s Trostschrift
an Marcia, Prgr. Askan. Gymu. Berlin 1914, hat den Dialog als
Schullektüre erprobt und empfiehlt ihn dafür wie andere Sen.-
Schrifteu in Teil II, S. 7 flF., der im übrigen Entwürfe zu schrift-
lichen Übersetzungen im Anschluß an die Trostschrift enthält;
Teil I sucht den Gedankengang von Kap. 17/18, den man neuer-
dings beanstandet hat (z. B. R. Reitzenstein, Poimandres,
Leipzig 1904, 253 ff.) zu erläutern und in ziemlich erkünstelter Weise
(vgl. C. Hosius, Berl. philol. Woch. 1915, 1432 f.) zu rechtfertigen.
Nach Caligulas Tode (2-t. I. 41) hat Sen. sein erstes be-
deutendes ethisches Werk im J. 41 erscheinen lassen, die zwei
ersten Bücher de ira (dial. III — IV) (Seu.s Werke 7 ff.); später
folgte das dritte (dial. V) nach.
Die Frage nach den philosophischen Quellen Sen.s in diesen
Büchern ist im letzten Jahrzehnt lebhaft erörtert worden, ohne daß
ein sicheres Ergebnis erzielt worden wäre. Heiur. Walt her
Müller, De L. A. Sen. 11. de ira compositione, Diss. Leipzig 1912,
kommt in seiner in zwei Teile gegliederten Arbeit (I behandelt die
3 Bücher Kapitel für Kapitel, II die einzelnen von Sen. empfohlenen
Heilmittel gegen den Zorn) zu dem einfachen Resultat, Chrysippos
d-EQartevTi'/.og sei für Sen. im ganzen die Hauptquelle; nur in ein-
zelnen Abschnitten (II 15 — 21. UI 9) habe er aus Poseidonios
Einlagen gemacht. Müllers Hypothese hat P. Rabbow, Antike
Schriften über Seelenheilung und Seelenleitang, auf ihre Quellen
untersucht, I die Therapie des Zorns, Leipzig 1914, Anhang V,
S. 190 ff, aufs schroffste abgelehnt. Nach Rabbows eigener Analyse
(in 7 Kapitel geordnet) soll ira I (wie Cicero Tusc. IV) im wesent-
lichen auf Antiochos von Askalon beruhen, II die Therapie des
Zorns nach Poseidonios tzeqI ogyr^g bieten ; nur am Schluß (Kap. 35)
und im Eingang des III. Buches, das im ganzen als eine besonders
rhetorisch ausgestaltete Bearbeitung des II. sich darstellt, seien Zu-
taten aus Sotion, Sen.s Lehrer, tisqI oqyrjg (der auch von Plutarch
TtEQi aoQyr^olag und Galenos tceqI ipvx^^S nad^iov benutzt sei) und
Philodemos neQi ooytjg zu finden. R. geht bei seiner Analyse aus
(S. 2) von einer bei Lactauz de ira dei 17, 13 als poseidonisch
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 141
angeführten Definition des Zorns, und er hat Anhang I S. 171 ff.
sich bemüht, M. Pohlenz (De Posidouii II. negl Ttad^iZv, Jbb. f. Philo!.
Suppl. XXIV 1898, 585 f.) Anfechtung des Laktanzzeugnisses zu
widerlegen. Aber weder Pohlenz noch K. Wilke erkennen in
ihren Besprechungen des Kabbowschen Buches diesen Beweis an
(Gott. gel. Anz. 178, 1916, 583 ff. Berl. philol. Woch. 1916,
769 ff.), und damit stürzt Kabbows Quellenanalyse der Sen. -Bücher
zusammen. Auf Grund der Behandlung der Laktanzstelle durch
K. Heinhardt, Poseidonios, München 1921, 303 f. gibt nunmehr
aber auch Pohlenz (Poseidonios Affektenlehre und Psychologie,
Götting. Nachr. 1921, 163 ff., bes. S. 184) zu, 'daß für Poseidonios
auch der Zorn ein Begehren in sich schloß'. Noch vor dem Er-
scheinen des Eabbowschen Buches hat , durch Pohlenz angeregt,
Herrn. Ringeltaube in seinen Quaestiones ad veterum philo-
sophoi'um de affectibus doctrinam pertinentes, Diss. Göttingen 1913,
50 ff. gleichfalls die Quellen von Sen. de ira zu eruieren gesucht,
indem er teils chrysippeisches teils poseidonianisches Gut zu er-
kennen meint , im übrigen Sotion als unmittelbare Vorlage Sen.s
ansieht: in einer Besprechung des Eabbowschen Buches (Dtsch.
Lit.-Ztg. 1914, 1567—70) hat sich aber Ringeltaube fast ganz
zu Rabbows Anschauungen bekehrt (vgl. auch W i 1 k e s Besprechung
von Ring.s Diss. a. a. O. 773 ff.). Endlich führt K. Reinhardt
320 ff. von Sen.s Affektenlehre nur ira II 19/20 auf Poseidonios
zurück (vgl. Pohlenz, Jbb. Suppl. XXIV 594 ff.), aber nicht auf
Tcegl coyr^g, sondern auf das auch von Galen benutzte Gesamtwerk
7rEQi Ttad^itjv. Das Verhältnis dieser beiden Werke zueinander ist
aber auch keineswegs geklärt; Pohlenz (172) sagt vermutungsweise :
'kann nicht z. B. tieqI ogyrjg mit einem der späteren Bücher 7t€Ql
Tccti^iov identisch gewesen sein?' Vergleicht mau diese neueren
Versuche mit dem älteren von W. Allers, De L. A. Sen. 11. de
ira fontibus, Diss. Göttingen 1881, der neben stoischen (bes. Chry-
sippos negl Tiad^cov) und peripatetischen Quellen vieles auf Philo-
demos (bzw. dessen Quelle) und Sotion zurückführen wollte , und
erinnert sich dessen, was A. Schlemm in seinem Aufsatze über
die Quellen der Plutarchischen Schrift tieqI ccogyr^aiag^ (Hermes
XXXVIII 1903, 586 ff.) gesagt hat, daß Sen. im IH. Buche de ira
gewiß noch andere Quellen als in den vorhergehenden Büchern
herangezogen habe (S. 589, was Rabbow 116 f. bestreitet), so
glaube ich nicht ohne Berechtigung das Problem der Quellen von
Sen.s Büchern de ira nicht bloß als ungelöst, sondern als unlösbar
bezeichnet zu haben (Sen.s Werke 13 Anm. 2). S. Nachträge.
142 Karl Münscher.
Einen wichtigen Nachweis hat aber Eabbow (125 ff.) geliefert,
daß nämlich Sen. bei Abfassung seiner Schrift de Consta ntia
sap lentis (dial. II) den Inhalt von ira II noch völlig im GedSicht-
nis hatte, unmittelbar daraus einzelne Gedanken übernahm, während
umgekehrt, als Sen. ira III schrieb, const. sicher bereits fertig vor-
lag. Das führt denn zur Frage nach der Abfassungszeit beider
Schriften. Rabbow glaubt, ein Zeitraum von mehr als 20 Jahren
trenne ira III von I/II; Anfang der 60er Jahre sei es verfaßt als
Neuentwurf für II ; aber erst ein Editor habe das postum erschienene
Werk als III den beiden ersten angeschlossen und sogar im Ein-
gang von III (1 , 1 iwn nl aliquando — 2 einschließlich) eine
Einlage gemacht , die aber doch zugleich eine Studie Sen.s selbst
für den dritten Teil des Buches (39 f.) sein soll , die der Editor
benutzt habe. Für alle diese wirren Behauptungen ist kein Beweis
erbracht. Gedankliche Übereinstimmungen von ira III mit beuef.
oder tranqu. beweisen natürlich nicht das Entstehen in gleicher
Zeit. Daß ira III und const. weit älter sein müssen als benef.,
beweisen die Äußerungen über die Sklaven in beiden Schriften,
die von dem wahrhaft humanen Standpinikt, den Sen. in benef. er-
reicht hat, noch weit entfernt sind (Fr. Seh au b, Studien zur
Gesch. der Sklaverei im Frühmittelalter, Diss. Freiburg i. B. 1913,
bemerkt in seiner Einleitung über die Auffassung der Sklaverei im
Altertum S. 12 f., daß bei Sen. die Theorie von der Gleichheit
aller Menschen zum Durchbruch komme, dabei werden einige Stellen
aus benef. und epist. angeführt; daß aber Sen. selbst sich erst all-
mählich zu diesem Standpunkt emporgearbeitet hat, ist unberück-
sichtigt). Und natürlich ist ira III wie I/II Sen.s Bruder Novatus
gewidmet, als dieser noch nicht vom Rhetor Gallio adoptiert war
und noch nicht Gallio hieß — Eabbows gegenteilige Annahme ist
ganz hinfällig — , und jene Adoption ist sicher vor der Statthalter-
schaft des Novatus-Gallio in Achaia erfolgt, denn die Provinzialen
kennen in der Apostelgeschichte (18, 12 fl^.) den höchsten römischen
Beamten, zu dem sie den Apostel Paulus führen, nur unter dem
Namen Gallio: Gallios Prokonsulat begann wahrscheinlich im
Sommer 51; seine Adoption muß also spätestens 50 erfolgt sein;
die Dedikatiou von ira III erfolgte also vorher, d. h. in der
Zeit von Sen.s Verbannung. Um nichts zu übergehen , erwähne
ich noch, daß B o u r g e r y auf Grund der Klauselstatistik (s. oben
S. 114) die Bücher ira II/III in die Zeit nach Sen.s Verbannung
verlegen will.
Der Spätansatz von ira III hat aber noch einen weiteren
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 143
Grund, daß nämlich Rabbow die in ira III benutzte Schrift const.
in die fünfziger Jahre, und zwar deren zweite Hälfte, verlegt. Zwei
Gelehrte haben in neuerer Zeit const. behandelt : Wilh. Friedrich,
De Sen. libro qui inscribitur de const. sap., Diss. Gießen (gedr.
Darmstadt) 1909. Schon W. Isleib, Woch. f. klass. Philol. 19.11,
870 — 2 betonte, daß Fr.s Arbeit zwar viel Anregendes, aber meist
Hypothetisches enthalte. Fr. hat sich gegen diese Kritik ebenda
1Ö98 — 1102 gewehrt und Isleib darauf noch einmal 1102 f. erwidert.
Schärfer noch war die Kritik W. Capelies, Berl. philol. Woch,
1912, 489 — 498, der nachwies, daß die Fülle der Kombinationen
Fr.s einer ausreichenden oder teilweise überhaupt jeder Grundlage
entbehren. Fr. hat sich gegen die Angriffe seiner Kritiker, bes.
Capelles , noch einmal in einer Sonderschrift gewandt : Zu Cassius
Dio 61, 10 und Sen. de const. 9, 2. Ein Beitrag zur Erklärung
d. polit. Schriften des Philos. Sen., Darmstadt 1913, die aber, wie
E. Bickel, Dtsch. Lit.-Ztg. 1915, 2045 f. in einer kurzen An-
zeige mit Recht sagt, im ganzen nur eine wenig ersprießliche re-
tractatio der Gedanken seiner Dissertation darstellt.' Der Fehler
Fr.s liegt darin, daß er das an sich durchaus berechtigte Prinzip,
in den Dialogen Sen.s das Erlebnis zu suchen, übertreibt. Er will
schier das Gras wachsen hören, und so verführt ihn seine Methode
(im 1. Kap. seiner Diss.) zu ganz nichtigen Hypothesen über des
Adressaten Serenus Lebensverhältnisse und Emporkommen und zu
ebenso hinfälligen Hypothesen über angeblich von Sen. befehdete
drei Gruppen von Gegnern (erneut in seiner zweiten Schrift I. Teil)
und (im II.) zu dem ganz unbeweisbaren Ansatz von const. un-
mittelbar nach dem Suilliusprozeß vom J. 58. Daß bei Dio 61, 10
ziemlich die gleichen Vorwürfe gegen Sen. vorgebracht werden, wie
sie Suillius gegen Sen. geschleudert hatte, bestreitet Capelle zu
Unrecht (vgl. bes. Fr.s zweite Schrift II. Teil S. 27 S.) ; Strohmann
der senatorisclien Feinde Sen.s war Suillius aber gewißlich nicht.
Etwas Wertvolles bietet Fr.s Kap. 3 in der Besprechung von Sen.s
Augenleiden auf Grund der mit medizinischer Hilfe vorgenommenen
Untersuchung der Berliner Sen.- Büste ira Alten Museum Nr. 391,
wenn es auch keineswegs sicher ist, daß const. 14, 4 Sen. von con-
tumeliac redet, die man ihm selbst gemacht. Möglich ist, was Fr.
in Exkurs I (S. 112 f.) zu erweisen sucht, daß Serenus im J. 62
praefectus vigilum geworden ist, in welchem J. Sen. ihm otio widmet.
In die Irre geht Fr. wieder im II. Exkurs (S. 113 ff.), in dem er
beweisen will, im 1. Kap. von trauqu., in dem Sen. Serenus selbst
redend einführt, spreche dieser andeutungsweise von seiner eben
144 Karl Münscher,
erfolgten Ernennung zum praefectus vigilum , und tranqu. sei von
Sen. bald nach otio dem Serenus gewidmet.
Ist Fr. durch Überspannung einer richtigen Methode zu falschen
Resultaten gelangt , so hat H. Dessau, Über die Abfassungszeit
einiger Schriften Sen.s, Hermes LIII 1918, in völliger Verkennung
der Art der Schriftstellerei Sen.s , die niemals den Zusammenhang
mit dem Leben verleugnet, die durch nichts begründete Vermutung
aufgestellt, Sen. habe die drei Serenus-Dialoge (II const., IX tranqu.,
VIII otio) erst nach Serenus Tode geschrieben, als Ehrendenkmal
der Freundschaft für den Verstorbenen, ihn auf drei Stufen seiner
philosophischen Entwicklung dem Leser vorführend (S. 193 — 6).
Gerckes Versuch (295 fF.), die Abfassung von const. im J.
55/6 mit vermeintlichen Anspielungen auf Nero zu begründen, ist
hinfällig. Schon 0. Hense hat in seinem Freiburger Univ.-Progr.
Sen. und Athenodorus, 1893, 6 flp. klargelegt, daß ein längerer
Zeitraum zwischen tranqu. (Ende der 50 er Jahre) und const. liegt;
aber nicht in die Anfangszeit der Regierung Neros gehört coust.,
sondern, wie ira III, das const. voraussetzt, in die Zeit des Exils.
Gercke hat ira III bald nach Polyb. 44 angesetzt, und L. Eicke,
Veterum philos. qualia fuerint de Alexandro M. iudicia , Diss.
Rostock 19G9, 21 ff., meinte diesen Ausatz stützen zu können durch
Aufdecken eines vermeintlichen Gegensatzes in der Beurteilung
Alexanders in ira I/II und III, von dem in Wahrheit keine Rede ist.
Aber die Stimmung Sen.s in ira III ist von der niedergedrückt
demütigen Bittschrift an Polybios unendlich weit verschieden. Im
Schlußkapitel (ira III 43) ei'klärt Sen. , der Tod wäre ihm lieber
gewesen als das ihm vom Kaiser geschenkte Leben in Verbannung.
Zweifellos gehört also ira III mit seiner furchtlos-stolzen Stimmung
längere Zeit vor Polyb., steht const. nahe, das ja schon vorlag, als
Sen. ira III schrieb , worin er das Bekenntnis des ungebeugten
Stoikers ablegt, daß keine iniuria, keine contunielia ihn trefTen
könne, vor allen Dingen keine seitens eines Weibes (Messalina).
Drum erscheint const. als die erste Schrift, die Sen., bald nachdem
ihn die Verbannung getroffen hatte , von Corsica hat ausgehen
lassen — zum gleiclieu Ansatz kommt Waltz, La vie politique 7,
2 u. 101 ff. ; Pichon a. a. 0. will von Waltz Aufstellungen nur
anerkennen, daß tranqu. später sei als const. — , etwa um die
Jahreswende 41/2; im Frühjahr 42 folgte ira III, im Herbst die
consol. ad Helviam matrem (dial. XII), worin schon eine
leise Sehnsucht nach Rom und den dortigen occiipationes fühlbar
wird; 43/4 schreibt Sen. dann, tief niedergedrückt durch die jähre-
Bericlit über die Seneca-Liteiatur aus dea Jahren 1915 — 1921. 145
lange Verbannung, Polyb. Das sind die Ergebnisse meiner Behand-
lung dieser Schriften (Sen.s Werke 10 ff.).
Ad Polybium de consolatioue (dial. XI) zeigt Sen.
in einem Zustande der Schwäche. Man hielt die Schrift seit Justus
Lipsius und Diderot für seiner unwürdig und sprach sie ihm ab.
Das tut heute wohl niemand mehr. Daß die Sprache der Schrift
zu dem Verdammungsurteil keinen Anlaß bietet, ist erwiesen worden
von Paula Stephanie, Zur Frage der Echtheit des Dialoges
Sen.s ad Polyb. de consol., Wiener Stud. XXXII 1910, 89—96,
besonders aus dem mit den übrigen Dialogen übereinstimmenden
Gebrauch der Pronomina und Partikeln, sowie von Ant. Sieg-
mund in drei Prgr. De Sen. consolationibus, Böhm. -Leipa 1912 bis
14. Im 1. Kap. (Prgr. I u. II) beleuchtet S., von Kapitel zu
Kapitel fortschreitend, die Gleichheit der elocutio, der Redewendungen
und Gedanken in Polyb. mit den übrigen Sen. -Schriften; daß dabei
auch manche Belegstelle angeführt wird, die wohl nur eine äußer-
liche Ähnlichkeit ixnd Gleichheit stoischer Terminologie zeigt, aber
nichts für Sen. besonders Charakteristisches bietet, zeigt Max. Adler
an einigen Beispielen in seiner Besprechung des ersten Prgr.s,
Zeitschr. f. d. österr. Gymu. LXV 1914, 658 — 660; aber im ganzen
tritt aus S.s Sammlungen der eine Autor Sen. deutlich hervor
(vgl. die kurzen Anzeigen von C. Hosius, Berl. philol. Woch.
1914, 460 f. u. 1917, 1133 f.). In den Anmerkungen hat S. auch
vielfach zu textkritischen Fragen Stellung genommen (Index der
kritisch betrachteten Stellen II 20) und die Überlieferung ver-
teidigt — z. B. verwirft er benef. VI 31 , 11 Hermes Konjektur
iactantem (Prgr. 13, 3) , otio 5 , 5 Gertz mista (14,1) — oder
eine Lesart der deteriores befürwortet, z. B. Polyb. 3, 4 perturiare,
Avas E bietet (Prgr. I 9, 1). Auch nicht wenige Stellen der Tra-
gödien wei'den von ihm kritisch erörtert. Das 2. Kap. (Prgr. III)
erbringt den Beweis für Sen.s Autorschaft von Polyb. durch" Ver-
gleich des Partikelgebrauchs mit den beiden anderen Konsolationen,
ferner der Verwendung der Parataxe, des Asyndetons, der Anapher.
Die sachlichen Beanstandungen von Polyb. hat Th. Birt zerstreut
in seinem Aufsatze Sen.s Trostschrift an Polybius und Bittschrift
an Messalina, Neue Jbb. für d. klass. Alt. XXVII 1911, 596—601 ;
er zeigt, daß Sen. sich mit seiner Trostschrift, die dem' durch eines
geliebten Bruders Tod bekümmerten , geistig hochstehenden , ihm
befreundeten Freigelassenen Polybius gewidmet ist, der die Ämter
a libellis und a studiis innegehabt hat, keineswegs weggeworfen
bat — es ist formell keine Bittschrift — ; daß aber Sen. durch seine
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 10
146 Kaü Mün scher.
öffentliche Huldigung für Kaiser Claudius, der damals die Unge-
heuerlichkeiten seiner letzten Regierungsjahre noch nicht begangen
hatte , mit der anschließend ausgesprochenen Hoffnung auf Rück-
berufuug (in Kap. 12 ff,), für die Aufhebung seiner Verbanming
zu wirken suchte , braucht man ihm so arg wirklich nicht zu ver-
denken. Was bei Dio C. LXI 10 steht, daß Sen. von Korsika iu
einem ßißliov des Claudius Freigelassene und Messalina selbst um-
schmeichelt und dies Schandbuch später selbst ausgetilgt habe, das
sieht B. mit vollem Recht als unmöglich an (Einwendungen dagegen,
die nichts besagen, bei Friedrich, Darmstadt 1913, 34, 1); es
ist entweder Irrtum oder bewußte Fälschung, die da zugrunde liegt :
die einzige Grundlage dafür war sicherlich lediglich das Vorhanden-
sein der cons. ad Polyb. , in deren verlorenem Eingange Messalina
gewiß nicht — wie Gercke noch annahm — erwähnt gewesen ist
(vgl. Sen.s Werke 80 f.).
Ende 48 , kurz vor seiner Rückberufung , hat Sen. , wie ich
glaube (Sen.s Werke 32 ff.), dial. X de brevitate vitae ge-
schrieben. H. Dessau hat allerdings (a. a. 0. 188 ff.) behauptet,
die Schrift sei 'ganz ohne Rücksicht auf sein eigenes Tun und Trei-
ben — zur Empfehlung des Lebens in der Zurückgezogenheit' ge-
schrieben in viel späteren Jahren, nach Claudius Tode, als 'ein
schönes Denkmal seiner herzlichen Beziehungen zu Paulinus.' Frag-
lich kann in Wahrheit nur sein , ob brev. erst in Rom nach der
Rückberufung oder vor dieser noch in Korsika verfaßt ist. Ersteres
nahm Gercke an (289), und Birt hat (N. Jbb. XXVII 355 f.)
in einer langen Anmerkung es zu beweisen versucht, daß die Schrift
nur in Rom geschrieben sein könnte; der Beweis ist ihm nicht ge-
lungen , und der ganze resignierte Ton der Schrift beweist das
Gegenteil. Jegliche menschliche occupatio erklärt Sen. darin für
nichtig; er scheut sich nicht, die Torheit antiquarisch-grammatischer
Studien an einem besonders charakteristischen , ungenannten Ver-
treter, dem von F. Münzer, Beiträge zur Quellenkritik d. Natur-
gesch. d. Plinius, Berlin 1897, 370 ff. erkannten Cornelius Valeria-
nus, zu geißeln, Studien, die doch des Kaisers Claudius eigenste
Liebhaberei waren — so unpolitisch handeln, so resigniert schreiben
hat Sen. nur können in den letzten , anscheinend völlig hoffnungs-
losen Monaten seines Exils, als ein Mann ohne Amt und ohne jede
Aussicht auf ein solches, nicht nach der Rückberufung in Rom, wo
neue occupationes ihm winkten.
In der Zeit des Suilliusprozesses vom J. 58 hat Sen. seine
Selbstverteidigung: seinem Bruder Gallio in dial. VII de vita
Bericht über die Seneca-Litoratur aus den Jahren 1915—1921. 147
beata gewidmet; fraglich ist nur, ob, wie Gercke (306) an-
nimmt, das Schriftchen noch vor dem Urteil erschienen ist oder,
wie ich glaube (Sen.s Werke 58 f.), nach beendigtem Prozeß, durch
den wohl erst des Suillius Vorwürfe gegen Sen. allgemein bekannt
und Sen. peinlich Avurden.
Noch zweimal hat. Sen. an Wendepunkten seines Lebens in
Zuschriften an seinen jüngeren Freund Annaeus Serenus , dem er
einst im Beginne seines Exils const. gewidmet hatte, der Welt
mitgeteilt, wie er sein weiteres Leben zu gestalten denkt: nachdem
Nero zum Muttermörder geworden war, schrieb Sen. (59) de tran-
quillitate animi (dial. IX), nach dem endgültigen Bruche mit
Nero (Herbst 62) de otio (dial. YIII). Von Dessaus Hypothese
(s. oben), auch diese zwei Serenusschriften seien nach des Adres-
saten Tode abgefaßte Erinnerungsbilder, kann man von vornherein
absehen, tranqu. hat Gercke (315 ff.) auf Grund falsch gedeu-
teter, scheinbarer Anspielungen auf Sen.s Eücktritt Herbst 62 bis
Sommer 63 angesetzt, Waltz (La vie politique 7 Anm. 2) hinter
die Rückkehr aus der Verbannung ins J. 49 verlegt, was unmöglich
richtig sein kann, da damals nicht die Handlungsfreiheit Sen.s be-
schränkt, sondern neu ihm eröffnet wurde : aber gerade Einschränkung
der Möglichkeit zu wirken, das ist die klar gegebene Voraussetzung,
unter der Sen. tranqu. schreibt und gegen Athenodorus Lehre vom
vollen Verzicht auf Betätigung im Staate polemisiert und erklärt,
auch unter erschwerten Umständen noch weiter wirken zu wollen,
soweit es möglich, und noch fehlt nicht ganz die Möglichkeit zur actio
honesta: das weist m. E. deutlich auf die Zeit der beginnenden
Entfremdung von Nero, nach Agrippinas Tode, in welche aiich
Hense (a. a. 0. 18) tranqu. verlegt hat (Sen.s Werke 59 ff.). Und
als dann der Bruch mit Nero wirklich erfolgt war , schrieb Sen.
wieder an Serenus de otio, sein Bekenntnis zur vita contemplativa
enthaltend, aber auch dies Leben der Muße denkt er auszufüllen
mit Arbeit seiner Feder für Mit- und Nachwelt. Sicher ist diese
programmatische Erklärung nicht von Sen. erlassen, um seinen Rück-
tritt im voraus (61 bis Frühjahr 62) vorzubereiten (so Waltz a.
a. 0.), aber wohl auch nicht Jahr und Tag nach Beginn des otium
seiner letzten Lebensjahre (Gercke 317 f. verlegte de otio ins
J. 63), sondern wahrscheinlich bald nach dem entscheidenden
Schritte der vollen Aufgabe aller Betätigung im Staatsleben , also
in der zweiten Hälfte des Jahres 62 selbst (Sen.s Werke 69 ff.).
Und aus den letzten Lebensjahren stammt endlich dial. I De
Providentia. Auch nach Bourgerys Klauselstatistik (s. oben
10*
148 Karl Münscher.
S. 114) gehört prov. zu den spätesten Werken neben den epist. und
nat. qu. Waltz Versuch (La vie politique 7, 2 u. 101 ff.), prov.
derselben Zeit wie const., d. h. den ersten Monaten von Sen.s Ver-
bannung, zuzuweisen, ist grundlos (s. Pichon 213 ff.). Die An-
deutung im Eingang der Schrift, daß sie eigentlich eine particula
des großen Werkes der moralis phüosopMa sei, von der auch epist.
106 ein Ableger ist, macht den Ansatz auf die Jahre 03/64 völlig
sicher, und die Beziehung von prov. zu epist. 74, 10, vom Ende
Mai 64 , wodurch Lucilius zu der in prov, behandelten Frage an-
geregt wurde , weist auch diesem letzten der Dialoge seinen Platz
im J. 64 an (Sen.s Werke 75 f.).
Endlich noch ein Wort über die Sammlung der Dialogi
selbst. 0. Roß b ach hatte seinerzeit (Hermes XVII 1882, 365 ff.)
eine wahrscheinlich von Sen. selbst besorgte Gesamtausgabe seiner
philosophischen Schriften unter dem Titel Dialogi angenommen.
Noch Dessau (a. a. 0. 192 Anm. 3) glaubt, Titel und Sammlung
der Dialogi gingen auf Sen. selbst zurück, wie er denn meint, brev.
sei von Sen. von vornherein zur Aufnahme in diese Dialogsammlung
geschrieben und bestimmt. Diese Annahme ist aber sehr unwahr-
scheinlich. Quintilian benennt ganz allgemein mit der Bezeichnung
dialogi Sen.s philos. Schriftstellerei (inst. X 1, 129), auch de super-
stitione wird bei Diomedes (G. L. I 379, 19) als dialogus an-
geführt. Die Bezeichnung mag durch eine Sammlung der kleinen
Schriften nach Sen.s Tode aufgekommen sein. Daß nicht Sen. selbst
dieser Sammler war, steht wohl sicher. Er würde in eine solche
Sammlung seiner eigenen dialogi schwerlich die cons. ad Polyb.
aufgenommen haben, deren Vorhandensein in den Händen des Pu-
blikums ihm später gewiß nicht angenehm war: daß diese uns er-
halten ist, ist der beste Beweis dafür, daß ein anderer, nicht Sen.
selbst, es war, der die Dialogsammlung ohne jede ersichtliche Ord- ||
nung, ohne Kenntnis oder Rücksiclit auf die zeitliche Entstehung
der einzelnen Schriften zusammengestellt hat (vgl. Sen.s Werke 31
u. 39 f.). ^
2. Apokolokyn tosis.
Unbekannt ist mir die Ausgabe * Sen. Apocol. with an English
traduction by W. H. D. Rouse, New York 1913, verbunden mit
einer Ausgabe des Petronius by Mich. Heseltine.
In der 5. Aufl. des kleinen Buecheler sehen Petron (Berlin
1912) hat W. Heraeus auch die Apokol. (S. 251—263) wieder
mit vorgelegt, ohne am Texte etwas abzuändern; vielleicht geht (
1
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 149
diese respektvolle Konservierung des durch Buechelers Autorität
Festgelegten doch etwas zu weit. Die kritischen Beiträge , welche
neuerdings veröfiFentlicht worden sind , haben allerdings kaum viel
Förderliches geliefert. S, Nachträge.
Vinc. Ussani, Sul ludus de morte Claudi , Riv. di filol.
XL! 1913, 74 — 80, schlägt 9, 1 für nee dispiitare vor nee dis fas esse,
zweifellos falsch ; denn es muß eine für den römischen Senat gel-
tende Regel sein , die erwähnt wird. Die Erwähnung der di ist
also nicht am Platze. B.-H. schieben senatoribus non licere vor
sententmm dicere ein; A. P. Ball (in seiner erkl. Ausg., New
York 1902) läßt davon senatoribus als l\berflüssig mit Recht fort
und stellt non Heere unmittelbar vor nee disputare. Aber schwerlich
war das disputare in Anwesenheit von privati in der Kurie verpönt
— nur die Götter haben unerhörterweise , statt pflichtgemäß scn-
tentias dieere, geschwatzt, was Jupiter als mera mapalia facere rügt, —
sondern natürlich nur das scntentiam dicere. So wird doch in dem
nee disputare die Korruptel stecken und mit Haupt durch nefas pu-
iari zu beheben sein (dafür auch Hartmanu — s. unten S. 151 — ,
303, 1). 11, 2 will U. die sinnlosen Worte tristionias assarionem
umwandeln in testimoniis assariorum , aber es ist viel wahrschein-
licher, daß darin ein Epitheton zu den vorher genannten drei Per-
sonen steckt, was Buecheler mit tris homines assarios gewinnen
wollte , Dieterich unter Fortlassen von tristionias als Dittographie
(nach Scriboniam) durch assarios quidem^ Heraeus durch assarios
omnes — Sicherheit ist in solchem Falle nicht zu erreichen. Ganz
unglücklich ist auch U.s Versuch 13, 4 einzurenken: quefn Claudius
decoris causa miiiorem (st. minorem) fecerat, cum (st. ad) Messalina[m] 5
die Stelle ist in Ordnung, so wie zuerst Ball sie gegeben hat,
daß ad Messalinam zum nächsten Satze gehört mit dem Prädikate
convolant, der unterbrochen wird durch die Parenthese cito rumor
percrcbuit Claudium venisse. Nur in einem Falle dürfte U. vielleicht
zu folgen sein, wenn er 9, 2 statt der in den Ausgaben stehenden
Lesart liortio quantumvis vafer für Beibehalten des Textes des San-
gallensis eintritt, quantum via sua fcrt, so daß es vom Vater Jauus
im ganzen heißt: Jiomo quantum via sua fert qui semper videt afia
n^düoio y.al onioGio \ an der Stellung des qui darf man sich wohl
nicht stoßen.
Auch zu dem mit einer ganzen Literatur überschwemmten
Janusworte 9 , 3 iam famam mimum fecistis macht U. einen un-
glaublichen Vorschlag: 0-ac/.ia mimum. Eine kleine Geschichte der
Behandlung dieser Stelle hat J. H. Schmalz gegeben in seiner
150 ^^^^ Münscher.
Anzeige des I. Bandes der Bueclielerscliea Kleinen Schriften,
Berl. philol. Woch. 1916, 14 f. Man darf wohl sagen, was Bue-
cheler 1864 in der Symbola philol. Bonnensium über die Sen.- und
Cicerostelle (Att. I 16, 13) gesagt hat (Kl. Sehr. I 465 f.), an denen
allein die Redensart fäbam (so richtiger bei Cic. überliefert) mimum
vorkommt , dürfte noch immer das Glaubwürdigste sein (vgl. 0.
Kibbeck, Gesch. d. röm. Dichtung I 226). Demgegenüber sind
andere Konjekturen abzulehnen: 0. Roßbach schlug vor fahulam
mimum (Berl. philol. Woch. 1913, 1310 f., dagegen A. M. Harmon,
ebd. 1914, 702 f., ohne Roßbach (ebd. 703 f.) zu überzeugen.
In etwas anderer Weise erklärte Th. Birt, 1915, 669—672, fada
mimus (zurückgreifend auf das, was er in A. Dieterichs Pulci-
nella, Leipzig 1897, 277 f., darüber gesagt hatte). Gegen F. Krohu,
der 1916, 1015, den kühnen Vorschlag machte, an den beiden frag-
lichen Stellen auf Grund von Vitr. VII 9, 2 zu schreiben: Fabarii
minium, wandte sich mit überragender Gelehrsamkeit F. Münz er,
ebd. 1316—20.
Außer faba mimus behandelt 0. Roßbach, a. a. 0. 1309 f.,
noch ein paar Stellen der Apokol. 2, 3 hatte schon Ball aus dem
überlieferten adquiesciint (dafür B.-H. inquies, cum) am Schluß sunt
gefunden, wodvxrch es möglich wird, das von Buecheler gestrichene
iit des nächsten Satzes zu halteu : sunt omncs iJoetae non contenti
ortus et occasus describere, ut etiam medium diem inquietent. Roßbach
schlägt nun sehr ansprechend vor : atqui sunt, inqides fällt dann
fort; aber inquis oder inquit fehlt, wie R. bemerkt, auch sonst öfter
bei Sen. (epist. 25, 7. 30, 14. 33, 9). 6, 1 erläutert R. den Witz
vom Fieber des Kaisers Claudius richtiger als Buecheler, der glaubte,
fehris sei als offizielle Todesursache angegeben worden, mit der An-
nahme, Claudius habe dauernd am Fieber gelitten. 7, 5 will R.
lesen tu scis , quantum illlc miseriarum tecuni (Claudius spricht zu
Hercules) tulerim, cum causidicos audirem diem et noctem. B.-H.
schreiben nur tulerim. Aber ist nicht das überlieferte contulerim
richtig? 'du weißt, wie viel Elend ich (mir) dort zusammengeschleppt
habe, als ich Prozeßredner anhörte Tag und Nacht'. Die Lücke
zwischen Kap. 7 u. 8 sucht R. nach Umfang und Inhalt zu be-
stimmen. Endlich meint er, 8, 2 stecke in ora per, wofür die Aus-
gaben praeterea lesen , oro (was soll das hier bedeuten '?) p(atres)
c{onscripti). Das Richtige hat wohl Heraeus im Apparat vorgeschlagen
mit einfachem propter-^ sein Bedenken, daß das eine serior locutio,
ist hinfällig; vgl, die oben (S. 126) aus Sen. angeführten Beispiele
für fehlendes Demonstrativum zwischen Präposition und Relativum.
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 151
Noch minderen Ertrag für die Textkritik liefert die Arbeit J.
J. Hartmanns, De ludo de morte Claudii, Mnemos. XLIV 1916,
295 — 314. Einleitend sucht H. es begreiflich zu machen, wie Sen.
trotz Polyb. später die Satire auf den toten Claudius schreiben
konnte , die , wie H. richtig hervorhebt , Tacitus und Quiutiliau
wohl nicht gekannt haben. Des weiteren bestreitet H., daß die er-
haltene Satire die von Dio erwähnte a7iOA.o}.o%vvt;o}aLQ sein könnte;
den Witz vom Kürbis , in den Claudius verwandelt sei, habe Sen.
wohl gelegentlich im Gespräche gemacht — aber warum denn nicht
auch am Kopfe seines Pasquills , wenn dieses auch sonst auf Aus-
beutung dieses Witzes verzichtet? Erörterungen über die Titelfrage
scheinen mir nach Buechelers klaren Darlegungen (Kl. Sehr. I
439 ff.) überflüssig (vgl. Sen.s Werke 49, 1). Nachdem H. noch
energisch sich zur Autorschaft Sen.s für die Apokol. bekannt hat,
deren lepor und venustas er durch Vortrag einer Übersetzung vor
gebildetem Hörerkreise genugsam erprobt habe, geht er an die Be-
handlung einzelner Stellen heran. Ein Hauptheilmittel, das H. zur
Verschönerung des Textes anzuwenden beliebt, ist das Streichen
von Worten, die ihm überflüssig dünken. So streicht er ohne allen
Grund 1, 3 quod viderit. 3, 4 uno anno. 4, 2 liaec Apollo. 5, 3
den Satz iit qui etiam non omnia monstra timuerit. 11, 6 ad inferos,
a caelo. 13, 3 facile descenditur. 14, 3 quid illum pati operieret.
Und mit den übrigen Vorschlägen H.s steht es nicht viel besser.
1, 1 will er die in jüngeren Haudschrn. interpolierte Kousulangabe
Asinio Marcello Acilio Äviola consulibus in den Text setzen — diese
Angabe war beim Erscheinen der Satire wahrlich nicht nötig! 1, 1
macht er aus dem markanten Sätzchen haec iia vera ein kümmer-
liches haec, vero. 3, 4 ist Wehles ne (st. nec)^ das H. billigt,
keineswegs eine Verbesserung. Unnötig 4, 2 hibet homines (st. iu-
bent omnes), desgl. 10, 1 suo (st. suae)-^ 10, 3 excidit (st. adsidit):
14, 3 succederetur (st. siiccurreretur). In einigen Fällen tritt H.,
wohl mit Recht, für Aufnahme Buechelerscher Konjekturen in den
Text ein, die bisher im Apparat stehen, so 11, 2 für ires homines
assarios (s. oben); 12, 1 Mercuriwn (st. des Nominativs); 12, 3 V. 11
vlda (st. scuta)\ 14, 2 {Claudius) advocatum non invenit. Von H.s
eigenen Versuchen erscheint mir beachtenswert nur folgendes : 3, 1
ist die Versetzung von tani diu in die vorhergehende Frage quid...
hominem miserum {(am diu) torqueri pateris recht glaublich, da die
Worte an der überlieferten Stelle kaum verständlich sind : nee un-
quam [tarn diu] cruciatus cesset? In dem heftigen Disput der Götter
8, 3 stellt H. (S. 302 m. Anm.) als eines Gottes Worte her:
152 Karl Mün scher.
stultc, stude. Äihenis dimidium licet, Älexandriae totum, quia Romae
inquit (st. inquis) mures molas lingunt. 10, 4 plädiert H. gut für
Beibehalten des Graece. Ob man 11, 1 das von Buecheler vor-
geschlagene nescii mit H. als notwendig ansehen muß, erscheint mir
nicht sicher : Claudius, der volle Tor, sagt einfach : nescio, ich weiß
nichts. Auch 11, 4 ist H.s diirius für clarius vielleicht richtig.
Als Editor der Apokol. würde ich mich an einigen Stellen der
von Ball in der obengenannten Ausgabe gegebenen Textgestaltung
anschließen, so 6, 1 tu aiitem . . . Lugudunenses scire debes {et) (in
jüngeren Handschrn.) niuUa milia inter Xanthum et lihodanum Interesse,
wo bei B.-H. Lugudunenses gestrichen wird. 9, 1 et videhatur
Claudius sententiam vincere ist kein Grund zur Streichung von sen-
tentiam, 15, 1 keiner, fusuro für lusuro einzusetzen. Balls Konjektur
spem (14, 4) st. speciem verdient mindestens Aufnahme in den Appa-
rat, und sein Text 15, 2 qui illum viderant ah ipso (st. iUo) vapulan-
tem ist sicherlich dem bei B.-H. vorzuziehen, wo iUo , das wenig
passend , gehalten und illum eingeklammert ist. Auch 14, 3 hat
Ball m. E. in dem korrupten sium diu, woraus Buecheler Sisyphum
(satis') diu machte, mit nimiwn diu das Richtige gefunden und den
überlieferten Plural fecissent mit Recht beibehalten; aber der Nach-
satz Tantalum siti pcriturum paßt unbedingt nicht dazu ; überdies
hat er noch seinen besonderen Nachsatz nisi Uli succurreretur neben
sich. Und laturam ist gewiß nicht im allgemeinen Sinne von 'enduring'
gebraucht, sondern laturam facere heißt, was es immer heißt, eine Last
schleppen, und Subjekt ist natürlich nicht Sisyphus oder Tantalus,
sondern die Danaides, die in dem hinter fecissent offenbar aus-
gefallenen Nachsatze genannt waren. Und weil ich nun einmal
eine eigene Vermutung vorgetragen habe, seien noch zwei, die sich
mir bei seminaristischer Behandlung der Apokol. ergeben haben, an-
gefügt. 9, 2 liest man mit Buecheler : is (Janus) mtdta diserte, quod
in foro vivebat, dixit; überliefert ist vioat, und ist das nicht einzig
richtig? Gott Janus lebt doch tatsächlich noch am Forum, an dem
sein sog. Temj^cl steht, wie Sen. vorher auch im Präsens den Witz
macht, Janus quantum via sua fcrt (s. oben) semper videt a(.ia ttqoogio
Kai 07tioo(j}'^ der Konjunktiv vivat gibt die Begründung als sub-
jektive Auffassung des Schriftstellers. Und 8 , 3 sagt einer der
zornigen Götter über Claudius: hie nöbis curva corriget? quid in cnhi-
culo suo faciat nescit, et iam eaeli scrutatur piagas? Au sich sehr
witzig , daß der Kaiser nicht weiß , was er in seinem ehelichen
Schlafgemache soll. Aber geschlechtliche Impotenz konnte ihm, dem
ewig sinnlichen , der ohne Frau nicht leben konnte , wohl keiner
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 153
auch im Scherz nicht, nachsagen. Aber er wußte bis zum Schluß
nichts von Messaliuas wüstem Treiben ; er wußte — Tacitus sagt
es uns audrücklich ann. XI 27 — als einziger nichts von der Hoch-
zeitsfeier, die sein Weib Messalina in breitester Öffentlichkeit mit
Silius beging, und die mit oscula , comjjlcxvs und der nox acta li-
centia coniugaU schloß. Also nicht quid in cubiculo suo faciat wußte
Claudius nicht, sondern quid in cubiado suo fiat nescit. Das faciat
ist dann von einem Leser hineinkorrigiert, der fiat nicht verstand
und dadurch den anderen, zu Claudius Wesen unpassenden Witz
hineinbrachte.
M. 0. B. Caspari, On the Apotheosis of Claudius, eh. 6,
11. 5/6, Class. Review XXV 1911, 11 f. tritt für die meines Er-
achtens richtige Erklärung des Wortes der Febris über Claudius^
das sie zu Hercules spricht, ein : Lvgvduni natus est, Marci muni-
cipem vides, Lyon war ein von Marens Antonius während seiner im
Jahre 43 beginnenden 2 — 3 jährigen Verwaltung Galliens geschaflfenes
municipium, und so ist Claudius ein Bürger 'seines', des Hercules,
Marcus ; denn M. Antonius sah wie Herakles aus ; die Antouier galten
von Alters her als 'Herakleidai' (Plut. Anton. 4), und M. Antons
Verhältnis zu Kleopatra verglich man mit dem des Herakles zu
Omphale (Plut. Dem. et Anton, comp. 3).
In dem Streite zwischen Birt und Norden um die Herleitung-
des Namens 'Germanen' spielt auch der Witz der Apocol. 6, 1
eine Rolle, daß Claudius, weil aus Lugudunum stammend, als Galhfs
germanus bezeichnet wird. Doch ist es, was das Verständnis der
Stelle angeht, ein Streit um Kaisers Bart : beide Forscher sind einig
(E. Norden, Korrespondenzblatt der Röm.-German. Kommission d.
Kaiser!. Archäol. Inst.s 1917, 164; Th. Birt, Berl. philol. Woch.
1920, 664 m. Anm. 2), daß es ein Witz Sen.s ist, den Kaiser aus
Lyon als 'echten Gallier' zu bezeichnen , natürlich weil er ein
Zerstörer Roms gleich Brennus — für die Ableitung des Germanen-
namens hat die Stelle natürlich gar keine Bedeutung.
*The classical papers of M 0 r t. L a m s o n E a r 1 e , New York
1912; darin ist außer vielen anderen griech. und lat. Autoren auch
Sen.s Apocol. vertreten.
Nicht mit Textkritik befassen sich die beiden folgenden Auf-
sätze: Jos. Mesk, Sen.s Apocol. und Hercules furens, Philol. LXXI
1912, 361 — 375. Was M. an Übereinstimmungen der Apocol. mit
dem Herc. f. aus Kap. 5 — 7 zusammenstellt, ist kaum so klar
auf der Hand liegend, daß es nicht aus der Verwandtschaft des
Stoflfes — in jenen Kapiteln der Apocol. fungiert Hercules als der
154 Karl Müiischer.
polternde Diener Jupiters, der Claudius au der Himmelstür emp-
fängt — erklärbar wäre , wenn auch mancher wörtliche Anklang
sich findet. Wirklich beabsichtigte Anlehnungen zeigt aber die der
sonstigen Vorliebe Sen.s für Anapäste entsprechend gebaute uenia
(Hartman 305 führte sie auch unter den echten Sen. -Zügen der
Apocol. auf) in 12, 3, Anlehnungen an Troades 130 f. und besonders
an das Klagelied des Chores im Herc. f. 1054 flP.; nur ist, wie ich
gezeigt habe (Sen.s Werke 98 ff.), das Verhältnis gerade umgekehrt,
als M. annahm : Die uenia ist eine Parodie der Tragödienstellen
und dient deshalb mit zur chronologischen Fixierung jener beiden
Dramen auf die Jahre vor 54 , in welchem Jahre sicherlich noch
die Apocol. während der ersten Wochen der Regierung Neros in der
römischen Hofgesellschaft verbreitet worden ist.
Diese frühe Entstehungszeit der Apocol. bestreitet allerdings
E. Bickel in seinem Aufsatze: Der Schluß der Apokol., Philol.
LXXVII 1921, 219—227; doch ist seine Begründung, wie ich Sen.s
Werke 51, Anm. 1 kurz erläutert habe, nicht stichhaltig. Fein-
sinnig macht aber B, den immerhin seltsamen Schluß der Satire ver-
ständlich. Da erhält C. Caesar den Claudius zugesprochen, nachdem
er mit Zeugen bewiesen hat, daß er ihn früher verprügelt hat, und
er schenkt ihn dann an Aeacus weiter ; der übergibt ihn seinem Frei-
gelassenen Menander, damit er als Sklave a cognilionibus fürder
amtiere. Von der possenhaften Art, wie Claudius als Richter auf-
trat und verhöhnt wurde, erzählt Sueton. Claud. 13 Geschichten
genug. Auch über Sen. hatte Claudius 'als elender Spielball frei-
gelassener Sklaven über ihn den Senator entschieden', und die
Stunde der Verurteilung, so sagt B., hat Sen. gerächt, wenn der
Kaiser als Sklave a cognitionihus für die Nachwelt weiterlebt.
3. De dementia. Debeneficiis.
C. Hos ins hat 1914 beide Werke in zweiter Auflage in der
Bibl. Teubneriuna ediert, nach den Handschriften benef. vor dem.
stellend. Auf 0. Roßbachs Mahnung hat H. außer den in der
ersten Auflage benutzten Handschriften einen Vratislaviensis heran-
gezogen, der, obwohl erst dem XIV. Jahrhundert entstammend (der
berühmte Laureshameusis S. Nazarii N ist eine Handschrift des
VIII. oder IX. Jahrhunderts), doch nicht ganz selten allein die
richtige Lesart erhalten hat (H. praef. p. XX), und K. Busche
plädiert im Eingang seines Aufsatzes zu Sen.s Büchern de benef.
und de dem., Rhein. Mus. LXXII 1917/18, 464—472 an noch einigen
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. I55
Stellen für die Aufnahme der Lesart V (benef. III 4, 1 Perfekt
percepimus. VI 29, 2 deliberarc st. des Passivs. VII 26, 4 tran-
süientem loquar mit guter doppelkretischer Klausel). Noch eine gute
und wichtige Vorarbeit konnte H. benutzen : die von ihm selbst
angeregte Greifswalder Diss. Wilh. Kiekebusch , De Pinciani iu
Sen. phil. de benef. et de dem. 11. castigationibus (1912). Des Spaniers
Fernandus Pincianus , Professors der griech. und lat. Sprache in
Salamauca , in omnia Sen. scripta ex vetustissimorum exemplarium
collatioue castigationes utilissimae sind 1536 bei Jo. Augustinus de
Burgo in Venedig gedruckt worden , eine überaus verdienstvolle
Arbeit; denn Pincianus hat tatsächlich 15 Sen.-Handschriften ver-
glichen bzw. eingesehen , deren keine bisher wiedergefunden ist.
K. untersucht eingehend den Wert dieser castigationes (er benutzte
das Exemplar der Göttinger Bibliothek) zu benef. (im ganzen 709)
und dem. ; er scheidet sie in drei Gruppen : die erste umfaßt die
Lesarten, die Pincianus ausdrücklich aus namentlich genannten Hand-
schriften anführt (darunter nennt er ein exemplar eines Franciscus
in Salamauca antiquissimum et emendatissimum ac plane venerandae
fidei ; ein anderes bezeichnet er als correctissimum), die zweite die-
jenigen, die Pincianus aus nicht näher bezeichneten Handschriften
anführt (sie stehen zum Teil den Lesarten des G[uelferbytanus] und
P[arisinus] nahe), die dritte Pincianus eigene Besscrungsversuche,
bei denen dieser teilweise vielleicht auch handschriftliche Lesarten,
ohne das ausdrücklich zu sagen, benutzt hat. Gruppe I umfaßt in
benef. 74, II 175, III die übrigen 460 castigationes, dazu 27 der
Gruppe II zu dem. Am Schluß gibt K. ein Verzeichnis sämtlicher
Pincianuslesungen , der handschriftlichen (4 4 ff.) wie der Konjek-
turen (57 ff.). — Sehr sorgfältig ist bei Hosius die Sammlung (praef.
p. XXIV sqq.) und Verwertung der neueren textkritischen Arbeiten,
und so erscheint seine zweite Ausgabe zweifellos als fortgeschritten
gegenüber der ersten ; aber als abschließend wird man sie nicht be-
zeichnen dürfen. 0. Eoßbach hat durchaus recht (ßez. Berl. philol.
Woch. 1915, 678 — 682), daß es keineswegs aussichtslos erscheint,
die kritische Grundlage des Textes durch Untersuchung und Auf-
findung weiterer Handschriften zu verbreitern und zu verbessern.
Denn daß der Nazarianus nicht, wie Gertz einst wollte (Ausgabe
Berlin 1876) und Jak. Bück, Sen. de benef. und de dem. in
der Überlieferung, Diss. Tübingen 1908, noch einmal zu beweisen
versuchte, die einzige Textquelle ist, sondern eine zweite selbständige
Handschriftenklasse danebensteht , dürfte sicher sein , und es liegt
durchaus im Bereiche der Möglichkeit, in Spanien eine der von
j^56 ^'^^■'^ Münscher.
Pincianus benutzten Handschriften mit ihrer selbständigen Über-
lieferung aufzufinden. Nach H. Geist (s. unten S. 161) 8 enthalten
zwei Escurialenses neben den nat. qu. der eine alia scripta Annaeana,
der andere benef. — Als eine Notwendigkeit erscheint auch die
sorgfältige Nachprüfung der Pincianus-castigationes zu den übrigen
Sen. -Schriften, zu denen auch die damals noch von den Werken
des Sohnes nicht gesonderten Deklamationen des Vaters Sen. ge-
hören.
Textkritische Beiträge zu dem. und benef. haben meines Wissens
nur Rossbaoh u^^d Busche an den genannten Stelleu gegeben. Rossbach
tritt mehrfach für Beibehalten handschriftlicher Lesarten gegen
Änderungen, die Hosius aufnimmt, ein •■, so will er benef. III 23, 5
den sonst als Vettius bekannten praetor Marsorum mit dem in den
Sen. -Handschriften stehenden Namen Vettenus im Texte belassen
wegen des Schwankens der Formen der lat. Eigennamen; wahr-
scheinlich dünkt mir das in diesem Falle nicht, ebensowenig, daß
V 24, 2 3Iilitio ein Soldatenname sein soll. An das archaistische
pos tot V 16, 6, das R. empfiehlt, wird man auch schwerlich glauben.
IV 22 , 3 will R. das via hinter ad'itur fortlassen , das aber in G
steht; sonst ist nur datiirus überliefert und in N ^ schon in aditur
emendiert. Zu VII 30 , 2 erneuert R. seinen früheren Vorschlag
nee desit (war); Hosius schreibt mit Madvig nee dieere; dann wäre
die Lektio q nee desit {qui dicat) wohl noch vorzuziehen. III 29, 5
mag das von Hosius eingesetzte execlsa nicht sicher sein, aber die
Überlieferung ist zweifellos nicht in Ordnung : innitantur fundamentis
suis templa et illa urhis. R. hat früher (Berl. philol. Woch. 1907,
1488) selbst einen Heilungsversuch gemacht templa et saceUa , der
nicht besser als andere ; man wird G P folgen müssen und lesen :
et illa urhis moenia. Ich kann R. nur darin zustimmen, daß er
IV 35 , 2 promisi me pcregre exiturum für Beibehalten des vor
exiturum in allen Handschriften außer iV stehenden una eintritt,
und selbst in N steht es von zweiter Hand. Eine recht glückliche Hand
zeigt R. in Behandlung von Stellen aus dem. Allerdings II, 1
das seit Pincianus zugefügte et fortzulassen, scheint mir unmöglich,
wenn auch das dahinter folgende Jo^ui nicht mit den vorhergehenden
Infinitiven auf einer Stufe steht, und I 10, 1 die alten Formen
abavos und tuos in ihrer Vereinzelung beizubehalten, sehe ich auch
keinen Grund. Aber 16, 1 ist eaveae st. viae wohl wirklich un-
nötig, 7, 2 moderatique (T wie ein Parisinus) besser als moratique,
11, 2 Agricolas Herstellung incomprc[he^nsihilis einfacher als com-
prendens ut sui, ebenso 26, 4 Gertz se cxercitat eo ineiiatior passender
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. I57
als Hosius se exercitat ira. 19, 3 ist mit Madvigs cui . , . dktarat
wohl die Heilung noch nicht gefunden. II 5, 3 will R. wie andere
quidni halten (Hosius schreibt dafür kaum richtig quidnam), aber
seine Ergänzung quid/tii liaec (scaeva") scientia ist nicht einleuchtender
als andere. I 22, 3 darf man doch sicher nicht, statt das korrupte
eius zu emendieren {ehiit Gertz, eruit Gronov), dies überflügsige
Pronomen beibehalten und vindicat oder vincit mit ß. vor vitia er-
gänzen. Unmöglich richtig ist auch R.s Versuch, II 7, 1 das un-
sinnige vacuani constitiiamus nunc quoque durch Vorsatz von (rem) ver-
ständlich zu macheu; ein solches substantivisches Objekt zu co^Jsf/fMßmws
erscheint neben dem quid sit venia kaum möglich. Eine Emendation
ist freilich noch nicht gefunden.
Recht feinsinnig begründet sind die kritischen Vorschläge
Busches. Mehrfach verteidigt er die Überlieferung mit Recht, so
benef. VI 31, 11 mutantem und 35, 5 metum (beides auch bei
Hosius im Text); I 10, 1 hält er das in N' stehende et omne fas
als zweites Subjekt neben dem vorangehenden res humanas für
passender als et omne nefas, wodurch das in detcrius fortgeführt
werden soll. Sehr gefällig erscheint mir I 3, 3 alii quidem dividere
(st. videri, was schon Häberlin beanstandet hatte) volunt (sc. Grutiam),
ebenso V 3, 1 tardare (st. tradere) iuhentis, aber daneben ist sicher-
lich nicht cadentis (wie B. mit Gertz- schreiben will) das Richtige,
sondern die Vulgata cedentis (N caedentis): vox cedentis et tardare
(sc. impefmn) iubentis. Auch IV 8 , 1 hat B. mit consolatura (st.
consxdtura) vielleicht das Rechte getroffen; vitis aber statt vis er-
scheint unnötig; Hosius hat vis im Text behalten und auch schon
das notwendige quoi (für quod) aufgenommen. Unnötig finde ich
B.s Änderungen II 34 , 3 , wo ich pericuJa iusta als wirkliche Ge-
fahren durchaus verständlich und passend finde, desgl. IV 20, 3, wo
au den zusammengehörenden Sätzchen qui sperat cum reddit keines-
falls geändert werden darf und ich den Anstoß, den B. mit Madvig an
secundiim datum nimmt, nicht verstehe, wie auch nicht IV 24, 1 den
Anstoß an generdque. Aber von den Versuchen U.s durch Zusätze
einzelner Worte vermeintliche Schäden der Überlieferung zu heilen,
vermag ich nur weniges als annehmbar zu betrachten. Diese sind
VII 2, 1, wo B. {animo) vor affigere einfügt, dem sonstigen Brauche
Sen.s (nat. qu. VI 32, 12. epist. 11, 8; sonst mit pronominalem
Dativ epist. 75, 7; 111, 32) entsprechend. II 14, 2 sie omnium,
qitae nocitura sunt . . . perseverabimus non dare (usum). Dagegen
ist II 8, 2 auxilium est, principale tributum est der Zusatz von {aulae)
vor auxilium ganz überflüssig ; nur würde ich das Komma statt hinter
158 Karl Münscher.
est erst hinter principale setzen , so dal6 das Adjektiv zum ersten
Substantiv avxiUum gehört. IV 5, 1 ist der Zusatz von quae quaeris
(das B. dem cod. M entnimmt, der es statt quae rapis bietet) Will-
kür ; gewiß entsprechen einander paarweise qttae das , quae negas,
quae servas, quae rapis, aber diese vier Sätzchen bilden zusammen
die epexegetische Erläuterung zum voranstehenden quae possides.
Unbedingt falsch ist B.s Zusatz dem. I 12, 3 iderqiie licet non minus
(^arce) armis valletur: nicht zwei Arten des Schutzes werden mit-
einander verglichen, sondern die Größe der Schutzmaßnahmen beim
rex und beim tyrannus : also könnte nur Wesenbergs non minus
(altero) in Betracht kommen, wenn nicht der Sinn auch ohne diese
Beifügung klar wäre.
Zu beiden Werken liegen Quelleniintersuchungen vor:
Arth. Elias, De uotione vocis dementia apud philosophos
veteres et de fontibus Sen. 11. de dem., Diss. Königsberg 1912.
Die Arbeit, in einem jammervollen, mit bösartigen Fehlern durch-
setzten Latein geschrieben , wie es eine deutsche philosophische
Fakultät nicht zulassen sollte, überdies auch durch viele Druckfehler
entstellt, zerfällt ihrem Titel gemäß in zwei Teile. Teil I will eine
Geschichte des Begriffs dementia geben, für den die Griechen
mannigfach wechselnde Ausdrücke verwenden (Trpaorryg, Erciei/.eia,
Evyviofioovvt] , q^ilaiO^QLüTtia). Von Apophthegmen der 7 Weisen,
besonders des Pittakos, führt Verf. seine recht oberflächliche Be-
trachtung über Gorgias, Piaton, Aristoteles zu den Stoikern, als
deren jüngere Vertreter Cicero, Sen., Epiktet, M. Aurel und Musonius
Rufus aufgeführt werden; angereiht werden schließlich noch Plutarch,
Dion von Prusa, Aelius Aristides und Themistios. Dabei unterläßt
E. es auf der einen Seite, nach den Quellen der einzelnen Autoren,
die er bespricht, zu fragen, wie z. B. bei Cicero jeder Hinweis auf
Panaitios fehlt; auf der anderen Seite nimmt E. unmittelbare Ab-
hängigkeit an , wo von solcher schwerlich die Rede sein kann ; so
meint er, Themistios, in dessen Reden, besonders in Tcegl cpiXav- I
^QiOTttag, sich viele Berührungen mit Sen. finden, habe Sen.s clem.-
Bücher gekannt; viel richtiger urteilte W. Pohlschmidt, Quaestiones
Themistianae, Diss. Münster 1908, 80 ff., der die Übereinstimmungen
von Themistios nnd Sen. auf die Benutzung der gleichen hellenistischen
höfischen Philosophen zurückführte. Auch in dem II. Teile de fontibus
Sen. 11. de dem. (53 ff.) ist des Verfs Urteil teilweise voreilig. Als
erste Quelle Sen.s will er Xenophons Kvqov naideia ansehen wegen
einiger ganz vagen Anklänge, die sich aus dem Stoff ergeben und
selbstverständlich keine Xen. -Lektüre Sen.s beweisen (in meinem
Bericht über die f icca- Literatur aus den Jahren 1915-1921. I59
Buche Xen. in der gnech.-röm. Lit. == Philol. Suppl. XIII 2,
1920, 88 fehlt ein Verweis auf Elias); auch das Bild von der
Bienenkönigin (Xen. Cyrop. V 1, 24; dem. I 19) beweist nichts
(vgl. Plato Polit. VII 520 b). Ebenso voreilig ist es, wenn E. un-
mittelbare Kenntnis von Ps. -Aristoteles nregl ßaaiXeiag für Sen, an-
nimmt ; auch darüber richtig Pohlschmidt a. a. 0. Reine Vermutung
ist es auch, daß Sen. Theophrast tteqI ßaaiXsiag benutzt haben
könnte. Übereinstimmungen Sen.s mit Cic. de virtutibus, Plutarch
und Cassius Dio führt E. m. R. selbst auf Benutzung gemeinsamer
Quellen zurück. Höchstens für Isokrates' Nikoklesschriften kann
man wohl an unmittelbare Kenntnis und Benutzung seitens Sen.s
glauben: sonst aber hat Sen. gewiß jüngere, hellenistische Literatur
nEQl ßaaiXsiag gekannt und für dem. benutzt.
Daß Sen.s Bücher de benef. im wesentlichen Hekatons, des
Panaitiosschülers, Pflichtenlehre zugrunde liege (über ihn. ein recht
knapper Art. von H. v. Arnim, P.-W. VII 2797) hatte bereits
Har. N. Fowler erkannt (Panaetii et Hecatonis 11. frgta, Diss. Bonn
1885; ders., *The sources of Sen. de benef., Proceedings of the
Amer. philol. Association XVII 1886 , 24 ff.). Erneut ist das Ab-
hängigkeitsverhältnis Sen.s von Hekaton jTEqI YMd-Tq'/,ovTog geprüft
von Mart. Sonntag, L. A. Sen. de benef. libri explanantur,
Diss. Leipzig 1913. Von Buch zu Buch fortschreitend, erweist
S. Hekaton als Quelle Sen.s zunächst in den ersten vier Büchern,
die eine geschlossene Einheit bilden , dann in den drei übrigen
additameutorum volumina. Daß auch Hekaton solche additamenta ge-
boten habe, ist mindestens unerweislich. Potest Annaeus eas (con-
tinuationes) ex genuino sententiarum contextu ... in additameutorum
Volumina ab ipso constituta transtulisse (S. 38).
Endlich die Abfassungszeit beider Sen.-Werke! Über dem.
besteht kein Zweifel. Sen. schrieb diese dem Kaiser Nero ge-
widmete Erziehungsschrift bald nach Neros 18. Geburtstage (15. XII. 55),
also im Beginn des Jahres 56 (Gercke 292 ff., Sen.s Werke 52 f.).
Über die Zeit von benef. hat Sonntag auch eine unglaubhafte Hypo-
these in unklaren Sätzen aixsgesprocl>en (S. 46 f.) : daß benef. vor
Brief 81 in den Jahren 63/64 geschrieben sei, davon kann keine Rede
sein. Gercke (306 ff.) hat im allgemeinen die Zeit von 60 bis
Frühjahr 64 als die des allmählichen Entstehens der benef.-Bücher
bezeichnet; er meinte des weiteren, I — VI seien vor 62, vor dem
Bruche mit Nero , VII allein danach geschrieben. Nun hat W.
L. Friedrich durch Aufdecken versteckter Beziehungen zur Zeit-
geschichte für die Chronologie der Bücher von den Wohltaten eine
150 I^^'^l Münscher.
sichere Grundlage geschaffen: Zur Abfassungszeit von Sen.s Werk
dehenef., Berl. philo). Woch. 1914, 1406-1408, 1501—1503, 1533
bis 1536, 1629—1632. Ich habe in meinem Buche (Sen.s Werke
63 ff.) die beiden mittleren Stücke von Fr.s Darlegungen un-
berücksichtigt gelassen ; sie behaupten in der Tat allzu Zweifelhaftes.
Fr. ist der Meinung, in den Kapiteln beuef. I 9 — 10, die den Ab-
schnitt, der mit Kap. 5 beginnt, beschließen (an die Lücken, die
Hosius vor und nach § 2 in Kap. 9 annimmt, glaubt Fr. nicht),
worin Sen. heftig gegen die Sittenlosigkeit der Zeit, besonders auch
gegen schamlosen Ehebruch, deklamiert, Beziehungen auf Otho er-
kennen zu können, der seit dem Jahre 55, anfangs mit Sen.s und
Burrus Zustimmung , mit Nero im engem Verkehr stand, und dem
Rufrius Crispinus seine Gattin Poppaea Sabina entführte und heiratete
und dadurch Nero den Verkehr mit ihr erleichterte. Es ist zwar
chronologisch möglich , da die Abfassung der ersten Bücher de
benef., wie sogleich darzulegen, in der Zeit nach 58 feststeht, daß
Sen. bei seinen Äußerungen auch an Otho mit dachte, angedeutet
ist es aber in keiner Art und Weise im Text, und daß gar im
10. Kap. mit dem Undankbaren, der schlimmer sei als alle anderen
Frevler , Otho gemeint sei und bereits seine Verbannung als ein-
getreten anzunehmen sei, das ist völlig unglaublich; war es doch
Sen. selbst, der für Otho, als Nero ihm nach dem Leben trachtete,
die rettende Verbannung nach Lusitanien im J. 59 erwirkte (Plut.
Oalba 19 und 20). Aber völlig sicher ist Fr.s Feststellung (1629 ff.),
daß Sen. benef. II 7 8 die von Tiberius beliebte Art, den Fabius
Verrucosus seiner Schulden erst nach eingehender Prüfung zu ent-
ledigen, tadelt, um die im Jahre 58 mehreren Senatoren von Nero
gewährten Geldspenden (Tac. ann. XIII 34. Suet. Nero 10, 1)
nachträglich zu rechtfertigen. Am II. Buche beuef. schrieb Sen.
also nach 58, frühestens Anfang 59, wahrscheinlich nach der im
März 59 erfolgten Ermordung Agrippinas ; 59 — 61 werden demnach
-die ersten vier Bücher benef., die eine Einheit bilden und gewiß
zusammen publiziert wurden, von Sen. verfaßt sein. Er ließ noch
drei weitere folgen , obwohl nach seinem eigenen Bekenntnis der i
Stoff eigentlich erschöpft war, Einzelfragen herausgreifend und be-
handelnd. Er schrieb weiter an dem einmal gewählten Stoff in
jenen Jahren 61/62, als er die schlimme Wendung, die völlige Ab-
kehr Neros, immer näherkommen sah. Das hat Fr. (1406 ff.) treff-
lich dargelegt, und auch im VII. Buche ist nichts zu finden vom
* Geist des Umsturzes', den Gercke darin zu spüren meinte. Wie
VI 16 zweifellos eine Mahnung für Nero ist und sein soll zur
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 161
schuldigen Dankbarkeit, so erörtern die Schlußkapitel des letzten
Buches das Verhalten gegenüber dem dauernd Undankbaren —
und dabei denkt San. gewiß an niemand anders als an Nero. So
erscheinen die Bücher benef. als das Hauptwerk der Jahre 59 — 62.
Von einer polnischen Bearbeitung von benef. durch L. Gormicki
vom J. 1593 berichtet *Th. Eustachiewicz, Eos XX 19U, 30.
4. Naturales quaestiones.
A. Gercke hat nach langen Vorbereitungen (Sen. -Studien
7 flf. *die Überlieferung der nat. qu.' und Studia Annaeana, Prgr.
Univ. Greifswald 1900) 1907 in der Bibl. Teubneriana die nat, qu.
herausgegeben. Das handschriftliche Material ist bei diesem Werke
überaus zersplittert; nur junge Handschru. vom 12. Jahrh. ab liegen
vor, alle letzten Endes auf zwei Abschriften (0 u. z/ bei Gercke)
eines einzigen, schon stark verstümmelten und schwer lesbaren codex
zurückgehend, der aus dem Altertum in die Karolingerzeit hinüber-
gerettet war. Das von Gercke beschaffte und klassifizierte Material
hat zu ei'weitern gesucht Hier. Geist, De L. A. Sen. nat. qu.
codicibus, Diss- Erlangen (gedr. Bamberg) 1914. G. hat sich von
der Mehrzahl der Haudschrn. photographische "Wiedergaben verschafft
und auch von einer ganzen Anzahl von bisher unbenutzten Haudschrn.
Kenntnis bekommen, die er im I. Teil seiuer Diss. bespricht und
in die von Gercke unterschiedenen Handschrn. -Gruppen einordnet.
Dabei weicht er auch gelegentlich von G.s Urteil ab (S. 18 u. 25).
Was für einen neiien Editor von den Lesarten der neuverglichenen
Handschrn. von Nutzen sein könnte, stellt G. im IH. Teil (S. 51 ff.)
in einem Apparatus criticus zusammen. Allzu groß ist der Gewinn
für den Text nicht, wie der 11. Teil der Arbeit lehrt, adnotationes
criticae bietend (S. 32 ff.). Nach den Bemerkungen zum I. Buche,
die ich durchgesehen habe, werden zweimal moderne Konjekturen
durch handschriftl. Lesungen bestätigt; so steht I 3, 4 (ut) qiiod a
simiUimo coeplt in dissbyiillimo desmat (sonst überl. desinit) , wie
Gercke im Apparat konjiziert hatte, in einem Parisinus, und das
wird man in den Text setzen dürfen. I 13, 2 wird Larischs Kon-
jektur naiurae soUdae durch zwei junge Handschrn. bestätigt; mir
erscheint das überlieferte naturae solis (=^ von der Art der Sonne) auch
ohne Leos Zusatz similes verständlich (s. unten S. 166). Von G.s eigenen
Versuchen, den Text zu bessern, sind die meisten nicht einleuchtend
oder wenigstens nicht notwendig, so I praef. 6 sein Vorschlag, spar-
gcns statt perdcns (CD, amittens, admittens, ardens andere Handschrn.)
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 11
1(33 Karl Müuscher.
zu lesen, ebd. 12 altius crescU aus einem Basler cod. für alUur
crescit aufzunehmen, u. a. Glaublicher der Vorschlag 15, 7 nee innu-
merahües modo intervrent modo exprimereniur formae (im Spiegel,
vgl. epist. 88, 27; überl. exciperenfur , eriperentur^ erumperentur).
Recht gut aber heilt G. im letzten Kap. des I. Buches 17, 9 felix
pcmpertas (der Scipiotöchter), quae tanto tuiori (dem Senate, überl.
titulo , vgl. Helv. 12, 6) locum facit! Dadurch kann im nächsten
Satze die Überlieferung beibehalten werden non fecisset illa{m) dotem,
si habuissent. Und schließlich am Ende des § dos quam dedit e
P{ppidi) E(omani) aerario (überl. pro aio) se{natus) (letzteres Wort
bereits die Itali, vgl. Helv. 12, 6. Nep. Arist. 3, 3. Amm. XIV 6, 11).
*P. Oltramare, Le Codex Genevensis des Questions nat.
de Sen., Eev. de philol. XV 1921 , 1 ff., gibt (nach Philol. Woch.
1922, 18) eine Nachprüfung und ein Stemma.
Der Text der nat. qu. , furchtbar entstellt in den jungen
Handschrn., die ihn uns erhalten haben, schreit sozusagen nach Emen-
dation. Gerade in dieser Beziehung bedeutete Gerckes Ausgabe
einen wesentlichen Fortschritt über die frühereu. Er hatte sich der
Hilfe von Fr. Leo, Fr. Skutsch, W. Kroll und 0. Eoßbach zu er-
freuen und hat auch nicht wenige eigene Besserungsversuche im
Text und Apparat, nicht immer mit glücklicher Hand, vorgelegt.
Am Schluß der praef, (p. XLVI) bekennt G. selbst, wie viel noch
zu tun sei, und so hat es an mutigen Helfern während des folgenden
Jahrzehnts wahrlich nicht gefehlt. Ich kann nicht alle vorgeschla-
genen Besserungsversuche anführen oder kritisch würdigen, sondern
beschränke mich im allgemeinen auf das I. Buch. Schon aus diesen
Proben ist ersichtlich , daß natürlich bei jedem einzelnen der Kri-
tiker vortreff'liche Vorschläge neben minder Einleuchtendem oder
Falschem und Überflüssigem stehen ; mitunter treö'en auch mehrere
Forscher an ein und derselben Stelle mit ihren Versuchen zusammen ;
im ganzen darf man sagen , daß viel geleistet worden ist, und die
Emendation des Textes der nat. qu. unleugbar Fortschritte gemacht hat.
Einiges bot sogleich 0. Roßbach in seiner Rezension der
G.schen Ausgabe, Berl. philol. Woch. 1907, 1478 ff"., bes. 1481 ff".
Aber von der Mahnung abgesehen, daß es wohl richtiger sei, I praef.
4 tanti vor nasci statt nach non einzuschieben, sind seine Vorschläge,
wenigstens die zum I. Buche, sämtlich kaum mehr als willkürliche
Einfälle; so wenn er 2, 7 die 'ungenaue und pleonastische^ Über-
lieferung einrenken will mit lapillus in piscina[m] aul lacu\i)i\ [et]
alUgatam aquam, missus oder 2, 8 quies aeris et omnium ((5, sonst
otium et überl.) {ventorttm) tranqmllitas schreiben will, weil Sen.
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921, IG3
nielit dreimal dasselbe sage u. a. 5, 12 wird teneat, durch das
vorangehende teneas hervorgerufen , gewiß nicht richtig sein , aber
leichter als K.s retegat ist ostendat^ das ^ bietet, herzustellen, ent-
sprechend dem ostendit am Schluß des Ucächsten Satzes. Die Her-
stellung 13, 2 plane maturae soJi verstehe ich nicht (s. oben S. 161).
"Wegen ihrer Trefflichkeit und wegen des versteckten Publika-
tionsortes glaube ich alles anführen zu sollen, was ,3. Bdar] in
seinen JiOQd^ioiiy.u /.cd €Qur^v€iTr/M au Verbesserungen zu Gerckes
Ausgabe vorgeschlagen hat, mir vorliegend als avaTiTicoGig ex Trjg
s:tETt-Qldog toc sdy. naveTiioiruiov. Athen 1909, 101 — 9 (es folgen
110 — 122 Konjekturen zu R. "^Vünsch Ausg. des Lydus de mag.).
I 15 , 3 aOTQa7T67th]y.TCi statt ctGieooTthyATa^ in der Tat sind
fidgura identisch mit uOToarcai ,i;nd nicht mit aOTtQEg. II 5, 1 wÄ
neque (st. aeque) mit Leo-Kroll, dann quia scüicet non magis sine
hoc quam sine illa Universum (non) polest esse. II 50, 1 id quod ad
nos pertinet zu streichen. III 18, 1 nihil est, inquis, mullo expirante
(in") olla (überl. ilJis, illic) formosius. 18, 3 mi\lii) credam (st. me
credas), einen Vorschlag Krolls (s. unten S. 164) vorwegnehmend.
18, 4 da mihi (Druckfehler ad mihi). 19, 4 Gerckes Zusatz alii ali-
quatenus aperie fluunt falsch ; mit Kroll zu lesen nam (st. tarn) quis
ignorat. IV 2, 18 Interpunktion zu ändern: nulhim ex his animalihits
quae laicyit hruma, umquam reconditur. 2, 20 et illic (st. Ulis) altis-
siniae. 11, 5 tarnen minima invetiiuntur (st. vincuntur). 13, 5 re-
mediis incitato vitio (überl. incitat Vitium). V 17, 5 in{tra) proximiim
furunt (st, ferunf) , nötig? 18, 5 vulgo dici(it)nti(m und adeo quic-
quid ex Ulis utile et necessarium est, [non] polest his repensari. VI 1,
I I Zusatz von non nach an unnötig. 2, 8/4 sine dubio , . . crevimus
nicht Worte eines Interlocutors, sondern ironisch vom Schriftsteller
selbst gesagt. 5, 3 in omni {eliam) alio negotio oder besser alio
zu streichen (nötig?). 16, 3 in (jh)alitum (überl. aliud) alia sol-
vcrentur. 18, 4 Spiritus als Subjekt zu vindicat zu ziehen; vero
zu streichen (nötig?). 27, 2 gravis haiirientibus est streichen. 31, 2
{rixa} Gercke, unnötig. 31, 7 istud levc est. quid timemus? grave
est? potius semel incidat quam semper impcndeat mit richtiger Inter-
punktion des Überlieferten. VII 1, 3 quot dies habet annus (st. et
anmim). 11 , 3 eadem fiant ratione necesse est cometae streichen
(richtig?). 16, 3 cum äliqua{e) ex qtdnque stellis esse dcbueri{n)t
(oder aliqua zu streichen).
C. Brakraan, Ad Sen. uat. qu., Hermes XLV 1910, 37—42,
Konjekturen zu allen 7 Büchern, teils ansprechend, so I 1, 10 (ac)
(statt et) magnitudo, wie Sen. Variation der Konjunktionen liebe
11*
1(54 Karl Münsclier.
(z. B. III 16, 4 u. a.), teils schwerlich richtig, so I 16, 5 in der
auf vielerlei Weise mit Konjekturen bedachten Stelle (s. oben S. 130)
quid, eum non ])utes.
W. Kroll bessert in seinen Randbemerkungen, Ehein. Mus.
LXVI 1911, 174 ff., ein paar Stellen im III. Buch, evident praef. 4
oxms nescio an (in)superal)ile -^ wohl unnötig praef. 18 magnove (st.
magnoque); möglich 15, 3 numerus für G-erckes ortus (überl. humus)
uud 18, 3 (wo Base mi crcdam vorweggenommen hat, s. oben S. 163)
liixuriae serpentis (st. unsinnigem pereunthis).
H. W. Garrod, Notes on the nat. qu. of Sen., Class. Quarterly
VIII 1914, 272 — 281. Voran stehen allgemeine Betrachtungen
über Gerckes Ausgabe , der Ga. als guter Kritiker, aber nicht als
guter Editor erscheint, weil er seinen Apparat mit Varianten inter-
polierter Handschriften überladen und in den Text wie in die Noten
nicht notwendige, verwirrende, irritierende Konjekturen aufgenommen
habe. Des weiteren bezweifelt Ga. den selbständigen Wert der Hand-
Bchriftenklasse ^, trotzdem er selbst auf mehrere Stellen hinweist, an
denen ^plausibel Lücken füllt (wie II 12, 5 nee exilire, II 18 idiis
inaequalis, VI 32, 9 feres). Dann folgen eine Masse Konjekturen zu
den ersten beiden Büchern (die Fortsetzung im *IX. Bande der
Class. Quarterly ist mir nicht zugänglich), darunter sehr viel über-
flüssige wie I praef. 3 secedut (st. in se tendat), 9 ut vor idfra ein-
gefügt, dann exerceat imperium, Haemo Thrace se indudat, wo exeat
nicht zu ändern und mit Madvig imperium Haemo Thrax (traces
überl.) includat zu lesen sein wird. I 1, 7 Veneria (st. Martis) re-
missior u. a. wie 5, 2 sed quoi{quoi')modi , wo am einfachsten ge-
lesen wird, mit starker Interpunktion hinter videatmis: qiiodcumque
videmus et (st. sed Madvig) quomodo imago similis reddi debet e
speculo. 7, 3 si aperta fahrica (st. apta fäbricata) foret, totidem red-
deret soles, quot aperulsset (st. hahuisset) inspectui toros; das Richtige
fand Leo mit hahüsset in se toros. 11, 1 {solesne an) imagines soUs,
wo Leos imagines? soles? ausreicht (solis überl.). 17, 7 comatorii
(überl. alteri) in vicem, r. Gertz alterius. Möglich und vielleicht an-
zunehmen sind Ga.s Vorschläge 5, 9 non enim idem facit, si unde-
cumque (überl. undique) effulsit, sed (überl. et) ad Jioc opus est radi-
orum idoneus ictus. 5, 12 eo latius (st. altiiis) oportet teneas (pur-
puram). Das von Gercke 17, 7 eingeschobene parva beseitigt Ga. |
mit Recht, desgl. 7, 3 Gerckes vix-, davor ist das überl. qui richtig,
weil auf toros zu beziehen. Als Emendationen betrachte ich die
Vorschläge 1, 6 tanto leviora lumina (st. fulmina) emittunt, ent-
sprechend § 5 minora lumina excutiuntur, dagegen ist Ga.s Her-
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 165
Stellung des vorhergehenden Satzes quanto üla[sj minus pressi aercs
(überl. presseris) winoresve schwerlich annehmbar. 14, 1 sunt ctite
(= AVTt], überl. tit ei, ebenso Muller, unten S. 167), um den andern
Ausdrücken entsprechend eine griechische Bezeichnung zu haben
(Gercke putei) ; ob man ohenda, pithiae schreibt oder ^jif/tme {rcid-siag),
macht kaum etwas aus. Au zwei Stellen schlage ich, durch Ga.s
Versuche angeregt, eine neue Lösung vor : 5, 5 ist überl. unaquaeque
in se similitiidinem in se rei claiidet; Gercke streicht das erste i« se,
Ga. behält es bei und schlägt vor similitudinuni seriem; offenbar
liegt wieder (s. oben S. 127) eine an falsche Stelle geratene Kor-
rektur vor in dem in se rei, die an Stelle des ersten in se zu setzen
ist, also unaquaeque in se rei similitudinem claudet. 6, 6 will Ga.
den ganzen Schlußsatz id est — vertatur als Glosse streichen, nach-
dem er ihn durch essentiam eins nactura (st. iam eins natura) ge-
bessert hat. Ein Glossem ist der Satz gewiß nicht; ich würde in
Anlehnung au Ga. lesen : id est iam eins natura{m nactura) est,
wenn nicht Muller (s. unten) die noch einfachere Ergänzung id est
iam eins naturae est vorgeschlagen hätte.
Sorgfältig begründet K. Busche seine Kritischen Beiträge zu
Sen.s nat. qu. , Ehein. Mus. LXX 1915, 568 — 583; Zustimmung
wird auch er aber wenig finden, nach den Vorschlägen zum I. Buche
zu urteilen. Er erörtert eingehend den Gebrauch des zweigliedrigen
Asyndetons und kommt zu dem Schluß, I praef. 3 nee oh hoc minus
est Vlber et potens sei das et zwischen beiden Adjektiven notwendig,
nur die in der Überlieferung schwankende Stellung des est bleibe
zweifelhaft; mir scheint der Geneveusis Z mit minus liher est ac
potens das einzig Mögliche zu bieten. 5, 12 niteat st. teneat (s.
oben S. 163). 16, 7 ist sein schwächlicher Vorschlag alicu'ms con-
iumeliae amorem exerceo in keiner Weise einleuchtend , das kühne
marem exerceo gewiß nicht zu beanstanden, Heilung bei der Unklar-
heit des Sinnes schwer. Leos alienaque a (st. alicuius) contumelia
scheint mir den Sinn zu verfehlen; ich schlage vor aliciiius (cirv;«)
contumelia. Eecht unglücklich endlich der Versuch, 17, 9 mit Hilfe
des in 0 aus pro aio sicher falsch konjizierteü pro aninio den Text
zu heilen durch dedit pro {grato") animo senatus (s. oben S., 162).
F. Muller, Ad Sen. nat. qu. observatiunculae, Mnemos. XLV
1917, 319 — 387, gibt seineu kritischen Vorschlägen vielfach dadurch
eine besondere Begründung, daß er sie an der Klauseltechnik prüft
(s. Bourgery oben S. 114). In einigen Kegeln faßt er am Schluß
(336 f.) zusammen, was er glaubt beobachtet zu haben; besonders
interessant ist, daß Sen. die heroische Klausel (ebenso -^^ ^)
166 Karl Münscher.
sorgfältig vermeidet (doch s. unten Z. 11 u. 24), gewöhulicli auch nicht
den einfachen Ditrochäus anwendet, sondern vor diesen einen dritten
Trochäus oder einen Kretikus stellt, im allgemeinen die Wieder-
holung desselben Fußes meidet und den Wortakzent möglichst bei-
behält; interessant auch die Beobachtung, daß Sen. je nach Bedarf
in den Klauseln videre und visere (324 ff.), limpiclus und liquidus
(327) wechseln läßt. Mehrfach macht M. mit Recht auch die Güte
der sich ergebenden Klausel bei der Entscheidung zugunsten einer
Lesart geltend, so I jiraef. 3 liher est et (]. ac, s. oben S. IGh) poiens
(- ^ - - w -). 5 , 1 videmus et quomodo - ^ - - ^ - (vorher allerdings
qiiomodo videamus (- ^^ ^ - ■^). 17, 4 sucht M. in ut liomo ipse se nosset
(-0 — -~) einen Klauselschluß, hinter dem stärker zu interpungieren.
Deshalb glaubt er consequuntur im nächsten Satz halten zu dürfen (Gercke
consecuturus)] ebenda quicquid corpori desset (st. deesset der Klausel wegen
- Ky — •*). 17, 9 empfiehlt er seine Herstellung pro popido Romano
senatus wegen der guten Klausel ^-'^; eine gleich gute er-
gibt Geists mir besser erscheinende Herstellung (s. oben S. 162)
popidi Romani aerario senatus -<^'-^-^. Konjekturen aber ledig-
lich aus dem Grunde zu macheu, um eine gute Klausel zu gewinnen,
bleibt immer bedenklich ; so möchte ich M. nicht folgen, wenn er
8, 4 aspici solem -^ statt a. pilam -w-w~ konjiziert, denn
gegen pila ist an sich nichts einzuwenden, oder 17, 8 non zwar
als mit Kecht gestrichen ansieht, der Klausel zuliebe dann aber
doch statt dos fuit illa (- ^ w - ~) dos fuit nuUa - ^ schreiben
will. Mehrfach verteidigt M. die Überlieferung, so mit Recht 13, 2
naturae solis (s. oben S. 161), und durch den gleichen Genitiv stellt
er 6, 6 iam eins naturae est her (s. oben S. 165); 16, 6 in quaedam
(Gercke im Apparat in vidgando)\ 17, 2 in nulla re illa luxuriae
(Dat. causae) negotium conccssit (Gercke nach Madvig gessit). 17, 3
interpolari (auch Gercke). Nicht folgen kann ich, wenn M. 1, 10
et (Brakman ac, s. oben S. 163) glaubt konstruieren zu können;
ebensowenig glaube ich, daß 17, 7 alteri inviccm neben sihi quisque
stehen kann: auf das comcre cainUum und prominentem harham de-
pectere legten die Primitiven doch gewiß nur bei sich, nicht bei
andern Wert; also muß es schon älterius invicem (s. oben S. 164)
heißen. Ebenso ziehe ich 17, 9 Geists Herstellung (s. oben S. 162)
dem Versuche M.s vor, titiüo zu behalten und den nächsten Satz so
zu lesen : non fccisset illa {sc. paupertas) dotem si Jiahuissent. Nicht
zu billigen sind andere Vorschläge wie 2, 9 temp)crantis (für temp-
tantis). 3, 2 (schon von G. Vollgraff ebda. 366 die Überlieferung I
?( m OS aqua impJcvit verteidigt). 5 , 14 (st. ostcndant) extendant
Bericht über die Seneca-Literatur aus deu Jahren 1915—1921. 167
(dagegen spricht das uächste Glied sunt qiiae detorqueant et vertont).
Den Sinn, den M. 16, 7 mit parta alicukis contumelia erreicht, glaube
ich einfacher noch mit al. cum cont. (s. oben S. 165) zu gewinnen.
Als zweifelhaft möchte ich bezeichnen : 9, 1 Streichung von aegue.
14, 3 mogis isse qnia perit (oder pereat, beides überl,, Gercke qua
krit) Stella quam qua eat. 16 , 5 quem nonne (s. oben S, 180).
17, 3 nisi lioerius {lumine) hiimido (überl. humi) solis lunaeque
■imagines videremus. 14, 1 st. ^;i<^iae ein Neutr. pitliia zu fordern,
scheint mir unbegründet; bei Plin. nat. II 90 steht auch die Mas-
kulinform pitheus (die Garrod ändern möchte, s. oben S. 165); gr.
liegt nur die Form 7Ci&eiag vor. Aber nicht wenige Vorschläge
M.s sind sehr beachtenswert und erscheinen als Emeudationen :
14, 5 inclinatio ocius (st. eius) in alteram partem facta est, aber das
weitere et aestuat : non cessat, sed intra se pugndbit stellt M. zu ge-
waltsam her. 1, 6 quanto illa minus presserit vis minorve (überl.
prcsseris minoresve) mit guter Klausel - w — w-— . 3, 1 aenm{JT),
scd rcsidit (-w — v^--). 4, 3 talem solis (nur B^) imaginem reddit.
6, 3 nisi orhi{s) redditur. 6, d cum omnes fulgores (crescani paulatim^
et paulatim discutiantur. 13, 2 quin (st. quia) apuä nos quoque
spectda. 14, 1 cute (wie Garrod, s. oben S. 165), ebda, igneus (mit
STZ st. ingens). 17, 6 et mox huic proprio (mit J^ sonst proprie)
ministerio praeparatus est orbis (Genet.) nonduni argentei [E, sonst
argenti) nitor, sed fragilis vilisqtic materia (Nomin.).
W. L. Friedrich, Zu Seu.s nat. qu. IV praef. 7 u. 8, Berl.
philol. Woch. 1914, 1213 — 6, will in den beiden Paragraphen, in
denen Sen. seinen kynischen Freund Demetrius einem Freigelasseneu
höhnische Ratschläge zur rechten Gewinnung von Reichtümern er-
teilen läßt, Beziehungen zu const. 16, 4 sehen — welche Schrift
Fr. bekanntlich (s. oben S. 143) zu Unrecht in die Zeit des Suillivis-
prozesses verlegt — und meint, in dem libertinus den Doryphorus
erkennen zu können , der wie Pallas im J. 62 durch Gift wegen
seiner Gegnerschaft gegen Poppaeas Ehe mit Nero beseitigt wurde
(Tac. ann. XIV 65). Ein Beweis für diese Annahme fehlt völlig.
Mit Recht tritt aber Fr. wohl für die Lipsius-Konjektur Thraecis
cum Thraece in § 8 ein.
Die auch mit der Überlieferung zusammenhängende, früher viel
umstrittene Fi-age nach der ursprünglichen Buchfolge der nat. qn.
kann seit A. Rehms Aufsatze über Anlage und Buchfolge von Sen.s
mit. qu. , Philol. LXVI 1907, 374—395, als erledigt gelten
(Sen.s Werke 71 ff.). Danach hat noch *Jos. Meuer die Buch-
folge in Sen.s nat. qu. behandelt, Prgr. Rumburg 1011, nach Max.
168 Karl Münscher,
Adler, Zeitschr. f. d. österr. Gymnas. LXVII 1916, 235 eine
ganz oberflächliclie Arbeit, deren Verf. weder Gerckes Sen.-Studien
noch seine Ausg. kennt und im wesentlichen Gundermanns
1890 in Fleckeisens Jbb. vertretener Anschauung folgt. Buch VI
der nat. qu. ist durch das 1, 2 erwähnte Erdbeben vom 5. Febr. 63^
das Campanien und besonders Pompei verheerte, auf Sommer oder
Herbst 63 festgelegt. Gemäß seiner Anschauung von der ur-
sprünglichen Reihenfolge der Bücher (III IVa IVb II V VI VII I)
mußte Gercke den größten Teil der Bücher vor VI, d. h. vor
Frühling 63, entstanden denken und ihre Abfassung bis zum Herbst
62 zurückreichen lassen. Durch ßehm steht fest, daß die Bücher
in der Abfolge IVb — VII. I — IVa entstanden sind: die Mehrzahl
der Bücher der nat. qu. ist also nicht vor , sondern nach VI, also
erst nach Sommer-Herbst 63 in der allerletzten Lebenszeit Sen.s,
völlig zu gleicher Zeit mit den Luciliusbriefen und der moralis
philosophia, entstanden. Diese chronologische Schlußfolgerung, die
Rehm noch nicht gezogen hatte (s. Sen.s Werke 73 f.), macht auch
die Tatsache leicht verständlich, daß zwischen den Luciliusbriefen
und den nat. c[u. so zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen be-
stehen. Sen. arbeitete eben an beiden Werken gleichzeitig in den
Jahren 63/4. Auch Bourgerys Feststellung (170 f., s. oben S. 114)
stimmt zu diesem Zeitansatz, daß, nach den Klauseln zu schließen,
die Briefe, prov. und nat. qu. III die letzten Prosawerke Sen.s seien.
Daß Poseidonios es im wesentlichen gewesen ist, der Sen. den
Stoff zu seinen nat. qu. geliefert hat, kann heute als ausgemacht
gelten. Für das VII. Buch de cometis hat es Rud. Hartmann,
De Sen. nat. qu. 1. VII., Diss. Münster 1911 zu erweisen unter-
nommen, daß der von Sen. mehrfach genannte Poseidoniosschüler
Asklepiodotos mit seinen alriai cpvarA.al der Autor gewesen sei,
aus dem Sen. seine Kenntnisse auch über Poseidonios Anschauungen
entnommen habe. Das gleiche suchte ein zweiter Schüler W. Krolls
für das I. Buch de ignibus caelestibus zu erweisen, Joh. Hem-
sing, De Sen. nat. qu. 1. L, Diss. Münster 1913. Daß Asklepio-
dotos für Sen.s nat. qu. im ganzen das Matarial geboten habe,
bestreitet Aug. Brenn ecke, Animadversiones ad fontes nat, qu.
Sen., Diss. Greifswald 1913, in Kap. I De Asclepiodoto. Nur über
Erdbeben führe Sen. Asklepiodotos als Zeugen an, und diese An-
führungen habe Sen. wahrscheinlich seinem eigenen Werke de
motu terrarum, das er in jüngeren Jahren eben nach Asklepiodotos
ausgearbeitet hatte, entnommen, wie er wahrscheinlich nat. qu. IVa
de Nilo auf Grund seines Jugendwerkes de situ et sacris Aegyp-
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 169
tiorum rasch verfassen konnte. In Kap. II De Aristotele behandelt
B. Sen.s Stellung zu Aristoteles Meteorologie : Sen. zitiert sie zwar
öfters, kennt sie aber wahrscheinlich nur durch Poseidonios Ver-
mittlung. Die Quellenfrage von Sen. nat. qu. II de fulminibus et
tonitribus behandelt A. Schmekel, Isidorus von Sevilla, sein
System und seine Quellen (Bd. II von Sch.s Forschungen über die
positive Philosophie in ihrer gesch. Entwicklung), Berlin 1914, 245 ff.,
ohne die genannten Dissertationen zu kennen ; Asklepiodotos und
Poseidonios seien die Quellen , besonders sei , was Sen. als eigne
Ansicht entwickelt, in Wahrheit die des Poseidonios.
Endlich hat C. Reinhardt in seinem großzügigen Buche
über Poseidonios, München 1921, die Frage nach dem Verhältnis
Sen.s in den nat. qu. zu Poseidonios jüngst erörtert im Kap. über
die Meteorologie (135 ff.). Nur aus Sen. ist nach R.s Meinung eine
Vorstellung von Poseidonios meteorologischen Lehren zu gewinnen,,
da bei ihm allein größere Massen in lebendigerer Aneignung er-
halten seien. Aber nicht die eigentlich zetematischen Partien, in
denen allein der Name Asklepiodotos bei Sen. auftaucht, dessen
Schrift also eine Art Zwischenstadium zwischen Sen. und Posei-
donios darzustellen scheint, bieten den reinen Poseidonios, sondern
die anders gearteten, aus dem Rahmen der quaestiones sich lösenden^
systematischen Abschnitte. In jenen , den zetematischen, tritt eine
schulmäßig gleichartige Grundform zutage nach dem Schema : Be-
hauptung, Einwürfe, Widerlegung. Dies Formelement sei wohl aus
Asklepiodotos von Sen. übernommen. Als systematische Partie echt
poseidonischen Gepräges erscheint R., trotz mancher Kürzung und
Verwirrung bei Sen., jener einleitende Abschnitt des II. Buches,
den Sen. der Erörterung über Blitz und Donner als quaedam in
commune dicenda (2, 1) voranstellte {haec necessarimn fuit praeloqui
11, 3), als er, nachdem schon fünf Einzelbücher über Meteorologie
von ihm verfaßt und publiziert waren (IVb — VII. I), den Entschluß
faßte , das Gesamtgebiet der Physik zu bearbeiten (wie Rehm —
s. oben S. 167 — erkannt hat) : da hat Sen., Poseidonios folgend,
eine allgemeine Charakteristik und Physik desjenigen Elements,
das an den meteorologischen Erscheinungen den größten Anteil hat,
der Luft, zu geben versucht: 'Nach Gutdünken, soweit als Einleitung-
für Fragen über Blitz und Donner dienlich , ist ein Stück der all-
gemeinen Elementenlehre {voi) tcbqI otoixsicov X6yot>) für einen
beschränkten Zweck gemodelt worden' (R. 147). Poseidonios System
liegt also letzten Endes bei Sen. überhaupt zugrunde; aber in den
Quellen, die Sen. benutzte, überwog die 'zetematische, schulfiichsige
170 Karl Müiiseher.
Behandlungsart der physikalischen Probleme'. Das zeigt R. im ein-
zelnen an der Physik der Winde im V. Buche, das im wesentlichen
disponiert ist nach der Poseidonischen Einteilung der Winde nach
den Ortsschichten ihrer Entstehung in Kap. 4, das daneben aber auch
'Spuren einer sachlichen , jedoch im Negativen stecken bleibenden
Kritik' zeigt. Ähnlich liegt's in der Darstellung des Vulkanismus
(de terrae motu) im VI. Buche: neben Gedanken des Poseidonios
(besonders auch in Kap. 16/7) steht Asklepiodots von Poseidonios Zwei-
gliederuug abweichende Lehre (Kap. 22 — 24) von der Dreigliederung
der Erdbeben. Auch im I. Buche liegt nach R. Poseidonios, wenn
auch arg entstellt, in der Theorie über den Regenbogen zugrunde
(vgl. I 5, 13; von Artemidoros von Parion I 4, 3 glaubt R. nicht,
daß er iSen. durch Poseidonios vermittelt sei, sondern daß Sen. ihn
selbst zur Hand hat; S. 104, 1). Auch im III. Buche findet R.
systematische , also speziell Poseidonianische Stücke , bes. in den
Kap. 2 und 3, aber nicht in dem Schlußgemälde von der zukünf-
tigen, die Menschheit austilgenden großen Flut. Das Gesamtergebnis
der Reinhardtschen Untersuchungen darf man für die Quellenfrage
der nat. qu. so formulieren : in den systematischen Abschnitten folgt
Sen, Poseidonios unmittelbar, ihn kürzend und seinen Zwecken
entsprechend abändernd, aber auch in den zetematischen Abschnitten,
den eigentlichen quaestiones, liegt durchgängig Poseidonisches Tat-
sachen- und Gedankenmaterial zugrunde , aber vermittelt durch
einen Mittelsmann: dieser war wahrscheinlich Asklepiodotos , den
R. (162) unwillig charakterisiert als *^einen ziemlich elenden Skri-
benten, wahrscheinlich Schöngeist, Modephilosoph und ein Gewimmele
tauber Einfälle !' — Endlich ist noch zu erwähnen , daß bei R.
in den Anmerkungen auch ein paar Bemerkungen zum Sen. -Text
abfallen: II 2, 3 Zusatz aut compactione überflüssig (141, 2). V 5, 1
deinde solri {solis) hnpdu (152, 1). VI 14, 2 größere Lücke nach
jglacct esse terram (160, 1). III 2, 2 das überl. lucidae richtig
(167, 1). S. Nachträge.
Wie stark Sen.s Werke, besonders auch seine nat. qu,, im Mittel-
alter gewirkt haben, ist bekannt genug (s. oben S. 120). Einen inter-
essanten neuen Beweis für diese Tatsache liefert Hier. Geist, Sen.
nat. qu. und Roger Bacos Opus malus, Blatt, f. d. bayer. Gymn.-Wes.
LH 1916, 178—184. G. hat nicht weniger als 27 Zitate bei Baco
aus den nat. qu. gezählt , darunter allerdings einige gedächtnis-
mäßig ungenaue, andere mit kleineren oder größeren absichtlichen,
zweckdienlichen Abänderungen : im ganzen zitiert aber Baco die nat.
qu. nach einer Handschr. (einmal verbunden mit benef. VII 1, 5),
Bericlit über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 171
oft mit genauer Bucbangabe, so daß man erkennt, sie gehörte zur
Klasse 0 und bot wie diese die Bücher in der ursprünglicheu
Reihenfolge IV b — VII. I — IV a. Möglich, daß sie IV a, daä letzte
Buch de Nilo, noch vollständig oder vollständiger als unsere Hand-
schriften enthielt. Keine unserer Handschriften ist älter als s. XII;
Baco schreibt im 13. Jahrb., seine Handschrift kann sehr viel älter
gewesen sein ; jedenfalls sind seine Lesarten im Sen.-Text durchaus
der Beachtung wert. K. führt die Varianten auf und glaubt an
einigen Stellen nach Baco unsern Text bessern zu müssen. IV a
2, 5 scheint mir aber Bacos convenientiora für quietiora (in einigen
Handschrn. equietiora) doch nicht ganz sicher. VI 8, 3'4 wird Mad-
vigs Konjektur tandem (st. quklem) bestätigt, das man in den
Text aufnehmen wird. VII 30, 1 ist Bacos de divinis dem liand-
schriftl. de das vorzuziehen ; aber sein Text si in oratione argumento
modestiae fungimur (die letzten drei Worte ebenso in d) scheint
mir eine christliche Interpolation zu enthalten mit in oratione. Was
aber Gercke im Texte bietet, mit der Mehrzahl der Handschriften :
si in onine argumentum modestiae fingimur verstehe ich offengestanden
nicht recht, und der Begriff des Sichversteilens, der in dem fmglmur
steckt, scheint mir wenig passend; fungimur, das Baco und ÖT
bieten, wird also richtig sein, dazu ist aber modestia[e] erforderlich,
in . . . argumento bietet Baco und ebenso (5, dessen in omni argumento
wohl anzunehmen sein wird, im ganzen also : si in omni argumento
modestia fungimur.
5. Ad Lucil ium ep istulae m oral es.
Der ersten Ausgabe der Luciliusbriefe durch 0. H e n s e in
der Bibl. Teubneriana im Jahre 1899 blieb trotz großer Fortschritte
gegenüber Fickert und Haase doch der Vorwurf nicht erspart, daß
sie nicht auf genügend breiter handschriftlicher Grundlage ruhe
(0. Roßbach, Berl. philol. Woch. 1899, 614—626, 647—652).
Die zweite Ausgabe, 1914 erschienen, hat in mancher Beziehung
dem früheren Mangel abgeholfen*, z. B. ist der Parisinus 8539 jetzt
vollständig verglichen ; auch ist Henses Urteil über die jüngeren
Handschrn. nicht mehr so ablehnend wie früher (praef. p. XXVI;
vgl. Roßbach, Berl. philol. Woch. 1914, 490—8), aber ein Un-
stern schwebte auch über dieser zweiten Ausgabe : H. muß im Ein-
gang seiner praef. bekennen, daß er die Entdeckung des Italieners
Achilles Beltrami noch nicht verwenden konnte, daß nämlich
der in der Bibl. Quiriniana in Brcscia liegende codex B II 6 nicht
eine Handschr. des 14. Jahrh. ist, sondern dem 9. — 10. Jahrh. ent-
172 Karl Münscher.
stammt und für die Textlierstellung von großer, umgestaltender Be-
deutung ist. Zu Beltramis Veröffentlichungen (Un nuovo codice
delle epistole morali di Seu., Rivist. di filol. XLI 1913, 549-578.
XLII 1914, 1—32, dazu C. Cipolla, ebd. 93—95 u. Beltrami
455 f.) nahm Hense selbst Stellung: Eine Sen.-Handschr. der
Quiriniana in Brescia, Berl. philol. Woch. 1914, 125 — 7, 604 — 8,
Ü35 — 9, und stellte in der praef. seiner Ausgabe p. VI, falls nötige
ein Supplementum in Aussicht. Nachdem nun inzwischen eine Aus-
gabe der *Epistularum 11. I — XIII ad codicem praecipue Quirinia-
num von Beltrami selbst, Brescia 1916, erschienen und nach
Kriegsende auch Hense bekannt geworden ist, hat dieser nunmehr
sein Versprechen eingelöst und sein Supplementum Quirinianum
1921 im Umfange von 12 Seiten erscheinen lassen — in der Tat
ein kümmerlicher Notbehelf, mit dem wir Deutschen uns vielleicht
noch auf Jahre hinaus werden begnügen müssen ; wann wird eine
neue Textrezension der Briefe für uns möglich sein? Mag Henses
Hoffnung, die er am Schluß seines Praemonitum ausspricht, nicht
zuschanden werden : sed vita si suppetet, alias spero mihi dabitur occasio
etiam de eis, (juae in praesentia reposui magis quam exposui, dispu-
tandi paulo uberius. Auch zu den ihm bekannt gewordenen Emen-
dationsversuchen nimmt H. im Supplementum Stellung; es sind,
soweit ich sehe, die folgenden: Roßbachs Rezension, in der
493 ff. einzelne Stellen besprochen sind. *Einar Löfstedt,
Eranos XIV 1915, 142—164, Stellen der Briefe mit Berücksichti-
gung der Klauseltechnik behandelnd. K.Busche, Zu Sen.s Briefen
an Lucilius, Sokrates VII 1919, 42 ff. Natürlich gehen die Urteile
über den Wert der Q-Lesarten im einzelnen noch auseinander;
vgl. die Anzeige des Suppl. von K. Busche, Philol. Woch. 1922,
651 — 5, der noch ein paar Bemerkungen zu einzelnen Stellen
beifügt.
Unbekannt ist mir (wie wohl auch Hense) die neue amerikanische
Ausgabe * Sen. ad Lucil. epist. mor. with an English Translation
by Rieh. Mott Gummere I u. II, New York 1917 u. 1920;
Rezensionen von * W. P. Mustard, Amer. Journal of Philol.
XXXVIII 1917, 446 und *R. M. Jones, Class. Philology XIII
1918, 416—8.
*D. Bassi, Sen. a Lucilio, studi e saggi. Florenz 1912 (160 S.).
*R. M. Gummere, The moderne note in Sen. letters, Class.
Philology X 1915.
*Seneca, Brieven aan Lucilius. Eene bloemlezing van inlei-
diug en aanteekeningeu voorzien, door H. Wagenvoort, von
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jaliren 1915 — 1921. 173
*P. Faider, Mus. Beige 18, 9, 183 f., als gutes Hilfsmittel an-
erkannt.
An kritischen Beiträgen, die ich weder in Henses Ausgabe noch
in seinem Supplementum berücksichtigt finde, nenne ich folgendes:
J. van Wageningen, Varia, Mnemos. XXXIX 1911, 137—9,
beachtensAverte Vorschläge : 2, d in quo (niulta) medicamenta temptan-
tur (schon Forbiger übersetzte in Langenscheidts Bibliothek: 'ander
(viele) Heilmittel versucht werden'). 4, 3 qtiia ultimum (st. multum)
metus adferunt. 15, 4 quodlibd ex his cliije (soweit zweifellos r.) :
%i.sus {usum überl.) reddet (überl. rudern oder rüde) facile. In § 7
Umstellung des Satzes nee tu intentionem — deprimere hinter pro-
duxeris, zur besseren Ordnung der Gedanken (notwendig?).
T. G. T ucker, Notes and suggestions on Latin Authors,
Class. Quarterly VII 1913, 55—7. Hält 15, 9 ei unutn für korrupt
und das folgende Graecum für Schreibernotiz, dgl. das idem quid
(Is. quod) supra\ das betr. gr. Wort soll snojviov sein, das für et
unum einzusetzen wäre; ich halte den überl. Text für richtig mit
der von Hense (suppl.) vorgeschlagenen Streichung des Kommas vor
eece. Dagegen sehr ansprechend T.s Vorschlag 21, 10 portulis (st.
hortulis). Möglich : 80 , 1 licehit uno (fono) (Summers adu) vadere
(Henses tuto st. uno jedenfalls nicht richtig). 107, l' iam pusiUa
te angit (c, überl. tangit) (^res) (ausgelassen vor folgendem servi-^
besser als Henses Herstellung i. p. {te res) tangit?). 107, 3 sclat se
venisse, ubi tovat, (fulgurat, cadit) fulmen (nötig?). 107, 10 nee desbnus
huic (überl. Intnc) operis pulclierrimi cursii (Dat; überl. cursum, des-
halb Hense mit g deseramus). Schwerlich anzunehmen 40, 10 die,
numquid manducas? Löfstedt will (nach Hense) dafür lesen die,
nnmquidnam dicas-^ überliefert ist numquam^ also am einfachsten die!
numquam dices (st. dicas)?, wie Muller (s. unten S. 175) schreiben will.
W. G e m 0 1 1 , Rez. der Henseschen Ausg. , Woch. f. klass.
Philol. 1914, 713 — 5, verbessert ein paar Druckfehler, beanstandet
üngleichmäßigkeit der Orthographie (z. B. 104, 21 sacvos neben
avarus, fraudulentus), wünscht mehrfach andere Interpunktion (z.
B. 95 , 53 vor in commune nati sitmus zu interpungieren , davor
mit Koch (i7o) liabeamus) , lehnt einige Konjekturen Henses ab (so
mit Eecht 3, 1 itaque si st. sie), tritt für Konjekturen anderer Ge-
lehrter ein (teilweise zu Unrecht, wie 22, 11 für Schweighäusers
tuta st. tua, 27, 1 für Volkmanns adco st. idco) oder für Lesarten
der deteriores (z. B. 8, 7 comptlamus c für kaum verständliches
complicamiis) oder auch der vetustiores (wie 73, 8 ea [V P, et g]
tarn omnium tota quam singulorwn sunt). Wenig glaublich ist G.s
l 74 Karl Münseher.
Annahme von Glossemen 81, 14 quod praestabaf, 90, 8 ante iec-
tores. Sen.s Sprachgebrauch entsprechend schreibt G. 39, 5 qm(s)
liostis (vgl. 14, 8 quis aestus. 40, 5. 92, 2. 94, 44). Auch sein
Vorschlag 97, 9 qiii damndbatur uno (st. uni) adulterio, ahsohttKS est
multis scheint berechtigt, da der Dativ unerklärbar. Endlich weist
G. noch unter den testimonia bei Hense fehlende Horazstellen und
bei Otto fehlende sprichwörtliche Redensarten nach.
Ders. zu Sen.s epist. mor. , Hermes XLIX 1914, 621 — 3,
mehrere beachtliche Vorschläge : 23, 3 si modus (überl. modo) intra
te ipsum sit. 92, 7 excedat ex hoc animalium numero pulcherrimo, a
(fit. ac) dis secundo {= nahestehend). 93, 6 quam diu ero, (vere) ui
sim. 98, 10 aequo animo perde, {quo) pereundum est. Vielleicht un-
nötig 94, 23 Sti-eichung des aut vor pauperem. Falsch ist der Ver-
such 103, 4 non tc noceant, sed ne fallant, das te durch scilicet zu
ersetzen, da nocere c. accus, vulgär und erst seit Hadrians Zeit be-
legt ist. W. A. Baehreus, ßerl. philol. Woch. 1918, 503 f., hat
gezeigt, daß te zu halten ist, aber nicht als abhängig von noceant,
sondern von dem zwar zweiten, aber positiven Gliede sed ne fallant.
Ähnlich wird 91, 6 quidquid longa series multis laborihus, midta de-
um indiügentia struxit, id imiis dies spargit ac dissipat, nicht mit G.
ein annorum neben series zu stellen , sondern ein dierimi aus dem
nachfolgenden unus dies herauszuhören sein.
H. Wagenvoort, Quaestiunculae Annaeanae , Mnemos.
XLIV 1916, 149—162. XLVI 1918, 216—224. 7, 5 stellt W.,
ohne die von Hense vorgenommene Umstellung, gut her sed latro-
cinium fecit aliquis. quid ergo? oecidet (nur L^, sonst occidit) homi-
nem quia occidit? ille meruit, ut hoc piaterelnr. Beachtenswert auch
die Vorschläge zur Heilung bisher als unheilbar betrachteter Stellen:
20, 11 nee ego , Epicure, (sc. scio), an gloriosus (überl. angulus si)
iste pauper contempturus sit divitias. 22, 17 inanes omnium bonorum
(in) summa (überl. sumus) vitae laboramus. 26, 3 ist auch W.s
Heilungsversuch der verzweifelten Stelle zu gewaltsam, als daß er
glaublich erschiene. Unnötig erscheint mir 12, 5 in extremo arti-
culo St. in exfrema tegula. Dgl. 33, 7 {tibi) impera et die. In brei-
terer Darlegung erörtert W. den Gebrauch von non tantum . . . sed
bei Sen., und für jede der dreifachen Gebrauchsweisen (adversativ,
korrigierend, kopulativ) gewinnt er noch ein Beispiel durch Emen-
dation: adversativ 124, 1 non est elegantiae tuae tantum (Pincianus,
sonst überl. tarn) magna sectari, sed utilia (st. sicuti)\ korrigierend
123, 5 si non tantum aequus {g, sonst fum aecus) molestias, sed placi-
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jabren 1915 — 1921. 175
dus aspexit; kopulativ 121, 24 nee tantuni (überl. twn) per se pro-
futurum erat, sed sine lioc mala res profuisset.
In der zweiten kleinen Abhandlung '■xpöyog yt]QCog ap. Sen.'
macht W. auf die engen Berührungen aufmerksam , die zwischen
Sen.s zwei Briefen über das Greisenalter (12 u. 26) und Ciceros
Cato maior sowie den Resten des Dialoges des Juncus nsQi yt^QCog
bestehen; die nahe Verwandtschaft der beiden letzten Autoren, auf
Benutzung entweder derselben oder nahe verwandter Vorlagen be-
ruhend, hat Fr. Wilhelm klargelegt in seinem Prgr. Wilhelms-
gymn. Breslau 1911 (vgl. Rez. Th. Bö gel, Dtsch. Lit.-Ztg. 1913,
2010—2). Mit Recht betont W., daß beide Sen.-Briefe offenbar
bald hintereinander geschrieben sind (26 weist mit seinem ersten
Worte modo auf 12 unmittelbar zurück). Aber nach Sen.s Angaben
(epist. 12 im Herbst, 18 im Dezember, 23 im Frühling geschrieben)
müßten beide etwa ein halbes Jahr auseiuanderliegen. W. schließt
daraus, daß Sen. zur Edition eine Umordnung der Briefe vor-
genommen habe — jedenfalls ein Beweis, daß man aus den zeit-
lichen Angaben Sen.s keine festen Schlüsse ziehen kann. In einem
letzten Abschnitte handelt W. De interpolationibus quibusdam. Nach
einigen Bemerkungen gegen die wenig günstige Beurteilung Sen.s
als Philosoph durch Howald (s. oben S. 116) verteidigt er 77, 2
die Überlieferung sipanim Alcxandrinarum inshjne indicmm est, wo
insigne Adjektiv im Sinne von peculiare sei (Hense streicht nach
Murets Vorgange indicium). Dagegen will W. die Schlußsätze der
Briefe 46, 3 nisi qnod — causa und 120, 22 de aliqiio — mutatio est
als Zusätze , die die pointierten Schlußmahnungen abschwächen,
streichen ; zwingend erscheinen mir die sachlichen Bedenken , die
diese Interpolationen erweisen sollen, nicht, und sprachliche Anstöße
treten doch wohl nicht dazu.
Im selben Mnemos.-Bd. XLVI 1918, 53—72, veröffentlicht F.
Muller Bemerkungen Ad Sen. epistulas, und zwar zu den Briefen
40 — 70 ; vielfach berücksichtigt er dabei wieder, wie bei seiner Be-
sprechung von Stellen der uat. qu., den Klausel-Rhythmus •, aber er
hat , wie mir scheint , in den Briefen keine glückliche Hand So-
wohl unter den mit dem Rhythmus begründeten Änderungen Avie
unter den anderen finden sich recht viel willkürliche und ganz un-
nötige. So ist von den Vorschlägen zu Br. 40 nur der eine plau-
sibel (s. oben S. 173) § 10 die! numqnani diccs, besser als Madvigs
num iam dicas. In § 2 ist kein Grund ve{he)mentiori an Stelle von
iuveniori oder iuveni zu setzen ; Odysseus ist der orator, Nestor der
senex und überhaupt kein Zusatz zu oratori notwendig (so richtig
176 Ksly) Münscher,
O. H. Müller, s. unten S. 177, p. 20/3). In § 8 sind Mullers
zwei Änderungen an der Überlieferung efßctus (überl. tff'cdus) Im-
petus stä (mit Buecheler halte ich keine Änderung für nötig — so
auch Müller p. 31 — ; Hense nimmt Murets Konjektur affedus im-
potens sui auf) und ingruat (st. ingerat) reine AVillkür, ebenso in
9 si non comnxeris istis (st. videris istos; vgl. Müller p. 31). Gegen
M.s ita maligne (st. tarn longe) 46, 3 hat bereits Wagenvo ort (s.
oben S. 174) p. 223, 1 Einspruch erhoben. Und z. B. auch die
Vorschläge zu Br. 48, in denen M. jedesmal die Klausel mit ent-
scheiden lassen will , sind abzulehnen ; z. B. schreibt er § 9 quam
facies simplices posuerit, wo die Vulgata mit faciles leges posuerit
doch auch eine genügende Klausel -v^::^-^ liefert (M. mißt '=^^^^'^).
J. B erläge. Ad Sen. epist. 27 ebd. 327/8 macht den recht ein-
leuchtenden Vorschlag, § 5 nicht noverat mit Gronov zu streichen,
sondern novimus am Schluß und davor den Nominativ herzustellen,
also quos tarn hene noverat quam paedagogi nostri (st. Akkus.) [no-
f'imus].
W. B. Anderson, Notes on Seu.s Lettres, Class. Quartei-ly XI
1917, 102 f., nach Berl. philol. Woch. 1918, 1190, folgende Vor-
schlcäge: 12, 7 dixit enim {umis} (GemoU schon a?ms) . . ., alius ait.
107, 10 nee desimus Imic . . . cursui (wie Tucker, s. oben S. 173,
der aber den Dat. cursu annimmt). 12^, 1 ofßciosior meliorque, si
quis illum (se. diem) {non) exspectat et (ante') luccm primam exsilit
(übei-l. exult).
R. L. Dunbab in, Notes on Sen. epist. mor. ebd. 179 if., auf-
geführt Berl. philol. Woch. 1919, 111. 15, 9 Tuckers Vorschlag (s.
oben S. 173) abändernd et xenium ad haec beneficia accedet. 29, 2
spargenda manu semina (überl. manus est). 33, 9 actarü (st. actuarii,
Verleser der acta) vice fungitur^ dasselbe Wort Petr. 53, 1 u. Suet.
Jul. 55, 1 herzustellen. 40, 1 absentiae zu streichen (schon GemoU-
Hense), 2 ima nach eßundit streichen (richtig g una), 9 größere
Lücke nach P. Yinicium , endend mit {lo)qui. itaque cum quaerere-
tnr, aber dicere nach dem Eigennamen kann nicht gestrichen werden,
nur der Nominativ P. Yinicius (Madvig - Lipsius) ist also erforder-
lich. 10 die. nmnquam dictas? (richtiger dices, s. oben S. 173).
42, 4 da passe, quantum volunt, vor eadem veJIe [si subaudis] cogno-
sces gestellt (zu gewaltsam). 47, 10 Variana clade (st. Mariana, mit
Lipsius). 76, 5 p^opera [tibi] nee tibi accidat quod mihi (Hense tibi
me et ipsi accidat, das Richtige g ne tibi ohne tibi vor ne) •, ebd. gut :
■quoniam id (Buecheler-Hense diu) [no7i] adgressxs es, quod perdiscere
9>ix senex ptossis. 78, 21 si nihil te cocgcrit, si nihil exoraveris (st.
I
Bericht über die 8eaeca-Litera.tur aus den Jahren 1915 — 1921. I77
exoraverit, unnötig). 80, 1 licehit uno (tenore) {tono Tucker, oben
S. 173) vaderei 82, 24 pilis (Erasmus pilo) st. Pythio. 86, 10 quam
iuvuret (st. kivat) illa balinea Inf rare . . . quae scires (nötig?) 87, 9
ad cultrum (sc. venatorium der Arena). 88, 9 fac potius (discam) oder
{doceas) (nnnötig).
Job. Stroux, Handschriftliche Studien zu Cic. de orat.,
Leipzig 1921 , beanstandet S. 156, 2 die von Hense epist. 95, 12
aufgenommene Erg<änzung in rem pracsentem und schlägt dafür etwa
aliqitam vor, aber was zu ergänzen, bleibt unsicher.
Erklärung und Auffassung der Luciliusbriefe suchen zu fördern :
G. H. Müller, Aniraadversiones ad L. A. Sen. epistulas quae sunt
de oratione spectantes, Diss. Leipzig (gedr. Weida) 1910. Verf.
gibt eine Erläuterung der Literaturbriefe Sen.s in drei Kapiteln :
I. De pronuntiatione , zugleich die Gesten umfassend, H. De pliilo-
sophi oratione , HL De oratione con-upta eiusque causis quid Sen.
censuerit. Manchmal etwas weitschweifig, in nicht immer geschicktem
Latein — auch recht viele Druckfehler entstellen die Arbeit (vgl.
Kez. C. Hosius, Berl. philol. Woch. 1912, 626 f.) — unter An-
führung zahlreicher Parallelen aus griech. und lat. rhetorischer Lite-
ratur kommentiert M. die einschlägigen Briefe und Briefabschnitte,
in L besonders Br. 40, in IL Br. 100 und 115, 1—2. 18. 75, 1—7.
59, 4 — 7, in HL Br. 114. Verständigerweise geht M. vom
grammatisch-sprachlichen Verständnis aus und behandelt auch , so-
weit nötig, textkritische Fragen; einige seiner Bemerkungen zum
40. Briefe wurden schon oben erwähnt. § 3 schlägt er noch vor
habeas (st. habe vi) istam vim dicendi. Die von Sen. erwähnten Per-
sönlichkeiten, wie im 40. Br. besonders Serapion, im 100. Papirius
Fabianus, Maecenas und Arruntius im 114. werden ausreichend be-
handelt, auch die Stellung Sen.s zu Cicero und anderen der älteren
römischen Schriftsteller wie Pollio und Livius wird beleuchtet, vom
Einfluß des Vaters Sen. auf den Sohn gehandelt; M. schlägt ihn
nicht allzu hoch an , höher den seines Lehrers Fabianus. Die
Quellen für Sen.s rhetorische Anschauungen sucht M. im allgemeinen
bei der Stoa und bei Epikur. Gelegentlich (S. 56 fg.) wird auch
von den Klauseln und ihrer Beliebtheit bei Sen. gesprochen. In
einer Conclusio (S. 126 ff.) faßt Verf. seine Ergebnisse zusammen.
Die Sorgfalt Sen.s in der Verwendung rhetorischer Termini hebt
er darin noch besonders hervor, auch daß Sen. im Urteil über die
corrupta eloquentia sich einerseits mit Quintilian nahe berührt und
andererseits in seiner eigenen Stil-Kichtung so stark von ihm abweicht,
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 12
178 Karl Münscher.
mit der ei", als Gegner der sopListae philosophantes, eine mittlere,
von jedem Extrem abgewandte Linie innehält.
Zu der Frage, welches das Verhältnis des 114. Sen. -Briefes
mit seiner gehässigen Beurteilung des Maecenas zu den Maecenas
verteidigenden und rühmenden Maecenaselegien sei , nimmt M.
(S. 110) keine klare Stellung. Jul. Middendorf, Elegiae in
Maecenatem commentario grammatico iustructae adiuncta quaestione
chronologica, Diss. Marburg 1912, 14 ff., hat nach andern die An-
sicht zu begründen versucht, Sen.s Brief sei für den Dichter die
acpoQf.iij zur Abfassung seiner Verse gewesen. Daß das sehr wenig
wahrscheinlich, habe ich (Sen.s Werke 56 Anm. 3) dargelegt; schon
deshalb ist das Verhältnis wohl sicher das umgekehrte, weil der
Dichterling Maecenas nur wegen seiner saloppen Kleidung in Schutz
nimmtj aber alle andern Vorwürfe Sen.s gegen Maecenas gesamten
Charakter in den Elegien nicht berührt Averden.
A. Bourgery, Les lettres k Lucilius sont-elles de vi"aies
lettres? Rev. de philol. XXXV 1911, 40 — 55, kommt in seiner
Nachprüfung der Literatur über die moralischen Briefe (zuletzt 0.
Binder, Die Abfassungszeit von Sen.s Briefen, Diss. Tübingen
1905) zu dem Resultat, daß die Briefsammlung presque totalem ent,
totalement peut-etre artificiel sei, daß Lucilius, der jüngere Freund^
von Rom abwesend , Sen. besonders geeignet schien als Adressat
fast aller seiner Schriften in den letzten Lebensjahren, der als mo-
deste fonctionnaire imperial et obscur Chevalier romain mit der be-
scheidenen Rolle, die ihm Sen. in seinen Werken zuwies, recht zu-
frieden sein konnte, die ihm ja doch die Unsterblichkeit eintrug,
aber le vrai correspondent de S6n. c'est lui-meme. Was die Pu-
blikation der Briefe anbelangt, so betont B. mit Recht, daß man
nur das eine mit Sicherheit sagen könne , daß Br. 1 — 88 vor
den übrigen veröffentlicht seien; als eine einheitliche Gruppe heben
sich davon 1 — 29 ab mit ihrer Epikurbegeisterung und ihren gleich-
mäßigen Schlüssen mit einem besonders wohlgeprägten philosophischen
Satze als portorium oder ultima pensio am Briefende", sie denkt sich
B. im Zeitraum weniger Tage, etwa Dezember 62 oder 63 verfaßt,
wenig später die zweite Gruppe (30 — 48) von sorgfältig eingehal-
tenem, mäßigem Umfange, dann die Briefe (von 48 ab) von der
Campanischen Reise , darunter schon einige umfänglichere, endlich
die letzte erhaltene Gruppe 88 — 124, in Rom und seiner Umgebung
geschrieben, kürzere Briefe unter wirkliche umfänglichere Abhand-
lungen mischend. Bis zu seinem Tode hat Sen. vom J. 63 , viel-
leicht schon von 62 ab, an den Briefen geschrieben ; Gellius zitiert
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 179
bekanntlich (XII 2 , 3 ff.) ein uns nicht erhaltenes XXII. Buch ;
einen Editor der hinterlasseuen unpublizierten Teile müssen wir
also annehmen (Sen.s Werke 76 f.).
H. Mutschmaun , Sen. u. Epikur, Hermes L 1915, 321 — 356,
beweist im Gegensatz zu Usener (Epicurea p. LV sqq.), daß Sen.
nicht nur eine Epitome der Epikurbriefe in Händen hatte, sondern
'die Briefe Epikurs und seiner großen Schüler wirklich in extenso
gelesen hat.' Wenn freilich M. in Lucilius mehr sehen will als
eine Personifikation des Lesers und gla\ibt, daß Sen. dem Freunde
tatsächlich Epikurbriefe übersandt habe , so kann ich ihm dariu,
wie Kroll, Lat. Philol. 67 f., nicht folgen. S. Nachträge.
Über den epist. 87, 38 u. 40. 92, 5 genannten Antipatros von
Tarsos vgl. 0. Hense, Rhein. Mus. LXXIII 1920, 290—305.
b) Nicht erhaltene Werke.
Ich habe in meinem Buche über Sen.s Werke den Versuch ge-
macht, auch die nicht erhaltenen Werke chronologisch einzuordnen.
Natürlich ist Festlegung auf bestimmte Jahre unmöglich, nur Ein-
fügung in einen zeitlich umschriebenen Lebensabschnitt bestenfalls
erreichbar, und daß dabei vieles zweifelhaft bleibt, dessen bin ich
mir durchaus bewußt. Die Fragmente sind noch zu benutzen in der
Ausg. Fr. Haas es III, urspr. 1852, 418 ff. Die Firma Teubner
hat diese Fragmentsammlung nebst den augehängten Excerpta et
supposita mit dem ludus de morte Claudii sowie den epigrammata
super exilio aus Haases Bd. I vereint und im J. 1902 als beson-
deres Supplementum erscheinen lassen — ein sehr kümmerlicher
Notbehelf.
Es ist eine immerhin wahrscheinliche Vermutung, daß Seu.
nicht lange nach seiner Rückkehr aus Ägypten (im J. 31/2), also
Avohl noch zu Tiberius Lebzeiten seine Schrift de situ et sacris
Aegyptiorum als 'Ausbeute des ägyptischen Aufenthaltes' ver-
faßt hat und vielleicht die verwandte de situ Indiae bald hat
folgen lassen (so auch Gummere, s. oben S. 118). Er wird, als er
am Ende seines Lebens sein letztes Buch nat. qu. IV a De Nilo
schrieb, jene Jugendschrift über Ägypten selbst wieder benutzt
haben. Freilich hat Sen., wie ich (Sen.s Werke 4 f.) hervorgehoben
habe, sein Interesse für Ägypten in seinem ganzen Leben sich be-
wahrt — in meinen Nachweisungen über Sen.s Grundbesitz in
Ägypten fehlt ein Hinweis auf A. Stein, Untersuchungen zur
Geschichte und Verwaltung Ägyptens unter römischer Herrschaft,
Stuttgart 1915, 110, wo auch Papyrusstellen über die oiola ^SfSmav/j
12*
180 Karl Münscher.
angeflilirt sind — , ""trotzalledem wird mau aber doch geneigt sein,
die beiden ethnographischen Monographien, besonders die über
Ägypten, unter dem frischen Eindruck eigner Kenntnis und Beob-
achtung im Osten, also in den nächsten Jahren nach dem Ver-
lassen Ägyptens, bald nach 32, verftißt zu denken.'
De vita jjatris wird in den letzten Jahren des vierten Jahr-
zehnts gefolgt sein; der alte Sen. starb nach Tiberius Tode und
erlebte andrerseits nicht mehr des Sohnes Verbannung (Sen.s
Werke 5). Derselben Zeit etwa muß de matr im onio entstammen,
Sen.s erster Gattin gewidmet, vor const. (aus den ersten Zeiten der
Verbannung) verfaßt (Sen.s Werke 5 f.). Nachdem bereits Walth.
Großgerge, De Sen. et Theophrasti libris de matrimonio, Diss.
Königsberg 1911 , sich mit dem Verhältnis des Hieronymus adv.
Jovinianum I zu Sen.s Schrift über die Ehe und deren Verhältnis
zu Theophrasts aureolus liber de nuptiis, wie Sen, es nannte, befaßt
hatte, hat E. Bickel, in dem wir den zukünftigen Bearbeiter der
Sen. -Fragmente sehen dürfen, diese Fragen erneut in seinem eben-
so gelehrten wie scharfsinnigen Buche: Diatribe in Sen. philop.
fragmenta, vol. I Fgta de matrimonio, Leipzig 1915, behandelt.
Eine Capitum tabula (p. VIII — XII) und reiche Indices am
Schluß (421 ff.) erleichtern das Ausschöpfen des wertvollen, in ele-
gantem , wenn auch nicht ganz klassischem Latein geschriebenen
Werkes (vgl. Rez. A. Philip pson, Berl. philol. Woch. 1916,
590—3. W. Kroll, Lat. Philol. 68). Den Ausgangspunkt für
B.s Untersuchung bilden die Hieronymuskapitel adv. Jovin. I 41 — 49.
II 5 — 14, die anhangsweise (S. 373 ff.) zur Bequemlichkeit des
Benutzers in sorgfältiger recensio vorgelegt werden. Als Haupt-
quellen für Hieronymus Darlegungen über die Keuschheit der Frauen
glaubt B. Plutarchs ya^iiv-o. TtaQayyeXuara , eine zu erschließende
Schrift des Porphyrios, etwa des Titels negl ayveiag, Tertullians
verlorene Schrift ad amicum philosophum und Sen. de matrimonio
feststellen zu können. Völlig gesichert sind diese Ergebnisse aller-
dings nicht. Schon Philippson betonte, daß Hieronymus auch eine
Beispielsammlung benutzt haben könnte, so daß die Verteilung der
einzelnen Stellen auf die verschiedenen Quellen , wie B. sie wahr-
scheinlich zu machen sucht, doch unsicher bleibt. Zu einer ein-
facheren Lösung des Quellenproblems bei Hier. adv. Jovin. kommt
Jac. van Wageningen, Sen. et Juvenalis, Mnemos. XLV 1917,
417 — 429; aus Übereinstimmungen zwischen Hieronymus und Ju-
veuals VI. Frauensatire glaubt er auf ein und denselben Quellautor
schließen zu müssen , und das sei eben der von Hieronymus auf
Bericht über die Seueca-Literatur aus deu Jahreu 1915—1921. 181
eugem Eaume mehrfach erwähnte Sen.: das wäre einleuchtend,
wenn nur die Benutzung Sen.s seitens Juvenals sicher erwiesen wäre.
Der Zeit der Verbannung habe ich vermutungsweise (Sen.s
Werke 23) einige naturwissenschaftliche Schriften Sen.s zugewiesen :
das Volumen de motu ierrarum , auf das er in nat. qu. VI zurück-
greifen konnte; er sagt dort (4, 2), er habe es aliquando iuven'is
verfaßt, und er Avar ein angehender Vierziger, als er verbannt wurde,
ferner de lapidum und de piscium natura und vor allem d e
forma mundi: sagt er doch selbst (Helv. 20, 1) über seine occu-
pationes in Korsika: animus . , . ad considerandam suam wiiversique
naturam veri avidus insurgit. Von prosaischen Werken , die Sen.
nach der RUckberufung aus der Verbannung noch bei Lebzeiten
des Claudius verfaßt hätte, wissen wir nichts (Sen.s Werke 48), erst
als Nero regiert, nimmt er seine Tätigkeit als Lehrer der Humani-
tät wieder auf; da schreibt er 55/6 de dementia, 59 — 62 de bene-
ficiis. So mögen im Neronischen quiuquennium etwa seine Werke
de officiis und de amicitia entstanden sein (Sen.s Werke 51 f.),
in den Jahren nach Agrippinas Tode etwa de remediis fortui-
torum und die exhortationes (Sen.s Werke 62 f.); die Arbeit
*Gaetano D'Amicos, SuU' autenticita del de rem. fort, di L.
A. Sen,, in den Studi critici offerti a Carlo Pascal , Catania 1913,
kenne ich nicht. In den letzten Lebensjahren verfaßte Sen. gleich-
zeitig mit nat. qu. und Luciliusbriefen die moralis philoso-
phiae libri (Sen.s Werke 74 f.), und denselben Jahren 63/5
glaube ich mit guten Gründen wegen der Reinheit der religiösen
Vorstellungen und der Abkehr von den herkömmlichen Riten der
Staatsreligion, also dem Abweichen von einem Augusteischen Grund-
sätze, den dialogus de superstitione zugewiesen zu haben
(Sen.s Werke 80 ff.). De immaturamorte, das wir durch
Laktanzanführungen kennen (Haase III 423 f., in meinem Buche
versehentlich übergangen), läßt sich einer bestimmten Lebensperiodo
Sen.s kaum mit einiger Sicherheit zuweisen.
c) Zweifelhaftes und Unechtes.
Von Sen.s Anteil an der Entwicklung der antiken Kurzschrift habe
ich ganz kurz Sen.s Werke 83, 1 gehandelt. Es ist nicht angängig,
sich den antiken Nachrichten gegenüber so skeptisch und mißtrauisch
zu verhalten, wie es in den Lit.-Geschichten bisher geschieht. Seine
Äußerung (epist. 90, 25) von den vcrhorum notae als den vilissi-
m oruni mancipiontm commcnta schließt es doch keineswegs aus, 'daß
182 Karl Münächer.
auf seiu Gelieiß die iu der Praxis schon längere Zeit üblichen Ab-
kürzungen gesammelt und geordnet wurden.' Die Isidorstelle (orig,
I 21), TTclche Sen.s Anteil an der Geschichte der notae bezeugt,
hat A. Mentz, Beiträge zur Gesch. d. röm. Stenographie, Hermes
LI 1916, 189 £F., emendiert; sie lautet nach seiner Herstellung:
denique Sen. contractu omnium digestoque et aucto numero opus effecil
imum (st. in quinque niilia = INVM). Auch den Inhalt der 4
Kommentare der Sen.-Noten glaubt Mentz feststellen zu können
(Beiträge zur Gesch. d. ant. Schrift, Rhein. Mus. LXVIII 1913,
619 ff. die Notensammlung Sen.s); er beobachtet dabei, daß in der
Liste der Kaisernoteu (CNT 38, 73 — 39, 21) auch sonstige An-
gehörige des Kaiserhauses genannt werden, als letzter der von Nero
55 ermordete Claudiussohn Britanniens, danach bis zu Antoninus
hin nur noch die regierenden Herrscher selbst; jene Sammlung von
Sigeln der Kaiserfamilie mag also aus Sen.s Noten stammen, wenn
auch Mentz Schluß zu weit geht, Sen.s Notensammlung müsse also
vor jenem Morde, vor 54/5, herausgegeben sein, 'da ein Hofmanu
wie Sen, sich wohl gehütet hätte, ihn später zu erwähnen'. Über
die Art der Noten Tiros und Sen.s denkt anders als Mentz (Bei-
träge zur Gesch. d. tironischen Noten, Archiv f. Urkundenforschung
IV 1912, 1 ff., bes. S. 16) Ferd. Ruess, Die Hilfszeichen in den
tironischen Noten, Festgabe für M. Schanz, Würzburg 1912, 185 ff. ;
während Mentz die Eudungszeicheu schon zu den ältesten Bestand-
teilen der Kurzsclirift rechnet, glaubt R., 'daß in der Zeit eines
Tiro und wohl auch noch eines Sen. in der Notenschrift Endungen
nicht mitgeschrieben wurden'. Im allgemeinen ist über die Ent-
wicklung der antiken Stenographie jetzt zu vergleichen A. M e n t z ,
Gesch. d. gr.-röm. Schrift, Leipzig 1920, 77 ff., über Sen. 79 f.
Recht frühzeitig hat das Christentum Sen. zum Christen ge-
macht. Beweis dafür der uns erhaltene Briefwechsel zwischen Sen.
und Paulus (bei Haase III 476 ff. ; auf handschr. Grundlage bei
E. Wester bürg, D. Ursprung d. Sage, daß Sen. Christ gewesen
sei, Berlin 1881, 41 ff.). Carlo Pascal hat Rivist. di filol. XXXV
1907, 33 — 42, La falsa corrispondenza tra Sen. e Paolo neu unter-
sucht; er kommt zu dem Schluß, der erhaltene Briefwechsel sei ein
Auszug aus einem älteren , griechisch geschriebenen , der Hierony-
mus bekannt war, composta da tale che oltre ad essere amante delle
eleganze stilistiche era pure studioso delle opere di Sen. e di Paolo.
Weil Sen. als Christ galt, hat dann auch ein Christ das epitaphium
Sen. (Anth. Lat. 667) gedichtet (als spätchristlich erwiesen von E.
Bickel, Rhein. Mus. LXIII 1908, 392 ff.; weiteres Bewcismatcrial
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. IgS
beigebracht von E. Posselt in der Rez. der gleich zu nennenden
Ai-beit Deißners, Berl. philol. Woch. 1917, 1262 — 8). Unleugbar
berühren sich nicht wenige Gedanken des Moralisten Sen. mit denen
des Paulus , und die Vorstellung , die dem Briefwechsel zugrunde
liegt, daß Paulus Sen. bekehrt habe, fand auch in äußerlichen Er-
eignissen Anhaltspunkte : der Statthalter, zu dem die korinthischen
Juden den Apostel führten , war Sen.s leiblicher Bruder Novatus-
Gallio ; der Prätorianerpräfekt, der in Rom Paulus in militärischer
Haft hielt, war Sen.s Freund Burrus. Diese Dinge hat W. Enßlin
recht übersichtlich in einem kleinen Aufsatze 'Sen. und Paulus',
Evangel. Kirchenzeitung 88 , 1914 , 39 f., vorgeführt. Aber daß
Sen. wirklich Kenntnis vom Christentum besessen und Beziehungen
zu seinen Vertretern unterhalten habe, hat J o h. K r e y h e r , L. A. Sen.
und seine Beziehungen zum Urchristentum, Berlin 1887, vergeblich
zu beweisen unternommen (s, oben S. 119), Neuerdings hat der Theologe
Kurt Deißner, Paulus u. Sen. (Beiträge zur Förderung christl.
Theologie, her. v. Schlatter u. Lütgert, Bd. XXI, 2. Heft),
Gütersloh 1917, gezeigt, daß in Sen.s ethisch-theologischem System
christliche Einflüsse nirgends greifbar, nirgends zur Erklärung not-
wendig sind; er behandelt nach einer Einführung in das Problem
folgende einzelne Gedankenkomplexe bei Paulus und Sen. : der
Gedanke der Ewigkeit , die Lehre von Gott , die Beurteilung des
Menschen , die Ethik , um schließlich die Frage der Abhängigkeit
zu erörtern, mit dem Ergebnis, 'daß in den Zentraldogmen sowie
im Gesamtaufriß der Weltanschauung von keinerlei Abhängigkeit
gesprochen werden darf; durchweg lassen sich 'an den fraglichen
Punkten die Zusammenhänge des Sen. mit dem Stoizismus sowie
bei Paulus die spezifisch-christliche Begründung der betreffenden
Lehren' feststellen. So richtig und methodisch das alles von D.
dargelegt wird, so vermißt man iu seinen Ausführungen doch eine
wichtige Tatsache, die die gedanklichen Berührungen zwischen Paii-
lus und Sen. mit zu erklären vermag: die Tatsache, daß bei Sen.,
durch Poseidouios ihm übermittelt (vgl. W. Kroll, Die religions-
geschichtliche Bedeutung des Poseidonios, Neue Jbb. f. d. klass.
Alt. IL 1917, 145 ff.), ein mystisch-religiöses Element nicht fehlt
und Paulus gleichfalls von der hellenistischen Mystik nicht uner-
heblich berührt war (Posselt iu d. angef. Rez. 1266fg., W. Kroll,
Lat. Philol. 69). Freilich hat Deißner in einer besonderen Schrift
Paulus und die Mystik seiner Zeit, Leipzig 1918, jede Beeinflussung
der Anschauungen des Paulus durch die Mystik bestritten; so be-
rechtigt aber auch sein Betonen der Selbständigkeit der Paulinischen
184. Karl Münscher.
Gedanken sein mag, so ist doch jenes Ableugnen jeden Einflusses
der hellenistischen mystischen Lehren auf Paulus sicherlich ein Irr-
tum (vgl. die tiefgreifende Rez. E. Posselts, Berl. philol. Woch.
1918, 865—893).
T. 0. Achelis, Aus einer alten Ausgabe von Sen. de mori-
bus, Rhein, Mus. LXXI 1916, 155 — 9, macht auf eine von dem
Arzte Magnus Hundt 1499 in Leipzig gemachte Ausg. von Sen. de
moribus aufmerksam ; die Ausgabe, sicherlich, da der Herausgeber
sich dessen nicht rühmt, nicht nach einer Handschrift, sondern nach
einem anderen Druck besorgt, enthält mit geringen Abweichungen
und Zusätzen, was bei Haase IH 462 — 7 gedruckt ist und un-
getrennt anschließend noch weitere Sätze 146 — 175, von denen
146 — 153 eine Übersetzung der pythagoreischen Symbola und von
Ed. Wölfflin in den Sen.-Monita, Prgr. Erlangen 1878, heraus-
gegeben ist, wie der ganze Hündische Traktat de moribus aus dem
Paris, lat. 16 590 von M. B. Haureau, Notices et extraits des
manuscrits de la bibl. nationale XXXIH 1, Paris 1890, p. 227/8
gedruckt ist.
B. Poetische Werke,
a) Epigramme.
T h. B i r t hat seit langen Jahren und bis in die neueste Zeit
(Ad historiam hexametri Lat. symbola, Bonn 1876, 65, Aum. 2.
Sen. S. 258, Anm. 44. Kritik und Hermeneutik, München 1913,
235), die Unechtheit der unter Sen.s Namen in der Anth. Lat.
überlieferten Epigramme verfochten. Zwei neuere Dissertationen
sind für die Echtheit eingetreten.
Em. Her für th. De Sen. epigrammatis quae feruutur p. I.
Diss. Jena (gedr. Weimar) 1910. Auf ein Prooemium mit der
Geschichte der Echtheitsfrage, worin auch Birts metrische Bedenken
abgewiesen werden, folgt ein I. Kap., in dem Verf. die in Betracht
kommenden Gedichte — es sind Nr. 232, 236 u. 237 der Anth.
Lat. und von der Sylloge des Vossianus 86, die Nr. 396 — 479 um-
faßt, der vox'dere Hauptteil 396 — 463 (der hintere enthält Petron-
Gedichte) — , sie in carmina severa und non severa teilend, nach
Form und Inhalt als Werke eines Verfs. zu erweisen sucht, der
der Tradition nach Sen. sein müßte. Im IL Kap. sammelt Verf.
die similitudines zu älterer poetischer römischer Literatur, die die
Epigramme aufweisen; beachtenswert ist dabei die starke Ovid-
benutzung, und zwar besonders des Ovidius exul in den auf Sen.s
Exil Bezug nehmenden Epigrammen; das Material, das die Imita-
Bericht über die Seneca-Literatiir aus den Jahren 1915 — 1921. 185
tion der Sen.-Epigramme der Späteren zeigen sollte, hat H. nicht
veröffentlicht.
Für die Echtlieitsfrage von entscheidenderer Wichtigkeit ist
die Würzburger Diss. von Gust. Staub er, De L. A. Sen. philos.
epigramraatum auctore (gedr. München) 1920, der von Gedicht zu
Gedicht fortschreitend — auch Nr. 238 u. 804 zieht er mit hei-an^
deren Zuweisung an Sen. sehr unsicher ist — die Parallelen
aus Sen.s Tragödien und Prosawerken und aus Lukan sammelt r
die philosophische Anschauung des Epigrammatikers ist die stoisch-
epikureische Sen.s, zu Vergilversen verhalten sich die Epigramme
wie Sen. in seinen freien Vergilzitateu : der Verf. ist ein überaus
feiner Sou. -Kenner, wenn nicht Sen. selbst. Das Erotikou 430 auf
Nero (St. 41 ff.) und 441 mit Feod. Gloeckner (ßhein. Mus.
XXXIV 1879, 140 ff.) auf Sen.s Neffen Lukan statt auf Sen.s
eigenen Sohn zu beziehen (St. 50) erscheint mir als Irrweg (vgl.
Sen.s Werke 25, 3 u. 28, 1) ; gegen erstere Annahme spricht auch
0. Rossbach Bedenken aus in der Rez. Berl. philol. Woch. 1920,
1109 fg.] über Nr. 441 urteilte richtig *R. Waltz, Le mariage de
Sen., Rev. des etudes aucieunes VII 1905, 223 u. 229. Zweifellos
ist durch St.s tüchtige Arbeit Sen. als Verfasser der Epigramme
noch wahrscheinlicher geworden, so sagt Rossbach, als früher. Ich
habe deshalb (Sen.s Werke 25 ff.) keinen Anstand genommen, die
Epigramme, die von Sen. sein wollen, und in denen so vieles nicht
bloß zum Leben Sen.s stimmt, sondern sogar unsere Kenntnis be-
reichert wird , als echt zu betrachten. Sie verteilen sich auf die
gesamte Zeit der Verbannung Sen.s, aber es können auch Stücke
seiner jüngeren oder späteren Jahre darunter sein. Birts Behaup-
tung, die Epigramme seien unecht, weil sie im Gegensatz zu Sen.s
sonstiger Praxis, der keine Synalöphe im Hexameter kenne, solche
in Fülle aufweisen, habe ich erneut widerlegt.
b) Tragödien.
Joh. Tolkiehn hat (Bursians Jahresbericht 171, 1915, 19 ff.)
über die neueren Forschungen zur Überlieferung der Tragödien
berichtet, durch die zwei selbständige Abschriften des Urarchetypus
der interpolierten Recension entdeckt worden sind. Zu Dürings
Prgr. zur Überlieferung von Sen.s Tragödien, Lingen 1913, vgl.
E. Bickel, Dtsche Lit.-Ztg. 1915, 1597 f. (vgl. auch Sen.s
Werke 85, 3). *E. Harrison, The Mss. of Sen.s Tragedies.
Class. Quarterly XII 1918, 161. Wahrscheinlich ist diese Er-
kenntnis verwertet in der neuen engl. Ausg. *Son. trag. ed.
186 Karl Münsclier.
Frank Just us Miller, 2 Bde., London 1916 (Rez. von *A.D.G.,
Class. Review XXXI 1917, 201).
K. Preisendanz, Zu Sen. Herc. f., Woch. f. klass. Pliilol.
1916, 686 f. u. 1917, 429—431 veröffentlicht die wertlosen Les-
arten zweier Pergamentfetzen der Karlsrulier Bibliothek saee. XIV,
die V. 1108—1130 bieten.
Unbekannt ist mir auch die Sonderausgabe *Sen. Thyestes,
Phaedra, reo., praefatus est, appendicem eriticam add. Huraber tus
Moricca, Turin 1917, sowie die erklärende Ausg.
*Sen. Phaedra met inleiding en aantekeningen voorzien door
J. van Wageningen I, Groningen 1918; F. Levy (Jahresber. Rom.
Poesie d. Kaiserzeit 104) vermißt darin 'eine eingehende Charak-
terisierung des bestimmten Kunstwillens Sen.s, dem diese Dich-
tungen entsprungen sind.'
Soeben erscheint in Lietzmanus Kleinen Texten als Nr. 147
Octavia praetexta cum elementis commentarii ed. C. Hosius,
Bonn 1922. Eine bequeme Handausgabe, die man gern zu Seminar-
übungen benutzen wird (trotz des von vornherein auf 30 M gesetzten
hohen Preises ; auch daran werden sich unsere Studenten leider ge-
wöhnen müssen), die allerdings die neue Handschrnforschung nicht be-
rücksichtigt, sondern, ohne überhaupt irgendwelche Handschrn. zu
nennen, lediglich mit zwei Siglen (€i» = consensus codicum, 5" = codicum
deteriorum aut unus aut aliquot) arbeitet. Einige Literatur ist vor
und nach der Ausgabe zusammengestellt , S. 2 und S. 69, hier an
der Spitze eines Index metricus, der einem Index nominum (68/9)
folgt. Zur Verfasserfrage ist nicht Stellung genommen. Die Stärke
der Ausgabe liegt in den clementa commentarii , in dem zweiten
Apparate, der Parallelstellen mit H. bekannter großer Belesenheit
aus älterer und späterer Litei'atur, vor allem aber aus Sen. selbst,
weit über Ladek und Fiinck (s. unten S. 198) hinausgehend,
sammelt. S. Nachträge.
Ein vorzügliches Hilfsraitlel für die Erforschung der Tragödien
hat Amerika uns beschert in dem Index verborum quae in Sen.
fabulis necnon in Octavia praetexta reperiuntur a Guil. Abbott
Oldfather, Arth. Stanley Pease, How. Vernon Canter,
in 3 Heften der University of Illinois Studies in Language and
Literature IV 2 — 4, 1918. Nicht bloß die bei Peiper-Richter ver-
zeichneten Varianten sind berücksichtigt, sondern auch sonst ver-
öffentlichte, handschriftliche Lesarten und moderne Konjekturen.
Im ganzen macht die Leistung, soAveit ich bei der Benutzung fest-
stellen konnte, den Eindruck großer Sorgfalt (vgl. Rez. Joh. Toi-
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 187
kiehn, Philol. Wocb. 1921, 321 f. *Kimpery, Class. Journal XV
508 ff. berichtigt eine kleine Anzahl von Versehen) , freilich wäre
dem Benutzer die Arbeit sehr erleichtert worden, wenn der jeweilige
Textzusammenhang mit abgedruckt worden wäi-e (Rez. K. Preisen-
danz, Liter. Zentralbl. 1921, 480 f.). S. Nachträge.
Ich verzeichne in Kürze die Versuche, den Text der Tragödien
zu bessern ; meist haben sie wenig Erfolg , soweit sie nicht mit
gesundem, konservativem Sinne die Richtigkeit der Überlieferung
zu erweisen suchen.
K. Busche, Zur Octavia praet., Woch. f. klass. Philol. 1915,
1192 — 4, ergänzt die Lücke 411/2 sinngemäß extrahere pisces rete
vel calamo levi decipere, volucres {fronde disposito vafre}. Gegen
seinen Vorschlag 696 adpatus odio s. Sen.s Werke 130, 1, besser
Birt (s. unten S. 189) et culta sande. Unnötig 824 feros st. viros.
Ders., Zu Sen.s Tragödien, Berl. philol. Woch. 1917, 254/6,
schlägt vor Tro. 844 pergam st. des korrupten vere (vgl. Herc. 0.
1030 pergam et A st. verum^ andere anderes). Phaedr. 965 agitare
vices (st. vias) aetheris alti (nötig?). Vor victrice felix Kerc. 0. 1652
will B. xiusfall eines Verses , M'orin das erste , jetzt fehlende sive
stand, annehmen; als Beleg für einfaches sive führt aber 0. Eossbach
ebda 479/80 Herc. 0. 1260 an und kehrt zu seinem schon früher
gemachten Vorschlage zurück: et quidquid aliud eminus vici manu,
(st. mahim) victrice (vgl. Herc. f. 1103), so daß fdix allein zum
folgenden iuvenis zu ziehen ist. Herc. 0, 1322 fg. schlägt B. vor:
nunc mihi ira atque impetu {Irata pater £, irata quidem A) ojms est
noverca{e). 1858 ff. at (mit Koetschau st. et) una funeri tanlo sat est
(es Peiper, Leo) grandaeva anus defeda, quod (quam E) toius hrevi
querettir (tarn quaeret überl.) orhis.
Vorzüglich verteidigt W. Bannier, Rhein. Mus. LXXII
1917/18, 237, die viel angefochtene Überlieferung Phaedr. 558 taceo
novercas: mitius 7iil est feris (auch Herc. 0. 460 — 3 stellt er still-
schweigend die von den Herausgebern geänderte Versfolge her),
desgl. Rhein. Mus. LXXHI 1920, 79—83 Tro. 8 ff., 301 ff, 988 ff.
gegen die von Leo und Richter genommenen Anstöße.
C. Robert wollte Hermes LUX 1918, 446, Herc. f. 563 vor
562 stellen, weil nicht Pluto, sondern nur Herakles einen Dreizack
bzw. einen Pfeil mit dreifacher Spitze führe; dagegen H. Blümner,
Hermes LIV 1919, 328 f., der zeigt, daß eine tergemina cuspis eine
Waffe mit dreikantiger Spitze bedeutet und eine solche führe Pluto
tatsächlich auf einem Wandgemälde von Orvieto.
Der Holländer P. H. Damst6 hat Mnemos. XL VI u.
188 Karl Münscber.
XLVII 1918/9 eine Fülle von Stellen sämtlicher Tragödien
besprochen und mit Konjekturen bedacht. XLVI 126 'Crepusculi
uotio' vergleicht er die Bezeichnung des Abendsternes Med. 71 als
gem'mi praevia ietnporis . . Stella mit dem Englischen twilight, vgl.
deutsches 'Zwielicht'. — 134 'Sen. fatidicus' : Fcrdinandus Columbus
schrieb in sein Sen. -Exemplar zu Med. 375 ff.: Haec prophetia
expleta est per patrem meum Christoforum Colon almirantem anno 1492
(s. oben S. 1 20). 184—200 Ad Sen. Phaedr., 281—301 Herc. 0., 368—73
Thy., 403—414 Med., 428—434 Herc. f. XLVII 55—65 Tro.,
73—6 Phoeu., 111—115 Ag., 138—145 Oed., 271—281 Oct. praer.
Schon W. Gern oll hat Woch. f. klass. Philol. 1919, 248 f. über die
Vorschläge zu Tro. u, Phoen. gesagt, (1920, 359 über die zur Oct.), gegen
eine ganze Anzahl müsse man sich mit Entschiedenheit erklären. Levy
(104) findet dies Urteil viel zu milde. Auch ich muß sagen, nach-
dem ich die Vorschläge wenigstens zu einer der Tragödien nach-
geprüft habe , soweit D. nicht gelegentlich auch einmal die Über-
lieferung verteidigt, sind seine Konjekturen fast nichts als über-
flüssige, oft haltlose Einfälle, wie man sie in sein Privatexemplar
bei der Lektüre eintragen mag, aber nicht publizieren darf; aber
Holland beansprucht in dieser Beziehung nach wie vor eine aller-
dings wenig rühmliche Ausnahmestellung. Ich wählte beliebig, ehe
ich Gemolls Anzeige gelesen hatte , die Tro. zur Prüfung. Wie
Bannier tritt D. für die Überlieferung ein 8 ff. 214 streicht er
wohl richtig das Komma hinter vestes. V. 587 (von Leo gestrichen)
will D. als Wort des Ulixes vor 575 stellen, was denkbar. 770 ver-
teidigt er annos avi medios precabar und wendet sich gegen die
Umstellung von 967/8 hinter 978. Von seinen eigenen Vorschlägen
mag als möglich bezeichnet werden 1031 tabulaque tutus {st. vectus)
naufraga. Aber alles andere ist Willkür. 15 cum celsis (st. con-
gestis E, congesti A). 79 itera (st. ite ad) plandus. 100 solvimus omnes
lacerum niuUo pulvere (st. funere) crinem. 251 actatis alios fervor
imprimis (hie primae A, lue primus E). 289 et facinus atrox caedis
ut ihalamos vocent für caedis (Subst.) quaeris oder tendis, wie leicht-
fertig! Und so geht's weiter mit unnützen Abänderungen in V. 304.
434. 543. 578. 633. 648. 788. 796. 1098.
Fr. Levy, Zu Sen.s Tragödien, Berl. philo!. Woch. 1919,
909—912, tritt Phoen. 98—102 für die Überlieferung ein (Leo
hatte V. 100 getilgt), desgl. Med. 768, wo Leo die reducto konji-
zierte und mit dem vorhergehenden Satze verband, für das Über-
lieferte als selbständiger Satz: die relicto PJioebus in medio stetit.
Th. Birt, Zur Octavia des vermeintlichen Sen., Philo). Woch.
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 189
1921, 333 — 6, erklärt 519 superatus acie als substantiviertes Parti-
zipium, 'der in der Schlacht Besiegte', nämlich Antonius, und bringt
die vorangehenden Verse 515 fF. durch starke Interpunktion hinter
517 sowie Ersatz von cedentcs 517 durch cacdentes in gute Ord-
nung; der Hiatus an der Caesurstelle in 516 Phüi'pin liausH ist
durch Parallelen (Thy. 302. Herc. f. 1284. Herc. 0. 1202) aus-
reichend geschützt (vgl. Em. Ackermann, De Sen. Herc. 0.,
Diss. Marburg 1905, 32). V. 36 verteidigt B. die Lesart des Lau-
rentianus L siih'do {sub iino IT O , uno c) latentes ccce Fortunae
impetxi (als Adjektivattribut zu impetti). 295 das fast einhellig über-
lieferte exptderant (nur R eccpulerunt) zu halten, weil anderwärts in
entsprechenden Perfektformen (746. 776 f. 869) die vorletzte Silbe
nicht verkürzt wird; also freier Gebrauch des Plusqupf. wie etwa
bei Properz, wie Oct. 68 u. 604 fuerat st. fuit, in der Schilderung
des Saturnischen Zeitalters das Perf. {ftfit 403) neben dem Plus-
qupf. [assuerant 401) steht. In den heftigen avitXaßai zwischen
Sen. und Nero sagt 461 Nero: despcdiis (so überl.) ensis fociet;
v. Wilamowitz konjizierte kühn und wenig glücklich despectum ut
ensis fer'iat, Buecheler höchst einfach, aber schwächlichen Sinn er-
gebend respectxis ensis facict. Birt will das Überlieferte halten mit
Teilung in zwei Worte des pectiis , aber was soll das hier : 'reiche
mir deine Brust dar (zum Durchstechen) : das Schwert wird's
macben'. Auch die von B. angeführte Parallelstelle Ov. met. IV
424 maclit mir das nicht verständlicher. Man könnte an aspectus
denken, aber 'der Anblick des Schwertes wird es machen', das ist
ebenso farblos wie Buechelers respectits. Vielleicht gibt destrictus ensis,
das gezückte Schwert, dem Gedanken Kraft genug, und die Änderung
wäre jedenfalls leicht (s. Nachträge). 360 zieht B. die Variante am
Rande des Ambrosianus M tardaque dem sonst überlieferten tarde
vor, kaum m. R. Mag sein, daß bei Dichtern 'den Adverbien gegen-
über immer eine gewisse Zurückhaltung herrscbt', aber Sen. braucht
iarde auch sonst in den Tragödien (z. B. Herc. f. 1310), und das
Asyndeton, das tardaque beseitigt, ist die viel kraftvollere, oflFenbar
vom Dichter beabsichtigte Ausdrucksweise : cuius facinus (Neros
Muttermord) rix posteritas, tarde semper saecula credeni. Von B.s
eigenen Konjekturen ist wohl annehmbar 696 et cidta sancte (nach
M et cidpa senecte, sonst falsch Senecae) tradidit vinctum tibi . . . Vemts
(s. oben S. 187). Unbedingt abzulehnen aber ist seine Auffassung der
Verse 590 — 3 : 590 soll richtig überliefert sein : et ipse popuU vota iam
pridem moror, indem B, ein posisitives moror 'ich bekümmere mich
um etwas' aus negativem nihil oder band moror erschließen will,
190 ^*i^l Münscher.
aber moror heißt ein für allemal 'ich halte zurück, hindere, ver-
zögere'. Und den kräftigen, einhellig überlieferten schließenden
Fragesatz quin destinanius proximum thalamis diem? verwandelt B.
durch zwei Konjekturen in einen kümmerlichen Relativsatz: cui
d, p. tlialami diem. Das Richtige hat Buecheler längst erkannt:
poptili ist Korruptel aus Poppaeae , aber die vier langen Silben
Poppaeae vota können im Trimeter nicht nebeneinander stehen, darum
schrieb Buecheler iam pridem et ipse vota Poppaeae moror, nur das letzte
Wort des Verses an seinem Platze lassend^ vielleicht genügt es,
Poppaeae an den Versanfang zu rücken: Poppaeae et ipse v. i. pr,
>n., an der Synalöphe ist wohl kein Anstoß zu nehmen. — Vgl.
zur Kritik der Tragödien Siegmund oben S. 145.
Mit Sen.s dramatischer Technik befassen sich — anderes kommt
bei den chronologischen Fragen zur Sprache — folgende Arbeiten :
Hub. M e n d e , De animarum in poesi epica et dramatica as-
censu, Diss. Breslau 1913, gibt in Kap. I eine ganz nützliche Zu-
sammenstellung Quomodo animarum ascensus apud poetas epicos,
tragicos, comicos tractentur; Sen. nimmt darin (S. 40 — 50) mit
seiner rhetorisch ausgestalteten Kunst einen recht erheblichen Raum
ein : teils läßt er larvae als Prologfiguren auftreten , die Thyestis
umbra im Ag. (dabei an den Eingang der Troerinnen des Euripides
oder des Accius sich anlehnend), die Tantali umbra neben der
Furie im Thy., ihnen gleich Agrippinas Erscheinen im mittleren
Teile der Octavia. Anders geartet das Erscheinen des Hercules
im Schluß des Herc. 0., das auf die klagenden Rufe Alcmenes er-
folgt, die Mutter durch die Mitteilung von seinem Aufstieg zum
Himmel zu trösten, ein deus ex machina, wie er bei Euripides
und Sophokles (Trach.) üblich ist. Teils wird von Gespenster-
erscheinungen erzählt: Creon berichtet vom Erscheinen der Laii
umbra (Oed. 530 ff.), Talthybius vom Erscheinen Achills, um
Polyxeua für sich zu fordern (Tro. 170 ff.) mit Anklängen an Ovid.
Met. Xin 440 ff., Andromacha (Tro. 437 ff.) von der Traum-
erscheinung Hektors im Anschlüsse an Vergil Aen. II 268 ff. End-
lich visionäre Erscheinungen Abgeschiedener, die Lebende zu sehen
meinen, so Andromacha den toten Hector (Tro. 681 ff.), Medea
(965 ff.) des Bruders Schatten mit zerrissenen Gliedern, Cassandra
(Ag. 741 ff.) die Schatten ihres Hauses , das Agrippinagespenst
(Oct. 614 ff.) den gemordeten Gatten. Im II. Kap. handelt M. De
animarum ascensuum generibus und verteilt das im I. Kap. zu-
sammengetragene Material auf verschiedene Rubriken.
Fr, Frenz el, Die Prologe der Tragödien Sen.s, Diss. Leipzig
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 191
(gedr. Weida) 1914. In etwas weitscbweifiger Form (vgl. Rez.
W. Gern oll, Woch. f. klass. Philol. 1914, 1253 f.), wie sie sich
leicht in deutsch geschriebenen Dissertationen einstellt, behandelt
F. das ^igog oXov TQayo)diag to tcqo xoqov nagodov mit Aristoteles zu
reden, bei Sen. nach Form und Inhalt. In der Besprechung der
szenischen Gliederung der Prologe verfährt F. aber zu äußerlich-
mechanisch, indem er im Herc. f. den Prolog in zwei Szenen,
1. Juno allein, 2. Juno und Furien zerlegt: die Furien, die Juno
von 100 ab ruft, antworten nicht und brauchen keineswegs leiblich
anwesend gedacht zu sein. Auch im Thy. besteht der Prolog
keineswegs aus drei Szenen, sondern nur aus einer, denn die Furia
erscheint und verschwindet zusammen mit der Thyestis umbra,
ebensowenig der Oed. -Prolog aus zwei, da, wie Leo, Der Monolog
im Drama, Berlin 1908, 91 annimmt, Jocasta natürlich von Anfang
an Oedipus Monolog mit anhört: Diese Dinge hat Th. Düring
in seiner Rez., Berl. philol. Woch. 1915, 621 — 4, richtig dargelegt.
Einzig die Phaedra weicht also ab mit dem ^eigenartigen Experi-
ment', dem Eingangsmonolog eine fröhlich gestimmte lyrische Partie
voranzustellen (Rez. P. E. Sonnenburg, Jahrbuch d. deutschen
Shakespeare-Gesellschaft LV 1919, 185 f.). Der zweite umfäng-
lichere, dem Inhalt der Prologe geltende Teil der Arbeit stellt zu-
nächst Euripides Prologmanier ausführlich dar, um dann die Unter-
schiede bei Sen. zu erfassen. Das Ziel der Sen. -Prologe ist nicht,
wie bei Euripides, Einführung und Vorbereitung der Handlung des
Dramas : wie Leo sagte (Monolog 91) : zwar werden die VTCOV^eiiAEva.
mitgeteilt, aber durchaus im Affekt. Wenn aber F. Sen.s dichterische
Absichten damit zu umgrenzen meint , daß Sen. bereits im Prolog
in einer bestimmten Charaktereigenschaft der Hauptpersonen ent-
'.yeder ihr Handeln und Leiden begründen oder durch eine solche
die Ursache ihrer Schicksale erkennen lasse, so ist das mindestens
viel zu eng und einseitig. Sounenburg sieht eine wesentliche
Wirkung der Sen. -Prologe sehr mit Recht 'in der Stimmung des
Zuschauers auf das Grausige und Gräßliche, auf das Rechnen mit
unerwarteten Schicksalsfügungen und Entschlüssen' , und C 1. L i n d s k o g,
* Studien zum antiken Drama, Lund 1897, II, 17 ff., glaubte den
Zweck der Sau. -Prologe darin erkennen zu dürfen , daß sie den
eigentlichen Wendepunkt des Dramas, die 'AaiaazQoq^ij, vorbereiten.
Und wenn nun von F. jene eine Charaktereigenschaft, für die das
folgende Stück gewissermaßen nur das ausgeführte Exemplum sein
soll, in Med. Phaedra Ag. Thy. als verbrecherische Anlage, im
Herc. f. als Selbstüberhebung des Helden, in Tro. und Oed. als
;[92 Karl Münscher.
Walten eines unabänderlichen Schicksals bestimmt wird, so hat
auch das seine großen Bedenken : daß der Wahnsinn im Herc. f. mit
Hercules Selbstüberhebung motiviert werde, bestreitet Düring mit
guten Gründen, und verbrecherische Anlage von unentrinnbarem
Schicksal zu scheiden, geht auch kaum an. So sind beide Teile der
F.schen Arbeit nicht als völlig gelungen und abschließend zu be-
zeichnen, und namentlich fehlt eins bei F. ganz und gar: ein Ver-
such, etwa eine Entwicklung im Prologbau und damit ein chrono-
logisch verwertbares Moment zu finden. Da rächt es sich, daß er
nicht bloß die Phoen., sondern auch Herc. 0. und Oct. von seiner
Untersuchung ausgeschlossen hat.
Vom Einfluß des tragischen Pantomimus auf die Tragödien-
dichtung macht sich wohl übertriebene Vorstellungen H. Wagen -
voort, Pantomimus und Tragödie im Augusteischen Zeitalter, N.
Jbb. XLV 1920, 101 ff.; im besondern 109—113.
Die Einwirkung der Tragödien Sen.s auf die Dichter der
folgenden Zeiten war groß. Material, diese Einwirkung zvi erfassen,
bieten :
Fr. Streich, De exemplis atque comparationibus quae ex-
stant ap. Sen. Lucanum Valerium Flaccum Statium Silium Italicum,
Diss. Breslau 1913. Verf. will einen Index der Vergleiche aus der
Dichtersprache des I. Jhhs. schaffen und ordnet das Material aus
den gewählten Dichtern nach Sachkategorien (Götter und Heroen,
Geschichte, Geographie, Tiere, Pflanzen uud andere natürliche
Dinge , alia exempla). Viele Vergleiche finden sich gleichmäßig
bei mehreren Dichtern, uud das hat, wie Verf. p. 3 bemerkt, nicht
bloß in der gleichen Schulung durch den rhetorischen Unterricht
seinen Grund, sondern es beruht stark auf Entlehnung seitens der
Jüngeren aus dem großen Muster Sen.
Schon ß. Helm, De P. Papinii Statu Thebaide, Diss. Berlin
1892, 35 ff. (vgl. L. Legras, llitude sur la Th6baide de Stace,
Paris 1905, 174 ff.) hat auf Statins Kenntnis der Sen. -Tragödien
hingewiesen. Darüber jetzt einige weitere Bemerkungen bei AI fr.
ßeußner, De Statio et Euripide, Diss. Halle 1921, S. 3. 15 fg.
18. 23. 27. Sen.s Oed. und Phoen. kommen für Statins Epos als
Vorlagen bei Einzelheiten in Betracht.
V. Ussani, Le tragedie di Sen., Egesippo e lo Pseudo-
Quintiliauo, Eivist. di filol. XLIII 1915, 293 — 8, glaubt für Hegesippus
V 40/1 in der Schilderung einer jüdischen Mutter, die ihr eigenes
Kind geschlachtet und verzehrt hat, aus einzelnen Wortanklängen
Kenntnis des Thy. u. Ag. Sen.s erschließen zu dürfen •, ich glaube,
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 193
die Gleichheiten im Ausdruck beruhen auf der Ähnlichkeit des
Stoffes, der QveGTEia deiTtva, die ja schon dem Flavius Josephus
(201 — 209) für seine Schilderung des monstrum Motive geliefert
haben können. Auf Übereinstimmungen der Ps.-Quintilianischen
Deklamationen mit Sen.s Tragödien hatte bereits C. Morawski,
Woch. f. klass. Philol. 1905, 874 f. bei Besprechung von Alb.
Beckers Pseudo-Quintilianea, Prgr. Ludwigshafen 1904, aufmerk-
sam gemacht. U. stellt nun besonders Stellen des Thy. mit solchen
der Decl. 12 zusammen, die von den cadaveres pasti handelt; auch
hier beruht die Übereinstimmung m. E. auf der gleichartigen rhe-
torischen Behandlung eines verwandten Stoffs. Und ob man aus
einer vereinzelten wörtlichen Gleichheit wie decl. 13, 28 caeleites
auras contaminato spiritu polliiimus und Oct. 235 f. en ipse diro spiritu
saevi ducis poUuitur aether auf Reminiszenz des Deklamators aus
Lektüre der Oct. schließen darf, bleibt auch mindestens zweifelhaft.
Bedenken gegen die Beweiskraft der Parallelen äußert auch
W. Gemoll, Woch. f. klass. Philol. 1915, 871 f.
Was das Fortleben der Tragödien Sen.s im Mittelalter und in
der Neuzeit betrifft, so ist außer auf Gummerys' Buch (s. oben
S. 118 ff.) auf die Arbeit über Sen. in Polen und Scaligers Urteile zu
verweisen (s. oben S. 117 f.). Zur Ergänzung der von Tolkiehn
(Bursian 171, 28 f.) angeführten Arbeiten über Sen. in der eng-
lischen Literatur des Elisabethanischen Zeitalters weise ich hin auf
Fr. Wilhelm, Zu Sen. u. Shakespeare (Richard IlL), Archiv f.
d. Studivim der neueren Sprachen u. Literaturen CXXIX 1912,
69 — 7-3. Fr. Levy, Rom. Poesie der Kaiserzeit 105, weist auf
eine treffende Charakterisierung von Sen.s dramatischem Stil bei
G. Landauer hin, Shakespeare, dargestellt in Vorträgen, I Frank-
furt a./M. 1920, 162. Land, stellt Sen. 'auf eine sehr ansehnliche
Stufe zwischen Euripides und Marlowe, und wenn man Belegstellen
aus Werken sammeln wollte, die auf Shakespeare Einfluß geübt
haben können, so wäre Sen. ein recht umfangreiches Kapitel zu
widmen'.
Zwei ausländische Arbeiten behandeln dasselbe Thema, Muster
und Nachdichtuügen eines Sen. -Stückes zugleich betreffend.
*Luigi Caudotti, Fedra neue tragedie di Euripide Sen.
Racine e Gabriele d'Annunzio, Prgr. Mädchenlyzeum Triest 1914.
Nach AI fr. Nathanskys Bericht (Ztschr. f. österr. Gymn. LXVII
1916, 376/7, werden in dieser, seltsamerweise vor allem für die
Absolventinnen der Anstalt bestimmten Abhandlung die drei älteren
Stücke kürzer analysiert, d'Annunzios Drama überschwenglich
-Tahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192. (1922. U). 13
194 Karl Münscher.
wegen seiner Selbständigkeit gepriesen, der die antike Heroine zur
unverstandenen Frau in völlig unantiker Weise, wie Nathansky mit
Recht sagt, gemacht hat. Verständiger scheint auch über d'An-
nunzio zu urteilen. *A n t. K o 1 a r , Vier Phaedratragödien, in der
Festschr. f. Jos. Kral, Prag 1913 (tschechisch), nach dem Bericht
von Fr. Groh, Berl. phil. Woch. 1916, 111 f.
Rob. Petsch, 'Die Troerinnen' einst und jetzt, N. Jbb. f.
d. klass. Alt. XXXIX 1917, 522—550, gibt schöne Ausführungen
über Euripides und Sen.s Troerinnen , in denen die ganze Euripi-
deische Handlung in einzelne Bilder aufgelöst ist, die nur durch
die traurige Grundstimmung notdürftig zusammengehalten werden,
schildert Schätzung und Fortwirken des Sen. -Stückes in der Re-
naissance bei Engländern , Franzosen und Deutschen , würdigt
Opitzens ehrwürdige Trojanerinnen von 1636, die erste deutsche Über-
setzung einer antiken Tragödie, beleuchtet Lessings Stellung zu
Sen., Goethes und Schillers Verwertung der Euripideischen Ti'oe-
rinnen , um nach einer Würdigung der Wilamowitzischen Über-
setzung im ni. Bande der Griechischen Tragödien mit Franz Werfeis
deutscher Bearbeitung der Troerinnen des Euripides zu enden, die
1916 in Leipzig erschien und Ostern 1916 im Lessingtheater auf-
geführt und jubelnd begrüßt wurde.
Quellenforschung treiben des weiteren:
*ümb. Moricca, Le fonti della Fedra, Studi italiani XXI
1915, 154 fF.
C. Brakmann, De Sen. Ag., Mnemos. XLII 1914, 392—8.
B. vergleicht Sen.s Ag. mit dem des Aischylos und führt die
Abweichungen teils auf Einfluß des Euripides , teils auf die ratio
Stoica Sen.s und auf seine rhetorische Schulung zurück, ohne zu
wissen , daß aller Wahrscheinlichkeit nach Sen. überhaupt nicht
Aischylos Ag., sondern eine jüngere, nachaischyleische Tragödie
bearbeitet hat, dieselbe, die Livius Andronicus zu seinem Aegisthus
benutzte (vgl. F. Leo, Gesch. d. röm. Lit. I 70 m. Anm. 5.
Fr, Strauß, De ratione inter Sen. et antiquas fab. Romanas
intercedente, Diss. Rostock 1887, 44 ff.). Schon Jos. Hillebrand,
Aeschylus Ag. u. d. gleichnamige Trag, des Tragikers Sen., Prgr.
Hermanstadt 1859, stellte durch eingehende Vergleichung fest, daß
Aischylos nicht Sen.s Vorbild sei , und erinnerte an den Ag. des
Jon von Chios (Reste bei Nauck FTG. p. 732 f), den Sen. be-
arbeitet haben könnte (vgl. Sen.s Werke 47, 2). So ist auch
gauz hinfällig, was B. zur Stütze des Leoschen Ansatzes des Ag.
auf Sen.s jüngere Jahre vorbringt: Sen., quo tempore scripsit Ag.
Bericht über die Seueca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. I95
nondum multum profecerat in arte scaenica. Mit Rücksicht auf
die Ermordung des Claudius durch Agrippina, des Britannicus
durch Nero will B. den Ag. in die Jahre 50 — 54 setzen. Der
einzig richtige in seinen Gedanken ist der, daß Sen. in Korsika
gewiß keine Tragödien gedichtet habe, cum neminem haberet, cui
recitaret temporaque parum laeta essent.
Das führt denn zur Frage nach der Abfassungszeit der Tragödien
Sen.s, die ich im V. Kap. meines Buches (Sen.s Werke 840".) zu lösen
unternommen habe (s. Nachträge). Auszugehen war von der durch
Th. Birt (Was hat Sen. mit seinen Tragödien gewollt? N. Jbb.
f. d. klass. Alt. XXVII 1911, 336 ff., im besondern 352) erst richtig
gewerteten Stelle in Tac. ann. XIV 52, wonach einige Tragödien
vor 54, die meisten nach 54 abgefaßt sein müssen. Daß Sen.
während seines Exils in Korsika ans Dichten von Tragödien über-
haupt noch nicht dachte, lehrt brev. 16, 5 (aus der allerletzten
Verbannungszeit) mit dem Spott über Dichter, die humanos errores
nähren, quihus visus est Juppiter voluptate concubitus delenitus dupli-
casse nodem: später hat er selbst oft genug der vih, iiayiga in
seinen Tragödien Erwähnung getan. Damit schon erweist sich als
unmöglich Leos Annahme, Sen. habe Oed. und Ag. als adulescen-
tulus gedichtet. Und das war auch nur so lange denkbar, als man
(wie Leo) glauben konnte und durfte , die Derivatentheorie , auf
Grund deren Sen. seine seltsamen Lieder in jenen beiden Dramen
schuf, sei schon seit Varro den Römern ganz vertraut gewesen.
Das hat R. H e i n z e (Die lyrischen Verse des Horaz, Ber. Sachs.
Ges. d. Wiss. 70, 1918, 4. Heft, Einwendungen, die v. Wilamo-
witz Gr. Verskunst 68 und 75 macht, sind belanglos; vgl. Sen.s
Werke 86, 2) als Irrtum erwiesen. 'Varro hat kein reines Deri-
vationssjstem vertreten, Horaz nach ihm seine Verse nicht gebaut,
erst nach Horaz hat man in Rom die Maße der lesbischen Lyrik
der Derivation unterworfen , und zwar tat es zuerst in rigoroser
Weise ein Metriker, den der Grammatiker Diomedes in seinem
Abschnitt de metris mit verarbeitet hat, und denselben Metriker
— vielleicht war es Remmius Palaemon — kannte und befehdete
teilweise Caesius Bassus von einem freieren Standpunkte aus, ohne
aber die derivierende Erklärung der horazischen Metra aufzugeben'.
Es ist also überaus wahrscheinlich, daß Sen. durch Caesius Bassus
— er widmete sein erhaltenes kleines Lehrbuch dem Kaiser Nero —
in die Derivationstheorie eingeführt wurde und dadurch den Anreiz
erhielt, als kühnster der Neoteriker jene wunderlichen Versgebilde
in zwei Chorliedern des Oed. und Ag., die durch Verkürzung und
13*
196 Karl Münsclier.
Zerscbneidung liorazischer Verse hergestellt sind, zu wagen. Dann
gehören diese beiden Stücke aber nicht in den Anfang von Sen.s
tragischer Produktion , sondern eher an ihr Ende , und das führte
mich zu dem Gedanken, ob nicht eine Entwicklung, ein Fort-
schreiten von einfacheren zu komplizierteren Formen bei Sen.
glaublich und nachweisbar sei. Meine Untersuchung sämtlicher
Chorlieder zeigt nun, daß Sen. neben dem anapästischen
Maße zunächst sich damit begnügt hat, mit einzelnen stichisch
verwendeten Horazversen seine Lieder zu bauen, allmählich,
unter dem zunehmenden Einfluß der Derivationstheorie, von ein-
facheren Liedern zur polyschematischen Komposition fortschreitet
und schließlich in umfänglicheren, geschlossenen Partien jene kühn-
sten , auf Grund der Theorie geschaffenen Verse anwendet. So
lassen sich drei Gruppen von Tragödien auf Grund des metrischen
Baues der Lieder scheiden : die einfachsten , im wesentlichen aus
einer Versgattung bestehend, finden sich in den drei Stücken Thy.,
Herc. f. und Tro., die großen polyschematischen Kompositionen in
Phaedra und Medea, die kühnsten Versgebilde und kunstvollsten
Liedkompositionen im Ag. und Oed. Auch die Chorteclmik, an der
P. Friedläuder in einem Vortrage über die Entwicklung des
Chors in der nacheuripideischen Tragödie (Zeitschr. f. Gymu. -Wesen
LXVI 1912, 806 ff.) ein merkwürdiges Schwanken festgestellt hat,
daß nämlich einerseits , der alten gr. Tragödie entsprechend , der
Chor als dauernd auf der Szene anwesend und au der Handlung
teilnehmend gedacht ist , andererseits in hellenistischer Weise der
Chor nach jedem Akte neu öinzieht, sein s/.tßo?uov singt und wieder
abzieht, bestätigt die an dem Bau der Lieder aufgezeigte Entwick-
lung (Sen.s Werke 107 ff.). Die Entwicklung in der künstlerischen
Form darf man auf Entstehen der Tragödien in verschiedenen Zeit-
abschnitten zurückführen, die erste einfachste Gruppe wird die älteste,
die dritte, künstlichste die jüngste sein. Durch Prüfung der
sonstigen bisher vorgebrachten Indizien komme ich zu dem Schluß,
daß die Stücke der ersten Gruppe (Thy. Herc. f. Tro.) vor Neros
Regierungsantritt, etwa 52 — 54 — entscheidend für die Chronologie
ist die Parodie in der Neuie auf Claudius Tod iu der Apokolokyntosis,
siehe t>ben S. 153 f. — , die übrigen Stücke nach Neros Regierungsantritt,
etwa 54/5 Phaedra und Medea, 56/7 Ag. und Oed., gedichtet sind.
An der Echtheit des Herc. 0. kann nach den eingehenden Unter-
suchungen Ackermanns (s. Tolkiehn, Bursiau 171, 17 fg.) und
A. St. Peases, On the Authenticity of the Herc. 0., Trans-
actions of the Americ. Philol. Association XLIX 1918, 3 — 26 (dazu
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 197
Fr. Levy, Berl. philol. Woch. 1920, 705—7) kein Zweifel mehr
aufkommen. Die Chortechuik läßt es (Sen.s Werke 110 ff.) am
wahrscheinlichsten erscheinen, daß dies Drama nach den anderen
7 Seu. -Stücken verfaßt ist, und in die letzte Lebenszeit Sen.s wird
es durch die 80 ff. vorliegende Anspielung auf den Durchstich
des Korinthischen Isthmos, den Nero bei seinem Aufenthalt in
Griechenland tatsächlich durchzuführen unternahm , mit Sicherheit
verwiesen. Und da die Unklarheiten in den Lokalangaben in den
vorderen Teilen des Stückes es zweifellos als nicht völlig aus-
geglichenen, nicht vom Dichter zur Publikation fertig gemachten
Entwurf erkennen lassen , müssen wir annehmen , daß Seu. sein
großes stoisches Glaubensbekenntnis im Herc. 0. zwar im Freundes-
kreise mag stückweise vorgelesen haben — denn Lukan kannte es
anscheinend — , es aber nicht mehr selbst nach letzter Feile hat
publizieren können. Wie bei Sophokles nachgelassenem Werke,
dem Oidipus auf Kolonos , mag sich die übermäßige Länge und
manche Unausgeglichenheit auch beim Herc. 0. eben aus der Tat-
sache erklären, daß er postum aus Sen.s Nachlaß von einem Editor
herausgegeben wurde.
Die Einheit der 3 bzw. -i Phoenissenbruchstücke hat zuletzt
Jos. Mesk, Sens.s Phoen., Wiener Stud. XXXVII 1915 289—322
aus ihx-em Aufbau, der Art der Sagenbehandlung und dem Verhält-
nis zu den Vorbildern zii erweisen gesucht, und trotz der Gegen-
bemerkungen Fr. Levys, Berl. philol. Woch. 1920, 382—84, er-
scheint es mir sicher, daß es Szenen sind, aus denen Sen. eine
Tragödie zu gestalten gedachte : man sieht, die großen Redestücke
waren es, die Sen. von einer Tragödie zuerst entwarf, und so ge-
währen gerade diese Fragmente einen lehrreichen Einblick in Sen.s
Dichterwerkstatt, mehr als die vollendeten Dramen, und Th. Birt
(N. Jbb. XXVII 361 ff.) hat sie in dieser Beziehung besonders ge-
würdigt. Diese Szenen, die also auch sicherlich aus Sen.s Nachlaß
herausgegeben sind, wollte Birt mit Thy. und Phaedra vor Neros
Regierungsantritt entstanden denken : nach der Ermordung des Bri-
tanniens habe Sen. das Stück vom Bruderzwist nicht zu Ende ge-
dichtet, Mesk hat schon bemerkt, daß doch die Umstände beider
Untaten völlig verschieden waren und Sen. durch solche Bedenken
gewiß nicht an der Vollendung seines Dramas gehindert worden
sei, aber Mesks eigene Annahme, wegen des wiederholten Orts-
wechsels in den entworfenen Szenen habe Sen. sie unvollendet
liegen gelassen, ist erst recht unglaubhaft: solche Diskrepanzen
konnte doch der Dichter ausgleichen, wenn sie ihm störend waren.
198 Karl Münscher.
Da kein innerer, sacliliclier Grund erkennbar ist, weswegen die
Plioen. ein Torso geblieben sind, komme ich (Sen.s Werke 119 jff.)
zu dem Schluß, daß Sen. über der Arbeit an den Phoen. gestorben
sei, und zu den letzten Zeiten des Lebens des Dichters paßt durch-
aus der Gedankengehalt der entworfeneu Szenen : Sen. hat darin
die Frage nach der Berechtigung des Selbstmordes und der Be-
deutung des Besitzes der Herrschaft für den Menschen poetisch ge-
staltet, als er selbst nach dem Bruche mit Xero, täglich den eigenen
Untergang vor Augen, mit diesen Problemen rang. Zum Tode be-
reit sein, das hat Sen. sonst in dieser Zeit als das Höchste gelehrt
und angesehen ; Antigone aber läßt der Dichter ihren Vater noch
Höheres lehren : den Entschluß, unschuldig leidend zu leben ! Das
Werk, das der Welt diese letzte, erhabenste Anschauung predigen
sollte, sollte die Phoen, -Tragödie werden — sie zu vollenden, war
dem Dichter nicht vergönnt.
So hat Sen. am Ende seines Lebens nach jahrelanger Pause,
sich selbst zu Trost und Freude, die Tragödiendichtung wieder
aufgenommen. Veröffentlicht hat er selbst davon nichts mehr. Ein
Freund als Editor gab gewiß nach Sen.s Tode den prosaischen und
poetischen Nachlaß, Herc. 0. u. Phoen., heraus, und ein paar Jahre
später, als Nero tot war, auch noch als letztes postumes Sen.-Werk
die Octavia praetexta, falls sie ein Werk Sen.s ist.
Nachdem Ant. Siegmund in zsvei Progr. 'Zur Kritik der
Tragödie Oct.', Böhm.-Leipa 1910/11, für die Echtheit eingetreten
war (dazu Tolkiehn, Bursian CLVHI 1912, 19) sind zwei aus-
ländische Gelehrte fast gleichzeitig zum gleichen Ergebnis gekommen:
Edwin Flinck, De Oct. praet. auctore, Diss. Helsingfors 1920
(dazu Tolkiehn, Philol. Woch. 1921, 198—201, K. Preisen-
danz, Liter. Zentralbl. 1921, 480) und *A. St. Pease, Is the
Oct. a plaj of Sen.?, Class. Journal XV 1920, 388 flf. (mir bekannt
aus Fr. Levys Anzeige Berl. philol. Woch. 1920, 1134/6, vgl. 1921,
951). Anders urteilen *L. Lucas, The Oct., Class. Review. XXXV
91 £F. (nach Philol. Woch. 1921, 1165), *Fr. Ageno, Ottavia.
Tragedia lat. d' iucerto autore recata in versi italiani. Firenze 1920
(Rez. *L. Valmaggi, Bollettino di filol. class. XXVIII 1921, 29 fg.).
Ich habe mich (Sen.s Werke 126 ff.) auch zum Glauben an Sen.s
Autorschaft bekannt.
Der Verf. der Oct. ist zweifellos ein Mann , der die Dinge,
von denen er dichtet, aus nächster Nähe miterlebt hat, und er
schreibt, da sein Stück, wie es scheint, bereits im Aetnaepyllion
benutzt ist (0. Groß, De metonymiis sermonis Lat. a deorura
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 199
uominibus petitis, Diss. Halle 1911 = Diss. philo!. Hai. XIX 4,
327 ff.), spätestens Anfang der 70 er Jahre. Die Frage, ob das Stück
noch bei Neros Lebzeiten gedichtet sein kann , hängt im wesent-
lichen davon ab, ob die Worte des Schattens der Agrippina über
Neros Untergang ein vaticinium ex eventii sind oder nicht. Sieg-
niund (1911, 20 ff.) sah die Stelle als Verfluchung nach alexan-
drinischem Muster an (vgl. Ov. Ibis 159 ff.); von wörtlichem Über-
einstimmen der Todesankündigung in Agrippinas Worten mit
Suetons (Nero 49, 3) Darstellung vom wirklichen Ende Neros ist
nur insofern die Rede, als an beiden Stellen vom durchschnittenen
iugulum gesprochen wird, und das ist eine bei Dichtern und Pro-
saikern allgemein beliebte Redewendung. Wirkliche Kenntnis vom
Tode Neros brauche der Oct. -Dichter nicht gehabt zu haben, somit
sei Sen., so urteilte ich, als Verf. möglich. Der Einwand (z. B.
bei Th. Birt, Kritik und Hermeneutik 226), Sen. könne sich nicht
selbst als agierende Theaterfigur eingeführt haben, beiTiht lediglich
auf einem unbehaglichen ästhetischen Gefühl. Sen. konnte das tun,
zumal er an Veröffentlichung dieser Dichtung bei Neros Lebzeiten
doch nicht denken konnte. Gerade das Zwiegespräch zwischen Sen.
und Nero wie der davorstehende Monolog Sen.s sind voll von
echten Sen.-Gedanken, und das ganze Stück weist eine solche Fülle
von Übereinstimmungen mit den übrigen echten Sen. -Stücken auf
(außer bei Flinck besonders nachgewiesen von Fr. Ladek Diss.
pbilol. Vindob. III 52 ff, und jetzt in Hosius Ausgabe oben S. 186),
daß man diesen intimen Sen.-Kenner am liebsten für Sen. selbst
hält. Sprache und Stil hat Flinck eingehend untersucht : sie schließen
Sen. nicht aus. Im Kapitel de rebus metricis hat Flinck (gegen
Leo) völlige Übereinstimmung der Oct. mit dem Sen. trag, fest-
gestellt. Abweichend von den übrigen Tragödien enthält die Oct.
allerdings nur anapästische Lieder : ich glaube gezeigt zu haben
(134 ff.), daß es aus der Entwicklung Sen.s zu immer reicherer
und freierer Verwendung der Anapäste völlig verständlich ist, falls
er schließlich ein Stück ohne andere Liedmaße gedichtet hat, ab-
gesehen davon, daß wir nicht wissen, welche Entwicklung die fabula
praetexta in dieser Beziehung genommen hatte. Auffallend fand man
des Dichters freies Schalten mit Zeit und Ort. Das ganze Stück
ist nicht (wie Flinck und Leo, Der Monolog im Drama 93, wollten)
in fünf Akte zu zerlegen, sondern besteht aus drei Teilen. Teil I
1 — 592 spielt am Tage vor der Hochzeit Neros mit Poppaea, II 593
bis 689 am Morgen des Hochzeitstages selbst, HI 690—983 am
Tage nach der Hochzeit. Solche Dreiteilung des dramatischen Spiels
200 Karl Münscher.
war offenbar in hellenistischer Zeit üblich geworden: Lukians Tra-
godopodagra zeigt die gleiche dreiteilige Form. Weil der Dichter
der Oct. seine drei Teile an drei verschiedenen Tagen spielen läßt,
muß natürlich Verbindung oder Trennung dieser drei Teile durch
Chorlieder fehlen. Seltsam verhält es sich mit dem Schauplatze.
Das Stück spielt im ganzen vor dem kaiserlichen Palaste in Kom :
nur im Schlußteil sehen wir Octavia sozusagen auf dem Wege zum
Schiffe, das sie fortführen soll. Das erinnert an das Schwanken des
Schauplatzes im Eingang des Herc. 0. : wie dort, glaubte ich auch
hier diese Inkonzinnität als etwas Unausgeglichenes, als ein Zeichen
der Unvollendetheit ansprechen zu dürfen. Und als unvollendet
erschien mir die ganze Dichtung auch durch jenen seltsamen Mittel-
teil , der sich wie ein Prolog ausnimmt. Flüche spricht darin
Agrippinas Schatten aus über Neros neue Ehe, sie wünscht dem
inipius tyrannus den Tod — aber Nero und Poppaea triumphieren
im ganzen übrigen Stücke, das Mittelstück mit seinen Verwünschungen
fällt einigermaßen heraus, und ich meinte, der Dichter habe diesen
Verwünschungen deshalb keine Erfüllung in seinem Stücke zuteil
werden lassen können , 'weil sie im Ablauf der geschichtlichen
Ereignisse noch nicht zur Erfüllung gekommen waren'. Auch
die Oct. sei also ein unfertiges Drama, auch sie eine Nachlaß-
publikation, erschienen erst nach Neros Tode. Nichts spreche gegen
Sen. als Autor. Die Oct. sei von ihm gewiß bald nach Octavias
Ende (Juli 62) entworfen und später, als sie als letztes Stück des
Sen.-Nachlasses publiziert war, auch den Ausgaben der Sen.-Dramen
angeschlossen worden, wie sie in der sogenannten interpolierten A-
Klasse erhalten ist.
Gerade meine Behandlung des Oct.-Problems hat bei manchem
bedeutenden Gelehrten vollste, ja freudigste Zustimmung gefunden,
andere schwanken, andere halten fest an Leos Unechtheitserklärung.
Ein sachlicher Einwand ist mir alsbald von meinem Kollegen Schöne
entgegengehalten worden. Er meinte, ich hätte die sprachlichen
Abweichungen der Oct. von den übrigen Sen.-Trgödien unterschätzt.
Was ich zur Erklärung des Fehlens der auf -fwus und -fer gebildeten
Komposita in der Oct., die Sen. trag, sehr liebt, vorgebracht habe,
genüge nicht. Ich hatte gesagt, zur Anwendung solcher Komposita
sei Sen. durch kühne Wortbildungen seiner gr. Vorbilder angeregt
worden. Manche dieser Bildungen sind Neuschöpfungen Sen.s ; solche
sind: castiftcus Phoen. 169. inccstificus Phoen, 223. läificus M«d.
577 (E; luctificus Ä). nidificus Med. 714. svperbificus Herc. f. 58.
luäifcr Herc. f. 687. montifcr Herc. 0. 1212. solifer Herc. 0. 159.
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 201
Das meiste entstammt älterer Dichtersprache, nicht weniges dem
alten Drama: frondifer (Oed. 276) Naev. trag. 22 (Lucr.). flam-
mifer (Herc. f. 593. 982. Thy. 855) Eun. scen. 29 (Ov.). frugifcr
(Phoen. 219. 603) Enn. ann. 489. Trag. ine. 164 (Oe., in Prosa
Cic. 11. Liv.). lactificus (Tro. 596) Enn. scen. 152. ann. 574 (Lucr.).
mäleficus (Tro. 752) Plaut. Gas. 783 (u. Prosa), magnificus (Tro.
575. Med. 223) Plaut. Ter. (u. sonstige Poesie u. Prosa), horrifer
(Phae. 934) Pacuv. trag 82. Acc. trag. 566 (Lucr. Verg. Ov.).
lucifcr (Med. 842 u. a.) Acc. trag. 331 (Ov. Cic. pros.). terrificus
(Herc. f. 82. Oed. 384) Trag. ine. 96 (Lucr. Verg. Ov.), und noch
mehr würden wir vielleicht auf die alte Tragödie zurückführen
können, wenn wir von ihr nicht bloß klägliche Trümmer besäßen
(sie bieten noch folgende Adj. dieser Bildung: regificus Enn. scen.
96. largificus Pacuv. trag. 414. hostißcus Acc. trag. 80 u. 82. in-
gratificus u. heneficus Acc. trag. 364. mirificus Acc. praet. 27). Aus
älteren Epikern sind zu belegen : aus Lucil. : signifer 90 (Phoen.
390. Thy. 846, desgl. Lucr., in Prosa Cic. Caes. Liv. Vitr.). mor-
tifer 802 (Med. 688 u. a., desgl. Cic. poet. u. pros. Verg.) ; aus
Cic. poet.: aestifer Arat. 111. 320. (Oed. 39, desgl. Lucr. Verg.).
aurifer Tusc. II 22 = Soph. Trach. 1099 fg. cöv xe. XQVöicuv dgccKOvra
IxijXcüV (pvlaAU (Herc. f. 240, desgl. Catull. Tib. Ov. ; in der Her-
cules-^ijatg, die Cic. aus den Trach. übersetzt, bringt er noch zwei
solche Adj. an, anxifer u. vastifiaus, denen im Gr. nichts entspricht).
squamifer Arat. 328 = lyßvEg aozegoevTeg (Med. 685). hidificus Tusc.
n 25 (Herc. f. 102. Phae. 995. Oed. 3. Phoen. 152. Med. 577 in A,
desgl. Verg.); aus Lucr.: florifer III 11 (Oed. 649). ignifer II 25
u. a. (Med. 34. Phae. 960. Herc. 0. 1362. 1748, desgl. Ov.). rorifer
VI 864 (Phae. 11).. tabificus VI 737 (Oed. 79, desgl. Cic. pros.);
aus Catull 64, 394 letifer (Herc. 0. 208, desgl. Verg. Ov.); aus
augusteischen Dichtern : mehrere aus Verg. : caelifer Aen. VI 796
(Herc. f. 528, desgl. Ov.). imhrifer Georg. I 313 (Phae. Hol. Oed.
815, desgl. Ov.). pestifer Aen. VII 570 (Herc. f. 562. 976. Phoen.
38. 220, desgl. Ov., in Prosa Cic. u. Liv.). pinifer ecl. 10, 14.
Aen. IV 249 (Ag. 346). vulnificus Aen. VIII 446 (Phae. 345,
desgl. Ov.); ein vereinzeltes aus Hör.: pomifer carm. IH 23, 8.
IV 7, 11 (Herc. f. 700); mehrere aus Prop. : anguifer II 2, 8
(Herc. f. 812, desgl. Ov.). gemmifer III 4, 2 (Med. 725. Herc. 0.
622. 661). velifcr III 9, 35 (Thy. 129, desgl. Ov.) ; zahlreichere
aus Ov.: armifer am. II 6, 35 u. a. (Med. 468. 980. Phae. 909).
lacifer am. II 16, 8 (Oed. 415). scejjtrifer fast. VI 480 (Med. 59).
sacrificus met. XV 483 u. a. (Herc. f. 893. Med. 38. Ag. 106. 584,
202 Karl Münscher.
desgl. Liv.). saxificus von der Medusa met. 217. Jb. 553 (Herc. f.
902); eines aus Manil. II 442 spicifer (Herc. 0. 598). Nur eine
der bei Sen. trag, zu findenden Bildungen ist vor ihm anscheinend
nur in Prosa nachweisbar : stellifer (Phae. 785) bei Cic. rep. VI 18
in der gehobenen Sprache des somnium Scipionis. Doch wie und
woher auch Sen. zu seiner Vorliebe für diese Art von Adjektiv-
bildungen gekommen sein mag — in der Oct. fehlen sie , und das
ist auffallig und schwer erklärbar, wenn die Oct. ein Werk Sen.s
ist, aber es ist nicht minder schwer erklärbar, wenn die Oct.
nicht von Sen. ist: wie konnte deren Verf., der so völlig vom Geist
und Wort Sen.s erfüllt ist — Hosius schrieb mir: 'Gedanken und
Sprache sind so sehr des Philosophen, daß wir entweder die Identi-
tät der Verfasser annehröen müssen , oder wir müssen überhaupt
darauf verzichten , aus solchen Gründen auf einen Verfasser zu
schließen' — , wie konnte dem Sen. -Nachdichter die Liebhaberei
seines Vorbildes entgehen , wie konnte er auf den Gedanken
kommen , sie zu meiden ? So , bleibt zur Erklärung des Fehlens
jener beiden Adjektivbildungen in der Oct. doch nur der Hinweis
auf die Verschiedenheit der genera des dramatischen Spiels, der
Crepidata und der Praetexta, übrig: jene bevorzugte sie, doch wohl,
um die hochklingenden Wortbildungen der griechischen Tragiker nach-
zuahmen (nicht zu übersetzen), diese vermied sie, weil sie der Sprache
des Lebens näher stand. Wenigstens ist in dem oben vorgelegten
Wortmaterial aus den römischen Dramatiker-Fragmenten nur ein
Wort, und zwar das auch im gewöhnlichen Leben übliche mirißcus
(Ter. Cic. Caes. Catull. Ov. Val. Max.) aus einer Praetexta des
Accius (27) belegt, wie die gleichfalls prosaischen maleficus und
magnificus bei Plautus und Terenz. Aber für die Entscheidung der
Echtheitsfrage scheidet das Nichtvorhandensein jener Adjektiv-
bildungen in der Oct. aus , wenn es auf der Vex-schiedenheit der
dramatischen Gattung beruht.
Seinen oben angeführten Worten über die Fülle der Überein-
stimmungen zwischen Oct. und den andern Sen. -Tragödien fügte
Hosius folgendes hinzu: 'Je mehr ich über das Problem nachsinne,
desto mehr neige ich zur Autorschaft Sen.s . . . Wenn ich nur über
die Agrippinaszene hinwegkäme ! Die ist für mich als Sen.-isch
doch noch etwas unverdaulich. 'Daß Nero einmal eines gewalt-
samen Todes sterben würde, das konnte wohl ein jeder in Rom
prophezeien', sagen Sie S. 129; aber jeder solchen Prophezeiung
konnte eine Influenza die Wahrheit rauben; das ist doch eine be-
denkliche Sache. Und geht V. 627 der flehende Parther nicht auf
Bericlit über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 203
<ii€ Tiridatesepisode in Italien im J. 66, ein Jabr nach Sen.s Tode?
^Y^uu man es auch auf den Sieg Corbulos beziehen kann. Also
etSras schwanke ich noch. Auf jeden Fall wird, die Frage noch
nicht zur Ruhe kommen, auch dank Ihrer besonnenen Ausführung'.
Das war mir Anlaß, das Problem, welches uns die Agrippinaszene
stellt, erneut zu prüfen — und ich bin dadurch zu der Überzeugung
gelangt, daß sie einen ganzen Komplex von historischen Tatsachen
erithält, die Sen.s Autorschaft ausschließen. Meine folgenden Aus-
führungen hierüber beruhen aber zum großen Teil auf Darlegungen,
für die ich meinem Kollegen Münzer herzlich zu danken habe.
Ich beginne mit einer Stelle, die nicht zur Agrippinaszene ge-
hört. Poppaea erzählt im dritten Teile des Stückes ihrer Amme
den schreckensvollen Traum, den sie in der Hochzeitsnacht gesehen
hat. 728 ff. heißt es: venientem intuor
comitante turha coniugem quondam meum
natumque; proper at petere complexus meos
Crispinus, intermissa libare oscida,
irrupit intra tecta cum trepidus mea
ensemque iugulo condidit saevum Nero.
In wessen iugulum stößt Nero sein Schwert, in seins oder das
des Crispinus? Ich habe mich (Sen.s Werke 128, 1) der Auf-
fassung angeschlossen (von Flinck 6 f. u. a. vertreten), daß damit
Nero als Crispinus Mörder bezeichnet werde und zu iugulo also eins
(des Crispinus) hinzuzudenken sei. Grammatisch ist das natürlich
möglich, aber scharfe Interpretation der Stelle beweist das Gegen-
teil, Die Amme deutet, Poppaea zu beruhigen, das Traumgesicht
in günstigem Sinne aus und sagt (752 f.): iugulo quod ensem con-
didit princeps tuus, bellum haitd movebit, pace sed ferrmn leget. Da
Crispinus unmittelbar vorher nicht genannt ist, kann es doch hier
nur das eigene iugulum sein , in das Nero das Schwert versenkt.
Undenkbar, daß der Dichter dem Leser zumuten sollte, auch in
diesem Verse zu itigiilo ein eius oder Crispini hinzuzudenken.
Und es wäre ja auch eine zu seltsame Deutung der nutrix, daß die
Ermordung eines Gegners , des Crispinus , ein Zeichen zukünftiger
friedlicher Regierung Neros sein sollte. In den eigenen Leib, so
meint die Amme , hat Nero sein Schwert wie in eine Scheide ver-
senkt, um es nimmer zu brauchen. Aber warum ließ der Dichter
den Nero das Schwert in dieser Traumerzählung nicht einfach in
die Scheide stecken? Nur um das Grausige zu steigern? Nein,
weil er wußte, daß Nero sich tatsächlich das Schwert in die Kehle
204 Karl Münscher.
gestoßen hat! Und auch in Poppaeas eigener Erzählung steht em
Wort, das die Auffassung, Nero habe in dem Traumgesichte Pop-
paeas früheren Gatten, nicht sich selbst erstochen, ausschließt: beide,
Crispinus und Nero, erscheinen in Poppaeas Gemache, jener sinkt in
ihre Arme und küßt sie, dieser stürzt ins Zimmer trepidus, zitteriid
vor Angst, also vor irgendwelchen Verfolgern, und stößt sein
Schwert doch natürlich nicht in Crispinus, sondern in die eigene
Kehle. Daß dies die einzig mögliche Auffassung dieser Stelle ist,
geht auch klar hervor aus dem Gegenstück zu Poppaeas Traum,,
den Träumen Octavias, von denen die Kaiserin im ersten Teile des
Dramas ihrer Amme erzählt. Oft erscheine ihr, so sagt sie, ihr toter
Bruder Britanniens, 118 ff. :
modo facibus atris armat infirmas manus
oculosgue et ora fratris (Neros) infestus petit,
modo trepidtis idem refugit in thalamos meos;
persequitur liostis (Nero) atque inhaerenti mihi
violentiis ensem per latus nostrum rapit.
Es ist klar, ein als trepidus Fliehender tötet keinen andern,
sondern entweder wird er von seinem Verfolger getötet — so
Britanniens von Nero in Octavias Traum — , oder er tötet sich selbst,
seinen Verfolgern zu entrinnen — so Nero in Poppaeas Traum.
Und was ergibt also die Interpretation dieses Traumes der Pop-
paea für den Dichter des Oct. ? Daß er wußte , daß Nero sich
selbst, vor Verfolgern fliehend, mit einem Schwertstoß in die Kehle
entleibt hatte, wie Sueton erzählt (49, 3): iamque equites appropin-
quäbant, quibus praeceptum erat, ut vivum cum adtraherent. Quod
ut sensit, trepidanier effatus 'injtoiv [.i wycvnodiov a/.iq'i '/.tvnog
Ovar« z^aAAft (K 535) ferrum iugiilo adegit iuvante Epaphrodito
a lihellis. (Kichtig urteilte F. Ladek, Diss. Vindob. III 1891, 6.
Zeitschr. f. d. österr. Gymn. LVI 1905, 863, 1).
Demnach muß also die Agrippinaszene doch ein vaticinium ex
eventu sein. Gewiß ist die Ankündigung des Todes Neros mit
typischen Zügen, wie den Hinweisen auf die Büßer der Unterwelt
durchsetzt, aber verbera und iurpis fuga, von denen die Rede ist (620),
veniet dies tempusque — anklingend an das homerische aaoexat
itj/iag /l 164, das einst Scipio Aemilianus beim Untergang Karthagos
zitierte, Appian. VIII 82 nach Polybios — quo reddat . . . iugulum
hostibus desertus ac destructus et cunctis egens (629/31), das sind doch
Züge, die der Dichter aus den tatsächlichen Vorgängen bei Neros
Tode den Worten Agrippinas eingefügt hat. Denn diese beweisen
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 205
auch sonst noch, daß Neros Tod wie andere Ereignisse nach Sen.s
Tode dem Dichter bekannt waren. — Nachdem schon gesagt ist,
daß die ultrix Erinys impio dignum parat letum tyranno — was dann
mit den Strafen der bekannten Unterweltsbüßer näher ausgeführt
wird — , fährt Agrippina fort (624 ff.) :
licet extruat marmoribus atque anro tegat
superbus aülatn, Urnen armatae ducis
servent cohortes, mittat immensas opes
exhaustits orbis, supplices dextram petant
Parthi crueniam, regna divitias ferant:
trotzdem wird Nero (veniet dies etc. 629 ff.) seinem Verhängnis nicht
entgehen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, ja notwendig, daß
diese zwischen der doppelten Todesankündigung stehenden Zeilen
von Dingen sprechen , die den letzten Jahren vor Neros Tode an-
gehören. Das erste (624 f.) ist die auJa, die Nero mit Marmor
erbaut' und mit Gold deckt. Gewiß ist von goldgeschmückten tecta
auch sonst nicht selten bei den Römern die Eede (Stellen im Thes.
1. L. II 1530, 4 ff.), aber es kann doch wohl nicht zweifelhaft sein,
daß hier an die domus aurea Neros im besonderen gedacht ist,
deren Erbauung nach Tac. ann. XV 42 (sonstige Stellen Suet.
Nero 31, 1. Plin. nat. XXXIII 54, vereint bei Hosius zu 624)
ins Jahr 64, also ins letzte Lebensjahr Sen.s fällt; das hätte dieser
also gei'ade noch zur Not erwähnen können. — Es folgt 625 f.
Urnen armatae ducis servent cohortes. Das wird nicht auf die dtiae
praetoriae cohortes armatae gehen, mit denen Nero im Jahre 66 das
Sitzungslokal des Senats, den Tempel der Venus Genetrix, besetzen
ließ (Tac. ann. XVT 27, von Hosius z. d. St. angeführt), weit eher
darf man an Tacitus Schilderung bei der Pisonischen Verschwörung
denken, XV 58 : magis magisque pavido Kerone, quamquam muUi-
plicatis excifbiis — dies der technische Ausdruck für die Palast-
wache (Mommsen, Eöm. Staatsrecht 11^ 864, 4) — semet saejjsisset,
quia et urbem per manipulos occupatis moenibus^ insesso eiiam mari et
amne, velut in custodiam dedit. Münzers Vei-mutung ist sehr an-
sprechend, daß Nero dabei die sonst befolgte Kegel durchbrochen
habe , daß die wachthabende Prätorianerkohorte im Schloß ohne
Rüstung — drum die armatae . . . cohortes in der Oct.- Stelle —
und sagum, sondern in der toga auf Wache zog (Tac. bist. I 18.
Mommsen I^ 431). Das sind Vorgänge aus Sen.s allerletzten
Lebenstagen ! — Dann heißt es (626 f.) : mittat immensas opes
exhaustus orbis (nur im Wortlaut klingt Sen.s Wort an, das
206 Karl Münscher.
Hosius anführt V. 434/5 luxuria vidrix orbis immetisas opes iatn
pridem avaris manihus, ut perdat, rapit). Von diesen Erpressungen,
die während Neros letzter Regierungsjahre , nach der Erschöpfung
Italiens , in allen Provinzen , bei allen verbündeten Völkern und
sogenannten freien Staaten betrieben wurden, spricht auch Tacitus (ann.
XV 45) : conferendis pecuniis pervastata Italia provinciae etwrsae
sociique populi et quae civitatium liberae vocantur. Drum planen
die Verschworenen (XV 52) Neros Ermordung in illa invisa et
spoliis civium extruda domo ^ wo, wie hier in der Oct.-Stelle, die
Erpressungen und der Palastbau miteinander verknüpft sind. —
Es folgt der Satz (627 f.) : suppUces dextram pdant Parthi cruentam.
Man hat zu Rom im Herbst 62 iropaea de Partim araisque media
Gapitolini montis errichtet (Tac. ann, XV 18), auf Grund von
Paetus hochtrabendem Siegesbericht (XV 8), obwohl seine folgende
Niederlage (XV 10 — 16) wahrlich keinen Anlaß dazu bot. Aber
der Dichter denkt natürlich nicht an das Jahr 62 , sondern an die
Erfolge, die der bewährte Gn. Domitius Corbulo, erneut allein mit
dem Kommando im Osten betraut, im Jahre 63 gegen die Parther
erzielte (XV 24 fi'.). Nach erfolgreichem Einfall in Südarmenien
schließt Corbulo noch im selben Jahre 63 einen neuen Vertrag mit
dem Partherkönig Vologaeses, und in Rhandeia , dem Orte der
Kapitulation des Paetus (Dio C. LXII 23, 2), treffen Corbulo und
Tiridates , Vologaeses Bruder , zum colloquium zusammen , und
Tiridates erklärt seine Bereitschaft, nach Rom zu kommen und
aus Neros Hand die Belehuung mit Armenien entgegenzunehmen:
ohne eine Niederlage der Parther werde er , der Arsakide , als
Bittender in Rom erscheinen (iturum quippe Bomam . . . non adversis
Parthorum rebus suppUcem Ärsaciden)-^ als Geisel stellte er seine
Tochter und schrieb litteras snpplices an Nero (ann. XV 29 f.).
Zweifellos reichen diese Geschehnisse, die Sen. noch erlebt und
erfahren hat, an sich aus, jenes Sätzchen der Oct. von den süpplices
Parthi, die die blutige Rechte des Siegers ergreifen, zu erklären.
Aber viel wahrscheinlicher ist es doch, daß der Dichter nicht jene
Vorgänge im fernen Osten meint, sondern die mit höchstem Prunk
inszenierte Erfüllung des parthischen Versprechens , die Belehnung
des Tiridates mit Armenien in Rom selbst. Nach dem zur ersten
Begrüßung in Puteoli veranstalteten Kampfspiele, an dem Tiridates
selbst als Bogenschütze teilnahm , folgte in Rom die eigentliche
Belehnung des Partlierprinzen mit Armenien auf dem Forum, wobei
Nero ihm das Diadem aufs Haupt setzte, und dann der ""goldene
Tag' im goldgeschmückten Theater, wo Nero selbst als Kitharode
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1021. 207
und Wagenlenk^r auftrat (Dio C. LXIII 1 — 6) : Nero wurde als
Imperator begrüßt und der Janusbogen geschlossen. Und wieder
heißt es in der Schilderung dieser Szenen (Suet. Nero 13), des
bittflehenden Parthers Worte [verba siqjplicis) wurden dem Volke
verdolmetscht, rursus svjyplicantem ließ Nero ihn im Theater an
seiner rechten Seite niedersitzen. Diese Szene in Rom hat Sen.
nicht mehr erlebt : erst unter dem Konsulate des C. Telesinus und
Suetonius Paiilinus im Jahre 66 kam Tiridates (nach ann. XVI 23,
Dio C. LXIII 1, 1) nach Rom. Haben wir nun einen Beweis
dafür, daß der Oct.-Dichter nicht bloß an die Demütigung des
Tiridates in Rhandeia vor Corbulo im Jahre 63 denkt, sondern au
seine Demütigung vor Nero in Rom im Jahre 66? Die Ent-
scheidung zugunsten der zweiten Möglichkeit und damit gegen
Sen.s Autorschaft für die Oct. bringt das letzte Sätzchen der oben
ausgeschriebenen Verse (628) : regna divitias ferant. Im ersten
Augenblick wundert sich vielleicht der Leser, daß dies Sätzchen,
das doch anscheinend eine Ergänzung gibt zu dem vorher über die
immensae opes Gesagten, die der exhaustus orbis nach Rom schicken
müsse , durch den Satz vom bittflehenden Parther abgetrennt ist.
Aber es hat eben in Wahrheit nichts mit der Ausplünderung und
Auspressung des römischen Reiches und aller seiner Untertanen zu
tun. Welche regna können denn überhaupt gemeint sein? Nur
Parthien und Armenien, mit denen Rom fortwährend in wechsel-
vollem Streite steht. Zu regna ist also aus dem ersten Worte des
V. 628 Parthi ein Parthorum hinzuzudenken. Der Parther König-
reiche bringen ihre Reichtümer nach Rom, nicht schicken sie sie,
wie alle sonstigen Bewohner des orbis terrarum als abgabenpflichtige
Glieder des römischen Imperium •, sie bringen sie selbst, die Parther,
die Tiridates nach Rom geleiten. Und sie kamen wirklich mit
ihren divitiae: bei Dio Cassius lesen wir, ihr ganzer Zug war eine
ycofXTir] öia naar^g xrjg anb rov EvrpQccrov yrjg üansQ sv tnivi-Kioig
(LXin 1). Dem jugendschönen Tiridates folgte r; i/egaTteta »j TS
7iaQaa/.EV^ ^ ßaciXinrj näoa; 3000 parthische Reiter geleiteten
ihn außer zahlreichen Römern; seine Gemahlin zog mit ihm, einen
goldenen Helm trug sie ccvtl yialvnzQag. Alle Städte, durch die
der Zug ging, empfingen ihn festlich, lieferten alle Verpflegung
umsonst, so daß zwanzig Myriaden an täglichem Aiif^'and während
der ganzen, 9 Monate dauernden Reise dem Fiskus gutgeschrieben
wurden (Dio C. LXIII 2 , Ta te eTtiz/jdeia navra T(Qol/.a eixov,
CoatE EL7.0OL (.IVQlCcÖag XO 7jf.l£QiGlOV avCcllOf-lU Tf[j Ö}]U0010J
XoyiG&rjrai, y.al tovto in ivvea f-irp'ag, olg coöomoQrjOav, Of-ioiiog
208 Ka,v\ Münscher.
iysveTO. Der Reichtum des Orients kam also wirklich mit Tiridates
nach Rom : drum jenes Sätzchen in der Oct. : regna (Parthorum)
divitias ferant. Kein Zweifel melir, der Oct.-Dichter bezieht sich
in den V. 627/8 auf Tiridates glanzvolles und zugleich demütiges
Erscheinen in Rom im Jahre 66.
Es stehen also in der Agrippinaszene der Oct. zwischen den
beiden Verkündigungen von Neros Untergang (619 — 623 und
629 — 631) ein paar Zeilen (624 — 8), die lauter Ereignisse erwähnen,
die der allerletzten Lebenszeit Sen.s oder, wie die Tiridatesepisode,
sicher der Zeit nach seinem Tode angehören, die Sen. also nicht
anführen konnte : somit ist der Dichter der Oct. nicht Seneca.
Ich schäme mich nicht, daß ich so bald nach der Veröffent-
lichung meines Sen. -Buches die darin vertretene Auffassung, die
Oct. sei ein echtes Werk Sen.s selbst, widerrufen muß: besser eine
Palinodie als Verharren im Irrtum. Und es war wohl von Nutzen,
daß ich noch einmal alle Momente zusammenfaßte, die für Sen.s
Autorschaft sprechen konnten, um desto sicherer zu erkennen, daß
es einzig und allein die historischen Beziehungen sind, die Sen.s
Verfasserschaft ausschließen. Alle meine Ausführungen über Sprache
und Gedankengehalt, Metrik und Komposition der Oct. bestehen zu
Recht , nur beweisen sie nicht , was ich darin suchte : Sen.s Ver-
fasserschaft; aber sie gewähren uns erwünschten Einblick in Art
und Wesen, Wollen und Können des namenlosen Dichters dieser
Praetexta. Ein Zeitgenosse Sen.s ist es, der sich mit bewunderndem,
• hingebendem Eifer in Sen.s Werke versenkt, sie sozusagen ganz
in sich aufgesogen hat, so daß sein eigenes Dichtwerk, die Oct.,
nach Wortform, Gedankengehalt und Versbau als Werk Sen.s gelten
könnte. Überdies hat er Sen. selbst in seiner Dichtung vei-herrlicht,
er hat ihn als den redlichen, ernsten, wahrhaft menschlichen Malmer
dem kaiserlichen Schüler Nero gegenübergestellt, er läßt ihn sich
dabei voll Dankbarkeit an die ganz den 'Wissenschaften geweihten
Zeiten der VerbanniTUg in Korsika erinnern • von dem noch ertrag-
reicheren otium der letzten Lebensjahre Sen.s konnte in dem noch
bei Octavias Lebzeiten (f 62) spielenden Stücke nicht die Rede
sein, aber Sen.s Stimmung, wie sie uns aus de otio vor allem
bekannt ist, der Wunsch und Willen, nach der Befreiung vom
höfischen Leben, die Muße ganz mit literarischem Wirken zu füllen,
kommt in dieser Rückerinnerung an Korsika ti'effend zum Ausdruck.
Kein Zweifel, dieser intimste Kenner Sen.s und seiner Gedanken
muß ein Freund Sen.s gewesen sein. Und nicht minder klar er-
kennt man ein Zweites: der Mann, der sich gedrungen fühlte, das
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1910 — 1921. 209
Schicksal der unglücklicheu Kaiserin Octavia poetisch darzustellen,
er hat dieser Frau sicherlich auch im Leben nahe gestanden —
ob Seu. so leidenschaftslos und wohlwollend der Tochter seiner
gTimmigen Feindin Messalina gegenübergestanden hat , daß er sie
dichterisch zu verherrlichen gewillt gewesen wäre, könnte immerhin
zweifelhaft erscheinen.
War Sen. der Dichter der Oct., so sprach er in der Aprippina-
Verkiindigung vom Tode Neros seines eigenen Herzens Wunsch
aus, daß Nero ein seinen Taten entsprechendes Ende finden möge.
Dieser Wunsch stand in einem unleugbaren Widerspruch zum
sonstigen Inhalt des Stücks, in dem das verbrecherische Paar Nero-
Poppaea triumphiert, während die unschuldige Octavia in den Tod
geht; das deutete ich als einen Beweis, die Oct. Sen.s sei ein un-
vollendeter Entwurf. In ganz andere Beleuchtung rückt dies
Mittelstück, wenn feststeht, daß ein anderer die Oct. nach Sen.s
und Neros Tode verfaßt hat. Octavias Schicksal war ein wahrhaft
tragischer Stoff: ein schuldloses, königliches Weib, das dem ruch-
losen Haß des eigenen Gatten und seiner Geliebten erliegt. Aber
wenn auch das Laster zunächst siegt und triumphiert, die poetische
Gerechtigkeit verlangt doch den moralischen Sieg des Gerechten.
Ein Sophokles hätte aus solchem Stoff eine seiner zweiteiligen
Tragödien gemacht , wie es Aias und Antigone sind : nachdem
Octavia zum Tode geführt war , hätte er in einem zweiten Teile
von Neros wohlverdientem Falle berichten lassen. Anders verfuhr
der Dichter des erhaltenen Dramas. Allein die Tragödie der
kaiserlichen Märtyrerin wollte er in geschlossener dramatischer
Form darstellen , so konnte und durfte in seinem Stück nach
Octavias Abgang zu Verbanuung und Tod nichts Weiteres folgen.
Er verwandte den im hellenistischen Drama gegebeneu dreiteiligen
Aufbau und brachte in jedem der drei selbständig und uuverbunden
nebeneinanderstehenden Teile Ereignisse eines Tages zur Darstellung:
im ersten Octavias Bangen, Neros Entschluß zur Ehe mit Pöppaea
am Tage vor der Hochzeit, im dritten den Tag nach der Hochzeit:
Poppaeas Befürchtungen , des Volkes vergebliche Erhebung für
Octavia, die Rache an Octavia, im mittleren den Hochzeitstag selbst.
Aber das Hochzeitsfest darzustellen , an dem doch Octavia nicht
teilnahm, hatte der Dichter keinen Anlaß , so bot er nur ein
Stimmungsbild : Octavias und ihres getreuen Chores Klagen über
den schicksalsschweren Tag , der angebrochen ist. Davor aber
stellte er — in Anlehnung an seines Meisters Sen. Prologe im Ag.
und Thj., wo die Thyestis und Tantali umbrae aus dem Schatten-
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192. (1922. II). 14
210 Karl Münscher.
reiche emportauchen — das grausige Erscheinen der toten Mutter
Neros , die dem eigenen Sohne flucht vmd seinen elenden Tod im
voraus verkündet. Mit diesem kühnen Einfügen einer die Zukunft
kündenden Verstorbenen , wie es sonst in Prologen üblich war,
inmitten seines Stückes füllt der Dichter nicht bloß den allzu
dürftigen mittleren Teil seines Dramas aiif, er tut damit auch der
poetischen Gerechtigkeit Genüge : er fuhrt dem Beschauer an hervor-
ragender Stelle , an einem Ruhepunkte in der Mitte der ganzen
dramatischen Handlung in einer gespenstigen Zukunftsverkündung
den Untergang des Frevlers, der im Drama selbst triumphiert und
triumphieren muß, vor Augen. Damit tun wir einen Blick in die
künstlerische Werkstatt dieses Dichters: so abhängig er in Gedanken ,^
Worten und metrischer Form von Sen. ist , im dramatischen Auf-
bau verfährt er durchaus selbständig, geht er eigene, seltsam kühne
Wege. Und daß das eigenartige Mittelstück auf Nichtvollendung
des ganzen Dichterwerkes deute, dürfen wir nun wahrlich nicht
mehr glauben. Und auch des Chores schwankende Haltung, der
bald zur Poppaea, bald zur Octavia sich hinneigt, darf wohl nicht
als Beweis für Unausgeglichenheit und Unvollendetheit angesehen
werden, und ebensowenig schließlich jene leise Inkonzinnität, daß
Octavia und ihr Chor am Schluß das verhängnisvolle Schiff sehen
und begrüßen, das Octavia fortführen soll ; freilich vor dem Kaiser-
palast in Rom , vor dem das Stück im übrigen spielt , kann das
Schiff in Wahrheit nicht sichtbar sein , mögen wir es uns in Ostia
oder am Tiberhafen in Rom , bis wohin die Seeschiffe gelangten,
vor Anker liegend denken : mit solchen Lokalangaben nimmt es der
Dramatiker jeuer Zeiten offenbar nicht allzu genau, brauchte darin
auch keineswegs ängstlich zu sein, wenn doch für sein Werk nur
Lesen oder Vorlesen in Betracht kam, Leben auf der Bühne ihm
nicht beschieden war.
Wir kennen den Dichter der Oct. nicht. Scaliger riet
auf Scaevus Memor (s. oben S. 117 f.), einen benannten Un-
bekannten für einen Namenlosen einsetzend, Franz Ritter
(Oct. praet. Curiatio Materno vindicatam ed., Bonn 1843,
p. XII sqq.) auf Curiatius Maternus , der auch als Dichter
von praetextae berühmt war , aber schwerlich schon Sen.s und
Octavias Freund und Vertrauter gewesen sein kann ; man könnte
an Pomponius Seciindus denken , falls er Seü. und Nero über-
lebt hat (s. Nachträge). Aber solches Rätsel raten ist müßiges
Spiel. Was wir mit gutem Grunde über den Oct. -Dichter
sagen dürfen , hat aufs klarste schon Scaliger erkannt und aus-
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915—1921. 211
gesprochen, wenn er in ihm sah ; ipsius Octaviae domesticum et Sen.
amicum.
Daß die Oct. praetexta später als Sen. -Stück angesehen und
den Sen. -Tragödien in der Überlieferung angeschlossen wurde, das
hatte gewiß seinen Grund in der Tatsache , auf Grund deren man
in der Neuzeit sie Sen. hat absprechen wollen : im Auftreten Sen.s
selbst als handelnder Person in der Oct.
Dies über die Praetexta Oct. meine deizegal Titog (fQOvciöeg
oorpaTSgaL.
Nacli träge.
Zu S. 121. H. Wocke stellt N. Jbb. f. d. kl. Alt. Jgg. XXV
1922, Bd. XLIX 287 die Sen. -Spuren im 'Ackermann aus Böhmen'
zusammen, den A. Bernt u. K. Burdach erschlossen haben (Vom
M.-A. zur Reformation ITI 1, Berlin 1917).
Zu S. 124. *Cas. Morawski, De scriptoribus Romanis III.
et IV. p. Chr. n. saeculi observationes, Akad. Krakau 1921, handelt
(nach Ed. Grupe, Philol. Woch. 1922, 700) in Abschnitt IV von
rhetorischen Übertreibungen bei Herodot, Sen. u. Ammianus Mar-
cellinus.
unbekannt ist mir noch *J. Bruecken, De Sen. philos. usu
perfecti qu. d. consuetudinis, Diss. Bonn 1921.
Zu S. 132. L. Castiglioni setzt Rivist di lilol. L 1922,
55 ff. seine Studi Anneani fort, IV zu nat. qu.
Zu S. 141. Gegen Reinhardts urteil über ira II 19 — 21 eine
kurze Gegenbemerkung in Max Pohlenz Rez., Gott. gel. Anz. 1922,
(161 — 175), 173, 1. Vgl. die gleichfalls berechtigte Kritik übend
Rez. W. Nestle s, Phil. Woch. 1922, 458—465.
Zu S. 149. Soeben wird das Erscheinen der 6. Aufl. an-
gezeigt.
Zu S. 170. Sehr beachtenswert ist die 1922 erschienene Ab-
handlung von A. R e h m , Das VII. Buch der nat. qu. des Sen. u.
d, Kometentheorie des Poseidonios, Sitz.-Ber. Akad. München 1921,
1. Der enge Zusammenhang zwischen Sen. und dem bei Stobaios in
Exzerpten vorliegenden Physiker Arrianos — der Sprache nach
vielleicht identisch mit dem bekannten A. aus Nikomedeia ?, R. 8,
1 — erschließt R., daß beiden Autoren eine gemeinsame, Posei-
donios vereinfachende , aber ihn nicht bestreitende Quelle vorlag ;
Asklepiodotos Werk, dessen Titel nur aus Sen. VI 17, 3 zu er-
schließen ist — wahrscheinlich alziai (fvoi'Kai , dementsprechend
bei Sen. v/ahrscheinlich (R, 5, 2) quaestionum zu streichen, so daß
14*
212 Karl Münscher.
in ... naturalium eausis übrig bleibt — , kanu das gewesen sein,
doch hielt es R. für gerateuer, diesen Mittelsmann namenlos zu
lassen. Die Analyse des VII. Sen.-Buches zeigt , daß Sen. sich
seine Disposition selbst gemacht , die doxographischen Teile so
gruppiert hat, daß er am Ende (K. 20/1) die Lehren der Stoa
bringt, d. h. die des Poseidonios, um ihnen von 22 an seine eigene
Auffassung folgen zu lassen, die er mit Einwendungen gegen Posei-
donios Theorie beweist, und unter diesen Einwendungen sei 'nicht
eine, die Sen. nicht selbst hätte finden können'. Erscheint also
Sen. in diesem VII. Buche der nat. qu. 'als Vorkämpfer einer nicht
leicht , aber auf echt wissenschaftlichem Weg gewonnenen Über-
zeugung', so zeigt R.s Übersicht über Poseidonios Kometenlehre,
daß diese ganz auf Aristoteles aufgebaut war. Poseidonios also
hier der 'behutsame Fortbildner der Tradition', Sen. der selbständige
wissenschaftliche Denker, der auch sonst 'meist festen Boden unter
den Füßen hat, auch wenn er zu schwimmen scheint'. — Mehi'ere
kritische Bemerkungen zu VII gibt R. S. 10, 1 : 4, 1 Chaldaeos und
illos zu halten. 5, 4 Gerckes solis überflüssig, faciem r. 6, 2 Is. et
eniti. 10, 1 mora, utiqite ubi mit L^ Z. S. 13, 1 tritt R. für Streichung
des Satzes lndc proxima sitpcrßcies ignea est 13, 3 ein, der Glossem
zu ignes Z. 17 sein soll.
Zu S. 179. Später erst ist mir das zweite neue Poseidoniosbuch
bekannt geworden: J. Heinemann, Poseidonios metaphysische
Schriften I, Breslau 1921. Im II. Teile des Werks, 'Analysen'
bietend, ist ein besonderer § 3 (158 — 203) der Poseidonios-Benutzung
in Sen.s Briiefeu gewidmet. Durch Analysen derjenigen 29 Seu.-
Briefe unter den erhaltenen 124, welche eine gelehrte Quelle ver-
raten und eine bestimmte Richtung in der Stoa erkennen lassen,
kommt H. zu dem Ergebnis, Sen. habe bei Abfassung nicht bloß
dieser 29, sondern aller seiner moralischen Briefe, abgesehen von
Nr. 1 — 31, bei deren Abfassung er Epikurs Briefe vor sich hatte,
als Quelle lediglich Poseidonios benutzt, dessen Name vom 78.
Briefe ab oft erscheint: er sei der einzige Stoiker, dessen Bücher
Sen. in der Hand gehabt habe. In den Briefen 1 — 31 knüpft Sen.
an Epikureische Lesefrüchte freie Betrachtungen an, dann aber
ändere sich die Methode: 'Nunmehr beginnt er mit Berichten über
ethische Theorien seiner Quelle und über metaphysische Spekula-
tionen und logische Unterscheidungen, die seinem eigenen Denken
nach Ergebnis und Methode nicht völlig entsprechen'. Von Br. S5
ab wird Sen.s Ton, da er sich, wie er sagt, den nodosa zuwendet,
im ganzen wissenschaftlicher. 'Mit dem Gehalt wächst auch all-
Bericht über die Seneca-Literatur aus den Jahren 1915 — 1921. 213
mählich der Umfang der Briefe , bis der Inhalt die Form sprengt
und der Schriftsteller 106, 2; 108, 1; 109, 17 von seinem Ent-
schluß berichtet, neben die Darstellung der Ethik in Briefform ihre
Behandlung in einem Handbuch treten zu lassen'. Und dafür soll
Sen. zwei Abhandlungen des Poseidonios benutzt haben, 'eine über
das Verhältnis der Technai zueinander und über ihre geschichtliche
Entwicklung, eine andere über Grundfragen der Ethik'. Erstere
sei wahrscheinlich, letztere möglicherweise von Sen. aus Poseidonios
Protreptikos genommen •, es komme also für die Rekonstruktion der
Ethik des Poseidonios den Luciliusbriefen dieselbe Bedeutung zu
wie den nat. qu. für seine naturwissenschaftlichen Anschauungen.
H.s Ergebnis ist überaus einfach , zu einfach, als daß es richtig
sein könnte. Sen. schreibt in Jahr und Tag 100 und mehr mora-
lische Briefe, und dabei hat er immer nur Poseidonios, gar nur ein
einziges Buch des Poseidonios zur Hand genommen? Das glaube,
wer kann und will. Und H.s Analyse , die zwar sehr gut öfters
die Fäden bloßlegt, die mehrere Briefe zusammenhalten, hat auch
im einzelnen den Beweis für seine These nicht erbracht. M. Poh-
lenz sagt in seiner Besprechung, Gott. gel. Anz. 1922, 175 ff., bes.
180 f., völlig zutreffend: H. habe nicht bewiesen, daß ''eine syste-
matische literarische Dai-stellung' von Sen. benutzt sei. 'Sen. hat
in dieser Zeit Poseidonios gelesen. Aber wieviel er ihm außer den
wörtlichen — oft auch noch in den eigenen Stil umgesetzten (ep.
94, 38!) — Zitaten verdankt, wird sich kaum ausmachen lassen'.
C. Reinhardt, Poseidonios 392 ff. 'Urzustand und Kulturentwick-
lung', bestreitet, daß die Detailfülle in Poseidonios Kulturgeschichte
der Urzeit, in die uns Sen. epist. 90 einen Einblick gewährt, aus
dem Protreptikos stamme. Und S. 336 ff. '^Die Güterlehre' zeigt
R. in feinsinniger Analyse von Sen. epist. 87 , 'wie verkehrt es
war, die Autorschaft des Poseidonios über das direkt für ihn Be-
zeugte hinaus auszudehnen'.
Zu S. 186. Zu V. 882 führt Hosius dial. VI 16, 3/4 an, und
zweifellos hat der Oct.-Dichter die seltenen exempla (Cornelia, die
Mutter der Gracchen, u. Cornelia Livi Drusi) jener Stelle der cons.
ad Marc, entnommen; es war hinzuzufügen, daß Fr. Münzer,
Rom. Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttgart 1920, in dem
Anhang über die geschichtlichen Beispiele in Ciceros Cousolatio
, (376 ff.) nachgewiesen hat (398 ff.), daß Sen. diese exempla von
Müttern, denen ihre Söhne entrissen wurden, in seinen Trostschriften
(Kutilia tritt hinzu Helv. 16, 7) aus der Ciceronischen über-
nommen hat.
214 Karl Münscher.
Zu S. 187. Als Kuriosum verzeichne ich, was soeben Nik.
Wecklein schreibt, Philol. Woch. 1922, 1016: 'Die Zuweisung
der unter dem Namen des Sen. erhaltenen Tragödien an den
Stoiker ist sehr zweifelhaft' — ein Nachhall aus vergangenen
Zeiten !
Zu S. 189. Aus Hosius Ausg. sehe ich jetzt, daß dcstridus
schon von Raphelengius vorgeschlagen war.
Zu S. 195. C. Cichorius handelt in seinem eben erschie-
nenen Buche, 'Köm. Studien' , Leipzig 1922, 426/9 von Pomponius
Secundus u. Sen.s Tragödien. Er deutet die Quint. -Stelle VIII 3,
31 mcmini iuvenis admodnm inter Pomjyonivni ac Sen. et'uim prae-
fationihus esse traciaium , an '^gradns elhninar in tragoedia
dici oportuisset zweifellos richtig dahin, daß unter praefationes ein-
führende Ansprachen ans Publikum vor Vorlesungen der Tragödien
zu verstehen sind, entsprechend den ngolaXial der Ehetoren, wofür
die Lateiner die Ausdrücke 2^'>'0^elocution€s (Sen. contr. III praef. 11)
oder eben praefationes (Plin. epist. I 13, 2. II 3, 1. Martial. III
18, 1) anwenden (vgl. AI. Stock, De prolaliarum usu rhetorico,
Diss. Königsberg 1911, wo aber dieser ßegrifp ungebührlich aus-
gedehnt ist; vgl. Rez. G. Lehnert, Berl. philol. Woch. 1914,
1494/6). C. zieht daraus eine doppelte Schlußfolgerung: 1. fällt
die durch Quint. bezeugte Tatsache, daß Sen. u. Pomponius ihre
Tragödien vorgelesen haben, ins Gewicht bei Beurteilung der Streit-
frage, ob Sen.s Tragödien für die Bühne geschrieben sind oder
nicht, und natürlich zugunsten der auch sonst gesicherten Annahme,
daß es nur Lesedramen sind. 2. Da der um die Mitte der
30 er Jahre geborene Quint. admodum iuvenis diesen Tragödien-
rezitationen jener beiden beigewohnt hat, können diese nicht vor
dem Beginn der 50 er Jahre stattgefunden haben. 50/1 war Pom-
ponius Statthalter in Germanien, also fallen sie erst nach 51 : das
stimmt trefflich zu meiner Auffassung, daß Sen. nach seiner Ver-
bannung nach Korsika, nach 49 , etwa 52 mit seiner Tragödien-
dichtung begonnen hat.
Z u S. 210. Nach Cichorius 425 f. hat Pomponius bis in
die letzten Jahre Neros gelebt.
Bericht über die Literatur zu Quintilians Institutio
oratoria aus den Jaliren 1910—1921.
Von
Oberstudiendirektor Dr. Georg AmmOIl in Kegensburg.
Inhalt.
Seite
I. Zur Einführung: Stand der Forschung 215
II. Andere, stofiFlich benachbarte Berichte 217
III. Persönlichkeit 221
IV. Überlieferung, Handschriften 223
V. Quintilians Sprache 231
VI. Konjekturalkritik 238
VII. Anlage der Institutio 240
VIII. Zu den einzelnen Büchern; Kritik und Erklärung 243
IX. Weitergreifende Arbeiten zur Inst, or 266
X. Quellen und Hilfsmittel. Zeitgenossen 280
XI. Ausgaben 295
XII. Fortleben der Inst, or 297
XIII. Ihre Bedeutung für die Gegenwart 303
I. Zur Einführung.
Die Institutio oratoria, diese praktische Anleitung, dem Bildungs-
ideal der Alten, dem vollendeten Redner, näher zu kommen, diese
großzügige allgemeine Erziehungslehre, dieses oratorische Kunstwerk
mit dem mannigfaltigsten Kulturgehalt einer großen Zeit, tritt in
der Hochflut pädagogischer Literatur nicht ganz seiner Bedeutung
entsprechend hervor. Begreiflich ; hebt doch für die Moderne das
pädagogische Evangelium meist mit J. J. Rousseau an; dazu der
unhistorische Sinn unserer Zeit überhaupt , der am gefährlichsten
auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung zu werden droht. Indes
hat das naturgemäße , wenn auch unorganisierte Zusammenwirken
selbstloser Philologen und Pädagogen bei den wichtigsten Kultur-
völkern auch im letzten Jahrzehnt nicht zu unterschätzende Ergeb-
nisse gezeitigt für die Grundlegung, Erklärung und Übermittelung
der Institutio.
2l6 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
In die Überlieferungsgeschichte haben Sabbadini
und Beltrami mehr Licht gebracht; die Konjekturalkritik,
gestützt auf die Beobachtung des Sprachgebrauchs, hat bei der Fest-
legung des Textes mitgeholfen [Bdarjg, Baehrens, Gabler).
Die für weitere Leserkreise berechnete englische Ausgabe von
Butler (1921/22) beansprucht nicht einen Halm, Meister oder
Kadermacher zu ersetzen; dieser hat auf Teil I (Buch I mit VI,
1907) den zweiten noch nicht folgen lassen. In der Aufsuchung der
Quellen hat sich der Philologenspürsinn bewährt (Kroll, Marx,
Kudberg, Hubb eil u. a.) ; besonders ist man dem Verhältnis zum
Taciteischen Kednerdialog nachgegangen (Gudeman, Wormser,
Dienel, Reitzenstei n). Gefördei't wurde die Auffassung der In-
stitvitio als Ganzes (Appel, Börner, Kroll), die Erklärung
im einzelnen, so besonders die Grammatikpartie im 1. Buch
(Aistermann, Colson, Barwick), die symbuleutische Rede
(Kl eck), die Aufhellung des X, Buclies (Röhl), und hier wieder der
iudicia (über Lucilius, Lucretius); einzelne Hilfsmittel der Redner
wurden genauer untersucht: ridiculum (VI. Buch) durch Süß, das
naQdöeiyi.ia durch Ale well, die Stimmbildung durch Krum-
b acher, die Gebärden durch Warnecke. Die Rhythmen-
forschung, auf die ich im letzten Bericht über Ciceros rhetorische
Schriften Burs. Bd. 179 (1919 II) S. 76—123 näher eingegangen bin,
hat u. a. durch N o v o t n y , durch A. W. deGroot, E. Petersen,
G. G 0 1 z neue Anregungen erhalten ; doch wollte ich für eine
erneute zusammenfassende Darstellung zu A. W. de Groots Prosa-
rhythmus Teil I. 1921 noch die Fortsetzung abwarten. Für die
Geschichte des Schul wesens haben Barbagallo, Bendel,
für das Fortwirken Quintilians Manitius, Borinski, Bur-
dach, Hofer, Heim, Wychgram, Sohm reiches und gutes
Material gebracht. Auch rhetorische und pädagogische Hilfsmittel,
die zunächst nur für die Gegenwart bestimmt sind, werden mit Ge-
winn zur Quintilianforschung herangezogen. Der Hinweis auf stoff-
lich benachbarte Gebiete und Berichte hat oft mehr genützt als der
Versuch, jede Lesung und jede Deutung genau zu verzeichnen.
Und es gilt noch manche Goldader der Institutio zu verfolgen.
Abgesehen von den kaum endgültig zu lösenden Fragen der Text-
kritik und Hermeneutik liegen einige mehr im Vordergrund der
Gegenwart: wie z. B. Quintilian (die Rhetorik) und die staatsbürger-
liche Erziehung, die Psychologie in der Inst. (IV 2, VI 2 usw.); die
Statuslehre und die 'wissenschaftliche Problemstellung' ; das Ge-
dächtnis nach Quintilian; die actio nach XI 3; die Kunst der Er-
II. Stofflich benachbarte Berichte. 217
Zählung, der Schilderung; die redende und bildende Kunst in ihren
Wechselbeziehungen 5 die (pädagogische) Bildersprache Quintilians ;
der zweisprachige Unterricht nach Quintilian ; die 'Klassiker' und
die 'Moderneu' ; Kunst und Grenzen des Übersetzens ; Quintilians
Stellung in der Fremdwortfrage; Quintilian und unsere Fachausdrücke,
Fremdwörter und geflügelten Worte.
Kurz nach Halms grundlegender Ausgabe der Institutio ora-
toria (Lipsiae 1868 I, 1869 II) erschien für 1873—76 der erste
Bericht von Iw. Müller 6. Bd. S. 262—293; für die Jahre 1880
bis 1887 von Ferdinand Becher im 51. Bd. (1887 II) S. 1—61 über
die instit. or. und S. 62 — 82 für die Deklamationen. Von 1888 an
habe ich den Bericht, und zwar nur über die inst. , während die
declamationes einem anderen Referenten zugeteilt sind. Mein erster
Bericht umfaßt die Jahre 1888—1901 Burs. Bd. 109 S. 86—144,
der zweite die Jahre 1901 — 1910 Burs. Bd. 148 (1910 11) S. 166
bis 253. Die Hilfsmittel für diesen neuen Bericht — auswärtige
Zeitschriften und Bücher u. a. — zu beschaffen, wurde mir durch
das Entgegenkommen der Staatsbibliothek und der Universitäts-
bibliothek München erleichtert; aber es blieben Schwierigkeiten
genug *) ; wenn ich das Unfertige aus der Hand gebe, fließt mir die
subscriptio des frommen Schreibers des Monacensis zu Quintilian in
die Feder : Hoc opus exegi sit Christo gloria regi !
II. Stofflich benachbarte Berichte.
über die Deklamationen, auch über die pseudoquintiliani-
schen, berichtet bis 1914 eingehend Georg Lehnert Burs. 183.
Bd. 1920 II S. 204—267.
Mit der zur Inst. or. gehörigen Literatur, z. B. über Khythmus,
berühren sich naturgemäß auch des öfteren meine Berichte über
Ciceros rhetorische Schriften; der letzte, 1909 — 1917 umfassend,
Burs. Bd. 179 (1919 II) S. 1—162; berühren sich aber auch mehrere
andere Berichte über benachbarte Stoffe.
Kurt E m m i n g e r (f), Bericht über die Literatur zu den atti-
schen Rednern aus den Jahren 1886—1904 (1909) Burs. Bd. 152
(1911 I) S. 76—217.
Ferner Burs. Bd. 161 (1913 I) für die Jahre 1886—1904
^) Die Bitte, Verfasser von Monographien und Aufsätzen möchten ihre
Arbeiten zur Berichterstattung einsenden, ist heutzutage mehr als je am
Platze.
218 Ainmou: Quiutil. inst. or. 1910—21,
(1912); dritter Teil S. 172—244; der vierte Teil (letzte)
Burs. 166. Bd. (1914 I) S. 69—117.
J. K. Scliönberger, Zu Ciceros Eeden 1909—1912, Burs.
167. Bd. (1914 II) S. 280—356 und 1912—1917 Burs. Bd. 183
(1920 II) S. 73—123.
Zur Quiutilianliteratur im weiteren Sinn gehören ferner die
Schriften zum Rednerdialog des Tacitus, den heutzutage niemand
mehr dem Fabius zuschreibt.
Georg Andresen hat in den Jahresberichten des
Philologischen Vereins zu Berlin (Jahrg. 35 ff.) mit großer
Umsicht und kritischem Blick das Einschlägige zusammengestellt.
35. Jahrgang (1909) S. 257 ff. über R. Dienel, der (in seiner
Schrift „Reduerdialog des Tacitus", Leipzig 1908) den Dialogus
wegen seiner Berührungen mit Plinius und Quintilian im Jahre 97
veröffentlicht sein lä(Jt, doch nach dem Agricola — dieser wird aber,
wie Andresen beifügt, meist 98 unter Traian angesetzt; S. 263
über W. Hamilton Fyfe (1908), nach dem der Dialog unter Titus
geschrieben und veröffentlicht ist.
36 (1910) S. 255; 37 (1911) S. 228 über Röhls Ausgabe
des Dialogs (1911), S. 255 über Sprachgebrauch; 38 (1912)
S. 265 ff. über Konrad Eisen hardt „Über die Reden in den
Historien und Annalen des Tacitus" (zwei Programme, Ludwigshafen
a. Rh.), über Theissen 'De . . . Taciti digressionibus' (Diss. Berlin
1912); 39 (1913) S. 154 ff. über Gudemans Aufsatz über das
Gesprächsdatum (74/75), über Georges Wormser 'Le dialogue
des orateurs et Institution oratoire', der nachzuweisen sucht, daß
Tacitus, als er den Dialogus schrieb, Quintilians Institutio oratoria
vor sich hatte ; da diese 94 erschien, sei der Dialog 95 geschrieben
worden , publiziert erst Ende 96 ; beachtenswert findet Andresen
diese Gedanken Wormsers : Quintilian betrachte sein Thema vom
technischen, Tacitus vom historischen Standpunkt aus ; vgl, Abschn. X.
„Aper wird von Messala-Quintilian, der die Alten preist und
durch Zurückgreifen auf diese eine Regeneration erhofft, widerlegt,
Messala-Quintilian durch Maternus-Tacitus, der darauf verzichtet, ein
Phantom zu verfolgen, weil er voraussieht, daß die klassische Re-
aktion ohne Wirkung bleiben wird ; hierin äußern sich zugleich sein
Pessimismus und sein Spürsinn." „Dem ist nur hinzuzufügen, sagt
Andresen S. 156, daß Maternus-Tacitus nicht bloß Messala wider-
legt, sondern auch Aper, und zwar in dem, was beiden gemeinsam
ist, in der Vorliebe für die rednerische Tätigkeit." Vgl. unten über den
II. Stofflich benachbarte Berichte. 219
Rednerdialog A.W. de Groot, der antike Prosarhythmus 11921,
S. 90 gegen die Identifizierung des Tacitus mit einem Mitunterredner.
40 (1914) S. 77 berichtet Andresen über K. v. Pöhlmann,
Die Weltanschauung des Tacitus. Zweite, vermehrte und verbesserte
Auflage (München 1913, Franz), wo dem Tacitus abergläubische
Anwandlungen vorgerückt sind, über Aly, Gudeman, Barwick zum
Dialog.
41 (1915) S. 146 — 157 über Gudemans Ausgabe des Dia-
logus, S. 169 über Peterson, Valmaggi.
42 (1916) S. 73 weiter zu Gudemans Ausgabe, S. 75 zu Dienel
über den Dialog u. Qu in tili an, S. 78 ff. über E. Klaiber, Be-
ziehungen des Rednerdialogs von Tacitus zu Ciceros rhetorischen
Schriften (1914), über Richard Reitzenstein 'Bemerkungen zu
den kleinen Schriften des Tacitus' (1914), S. 95 über R. Sabba-
dini, Storia antica di testi latini (Catania, 1914), S. 101 auch über
K. Remmes Bericht bei 'Bursian' 167. Bd. (1914 II).
43 (1917) S. 108 über ß. Klaiber II.
44 (1918) S. 105 Tacitus als Schriftsteller (Pfister u. a.).
45 (1919) S. 25 über einschlägige Artikel bei Pauly-Wissowa.
46 (1920) wird auf die Bedeutung von Ed. Nordens Germani-
scher Urgeschichte hingewiesen , in der auch Quintilian öfters be-
rührt wird; vgl. Aramon, Bayer. Gy. Bl. 1922, 206 f.
K. Remme, Zu Tacitus 1904—1912 bei Bursian Bd. 167
(1914 n) S. 201—279, besonders 'Dialogfragen' S. 242—247
(geht im wesentlichen mit Gudeman gegen Dienel).
Weitere benachbarte Berichte sind : Friedrich Bock, Zu
Plutarchs Moralia 1905—1910 Burs. Bd. 152 (1911 I) S. 313
bis 352. Z. B. Jones will (S. 352) im Ps. Plut. tt. naid. aycoy.
sogar sprachliche Anklänge an Quintilian finden. Dann für die
Zeit von 1911—1915 Burs. Bd. 170 (1915 I) S. 233—290 und für
die Zeit von 1916—1920 Burs. Bd. 187 (1921 I S. 228 ff.) (auch
über Rhythmus j de pueris ed. S. 243 — 45).
Karl Mün scher. Zur zweiten Sophistik 1910 — 1915 Burs.
Bd. 170 (1915 I) S. 1 — 231 und in diesem Band oben über Seneca.
Paul Wessner, Bericht über die Erscheinungen auf dem Ge-
biete der lateinischen Grammatiker mit Einschluß der Scholien-
literatur und Glossographie für 1908—1920. Bursian Bd. 188
(1921 II) S. 34—254.
Dieser eingehende Bericht berührt sich naturgemäß in all-
gemeinen und besonderen Fragen, namentlich hinsichtlich der instit. I
4 — 7, mit dem neuen Quintilianbericht. S. 89 — 92 sind eigens
2 20 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Quintilian gewidmet (Bywater Atakta II — Aistermann Probus —
J. Negro, La grammatica in Ouintiliano e le sue fonti 1914 — Colson
Grammatical Chapters und Some Problems — Neumann De Bar-
barismo usw.) ; doch waren einige Arbeiten (Colson, Negro) Wessner
nicht zugänglich. Was Wessner über die Selbständigkeit des Quin-
tilian in grammatischen Fragen gegen Aistermann (Probus als Quelle
Quintilians) ausführt, kann ich nur unterstreichen •, in so landläufigen
Dingen brauchte der Hochschulprofessor den Berytier nicht aus-
zuschreiben. Vgl. auch unten Bar w ick, Remmius Palaemon.
In der Zeitschrift Glotta berichten Felix Hartmann und
Wilhelm Kroll über Lateinische Sprache und Literatur im all-
gemeinen, für 1910 IV. Jahrg. (1913), V für 1911 usw. Darunter
auch viel Literatur zu Quintilian (z. B. Zielinski, Zander, Shipley,
Bährens, Laixrand usf.). Zuletzt Felix Hartmann Glotta IX 1921
über 1918 S. 251 bis 267 (Akzent, Lautlehre usw.) und W. Kroll
S. 267—276.
In den sieben Jahrgängea des Indogermanischen Jahr-
buches (I 1913, erschienen Straßburg 1914, Trübner; VII 1919,
erschienen Berlin und Leipzig 1921) berichtet J. B. Hof mann ge-
schickt und übersichtlich über Italisch, darunter auch Dinge (Aus-
sprache, Rhythmus, Etymologie u. a.), die zur Inst. or. gehören.
In der von Rud. Klussmann herausgegebenen Bibl. scriptorum
classic, et Graec. et Lat. die Literatur von 1878 — 1896 einschlieli-
lich umfassend. II. Bd. Script. Lat. 2. Teil. Leipzig 1913. Supplem.
Burs. 165 S. 155—162.
Aus diesem zuverlässigsten und übersichtlichsten Verzeichnis
für die Zeit 1878 — 1896 — nur ab und zu bis auf 1912 herunter-
greifend — wäre noch manches zu den früheren Berichten über
Quintilian nachzutragen. Auch persönlich hat mich Professor
Klussmann durch wertvolle Notizen zu dauerndem Dank verpflichtet.
Auf die Literaturgeschichten von Schanz (1933),
Ten ffel -Kr oll- S kutsch, auch Christ, auf die Einleitung
von Gercke -Norden^ (1921), Norden Kunstprosa^, aufPauly-
Wissowa, auf den neuen Lübker, auf Daremberg-Saglio,
auf die Companions von Whibley, von Sandys, auf die Manuels
von Laurand und andere allgemeine Hilfsmittel ist schon
hier, auf anderes Benachbarte gegen Schluß des Berichtes hinzu-
weisen. So bei John Edwin Sandys, A companion to Latin Stu-
dios. Cambridge 1913
Abschnitt V 9 'Educatioii' von Murison S. 228 — 236 und
Abschnitt V 10 'Book and writings' von M. R. James.
III. Die Persönlichkeit. 221
III. Die Persönlichkeit.
Unter der Gruppe der spanischen Schriftsteller — fünf aus
dem Süden, zwei aus dem Norden — wird Quintilian gut gezeich-
net von
E. S. Bouchier, Spain under the Boman empire. Oxford 1914.
200 S. 8. Mit Karte.
Die Wiege des M. Fabius Quintilianus stand nach B. (S. 166)
in Calagurris (Calahorra — welchem ?), einer kleinen Stadt am oberen
Ebro. Sein Einfluß in Rom als Tonangeber im literarischen Ge-
schmack (Vorbild Cicero) und für Erziehung ; "nor is it fanciful to
attribute to his iufluence the refinement and nobility of feeling
which characterizes the next generation" (Plinius, Tacitus, Trajan,
Hadrian). Quintilians Urteil über die sententiae Lukans siehe S. 162 f.
Über Gamurrinis Wiederbelebung der Zweifel an der spanischen
Heimat Quintilians vgl. unten Fr. Schoell (zu gurdos).
A. H. Strong, Quintilian. A study in ancient and modern
methods of education, ethical.and intellectual. In 'The Hibbert
JournaP XI 1912—1913, 1, S. 117—136.
In diesem Journal, 'a quarterly Review of Religion, Theology,
and Philosophy', will Professor Strong das Erziehungsideal (oratory)
oder überhaupt die Weltauffassung des „größten römischen Professors"
zeichnen. Er bietet im wesentlichen den Inhalt der allgemeinen
Pädagogik aus dem ersten Buch, verständig und klar, mit wirksamen
Hinweisen auf neuzeitliche und einheimische Verhältnisse (S. 124,
130), aber ohne wörtliche Zitate und gelehrtes Beiwerk. "Quintilian
is the most important of the group of the school of writers who
ushered in a reaction in literature against the bombast and tinsel
of the rhetoricians , such as Lucan in verse and Seneca in prose.
His style, even his thoughts, is dignified and restrained."
Wenn S. 132 mit dem Begriff sanctitas = at once 'reverence
and dignity' neben virilitas (Inst. 7, 9) operiert wird, so ist zu bemerken,
daß Vasis (Bdar^g) mit gutem Grund sanitas statt sanctitas lesen
möchte ; s. Abschn. VI.
Benedikt Appel, Das Bildungs- und Erziehungsideal
Quintilians nach der Institutio oratoria. Donau-
wörth 1914, Auer, VI, 95 S. 8. Siehe auch Jahrbuch für
christliche Ei-ziehungswissenschaft 1909 (Kempten und München,
Kösel).
In dieser Münchener Dissertation will Appel die Inst, haupt-
sächlich nach ihrem Inhalt und nach ihren Quellen darstellen (S. 6).
222 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21,
Wenn das allseitig gegenwärtig kaum möglich ist, so hat der wohl-
ausgerüstete Verfasser doch das deutlich im Vordergrund stehende
Ideal der Erziehung zum vir bonus vielseitig und großzügig er-
faßt und dargestellt. Gegliedert ist der Stoff in diese drei Abschnitte :
I. Quintilians persönliches Verhältnis zur Philo-
sophie, II. Der Inhalt des Bildungs- und Erziehungsideals der
inst. or. (S. 16 — 46), III. Die subjektiven Voraussetzungen des
Ideals. Ich habe in meiner Besprechung B ph W 35, 1915,
749 — 752 manches angeführt, was den Inhalt der Institutio, nament-
lich nach der geschichtlichen Stellung, und die Persönlichkeit des
Verfassers besser zu beleuchten geeignet sein dürfte. Auch W. Kroll
(Wiss. Forsch. -Berichte Lat. Phil. S. 71) erkennt den ernsthaften Versuch
an, das gut durchgearbeitete Quellenmaterial historisch richtig ein-
einzuordnen. „Die Schwierigkeit liegt, fährt Kroll fort, darin, daß
Quintilian kein inneres Verhältnis zur Philosophie hat, die den Maßstab
für die Einordnung der Lehren liefert, und daß seine allgemeinen
Anschauungen meist die Ciceros sind, nur ein wenig stoisch tem-
periert. Daß er bei seiner Forderung, der orator müsse ein vir
bonus sein, weder an die erste und zweite Sophistik noch an den
Asianismus denkt, hätte der Verfasser erkennen sollen." 'Unphilo-
sophisch' nennt Kroll den Quintilian auch in seinen 'Quintilian-
studien' (Rhein. Mus. 1921) ; siehe unten Abschn. IX.
Über die wenig zutreffende Einschätzung des 'Philosophen'
Quintilian äußert sich in seiner eingehenden anerkennenden Be-
sprechung Appels auch Georg Lehnert Deutsche Lit.-Zeitung
1918, 97; daß die feinen, weltmännischen Ausführungen über actio
XI 3 nicht für unsere Zeit entsprechend ausgeschöpft sind, bedauere
auch ich.
- J. G. Laing, Quintilian the Schoolmaster. In the Class.
Journ. XV 8/9.
Laing charakterisiert die instit. als including practically the
whole cycle of humane and scientific culture so far it was organized
at that time. Er sieht in der Rednerschule die drei Werte, die
heute die amerikanischen Latinisten für sich in Anspruch nehmen:
disciplinary value, practical value, cultural value. L. schließt mit
dem Bild des idealen Redners, wie Quintilian ihn versteht (nach
Philol. W. 1921, 979).
Eine treffende Würdigung Quintilians und der instit. or. gibt
auch
Karl Hos ins in dem mit E. Drerup herausgegebenen Doppel-
IV. Überlieferung. 223
Vortrag 'Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum'.
Eichstätt 1918.
Vgl. meine Anzeige Berl. philol. Woch. 38, 1918, Sp. 1116.
Die allgemeine Bedeutung Quintilians beachtet aiich Eduard
Spranger, Kultur und Erziehung, Leipzig 1919.
E. G. Sihler sucht im Amer. Journ. of Philol. XLI 3, 1920 nach-
zuweisen, daß Quintiliau im Anschluß an Ciceros De oratore eine
Reform der Rhetorik anstrebte ; siehe Class. Quarterly XV 1921 S. 49.
Zu dem im vorigen Bericht behandelten Gesichtspunkt 'Qui n -
tilianus adulator' noch diese erklärende Auffassung : Schule
und Schrifttum standen unter dem gewaltigen Einfluß der selbst-
herrlichen Kaiser. Wie sehr Seneca mit seinem 'Agamemnon' und
seinen 'Troades' dem (dichtenden) Nero entgegenkam, hat Th. Birt
Neue Jahrb. 1911 (XIV) S. 359 ausgesprochen. Das ist auch bei
dem Preis des 'Germanicus Augustus' (Domitian), den nur die
Staatsgeschäfte gehindert hätten, Roms erste literarische Größe zu
werden (instit. X 1, 91), gebührend in Anschlag zu bringen wie bei
Martial. Wenn die autokratischen Cäsaren sich in Prosa und Poesie,
in der Gerichtsrede — Domitian nach Sueton nicht schlecht —
agonistisch vernehmen ließen, so wurden Publikum und Schule viel-
fach beeinflußt (Juveu, sat. 7, 1) •, Charaktere wie Tacitus waren zu
allen Zeiten dünn gesät.
Das beste Gesamtbild Quintilians ist vorderhand immer noch
das von dem verstorbenen L. Schwabe bei Pauly-Wissowa unter
'Fabius' gezeichnete.
IV. Überlieferung.
Die Überlieferungsgeschichte, die ich Burs. Bd. 109 (1901)
S. 85 ff. meist im Anschluß an Fierville und Peterson, dann
Burs. Bd. 148 (1910 11) S. 179 £f. besonders im Hinblick auf Rader-
machers Ausgabe (Vol. I lib. I — VI, Leipzig 1907) skizziert habe,
und die mit der Darstellung des Fortwirkens (siehe unten) und der
Handschriften zusammenhängt, hat mehrfach Aufhellung er-
fahren , namentlich durch Sabbadini und seinen Schüler B e 1 -
trami; aber es bleibt noch viel zu tun übrig sowohl hinsichtlich
der Verzweigung (Klasse III und IV?) wie der genauen Neu-
vergleichung wichtiger Kodizes.
Max Manitius, Geschichte der lateinischen Litera-
tur im Mittelalter. München 1911. Handb. J. v. Müller
9, 2, 1.
224 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
Lupus von Ferneres , rührig wie später die italienischen Hu-
manisten, bittet den Abt Altsig von York um die 12 Bücher der
Inst. (S. 486). Auch sonst bietet Manitius viel für die Geschichte
der Quintilianüberlieferung.
Einen Überblick über die Entdeckungsgeschichte von Quintilian-
handschriften gibt*)
liemigio Sabbadini, Le scoperte dei codici latini e
greci ne' secoli XIV e XV. Nuove ricerche col riassimto
filologico dei due volumi. Florenz, G. C. Sansoni 1914, VIII
274 S. In der Biblioteca storica dei rinascimento diretta da
F. P. Luiso.
Sabbadini in Mailand, seit einem Menschenalter (1876) uner-
müdlich in der Auskundschaftung von Handschriften und ihren
Schicksalen tätig, faßt das in den zwei Bänden (1905 und 1914)
Niedergelegte im 4. Kapitel des II. Bandes S. 198 — 265 nach den
alphabetisch geordneten Autoren kurz zusammen, über Quintilian,
Inst. or. S. 247 f. Die Institutio oratoria, auch im Plural, im
Mittelalter auf 8 bis 9 Bücher reduziert, kannte Englands namhafter
Bibliophile Richard d'Angerville da Bury (1286 — 1345), kannte in |
Frankreich Johann von Montreuil (de Monsterolio), geboren 1354,
kannte der Florilegist (Sammler moralischer Sprüche) von 1329 in
Verona: Quintilianus libro de oratoriis institutionibus : 'Si studiis
scolas prodesse' (I 2, 3) ; kannte ferner Guglielmo da Pastrengo
(f 1363) in Verona, kannte Dionysius voia San Sepolcro (Arezzo),
den wir um 1317 in Paris finden, gestorben 1342, kannte Giovanni
Colonna (1265 — 1332), kannte Lapo di Castiglionchio und durch
ihn Petrarca, kannte Domenico di Bandino in Florenz, kannte Gio-
vanni Dominici (um 1405) in Florenz, Panormita um 1426. Ein
Bruchstück der Inst., vielleicht aus dem X. Buche, hatte Giovanni
Conversino.
Den vollständigen Text der Inst, entdeckte Nicolaus de
Clemangis in Frankreich; von ihm erhielt ihn Andreolo Arese,
ein geborener Mailänder im Dienste der Visconti. Über Poggios
Fund in St. Galleu 1416 uud über das zweite, 1417 entdeckte
Exemplar eines vollständigen Textes siehe Bericht über Bai tr am i.
Der erste Fund ist nach Sabbadini der gegenwärtige Turicensis,
der in St. Gallen bis zum 18. Jahrhundert verblieb. Abschriften
von ihm sind der Vatic. Urb. 327, Ambros. B 153 sup., der Har-
1) Auch an die von G. L. S p a 1 d i n g im 7. Bd. seiner Ausgabe (1825)
zusammengestellten Selecta de M. F. Quintiliano recentiorum iudicia sei
erinnert.
IV. Überlieferung. 225
leianus 4849, der Vindobonensis 3135 uud der Vatic. Basil. H 11,
12 (?). Das zweite Exemplar, das Poggio mit sich nahm, ist jetzt
verloren, aber wir haben Apographa, z. B. Laur. 46, 9 vom Jahr
1418 und Mouac. 23473 (den ich zum Teil im Juli 1922 verglichen
habe). Über den Vatic. Urb. 327 siehe unten Beltrami. Ein
drittes vollständiges Exemplar entdeckte Capra 1423 im Mailändei*
Humauistenkreis. Abschriften hatten Cosimo von Medici, Pizolpasso,
Jouifroy (jetzt in Carcassonne ; über seine eigenartige Stellung vgl.
Fierville und gegen diesen Kiderlin ; siehe meinen Bericht Burs.
Bd. 109, 1901 II S. 98). Vollständig war der *famo8issimo' Ambros.
E 153 sup. , einst im Besitz des Mailänders Giovanni Barbavara
(von 1437 — 52 Bischof von Tortona). Der Laur. 46, 7 kam (um
1433) von Straßburg nach Italien.
Remigio Sabbadini, Storia e Critica di testi latini
Cicerone, Donato, Tacito, Celso, Plauto, Q, ui n tiliano, Livio
e Sallustio, Commedia ignota. Catania 1914, X 458 S. 8.
Dem Fabius gelten hier die S. 379 — 407. Nicola da Clemangis
kannte u. a. nach den mitgeteilten Briefstellen instit. X 1, 46 — 101
(geschrieben ist Tuchitidi ac Herodoto), er kannte um 1396 einen
vollständigen Quintilian (nicht bloß einen Auszug aus inst. X), also
20 Jahre vor Poggios Fund in St. Gallen (August— September 1416).
Über diesen, über Poggios und Antonio Franchis Abschrift aus dem
gleichen Jahre erfahren wir bei S. Quellenmäßiges. Im April 1417
schreibt Bruni an Poggio: 'Quintilianus tuus laboriosissime emen-
datur' etc. Gasparino Barzizza kann 1417/18 aus Padua an Cocco
(Caucius) berichten : *^Quintilianus ex vetustissimo codice in Germania
transcriptus totus apud nos extat' etc. In seiner Orthographia weist
Barzizza hin auf Quintilians Unterscheidung (I 7, 5) von con und
cum. Bei einem Sommerausflug (1417) nach Frankreich und Deutsch-
land fand Poggio einen zweiten vollständigen Quintilian, den er
nicht abschrieb, sondern mit nach Italien nahm (1418). — Bezüglich
der Frage, ob Quintilian in Calagurra (Calagurris), wie Hieronymus
Überliefert, oder zu bezw. bei Rom geboren sei, wie eine anonyme
Quintilianbiographie von 1494 will, zeigt Sabb., daß Laur. Valla
zwar nicht der Autor des ßiog ist, daß diesem aber Vallas Zweifel
bezüglich der Nationalität des Verfassers der Institutio bekannt
waren (S. 396—402). Vgl unter Gamurrini Burs. 148. Bd. S. 175
und Fr. Scholl unten. Laurentius Vallensis war 1443 — 1447 mit der
'Emendation' der Institutio beschäftigt (S. 402 — 404). Auf drei
weiteren Seiten handelt Sabb. von den pseudo-quintilianischen De-
klamationen.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. H). 15
226 Amnion: Quintil. inst. or. 1010—21.
Remigio Sabbadini, Quintiliano, il Commentum Terenti e
Cicerone in Francia nel secolo XIV (Riv. di Filol. 39 (1911)
S. 540—549)
zeigt aus den Briefen des Nicolaus deClemangis, daß dieser
Quintilian X 1, 46 bis 101 gelesen, also ein vollständiges Exemplar
besessen, und zwar um 1396, also zwanzig Jahre vor Poggios Fund
in St. Gallen (siehe oben).
Der Herausgeber des 12. Buches der Inst. or. Achille Bel-
trami hat in den Memorie del R. Instituto Lombardo di Scienze
e Lettere, classe di lettere e scienze morali Vol. XXII — XIII. della
Serie III — Fascicolo V (Milano 1911, Hoepli) S. 151—186 eine
wichtige Untersuchung niedergelegt:
De Quintiliani institutionis oratoriae codicibus
Ambro s. B 153 sup. , Vatic. -Urbino 327 et Medic-
Laurent. 4 6, 9.
Beltrami stimmt Radermacher (Fierville , Petersen) zu , daß
in den jüngeren Hss Spuren einer alten recensio erhalten seien
und erachtet den Ambr. B 153 sup. und den Vatic.-Urbin. 827 be-
sonders beachtenswert. 'Hos enim R. Sabbadinus erudite coniectavit
a priore Quintiliani codicum integrorum originem ducere , quos
Poggius Florentinus in bybliotheca monasterii Sancti Galli cum
reperisset, alterum transcripsif, alterum secum ipse in Italiam tulit.'
Der Ambros. B 153, der neben dem vorzüglichen Ambros. E. 153
s. XI (A) und dem mutilus F 111 sup. s. X (A 2) eine durch-
gehende Kollation verdiene , ist zum Teil schon von Sabbadini
und Bassi herangezogen worden. Von dem Vatic.-Urbin. 327
saec. XV membranaceus wird eine genaue Beschreibung gegeben.
Die Graeca, zuerst freigelassen, sind später eingetragen. Für den
Vatic.-Urbin. ermittelt Beltr. nach Sabbadini aus einer Bemerkung
zum 12. Buch der Inst., daß er aus dem ersten von Poggio (1416)
gefundenen Text abgeschrieben sei ", weniger einfach liege die Sache
beim Ambros. B 153. Über die beiden Hss sucht B., von Sabbadini
angeregt, Klarheit zu verschaffen. Er hat Buch XII verglichen (c. 1
bis 4 vollständig mitgeteilt ; aus c. 5 mit 1 1 Auswahl) und einzelne
Stelleu aus I — VI (nach Radermacher) und VII — XII (nach Meister)
und dazu den Medic.-Laurent. 46 , 9 herangezogen (y), der laut
handschriftlicher Notiz zwei Jahre nach Poggios Fund 1418 ge-
schrieben ist. Jene beiden Hss , A 3 und Vu bezeichnet , bieten
keine Diphthonge. Neben den sonst üblichen Varianten wie bi für
ii, reprendere für reprehendere, finden sich auch Spuren alter Über-
lieferung; öfter werden Konjekturen moderner Gelehrter (Mähly,
■ IV. Überlieferung. 227
Meister, Kiderlin, Sittl usw.) bestätigt, auch widerlegt oder als älter
erwiesen. Das Verhältnis faßt Beltrami S. 185 so zusammen:
*Quibus exemplis id plane comprobatxir . . . tarn A 3 quam Vu a
T(ur.) originem ducere , sed A 3 et librarii arbitrio corruptum et
aliis codicibus, praesertim F b G- S Alm. et eo codice, quo Cam-
panus usus est, esse contaminatum, Vu autem codicis cuiusdam non
multum a T discrepantis subsidio emendatum esse, atque ab hoc
auxiliari, ut ita dicam, codice eas lectiones esse profectas, quas plane,
similes cum in Vu tum in /, M et Guelf passim invenimus. Quae
cum tarn multae eaeque peculiares maxime in y M et Guelf sint,
in eam adducor sententiam, ut horum codicum originem ad eum,
cuius lectiones in Vu emendatoris manus invexerit, recta referendam
putem. Cum vero Poggii subscriptio in Vu et epistxila capitumque
tabula in A 3 a librariis ex priore Poggiano transcriptae utrumque
codjcem ex hoc ut ex primo fönte manasse testentur, in temeritatis
crimen non vocabimur , si T aut archetypon ipsum , quod Poggius
in monasterio s. Galli parum fideliter pro sua natura transcripserit,
aut certe illi artissimo vinculo conexum ducemus.' In y (== Medic.
Laurent 46, 9) möchte Beltrami die älteste Abschrift des zweiten von
Poggio 1417 gefundenen Quintiliankodex sehen.
Eingehend bespricht die Untersuchung Beltramis über die Hand-
schriften Job. Tolkiehn Woch. f. klass. Philol. 29 (1912), 1053
bis 56. In der Sabbadini gewidmeten Ausgabe des 12. Buches
von Beltrami(Roma-Milano 1910) sieht Tolkiehn eine wohlangelegte
italienische Schulausgabe (87. Bändchen der Raccolta di autori latini).
Bezüglich der Komposition (siehe unten) glaubt Tolkiehn in der
Annahme einer Erweiterung des ursprünglichen Planes beistimmen
zu sollen ; dagegen erscheint ihm weniger geglückt der Nachweis,
daß die §§ 14 — 22 des erten Kapitels erst nachträglich nach Voll-
endung des ganzen eingeschaltet worden seien; mit Recht.
Schon im letzten Bericht ist verwiesen auf die wichtige Arbeit
von Friedrich E m 1 e i n , De locis quos ex Ciceronis orationibus in
Institutionis Oratoriae duodecim libris laudavit Q uintilianus.
Karlsruhe 1907. 83 S.
Man hat seit Spalding einige Stellen Quintilians (z. B. V 10,
92. 11, 11. 14, 3. IX 3, 38. 4, 29) aus Ciceros Reden verbessert.
„An vielen Stellen, sagt Ferdinand M e i s t e r in seiner Besprechung
(B. ph. W. 1910, 583 f.), gibt Emiein der Überlieferung Quintilians,
zum Teil mit größerem oder geringerem Bedenken, aber stets mit
Umsicht und umfassender Sprachkenntnis , an einigen auch der
Überlieferung Ciceros den Vorzug, z. B. IV 2, 51 und 2, 110
35*
328 Ammon: QuintiL inat. or. 1910—21.
= Lig. 2, 4." „Sehr häufig ist der Kritiker in der schlimmen Lage,
sich nicbt mit Bestimmtheit für Cicero oder Quintilian entscheiden
zu können, z. B. da, wo sich's um Abweichungen in der Wortstellung
handelt; maßgebend ist und bleibt für ihn das Alter und die Güte
der Handschriften. Daneben ist auch zu berücksichtigen, daß Quin-
tilian wohl seinen Cicero aus 20 jähriger Lehrtätigkeit ganz genau
kannte; wir dürfen ilira aber auch zutrauen, daß er nicht pedantisch
Wort für Wort stets wiedergegeben, sondern hin und wieder sich
die Freiheit genommen hat, an den Belegstellen eine unwesentliche
Änderung vorzunehmen, ein oder mehrere Wörter umzustellen, hin-
zuxttsetzen oder auch wegzulassen." Meister verweist auch auf die
Jenenser Dissert (1910) von Hermann Reeder, 'De codicibus in
Ciceronis orationibus Caesarianis reete aestimandis', wo auch unter-
»ttcht wird, welche Cicero-Hss. Quintilian benutzt habe (B. ph. W.
I&IO,. 517). Unsere Quintilianüberlieferung (in etwa 100 Hand-
sebriften) ist im Vergleich zu der anderer Autoren, selbst Ciceros,
im ganzen gut. Aber die Erforschung ist noch lange nicht ab-
geschlossen; dessen war sich auch ein Halm bewußt; Iwan Müller
und Becher konnten nicht zum Abschluß bringen, was sie in Aus-
sicht genommen. Meister und Radermacher haben das ihrige
in unermüdlicher Forschung getan ; Radermachers Bd. II (Buch 7 mit
12) steht noch aus. Wilh. Kroll sagt, in Hönns wissenschaftlichen
FöTSchungsberichten 1914 — 1918 'Lateinische Philologie' (Gotha
1919, F. A. Perthes) S. 3: 'Für den Text mancher Schriftsteller
brieb die handschriftliche Grundlage lange unsicher — für Quin-
tilian z. B. sehen wir in. manchen Partie» noch heute nicht klar.'
Hier wäre nähere Angabe erwünscht.
Für die Behandlung der Handschriftenverzweigung und der
rhetorischen Sprache, insbesondere der Terminologie, sind zwei ver-
wandte Schriften, obwohl nur Ciceros Werke De oratore gewidmet, doch
auch für die Quintilianforschung belangreich:
Johannes Stronx, Handschriftliche Studien zu Cicero
De oratore (Rektoratsprogramm der Universität Basel). Basel
1921, 182 S. Gr. 8.
und
Joseph Martin, Tu 11 i an a. Die Vatikanischen Codices zu
Cicero de oratore Vat. Lat. 2901 und Vatic. Palatinus 1470.
Habilitationsschrift. Würzburg 1922, 90 S. 8.
Über die ins Altertum hinaufreichende Verzweigung Martin
Si 89 f. ; ebendort über das Verhältnis Ciceros zu Quintilian.
Die Nachlichten über Korrekturen (z. B. Aristophanes für
IV. Überlieferung. 229
Eupolis bei Cicero), über verschiedene Schreibweisen und Lesarten
vor dem Ausgang des Altertums sind nicht so selten; vgl. über
Korrekturen Martin a. a. 0. S. 89 f. ; die authentische Schreibung
Opillius für Opilius bei Suet. gramm. 6 ; 'praevidisset' statt 'provi-
disset' bei Hör. ep. I 7, 68 nach Ps.-Acro p. 239, 12 K 'in alio
'praevidisset' legitur'.
Das Stemma der Hss nach Radermacher wäre etwa so:
Quintil.
Julius Victor
Archet. in Kleinschrift u. mit Scholien
P{aris.) und Verwandte
A(mbro8.) 153 B (Bern,
s. XI Bamberg,
Notred)
s. X.
Weiter auszubauen nach Beltrami (s. o.).
Referent zum Bambergensis.
Eine teilweise Vergleichung des Cod. Mon. 23 473 hat mir
nichts Besonderes ergeben. Dagegen hat ein Einblick in den
Bambergensis (im August 1922) auf kurzer Strecke einiges Be-
achtenswertes geboten. Cod. Bambergensis M 4, 14 = klass. Hand-
schr. 45 (Katalog der Handschriften der Königlichen Bibliothek zu
Bamberg. Bearbeitet von Friedr. Leitschuh, 1. Bd. 2. Abt. Bam-
berg 1895, S. 47 und 1. Bd. 3. Abt., bearbeitet von Hans
Fischer, Bamberg 1908, S. 43), hat die Überschriften I c. 1 que-
madum tradenda synt ; aber c. 2 utilius domi an in scholis erudiantur,
I 1, 5 (p. 8, 19 R) nam quando iubonum verteris vitia, aber
von der zweiten Hand, von der das jetzige erste Blatt herrührt
re
über verteris ; über diese die Konstruktion und den Rhythmus
(-w^:::^— ) ändernde Variante schweigen die Herausgeber.
I 1, 10 (9, 15 R) et plurib; {=pluribus) disciplinis opus est,
entschieden besser als plurimis (Halm u. a.) ; und plurib ist ans
dem folgenden (9, 24 R) deutlich pluribus.
e
I 1, 11 (9, 18 R) 8i tarnen non contingit, das e anscheinend
von der gleichen Hand (nach Halm 2. Hand).
eis
I 2, 1 (14, 6 R) hat Bg* deutlich publicatis p ceptorib.
230 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
I 2, 2 (14, 7) clarissimarum civitatium, wo i deutlicli punktiert
u
ist, wie I 2, 4 parentium und wie I 2, 4 ingeniös.
I 2, 4 (14, 26 E) exempla tarn pdite bei'cule quam conservate,
von der gleichen Hand perdite (^perditae) deutlich hineinkorrigiert-,
besser als Halms Lesung.
I 2, 4 (p. 14, 26 K) lese ich deutlich utrubique, nicht utro-
bique (Halm). Über dem n des folgenden natura steht ein n, wohl
= nam, was sinngemäß ist.
Am Rand unten steht ohne Beziehungszeichen auf diesen Satz,
aber von der gleichen Hand: at uature, cuius quis ; sit .t. quo cü
quaue cura nutriatur distat ; vor nutriacur noch 3 verwischte Buch-
staben (von Halm angemerkt, Natura cuius quisque sit uel qxiocum
quaue cura nutriatur distat, aber ohne das At am Anfang).
c
I 2, 6 (p. 15, 13 R) et cocum intellegit; am Rand von anderer
Hand mit dunklerer Tinte crocum ; über all das bei Radermacher
nichts; crocum auch Halm nicht; und doch ist crocus die größere
Finesse, vgl. Th. L. L.
mores
12, 7 (p. 15, 14 R) quam os instituimus wie crocum, aber über
OS geschrieben (Halm, Meister, Radermacher); Bonnell mores.
unt
I 2, 8 (p. 15, 19 R) ex nobis audierunt, ohne Korrekturpuukte ;
audierunt, was Radermacher nicht erwähnt, ist dem audiunt von
A (Halm, Meister) nach Sinn und Rhythmus vorzuziehen. Zeile 21
steht über inde von anderer Hand deinde.
I 4 hat die Überschrift De grammatica, aber I 10, 9 De musice.
Die Schreibung oratiost habe ich nicht beobachtet, I 2, 4 deut-
lich conversatio . e . (= conversatio est), socordia est u. ä. Zu
Cicero bieten die Mutili dem Rhythmus entsprechend oratiost, cau-
sast, utendumst ; bei Quintilian haben wir meist die gleiche Rhyth-
misierung. Fälle wie 'in bonum vertere vitia' statt verteris (I 1, 5),
wozu man z. B. Tac. dial. 4 in consuetudinem vertisset stellen mag,
lassen eine Neuvergleichung, namentlich unter besonderer Beachtung
der Rhythmen (auch parentum und parentium , civitatum und civi-
tatium) wünschenswert erscheinen.
Daß auch aus dem F(lorentinus) noch manches zu holen ist, lehrt
eine verlässige, noch nicht veröffentlichte Kollation von Karl Rück
(vgl. Burs.-Ber. 1901, S. 103). Um das acta agere hintanzuhalten,
gebe ich hier Rück selbst das Wort zu seiner wertvollen Mitteilung.
Über meine Kollation der Quintilian-Handschrift F in der
Laurentiana zu Florenz habe ich folgendes zu berichten :
Quintilians Sprache. 231
Nach der Ansicht Wilhelm Meyers (aus Speyer) ist es ein
bleibendes Verdienst Halms, daß er, nachdem die Güte der Hand-
schriften A , Bn und Bg schon von anderen anerkannt war , die
ergänzende Hand des Bambergensis G hervorgeholt hat ; im übrigen
aber hat er sich geirrt. Die Annahme , daß Turic. und Flor,
aus dem Bamberg, abgeschrieben seien, ist fast absurd. Besonders
folgenreich war die Verkenuung dieser Handschriftenklasse, welche
durch Tur., Flor., Almelovenianus und die 2. Hand des Bamb.
b repräsentiert wird. Die Angaben über b bei Halm sind leider
ungenau und irreführend. Den Almelovenianus wiederzufinden,
ist Meyer trotz mehrfacher Nachforschungen nicht gelungen.
Doch hoffte er ihn immer noch aufzutreiben. Denn wenn diese
Handschriftenklasse fest erkannt ist, dann wird sich auch der
schwierigste Teil der ganzen Handschriftenfrage des Quintilian
lösen lassen, nämlich „die vielen trefflichen Lesarten in den
jüngeren Quintilianhandschriften". Der Handschriftenapparat
Halms zu jenen Büchern, für die sowohl A als B fehlt, ist, ab-
gesehen von G, wertlos und für wissenschaftliche Forschung un-
brauchbar. Das Rätsel der jungen Handschriften löst sich, wenn
man zum Text der Handschriften Tur., Flor, von 1. Hand (= b)
das hinzunimmt, was schon im 11. Jahrb. eine zweite Hand dar-
über geschrieben hat.
Um das Rätsel zu lösen , hatte ich mir scho-n vorher , ehe
ich nach Florenz reiste, Bogen angelegt, in die ich — zur Richt-
schnur war Halm genommen — die Variauten von T eingetragen
hatte; in diese wurden dann in Florenz die Varianten von Fi
und F2 nachgetragen. Die Kollation nahm 623 Folioseiten in
Anspruch. Sie wurde bis zum Schluß des 5. Buches geführt, bis
zu den Worten : Marci Fabii Quintili Institutionü oratoriarü lib.
V. explicit. Ich kam am 31. Oktober 1890 mit ihr zu Ende.
Dr. Karl Rück.
V. Quintilians Sprache.
Die sorgfältige Arbeit von K. Friz 'Sog. Verbalellipse bei
Quintilian' (1905) habe ich Burs. 148, S. 198 ff., besprochen und
dort den Wunsch geäußert, es möge Quintilians Eigenart, gemessen
besonders an seinen älteren und jüngeren Zeitgenossen , ins rechte
Licht gestellt werden. Dies geschieht bei
Xaver Gabler, De elocutione M. Fabii Quintilian i.
Erlanger Dissert. Borna-Leipzig 1910. 109 S. Gr. 8. :
232 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
Gabler hat bei seiner Untersuchung der Sprache der Institutio
oratoria die Frage im Auge : 'quibus maxime rebus a veteribus scriptori-
bus — besonders Cicero — differat quantumque aetati suae tribuat.' Er
gliedert den Sto£f in diese drei Hauptteile: 1. De delectu atque usu
vocabulorum S. 1 — 42, 2. De ratione syntactica S. 43 — 88, 3. De com-
positione sententiarum S. 89 — 104, dazu S. 105/6 die Conclusio. Es
ist eine bekannte Erscheinung, daß die Sprache der Dichter in die
Prosa der nächsten Geschlechter eindringt ; auch bei uns Deutschen.
So gibt G. (1 1, 1) eine Übersicht über die in der silbernen Latinität aus
früheren Schriftstellern, namentlich aus dem poetischen Sprachschatz
verwendeten Ausdrücke, die sich bei Cicero und Cäsar nicht
finden: z. B. abnegare — absinthium — adiutorium — colaphum
tibi ducam („einem eine herunterziehen") inst. VI 3, 83, wo Rader-
machers Text den Druckfehler colophum enthält — decor ungemein
oft — excreare („räuspern") — enarrabilis und inerrabilis — obti-
cescere (neben Celsus' t. t. obticentia für anoGuorcr^oig) — super-
imponere usf. bis vivax mit dem Verweis 'Poetae. GelP. Daran
schließen sich (I 1, 2 S. 12) 'Vocabula Quintilianea, quae ea demum
aetate quae vocatur argentea in usum venisse videntur', z. B. ab-
dicatio — antidotus {avTiöoTog) — das umstrittene clamosus —
favorabilis — gesticulatio — incomprehensibilis (wozu in Ciceros
philosophischen Schriften comprehendilis (Ac, 1, 25) u. ä. zu ver-
gleichen) — observabilis — possibilis und impossibilis — retro
agere (cf. Tac. Germ. 38) tyrannicidium , was gegenüber homi-
cidium und suicidium eine Neuerung nicht bedeutet ■ — venula
(Flußäderchen) , dem das Taciteische vena (Germ. 5), vom Edel-
metall gebraucht, zur Seite zu stellen ist — vivacitas, das auf
gleicher Stufe steht mit vivax ; ebenso das letzte Wort dieses Ab-
schnittes zelotypus {^^.rjXÖTvrcog) , das nach Ciceros Briefen (Att. X
8 A. XIII 13. 18) zu schließen, ein alter Schlager aus der helle-
nistischen Zeit ist. Der folgende Paragraph (I 1, 3 S. 20 — 27)
erscheint schon nach seiner Überschrift etwas überladen : ' Vocabula,
quae apud Quintil ianum primum leguntur sive ab ipso novata sive
ex graeco translata sive nova indita significatione sive ex usu coti-
diano assumpta', z. B. abusive Jcara^ßj^OTixo/c:, wozu Serv. zu Aen.
I 177, 260 (Thes. L. L.) zu vergleichen — acor übertragen wie
acrimoniabeimAuct. adHerenn. (4, 19) — congeries für ovvad^^oiofiog,
wobei wie bei anderen Fachausdrücken verschiedene Übersetzungs-
versuche (coacervatio usw.) zu vergleichen waren — elocutrix (inst.
II 14, 2), das wie disputatrix seinen Vorläufer hat in der latei-
nischen Übersetzung der Rhetorikdefinition des Theodoros von Ga-
V. Quintilians Sprache. 238
dara: *ars inventrix et iudicatrix et enuntriatrix' (II 15, 21) vgl.
Gabler selbst S. 42; rubrica (XII 3, 11) bedeutet gegenüber Per-
sins V 90 kaum eine Neuerung, besonders im Hinblick auf Ciceros
leguleii ; für vocalitas (I 5, 24), das in dem Horazianischen vocalem
Orphea (c. 1, 12, 6) seinen Ursprung haben mag, gilt das oben
von vivacitas Gesagte. In dem 2. Kapitel des ersten Hauptteiles
'De usu vocabulorum' wird der Gebrauch der Substantiva besprochen,
z. B. cervix stets im Singular, dann die fortschreitende Verwendung
von Adjektiven für Substantiva, z. B. simile «ixwv, studentem,
einiges über Zahlwörter (mille für sescenti) , über die Pronomina,
über Adverbien und Konjunktionen •, dort wird interim mit Recht
in den Vordergrund gerückt (S. 36) — subinde sollte daneben
stehen — , hier bei den Konjunktionen vermisse ich Et . . . autem.
In «einer 'Peroratio' zum ersten Hauptabschnitt (S. 40 — 42) hebt
G. u. a. hervor: die zahlreichen inchoativa, den Gebrauch von
praetenuis für das ältere pertenuis u. ä., interritus für non territus
u. ä. , weitere Bildungen auf -bilis und -ivus, auch -alis
(iuridicalis ?) ; über elocutrix u. ä. ist oben gesprochen. Wegen
der Behandlung der Eigennamen, wie Celsus Cornelius, Laenas
Popilius ist auf Bacherlers Aufsätze zu verweisen. In dem
zweiten Hauptabschnitt De ratione syntactica wird behandelt
die Kongruenz, wie commendationem atque excusationem propria
putaverunt (VI 2, 11), auch auf alius . . , alius . . . neutri (VIII 6, 36)
war zu verweisen ; dann behandelt G. die Kasuslehre sehr eingehend,
ähnlich die Präpositionen ; hier war das modische citra mehr zu be-
tonen und mit intra ('nicht ganz bis . . . hin') zusammenzuhalten ; auch
*in exemplum' 'als Beispiel' und ähnliche hätten Beachtung ver-
dient, wohl auch in Marathone und in Salamine. Für die häufigen
Fälle, wo gegen unser Sprachgefühl die Präposition nicht wieder-
holt wird, konnten bessere Belege gewählt werden. Bei den Tem-
pora und Modi wird der Gebrauch satis erat (für est) , wie bei
Horaz Optimum erat, u. ä. richtig beleuchtet; für den Potential is
wie von abnuerim, concesseris, nocuerit, profuerint bietet die Ta-
belle S. 61 eine gute Übersicht. Quintilian unterscheidet sich hier
kaum von seinen Zeitgenossen. Bei den indirekten Fragen sehen
wir das Anwachsen von an — doch nirgends an non. S. 66 wendet
sich G. gegen Verbesserungsversuche der Überlieferung wie nescio
an nullus oder nescio an numquam «tatt uUus und umquam ; ich
glaube mit Recht; nescio an heißt wie dubito an zunächst 'ich
schwanke', *ich weiß nicht recht' (s. Tac. Germ. 46); die Neigung
kann bald mehr positiv sein : 'vielleicht*, 'wahrscheinlich', wie VIII
234 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
5, 21, XI 1, 57, bald mehr negativ: 'schwerlich', 'kaum', wie XII
10, 2 (nescio an ars ulla), X 1, 65. Wenn Bonnell, Törnebladh,
Marty u. a. öfter si im Sinne von an genommen haben , so betont
G. mit Recht die kondizionale Grundbedeutung (S. 66 f.). Zu prüfen
waren noch die Fälle (auch an der Hand der Überlieferung) , wo
in anscheinend indirekten Fragen der Indikativ steht. Aus den
adverbialen Nebensätzen sei hervorgehoben: cum interim (konzessiv-
adversativ), alius quam massenhaft, quis ignorat quin cum, praesertim
häufig , das Fehlen von est quod oder nihil est quod ; der Kon-
junktiv bei quamquam, häufiges quamvis (aber kaum vulgär, vgl.
Tacitus). Zum Infinitiv und Partizip (S. 82 ff.) möchte ich spes . . .
victuri VII 4, 18 ('daß er . . . leben werde') und idque . . . facien-
dum . . . vetat Antonius VII 3, 16 beifügen.
Der dritte Hauptteil der Dissertation 'De compositione
sententiarum' fällt gegenüber den beiden anderen schon äußer-
lich etwas ab; das kommt u. a. daher, daß der Verf. in seiner Dis-
position antike und moderne Betrachtungsweise verbunden hat (de
re syntactica und de compositione) ; sein dritter Abschnitt entspricht
ungefähr dem, was wir mit Zumpt 'syntaxis ornata' zu nennen uns
gewohnt haben; Quintilian nennt es nitor. G. handelt u. a. über
Periodisierung, Brachylogie, Figuren (Anaphora, Chiasmus, Hyper-
baton, Alliteration, Hysteron-proteron, Litotes).
In seiner Zusammenfassung S. 105 f., die natürlich ein anderes
Bild gibt, als Francesco Filelfo von der 'Hispanitas' des 'Barbaren'
Quintilian entwirft, betont G. 1. den Anschluß an die Sprache
seiner Zeit trotz seines Ciceronianismus ; 2. die freie Benutzung
des Arpinaten, von dem er Glanzstellen aus dem Gedächtnis zitiert;
3. vulgäre Elemente , die aber eine andere Erklärung zulassen ;
4. familiäre Ausdrucksweise, die in der docendi ratio ihren Grund
hat; 5. die für die Zeit wünschenswerte Vereinigung der gesunden
virilitas mit dem angemessenen nitor. An 32 Stellen äußert sich
G. kritisch zur Textgestaltung (zusammengestellt S. 10.8).
I 6, 2 cum . . . honestus est (Radermacher mit Halm sit) \\ II
17, 19 für confitebor (Hss. Raderm.) gegen Meisters confiteor || III
7, 13 [eo] maiorem mit Raderm. gegen P || IV 2, 17 deinde tum
narret mit A gegen Radermachers Tilgung des tum || V 9, 3 für
Radermachers (eo)que mihi; ich für quae der Hss. || V 9, 11 für
in aequo est || V 10, 74 für signorum insolubilium (statt immu-
tabilium) || V 12, 18 für dum levia sint (statt sunt) || V 13, 24
für Spaldings (per) omnia; vgl. Baehrens omnia = omnino || V 4,
19 für Radermachers Lesung (per) j] VI 1, 18 für nescio an enar-
V. Quintilians Sprache. 235
rabili, vgl. o. || VI 4, 17 für multi res (statt iu re) consilii ; ob
nicht in re zu ändern in interim? || VII 6, 4 für ad actorem an
actionem. Weitere Stellen sind IX 1, 18—19. 3, 71. 3, 100. 4,
1. 4, 62. 4, 129. 4, 139. X 1, 18. 1, 94. 1, 102. (clari vir
ingenii, auch Bonnell). XI 1, 31. XII 10, 39. XII 5 , 2 für
Meisters inter adversa. Abschließend ist die für sich genommen
sehr tüchtige und gehaltvolle Arbeit Gablers nicht, wozu noch
wichtige Teile der textkritischen Grundlage fehlen. Wir werden
kaum einen zweiten antiken Schriftsteller haben , bei dem wir so
bis ins einzelne gehend Theorie und Praxis vergleichen können
wie bei Quintilian. Darum sollte die Untersuchung einsetzen mit
der Frage: Wie denkt Quintilian über die Entwicklung der Sprache?
Vgl. X 2, 13 (Zurücktreten und Verschwinden von Sprachwendungen);
XII 10, 45 (nicht an die Uralten sich anlehnend). Wie denkt er
über Sprachrichtigkeit (ratio) und Sprachgebrauch (consuetudo) V
logisch - psychologisch ? Wie über Bildersprache uud eigentliche
Ausdrucksweise? über Dialekt- und Fremdwort? Wie über die
vei-schiedenen Stile? über die Figuren? über Hiat und Elision?
über Khythmus? über Euphonie und Kakophonie (Monosyllaba) ?
über Zitate, Sprichwörter, Sentenzen? über Gesprochenes und Ge-
schriebenes? über Nachahmung? (frei); über Übersetzung? (möglichst
treu). Die ungemein zahlreichen Bilder Quintilians, mit denen
er alle Stufen und Verzweigungen der Erziehung, des Unterrichts,
der menschlichen Rede und der Seelenerregungen veranschaulicht,
verdienten eine besondere Untersuchung (Natur — Landbau —
Seefahrt — Künste usw.). Alfred Gudeman hat in seiner
Ausgabe des Taciteischen Dialogus 1914, S. 111, und Rudberg
in seinem Poseidonios (1918) dafür Fingerzeige gegeben. Der
Rhythmus Quintilians , der in den Klauseln fast aufdringlich wird
— trotzdem Quintilian in seiner gesunden Natürlichkeit überall
die f.i£G&irjg , den modus, das 7CQertov predigt — , hat Gladisch
genau aufgezeigt. Für den Entscheid bei schwankender Überliefe-
rung (quia fateatur — fatetur ; simus — sumus dicturi), für die
Orthographie (perisse — periisse, studii — studi, Isocraten — Iso-
cratem usf.) ist dieses Hilfsmittel noch nicht allseitig durchgeprobt ;
das gilt auch für sprachliche Untersuchungen wie die Gablers,
Eine kakophonische Wortstellung wie magni est studi , die uns
Deutschen kaum auffiele, wird sich bei Quintilian schwerlich finden>
Wir sind immer noch geneigt, eine Sprache mehr lexikalisch, gram-
matisch, logisch als psychologisch, rhetorisch, ästhetisch zu betrachten.
Erst kürzlich hat A. W. de Groot in seinem Werk 'Der antike
236 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Prosarhytlimus' I., Grroningen 1921, S. 11, das Verständnis
dieses vielumstrittenen akroatischen Kunstmittels als die unerläßliche
Vorbedingung für das Verständnis der antiken Kunstprosa überhaupt
bezeichnet. Hier einen Wandel herbeizuführen, ist Quintilians In-
Btitutio vor anderen Werken geeignet.
Wenn von so autoritativer Seite wie von dem Quintilianheraus-
geber Radermacher, Praef. p. XI, ausgesprochen wird: "^Ego
Ambrosiani receptas lectiones non raro sprevi, quas nimis politas
atque elegantes putavi : ad familiam B redii , etsi quae continebat,
duriora et asperiora videri poterant: talem mihi finxeram Quin-
tiliani imaginem hominis ad antiquum morem Romani et nimis levia
spernentis', so ist in allen wesentlichen Teilen einer Untersuchung
über Quintilians Sprache, insonderheit seiner compositio, zu diesem
Grundsatz Stellung zu nehmen. Ein Vorbild für Stilanalyse kann
E. Courbaud sein: Les procedes d'art de Tacite . . . Paris 1918,
besonders Kap. V Le style ; s. u. Einiges über den Sprachgebrauch
des Quintilian (Vermeidung von quis statt quibus u. ä.) bietet auch
Richard Wagner, Stilistische Beobachtungen im Anschluß an
Tacitus Annalen I, I — 10. Festschrift Parchim 1919. S.
129—152.
Eine für einen so sorgfältigen Stilisten wie Quintilian recht
wichtige Arbeit trägt ihre Zugehörigkeit zur Quintilianliteratur zu
wenig an der Stirn,
Hugo Säur, Die Adversativpartikeln bei lateinischen
Prosaikern. Diss. Tübingen. Tübingen 1913, Laupp jr.
VIII, 111 S., Gr. 8.
Die von Gundermann geförderte Untersuchung zu Cicero (Tusc),
Livius, Seneca, Quintilian, Tacitus ruht auf gründlicher Kennt-
nis der Hilfsmittel , der einschlägigen Autoren und auf sorgfältiger
Arbeitsweise. Bei Quintilian wird Buch I — VI nach Radermachers
Text behandelt. Die Adversativpartikela at, atqui, autem, contra,
immo, sed, tamen, vero, verum werden, wie man sieht, gleich den
Autoren alphabetisch aufgeführt mit der Fülle der Belege, so daß
bisweilen das Aussehen einer Logarithmentafel dem Leser vor-
«chwebt (z. B. S. 33 — 36), aber innerhalb der Funktionen der ein-
zelnen Partikeln ist verständig gegliedert, z. B. gleich at: allgemein
(zur Gegenüberstellung) — in Verbindung mit pronominibus — nach
vorhergehender Konzessivpartikel — als Partikel der Kompensation
— at stellt der Frage die Antwort, der Rede die Gegenrede gegen-
über usw., über at allein S. 3 — 11. Bei immo — ob aus ipsimo
öder aus inimo? — sollte die Schreibung imo nicht ganz unbeachtet
i
V. Qointilians Sprache. 237
gebliebeu sein. Zu manchen stilistischen Bemerkungen regt die Übersicht
S, 103 — 109 an ; z. B. contra gebraucht Quintilian recht sparsam, Tacitus
in den historischen Schriften oft, im Rednerdialog überhaupt nicht.
At, autem, verum bei Quintilian häufig. — Über einen belangreichen
Genitiv der Sprache Quintilians (wie der gesamten Latinität) handelt
Joseph Wilhelm, Der Genetivus diseriminis im La-
teinischen. Diss. München 1922.
In der mir im Autogramm vorliegenden umfangreichen, gediegenen
Arbeit wird S. 67 — 69 dieser Genitiv in der Institutio untersucht: 1. Verba
des Anklagens: accuso, teneo, insimulo . . . 2. Verba des Verhandeins: ago,
convinco ... 3. Verba des Verurteilens : damno, absolvo. Die statistischen
Belege sind übersichtlich zusammengestellt. Den 122 Beispielen mit geni-
tivischer Ausdrucksweise stehen 7 Beispiele mit anderen Konstruktionen
gegenüber, unter diesen 3 mit propter.
M. Bacherler, Die Namengebung bei den lateinischen
Prosaikern von Ve llejus bis Sueton. In der Wochenschr.
f. klass. Philol. 32 (1915) Nr. 44. 45 und 88 (1916) Nr. 2, 7, 8, 10,
11, 13, hier in Nr. 11, Abschnitt VII über Quintilians
inst. or. nach den Ausgaben von Halm und von Radermacher.
Bacherler hat auf Anregung seines um die Rhetorik hochver-
dienten Lehrers Thomas Stangl (f August 1921) die ausgedehnte
Untersuchung unternommen und kommt zu anderen Ergebnissen,
wie die Regeln bei Schmalz und manche Verlegenheiten der Heraus-
geber erwarten lassen. Ergebnis : Pränomen noch seltener als in
Senecas philosophischen Schriften. Von 268 Römern erhalten 66
das Pränomen. Nur viermal begegnen die offiziellen Dreinamen.
Mit Prä- und Gentilnomen bezeichnet Quintilian 40 Personen an 79
Stellen. Pia- und Kognomen findet für 23 Personen 56 mal Ver-
wendung. Ohne Vornamen treten von 268 Personen 194 auf; einzig
mit Vornamen 3 (vgl. Regenten). Ich breche die Angaben hier ab.
Sie erwecken genügend den Eindruck der Umsicht und Verlässig-
keit der überraschenden Zusammenstellung.
Für die Graeca, für die Ausdrücke >;^og, Ttdd^og, xaqav.tri'Q,
texvoXoyia usw. ist wie für Cicero wichtig die Zusammenstellung
von H. I. Rose 'The Greek of Cicero' in The Journal of Hellenic
Studies XLI (1921) S. 93—114 in alphabetischer Ordnung. Vgl.
unten Travaglio zur inst. I 4 closa = yAwaffa.
Quintilians Bhythmns.
Wenn ich auch die Literatur zu den Deklamationen, über die zu-
letzt G. Lehner t, Burs. Bd. 183 (1920 II S. 204—267) berichtet hat,
nicht mit einbeziehe, so darf für den Rhythmus doch genannt werden :
238 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Georg Golz, DerrhytlimischeSatzschluß in den größeren
p.seudoquintilianischen Deklamationen. Kieler Diss. Leipzig
1913.
Von Felix Jacoby angeregt und gefördert , zeigt Golz (geb.
1887) umsichtig den Entwicklungsgang der rhythmischen Schlüsse
nach den Norden- Wolflfschen 4 Hauptformen in den Deklamationen,
natürlich auch im Hinblick auf den echten Q uintilian, bei
dem die Uniformität schon weit fortgeschritten ist (S. 69), nämlich
-^w-^w . . . . 410/0
S^LJ-^L . . . 240/0
-!^w-^ 200/0
Seine Arbeit gehört auch nach Lehnerts Urteil zu dem Besten,
was auf diesem Gebiete vorliegt (Burs. 183 S. 261). Über J.
Gladisch, De clausulis Quint. (1909) habe ich im letzten Bericht
S. 201 ff. einen Überblick gegeben. Bei Quintilians Schüler, dem
jüngeren Plinius, ist der lihythmus umsichtig aufgezeigt durch
Mauriz Schuster, Studien zur Textkritik des jüngeren Plinius.
Wien 1919, Tempsky.
Darüber W. Sternkopf im 'Sokrates' 1920 S. 59.
Fr. Spatzek, der nach C. Hofacker die Rhythmen des
jüngeren Plinius untersucht, glaubt (bei Kukula, Ausg. des Paneg.),
Plinius gebrauche nebeneinander akzentuierende und quantitierende
Klauseln , mit Korresponsion. Dagegen wendet sich nachdrücklich
Karl Münscher, Kritisches zum Panegyrikus des
jüngeren Plinius. Rhein. Mus. N. F. Bd. 73, 1920.
S. 181 ff.
Über eine verständige maßvolle Berücksichtigung des Rhythmus,
besonders der Klauseln , in der Textkritik spricht sich auch
Alfred Klotz Berl. phil. Woch. 1920, 605 aus (bei der Besprechung
von Clarks Ciceroj, warnt aber vor Vergewaltigungen der Über-
lieferung. Daß die Schrift dem gesprochenen Worte mit seinen
rhythmischen und melodischen Feinheiten nicht überallhin folgen
kann, dessen war sich Quiutilian bewußt; z. B. über ovvaiQEGig
und avvaXoKprj 15, 7; Fälle wie Phaethon, Laertiades, duodecimo
lassen sich bei Prosaikern schwer feststellen.
VI. Konjekturalkritik.
Wennschon der Grundsatz, solange als möglich bei der Über-
lieferung zu bleiben, auch bei der Festlegung des Textes der instit.
in den letzten Jahrzehnten strenger als früher beobachtet wurde, |ii(t
VI. Konjekturalkritik. 239
so rief doch schon das häufige Auseinandergehen auch der guten
Hss den Philologenscharfsinn wach ; bei offenbar verderbten oder
lückenhaften Stellen mußte die Oivination zu Hilfe kommen , und
sie hat vielfach geholfen; anderes harrt noch der Heilung. Das
betont auch K a d e r m a c h e r Praef. p. VIII zu seiner Aus-
gabe und sonst.
Die neue Ausgabe von Ludwig Kadermacher veranlaßt E. Bdarjg
zu seinen scharfsinnigen Q u i n t i 1 i a n e a. In eO^vi'KOv TiavErtiOTr'jiiior.
^E7iioxri(.iovL/.rj enETi]Qig Z' (= VII) 1910 — 1911. Athen 1911,
Sakellarios. S. 171—184.
Von den über 30 Stellen, die zum Teil nur die Interpunktion
betreffen, seien nur einige berührt: I 1, 5 et haec ipsa magis per-
tinaciter haerent, quo (statt quae) deteriora sunt, ansprechend, aber
nicht neu, schon bei Bonnell || I 1, 36 proficieut für proficiet, auf
die impressa bezogen || I 8, 9 (S. 53, 22 E) sanitas für sanctitas;
ansprechend für den avTixiauog, wenn auch die sanctitas und viri-
litas der echten eloquentia überhaupt zugesprochen werden , z. B.
Tac. dial. c. 10 omnesque eius partis (sc. eloquentiae) sacras et
venerabiles puto. || I 11, 5 quarum vices (statt vis est) apud uos
quoque, sehr gelungen || II 5, 11 streicht fient euim horridi atque
ieiuni || II 12, 3 quae peritos für imperitos etiam i| II 15, 27 veram
autem [et] honestam ; durch die Tilgung des et erscheint erst der
rechte Gegensatz; Butler übersetzt (1921) noch rhetoric in itself
he regards as a genuine and honourable thing || II 17, 13 gegen die
von Radermacher hinter licet angenommene Lücke ; eine solche auch
nicht in anderen Ausgaben || II 21, 4 quaecumque [ei] ad dicendum,
mit Recht ei gestrichen || II 21, 15 novit aut (für et) debet || IV 1,
17 iudicis velim (nos) nosse , ich würde nos velim nosse stellen ||
IV 2, 19 sed illud ipsum (non) narrare || LV 2, 20 haben andere
Ausgaben Ne hoc quidem || IV 2, 25 praeter alia gravia für praeter
(andere propter) aliquam gratiam || IV 2, 49 ex ordine praeter-
mittendo für praetermittenda || IV 2, 70 quaedam non negantes (statt
non narrantes) •, treffend || IV 2, 83 liest Vasis: nos relicturos rerum
ordinem testamur || IV 3, 14 (Druckfehler Ib. 14) alienae rei sed,
hübsch II IV 4, 2 summae collectio || V 10, 40 in qua quidque civi-
tate geratur für quaeratur, unnötig || hübsch über V 10, 65 || V 13,
33 [impossibilia aggrediantur], zu billigen || V, 14, 31 vallibus fluunt
statt fluat; bieten bereits andere Ausgaben || VI 1, 43 sed si (statt
sie) scripsisti, ecce, auch treffend erklärt || VI 2, 19 sublime [desi-
derat] ; treffend VI 2, 83 et (statt sed) quidam jj VI 3, 45 communis
in (utramque) partem || VI 3, 60 sunt quaedam vi(su) similia.
240 Ammon: Qumtil. inst. or. 1910—21.
W. A. Baehrens, Beiträge zur lateinischen Syntax.
Philologus suppl. XII 2. Heft 1912 S, 233—556.
Baehrens glaubt, daß ßaderniacher in seiner trefflichen Ausgabe
dem Ambrosianus E 153 nicht immer das gebührende Gewicht bei-
gelegt habe. Gegliedert ist der mannigfaltige Stoff in diese 8 Ab-
schnitte: I. Über einige ütvo xotroi; -Verbindungen. II. Über ver-
wandte Konstruktionen. III. Einiges zur Wortstellung im Latei-
nischen. IV. Über einige Pleonasmen. V. Uli = illic. VI. Zur Kon-
struktion xcrra avveaiv. VII. Über einige (sogenannte) Gräzismen.
Vni Zum Konjunktiv im Lateinischen.
Nach dem Index sind behandelt: I 2, 3. 5, 2. 7, 2. II» 1, 4.
1, 5. 8, 15. 8, 16. 9, 11. 10, 2. 1114,3. 4,4. IV 1, 1. 1,11,
V 3, 3. 3, 7. 3, 8. 5, 4. 6, 4. 7, 1. 11, 1. 11, 3. VI 1, 2. 3, 1.
6, 1. 8, 3. VII 42 (Druckfehler). VIH 2, 8. 3, 10. 3, 13. Ich
greife ein paar Stellen heraus. III 8, 67 nam ut [in] coneiliis
pl. s. q. est, ita saepe in causis minor; streicht das im Ambros. 153
fehlende in •, überhaupt hätte Radermacher , meint Baehrens , sich
noch enger an den führenden Ambrosianus anschließen sollen.
V 10, 95 für non a confessis. V 10, 3 quia [nee] distinctis nee
totidem partibus mit AB gegen den P(ari8inus), der nee bietet.
Baehrens glaubt (S. 260), daß P selten AB gegenüber Bedeutung
habe. Über die Übereinstimmung von P und Julius Victor äußert
sich B. nicht näher. XI 1, 21 befürwortet er (S. 444) illa |in]
iactatione; Halm liest passend mit KoUiu illa iactatio. Altmodisch
schreibt B. wiederholt Quinctilianus. Über die Verbesserungs-
versuche von Gabler (Sprache), Herm. Röhl zum X. Buch,
W. Kroll, Quintilianstudien , dann zu einzelnen Stellen, wie
Eitrem, ist suo loco referiert. AufLindsay, Notae Latinae
(1915), als Hilfsmittel für die Quintiliankritik wird unten zu I 7,
20 verwiesen; zu 'Rhythmus und Textkritik' ist eine Äußerung 1
von A. Klotz oben angeführt.
VII. Die Anlage der Institutio.
Johannes Börner, De Quintiliani institutionis ora-
toriae dispositione (Pars prior). Leipziger Diss. Leipzig
1911, 73 S. 8.
Auch in der Disposition seiner institutio oratoria, die man nach
B. (S. 17) am besten mit 'Bildung zum Redner' oder 'Bildungs-
gang des Redners' übersetzt, steht der Kalagürritaner naturgemäß
auf den Schultern seiner Vorgänger, ohne sich aber seiner Selb-
VII. Die Anlage der Institutio. 241
ständigkeit zu begeben. Die im Leipziger philologischen Seminar
angeregte Aufgabe : ''De Quintiliani inst. or. dispositione ita quae-
ratur, ut imprimis libri XII ratio illustretur priorum libris rhetoricis
in comparationem vocatis' hat B. gewählt und behandelt die ganze
Disposition; der Abschluß (der zweite Teil) ist, soviel ich weiß,
noch nicht erschienen.
Die Anlage der übersichtlichen Arbeit ist diese : I. D e
Quintiliani opere 1. Quid sibi proposuerit (als erster eine
derartige Enzyklopädie) ; 2. De titulis (absichtlich institutio oratoria
gewählt , zum Unterschied von ars rhetorica oder Ciceros Rhe-
torici, auch A. Cornelius Celsus habe nicht 'institutio' gewählt) ;
3. De notione institutionis (aus der Praxis für die Praxis) ; 4. De
dispositione institutionis oratoriae : in der Hauptsache die drei Teile
de arte (Buch 3 mit 11, nämlich inventio 3 mit 6, dispositio 7,
elocutio VIII mit XI 1, memoria XI 2, pronuntiatio XI 3); de
artifice und de opere (beide Teile im 12. Buch). II. De
dispositione priorum librorum rheticorum, ein gut
Stück Greschichte der Khetorik, das (S. 27 — 50) Anaximenes,
Aristoteles mit dem Exkurs über die leges , dann die Herennius-
rhetorik und Ciceros De oratore und Partitiones in ihrem Haupt-
plan aufzeigt. III. De Quint. inst. or. dispositione cum
eorum qui antecesserunt op er um coraparata (S. 51 — 72):
1. De dispositione totius operis, wo gegen Nordens Aufftxssung, bei
Cic. part. or. sei vis oratoris = orator, betont wird, was Cicero
vis oratoris nenne, sei bei Quintilian ars; dieser habe seine eigene
und eigenartige Disposition ; 2. De quaestionibus quae sunt de sub-
stantia rhetorices ; 3. De partibus rhetorices, 4. De generibus cau-
sarum; 5. De inventione; 6. De genere iudiciali (S. 65 — 72). —
Georg L e h n e r t lobt in seiner anerkennenden Besprechung B. ph.
W. 34 (1914), 1078 f. die eingehende Vergleichung mit den Vor-
gängern und deutet einige Berichtigungen an. — Nach der gestellten
Aufgabe wäre man besonders auf die umstrittene Disposition des
12. Buches gespannt, die der 2. Teil zu beleuchten hätte. Auch
Johannes Tolkiehn hebt in seiner beifälligen Besprechung von
Börners Dissertation Woch. f. klass. Philol. 30, 1913, S. 174 die
große Selbständigkeit Quintilians hervor.
Die Disposition von Ps.-Plutarch 7t. naldtov aycoy^g, wie sie
übersichtlich A. Sizoo S. 9 f. zusammengestellt hat (vgl. u.), zeigt viele
Berührungspunkte (Ammen, Pädagogen, Lehrer, Kameraden, Sitt-
lichkeit usw.) mit dem Abschnitt über Erziehung bei Quintilian,
aber auch erhebliche Abweichungen, z. B. domi an in ludis publicis ;
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. U). 16
242 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
niclits von Demokrit dem Abderiten, der bei Cicero, Dionys. Hai.,
bei Seneca w. a. in den Vordergrund gerückt wird (nach dem Vor-
gang des Poseidonios ?) , während ihn Quintilian ebenso wie der
auct. 7t. £Q[.irjv. nicht nennt-, das drastische Erziehungsexempel
des Lykurg mit den zwei Hunden , das Nikolaus von Damaskus
erzählt hat, findet sich bei Quintilian nicht; wohl aber versteckt
bei Hör. ep. 2, 65 ff. venaticus, ex quo tempore cervinam pellem
latravit in aula etc.
Nach A. S i z o 0 , De Plutarchi qui fertur de liberis educandis
libello (Diss. Amsterdam 1918), hat Quintilian Chrysipps Schrift
nEQl TtaiöoTQoq^lag (dies ist der richtige Titel, nicht 7C€qI Tzaidiov
ayioyrjg) selbst herangezogen, z. B. über körperliche Züchtigung;
die dem Plutarch von Wyttenbach, Dyroff, Weissenberger, Hein
u. a. abgesprochene Schrift Tiegl nalöiov aycoyr^g hat — das sucht
Sizoo geschickt, doch nicht überzeugend zu erweisen — Plutarch
in jüngeren Jahren, vielleicht noch stehend unter dem Einfluß der
Rhetorik, zusammengestellt als eine Sammlung stoischen Materials
für spätere Verarbeitung, und zwar hat er wohl die Schrift Chrysipps
bereits in einer nicht immer geschickt bearbeiteten Epitome benützt
(vielfach mit den stoischen Sprachwendungen und den Euripides-
zitaten), dazu anderes Stoische über Knabenerziehung oder Eigenes
gefügt. Meine E^indrücke , die ich bei wiederholtem Lesen des
Schriftchens hatte, decken sich im wesentlichen mit denen von
Wyttenbach. Aus Horaz läßt sich wohl für Chrysipp oder über die
Epitome Tiegl Traiöorgocpiag viel gewinnen.
Zur Geschichte der Disposition der Texvt] ist jetzt zu verweisen
auf K. Barwick, Die Gliederung der rhetorischen Te^vr) und die
Horazische Epistula ad Pisones. Hermes LVII 1 (1922), vgl. Philol.
Woch. 1922, 761 f. (durch Herakleides-Neoptolemos vermittelt).
Dazu neuestens N. Wecklein, Bayer. Gymn.-Bl. 1922, S. 139 f.
Zu der Anlage der Institutio vergleicht man nicht ohne Gewinn
den Aufbau der Rhetorik Philodems in 7 Büchern, wie ihn Harry
M. Hubbell in den Transactions of the Connecticut Academy of
Arts and sciences Vol. 23 (1920) S. 253 übersichtlich zusammen-
gestellt hat.
'Book I General iutroduction. Nature of "art".
Book II Is rhetoric an art? Criticism of arguments for and
agaiust. Philodemus' view that sophistic i. e. epideixis is an art, ![
but all other varieties of rhetoric, as well as politics, are not
Book III The sophistical school does not produce statesmen; ,^1
in fact the sophistical training is often harmful usw. Jw;
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 243
Book VII Criticism of the Stoic attitude toward rhetoric.
Further criticism of Aristotle. Comparison of rhetoric and philo-
sophy.'
Ebenso wären zu vergleichen die 5 Bücher der Rhetorik des
Celßus nach der neuen Ausgabe von Fr. Marx (siehe unter Quellen).
Daß Quintilian seinen reichen enzyklopädischen Stoff von vorn-
herein in 12 Bücher (nach Vergils Äneis ?) teilen wollte (gegenüber
V des Celsus?), sagt er selbst im Prooemium zu t § 21 f. Wieder-
holte Verweisungen — proximo libro für das nächstvorausgehende
und für das nächstfolgende — , zeigen, daß er den Plan festgehalten
hat, im wesentlichen selbst im XII. Buch.
In unserer Überlieferung finden sich Inhaltsübersichten zu den
meisten Kapiteln (auch andere Inhaltsangaben). Dazu äußert sich
Hermann Mutschmann (f ), Inhaltsangabe und Kapitel-
überschrift im antiken Buch. Hermes 46, 1911,8.93 — 107,
so (S. 96) : „Dagegen hat man noch niemals die Überschriften und
Argumente in den Institutionen des Quintilian angezweifelt 5 sie ge-
hören auch so sehr zu dieser Eloaytoyr), daß man sie ohne Schaden
für die Übersichtlichkeit des voluminösen Werkes nicht wegdenken
kann."
Halms Ausgabe hat die Kapitelüberschriften nicht, Radermaeher
setzt sie in Klammern, Meister bietet sie in anderen Lettern. Die
Verweise, die Wortstellungen beim Beginn neuer Gedankenreihen,
die Übergänge u. a. machen es auch mir nicht wahrscheinlich, daß
die Kapiteleinteilung (mit ihren Überschriften) auf Quintilian selbst
zurückgeht.
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio.
Kritik und Erklärung.
I. Buch.
Über Berührungen von Quintilian I 1, 4 bis I 1, 10 mit Ps.-
Plutarch de lib. educ. hat schon A. Dyroff in seiner Ethik der
alten Stoa (1897 S. 239 ff.) gehandelt. Dazu Fr. Bock in der
Berl. phil. Woch. 1919, 916 bei der Besprechung von Fridericus
Glaeser, De Pseudo-Plutarchi libro neqi naiÖDV ayioyr^g (Wien
1918).
„Die Personen, die nacheinander auf die Charakterentwicklung des
Menschen Einfluß haben, Ammen, Spielgefährten, Pädagogen, Lehrer,
schreibt Bock , können ja kaum in anderer Reihenfolge aufgezählt
werden, und ebensowenig darf es auffallen, wenn von der Erholung nach
16*
244 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
der Arbeit erst später (9 C bzw. I 3, 8) gcsproclien wird. Und
die vielen Gemeinplätze , von denen Ps.- Phitarch wie die meisten
erziehungstheoretischen Schriften wimmelt, sind sicher schon vor
Piaton und Aristoteles oft ausgesprochen und auch geschrieben
worden, sie dürfen einer bestimmten Philosophenschule gewiß nicht
ohne ganz zwingende Gründe zugewiesen werden-, dann freilich,
und das mache ich gegen Gläser geltend , ebensowenig dem
Peripatos, der seinerseits kaum mehr Originalität für seine Er-
ziehungslehre wird beanspruchen dürfen wie der von ihm abhängige
Chrysipp." Vgl. unten 'Quellen' und
A. Sizoo, De Plutarchi qui fertur de liberis edu-
candis libello. Amsterdam 1918, A. H. Kruyt. (Mir erst
gegen Schluß des Berichtes zugegangen.)
Sizoo, der die Ausführungen Quintilians eingehend mit denen
der Schrift üeqI naidov aycoyr^g vergleicht, glaubt (vgl. o.), Quin-
tilian habe ChrysippsBuch nsgX TcaidoT Qocpiag besser ge-
kannt als "^Plutarch' (S. 26); die Partie über die Züchtigung der
Knaben habe Quintilian aus Chrysipp selbst (S. 33); s. o. Das
letzte ist auch mir wahrscheinlich.
Die Polemik Quintilians I 1 , 24 gegen eine unvernünftige
S p r a c h m e t ho d e erhält Licht aus
Johannes van Yzeren, 'Zur Geschichte der griechischen Ortho-
graphie', in den Neuen Jahrb. 1911 (XIV) S. 90.
Zur Orammatik.
F. H. Colson, The grammatical chapters in Quin-
tilian I 4—8. In The Classical Quarterly 8 (1914), S. 33 bis 47.
Anschließend an Nettleships Artikel 'Latin Grammar in the
First Century' in dem Journal of Philology Vol. XV unterzieht
Colson die Quintilianischen Grammatica, das Beste und Erschöpfendste
in seiner Art nach Varro und Diouysius Thrax , einer erneuten,
scharfsinnigen Prüfung. I. Die Scheidung zwischen Grammatik und
Lektüre, recte loquendi scientia und enarratio poetarum, zwischen dei
methodice und historice (I 9, 1). Sie bestand zur Zeit des Aristo-
phanes von Byzanz noch nicht ; sie hat sich aber aus den sechs
Aufgaben des Grammatikers bei Dionysius Thrax, denen die vie:
officia bei Varro — lectio, emendatio, enarratio, iudicium, lautej
'literarische' — gegenübergestellt werden, entwickelt, unter den
wachsenden Einfluß äes'^EV^rjvioi-iog, der wissenschaftlichen Grammati]
und Systematik, auch der Pädagogik, entwickelt noch vor Quintiliar
II. Aus der nach Nettleship mitgeteilten Disposition von I 4, 1 bi
Hieb
P.
YIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 245
I 5, 54 liest Colson nicht heraus, daß Quintilian, dessen 'ability' er mit
Recht höher einschätzt, Plinius und Palämon kontaminiert habe, sondern
es ergibt sich ihm besonders durch die Auffassung von sermo = plura
verba im Gegensatz zu singula verba und von declinatum im weiteren
Sinne eine wohlgeordnete Gedankenfolge für die Zwecke des Khetors,
die ich nach S. 40 am liebsten hierher setzen möchte.
Inhalt von I 4 mit 7 recte loquendi et scribeudi scientia.
Kap. 4 : The grammarian must observe and classify the facts of
the lauguage.
Kap. 5 : He must then apply this knowledge practically to establish
the regula rede loquendi,
a) in singulis verbis, b) in pluribus verbis.
a 1) He will eliminate actual mistakes 'in singulis verbis'
(barbarismus).
b 1) He will do the same 'in pluribus verbis' (soloecismus).
a 2) He will deal with 'dubia' (i. e. with questions where
there is fair room for discussion) 'in singulis verbis'.
Here the choice will be chiefly between
a) native and foreign words,
ß) compounded and uncompouuded,
y) literal and metaphorical,
d) familiär and new.
Kap. 6 (b 2): He will deal with 'dubia' 'in pluribus verbis'
Here bis choice will be between the conflictiug claims o
'analogia' and 'etymologia' on the one band, and 'vetustas',
'auctoritas', and 'consuetudo' on the other.
It is to be understood that both in a 2 and b 2 the final
choice must depend on the 'iudicium' of the 'grammaticus'.
Ob nicht Quintilian einer Schrift gefolgt ist , die das fiir den
Redner aus der Grammatik Nötige, besonders hinsichtlich der eyikoyrj
und Ovvdeaig bvoixdziov, zusammengefaßt hatte? Vgl. Dionys. Hai.
und Ciceros Rhetorika.
ni. Die Vergleichung der vier officia Varros {dtoo&toaig,
avdyvojaig, iB^yr^aig, -/.giaig) mit den sechs des Dionysius Thr. und
den Erörterungen Quintilians ergibt, daß Quintilian an der 'enarratio
poetarum' festhält, daß die Schulpraxis auch im Altertum das ihr
nicht Förderliche abgestoßen hat.
F. H. Colson, Some Problems in the Grammatical
chapters of Quintilian. In The Classical Quarterly
10 (1916) S. 17—31.
246 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Hatte Colson im Januarheft der Classical Quarterly 1914 die
Absiclit und den Plan der Kapitel sowie ihr Verhältnis zur zeit-
genössischen Schulpraxis im allgemeinen dargelegt, so wendet sich der
Aufsatz von 1916 den sprachlichen und gedanklichen Schwierigkeiten
im einzelnen zu (I 4 — 7) : so 4, 20 über die Vermehrung der Rede-
teile über acht hinaus durch Wörter wie eheu und fasciatim, wo
Colson 'et tractionem' ut 'fasciatim' feinsinnig als Beispiel für ab-
geleitete (tracta) Adverbien im Gegensatz zu den Grundadverbien
{nQonörVTTo) faßt. I 4, 28 cui simile fletur. (tur) accipimus aliter;
I 5, 17 verteidigt und erklärt er avvaiQsaiv et avvaloiq)7]v, z. B.
Phaethon (auch bei Butler) ; vor dem eTiiovvaXoicpy] deutscher Heraus-
geber warnt er. Ausdruck nebst Synonyma und Sache für ovvaXoKpyj
wären aus Dionys von Halikarnaß, dessen Einwirkung auf Quintilian
unverkennbar ist (vgl. IX 4, 88 und W. Kroll, Quiutilanstudien
im ßhein. Mus. 73, 1921, S. 248 u. ö.), noch näher zu erläutern.
Dann bespricht Colson noch unsicherere Stellen S. 24—31, so 4, 10
und 11. 4, 2. 5, 22. 6, 38.
Josef Aistermann, De M. Valerio Probo Berytio
Capita quattuor. Accedit reliquiarum conlectio. Bonn 1910.
Friedrich Cohen. VIII -f 156 -f LXXIV S. Gr. 8. Vgl.
den Bericht von P. W e s s n e r.
Die 4 Kapitel sind: 1. Leben und Schriften des Probus;
2. Probus' Quelle für Quintilian instit. I 4, 7 — 12; 3. Über Terentius
Scaurus; 4. Probus Quelle für Gellius.
Für die ganze Grammatikpartie sind Aistermanns Untersuchungen
von größter Wichtigkeit. Wenn z. B. Servius zum Anfang von
Vergils Äneis anmerkt: 'Probus ait Troiam Graios et Aiax non
debere per unam i scribi', so liegt es nahe inst. I 4, 11 auf den
Berytier (nicht auf Plinius, dub. serm.) zurückzuführen. Nach-
drücklich und überzeugend tritt Aistermann S. 88 ff. ein für die
Lesung (I 4, 10) iam sicut tam scribitur et 'vos' (statt quos Hss.)
ut 'cos' ; Radermacher mit Ritschi 'quos' ut 'tuos'.
Karl Barwick, Remmius Palaemon und die römische
arsgrammatica. Im Philologus Suppl. 15, Heft 2. S. 272.
Leipzig 1922.
Daß Quintilian die ars des Remmius Palaemon gekannt und
eingesehen hat (I 4, 20), steht nach Barwick außer Zweifel (S. 268).
•"Eine tiefer gehende Benutzung läßt sich aber nirgends nachweisen.'
Näher soll auf die umfassende, gründliche Arbeit, die auch Böltes
Vorarbeiten verwerten konnte, nicht eingegangen werden, schon wei:
sie unter der Berichtsgrenze liegt. Nur dies sei angeführt (S. 267)1
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 247
'Offenbar sind Varro, Verrius Flaccus und Plinius von Quintilian
stark benutzt worden, aber gewiß nicht allein. Daß auch die rex^V
des Dionysios Thrax nicht ganz ohne Einfluß auf ihn geblieben
ist, haben wir soeben gesehen.'
Zur Orthographie (auch der graeca).
Unter wiederholter Berufung auf Quintilian (I 4, 8. 7, 21 usw.)
behandelt eingehend (zum Teil nach Seelmann und Lindsay)
Cesare Travaglio, De orthographia qua veteres
usi sint in papyris cerisqueLatinis. In den Memorie
del reale istituto Lombardo di scienze e lettere. Classe di
lettere, scienze morali e storiche. Vol. XXII (13 der S.Reihe),
Milano 1910—1913. S. 1—51 in 4«.
Zwar finden wir in den Papyri nicht die neuen Buchstaben
des Claudius wie auf den Inschriften aus der ßegierungszeit dieses
Kaisers (S. 9), aber Maarcus und 31A^PK0^ — auch in der
neuen Plutarchausgabe von Ziegler-Lindskog wird mit Recht BlaQycog,
nicht Mdg-KOg akzentuiert ; wir sehen das Schwanken zwischen i
und e : fratre für fratri , wie Quintilian (I, 4) für mihi , sibi u. a.
bezeugt (S. 13 u. 15) j zwischen b und v, wir finden perspexsit
maxsimus , Alexsandrini , die mehr und mehr fortschreitende Assi-
milation der Präpositionen in Zusammensetzungen, auch Graeca in
lateinischer Schrift, wie closa = yXaiaoa.
Für Quintilian ist die Frage nach der Schreibung der Graeca,
die ich soeben bei der Besprechung der Arbeit von Travaglio
gestreift habe, wichtig. Auf Anregung Tb. Birts hat sich mit ihr
beschäftigt
Walther Nieschmidt, Quatenus in scriptura Romani
litterisGraecis usi sint. Diss. Marburg. Marburg 1913.
67 S.
Das Ergebnis ist trotz sorgfältiger Arbeitsweise wenig greifbar;
natürlich. Man suche einmal bei uns die Mode, lateinische Wörter
mit deutschen Lettern zu drucken oder umgekehrt deutsche Fremd-
wörter wie "^protestantisch' mit lateinischen Lettern zu drucken bis
auf die deutsche Endung - i s c h , in bestimmte Sätze zu fassen, und
man wird die Unfruchtbarkeit der Bemühung erkennen. 'Glossaria,
faßt Nieschmidt S. 66 zusammen , nimirum semper Graeca Graece
exhibebant [bis zu welcher Zeit herab?]. Ceterum ille scriptoribus
Romanis videtur mos fuisse , ut , cum totam sententiam Graece
dicerent afferentque locum queudam pleuiorem ex Graeco libro
sumptum , retinerent scripturam Graecam. In singularibus autem
248 Ammon: Quintil. iust. or. 1910 — 21.
verbis Graecis quae orationi Latinae insertae leguntur tantum abest
ut certam scribendi legem secuti sint scriptores Komani, ut apud
unum eundemque mira saepe inveniatur inconstantia.'
Max Niedermann, Sur un passage controverse de
Quintilien. inst. or. I 5, 23. Im Musee Beige 16 (1912).
p. 289—291.
Quintilian verwirft die gräzisierende Betonung Cämillus Cethegus
statt Cämillus Cethegus und fährt fort : aut flexa pro gravi , a u t
apice circumducta sequenti quam ex duabus etc. Statt aut möchte.
N. mit einem Teil der Überlieferung ut, statt apice nicht Appi,
noch weniger mit Birt (Rhein. Mus. 34, 21) Marcipör lesen, sondern
accire, das Quintilian für eine fehlerhaft kontrahierte Form für
acciere betrachtet habe.
Fritz Scholl, Zur latein. Wortforschung, ludogerm.
Forsch. 31 (1912/18). S. 809—320.
Im Burs. Jahresb. 148 (1910), S. 175, Anm. hatte ich
Gamurrinis Bedenken, daß Quintilian in Spanien geboren sei,
als nicht unberechtigt bezeichnet, wegen der Stelle I 5, 57 über
gurdus = stolidus , hebes. Diese Bedenken zerstreut Scholl
S. 313 ff., indem er Geschichte (vor Quintilian) und Entwicklung
des Wortes weiter verfolgt. Quintilian könne trotz des Nicht-
bescheidwissens über diesen Volksausdruck für 'DummkopP (audivi)
recht wohl geborener Spanier sein. Vgl. ob. (S. 225) Überlief. Er
weist auf Einar Löfstedt, Eranos X 1910, 164 hin. Überzeugend
führt Seh. cantus, wofür canthus (xavd-og) nicht 'promiscue scribitur'
(gegen Maurenbrecher Th. L. L.), auf das kymr. cant zurück; aus
dem Lateinischen sei erst das griechische y.avd^6g = eniaiOTOov ge-
bildet; mit Recht wird der keltische Einfluß in diesen Dingen
(raeda, petorritam, gisia usw.) betont.
Carolus Heuer, De praeceptis Romanorum eupho-
nicis. Jenenser Diss. Jena 1909. 59 S.
Die durch die Rhythmenforschung neu belebte Frage der
Elision u. a. in der Prosa heißt mich nachträglich noch auf die durch
Georg Goetz geförderte Arbeit von Karl Heuer (geb. 1882) hin-
weisen, die in August Lobecks 'Paralipomena grammaticae Graecae'
einen großen Vorläufer hatte. Wenn Dionysius Thrax — auf
Demetrius von Abdera über xaXXieTisia habe ich früher gelegentlich
hingewiesen — sagt: 7] Si ccTtoazQOcpog ti&€zat, ot' av öid ti^v
TiakXiqxüv iav xoi;g)/C€rat to ev (pwvrjev yQu/j/ua, oTirjvixa dto
<p(t}v^€vrd eiaiv sv juta Xe^ei, so hat die Schulgrammatik im
Lateinischen zwar nicht eine gleichlautende, aber die Sache ist den
Vni. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 249
Römern (Varro, Cicero, Quintilian usw.) bekannt gleichwie die
Weisungen über Qvd^i.ids und (xekog in der Kunstprosa: oratori
aurium consilio utendum est. Quintilian, der I 5, 4 usw. über die
vocalitas oder Evcpiovia handelt, wird im geschichtlichen Zusammen-
hang S. 6, 21, 42 ff. berührt. Über den Hiat z. B. gilt für
Quintilian Heuers Zusammenfassung (S. 47): 'et Graeci et Romani
vocalium concursionem plus minus asperam ideoque vitiosam
habuerunt, etsi negare non possumus etiam fuisse, qui
illud Studium hiatus fugiendi non tarn neglegerent
quam neglegendum esse existimarent, quippe quod
omnem orationis vim infringeret sonumque deleret.' Man sieht,
die solide Arbeit beherrscht auch das einschlägige Sprachgut.
Quintilian nicht prinzipiell gegen den Hiat; s. u. Sturtevant
zu IX 4, 33.
Nachträglich sei erinnert an einen gründlichen Aufsatz von
Martin L. Rouse, The pronunciation of c, g and v in Latin.
In den Trans, and Proceed. of Amer. Philol. Assoc. Dez.
1909. Vol. XL p. LXXVIIL
Über die Aussprache von Atreus (inst. I 5, 24) u. ä. handelt
Massimo Lenchantin de Gubernatis, Studi sull'
accento greco e latino. In Riv. di filol. 50 (1922).
ö. 177 ff. XIX. L'accentuazione delle parole greche in latino.
In der Anmerkung S. 177 ist auch der Inhalt von I — VIII
(1915 — 22) angegeben, darunter VIII voce. Väleri, Valeri.
Über die Etymologie von Lupercal (inst. I 5, 66) luere
per caprum , durch die die Reinigungswirkung der lupercalia an-
gedeutet werden könnte, s. Otto im Philol. 76, 1913, S. 162
und 169.
F. Muller, Zum lateinischen Präfix au. Zeitschr. f.
vergleich. Sprachforsch. 49 (1919), S. 112—117
zeigt, wie aufero zum Unterschied von affero gefordert wurde,
während vor v das einfache a genügte, avello usw. zu inst. I 5, 69
anfugit und Cic. or. 158.
Richard Reitzenstein, Historia Monachorum und Historia
Lausiaca. Eine Studie zur Geschichte des Mönchtums und
der frühchristlichen Begriffe Gnostiker und Pneumatiker.
Göttingen 1916.
S. 93: „Daß die Engel im Himmel nicht freien und nicht ge-
freit werden, war dem Christen selbstverständliche, noch überdies
durch ein Herrenwort bezeugte Anschauung. Daß auch der Hellene
frühzeitig eine ähnliche Anschauung auf seine Götter übertrug und
250 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
darum die Menschen, die ihnen hierin nachahmten, göttlich nannte,
wird seltsam erscheinen, läßt sich aber aus Grammatikspielereien mit
Sicherheit erweisen." Bei Besprechung der stoischen Etymologie er-
wähnt QuintilianI6, 36 ingenioseque visus est Gavius *^caelibes'
dicere veluti 'caelites' ... ait; r^id^EOi = f] 0-Eoi{Qeia ^wovrcg).
Über den Widerstreit der Analogie und Anomalie, in
dem Quintiliau (I 6) entschieden auf die Seite der consuetudo
(Sprachgebrauch) tritt — ähnlich Cicero — , handelt
Curtius W 0 1 d t , De analogiae disciplina apud grammaticos Latinos.
Königsberger Diss. 1911. 114 S. 8.
Er stellt zunächst die Begriffe für analogia zeitlich fest : pro-
portio, portio, comparatio, ratio, regula usw. — ratione translata
gebraucht Cicero auch für ?} xa^' avaXoyiav fXETaipoQCc — ; bei
Qu int. 16, 3 faßt Woldt proxime . . . transfereutis im Sinne von
optime (S. 9), 'am sinngemäßesten\ Dann wird die Analogie nach
den Wortklassen durchgegangen. Daß W. zu Quiutilians Aus-
lassung (I 6, 7 f.) über das vielbesprochene fervere ein kräftiges
Fragezeichen setzt, nehme ich ihm nicht übel.
Die von Quintilian 17, 20 bezeugte ältere Schreibweise
caussae für causae behandelt
Louis H a V e t , Manuel de eritique verbale appliquee aux textes
latins. Paris 1911 ;
auch die Formen fuere - fuerunt inst. 15, 42 und zahlreiche andere
Stellen. Als Hilfsmittel für die Textkritik sei auch hier das dem An-
denken L. Traubes (1915) gewidmete Werk 'Notae latinae' von
Lindsay empfohlen.
Eduard Hermann, Silbischer und unsilbischer Laut gleicher
Artikulation in einer Silbe und die Aussprache der indo-
germanischen Halbvokale u und i. In den Götting. Nachr.
1918. Philol.-histor. Kl. S. 100—159.
S. 130: 'Die Schule blieb, wie uns Quintilian I 7, 26 bezeugt,
noch im 1. Jahrh. bei der Schreibung uo stehen' : seruos = servus.
Edgar Howard Sturtevaut, The Pronunciation of cui
and huic. In den Trans, and Proc. of Amer. Philol. Assoc.
Vol. 43 (1912) S. 57—66
beleuchtet an der Hand der anderen antiken Zeugnisse inst. or. I 7,
27 S. 61 f. (das u in huic nicht konsonantisch).
W. K. Hardie, Note on Quint. I, VII, 29. In The Class.
Rev. 27 (1913) 163 f.
'et ,consules' exempta n littera legimus' faßt Hardie mit Hecht,
im Sinne von „wir finden geschrieben"; die Stelle zeigt, daß n
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 251
ausgesprochen wurde. Butler übersetzt (1921) noch 'we also find
jColumna' and ,consul' speit without an n'.
Zur Grammatik (I c. 4 ff.) vergleiche :
Hermann Di eis, Die Anfänge der Philologie bei den Griechen.
Neue Jahrb. 13, 1910, I S. 1—25; und
A. Gudeman, 'Grammatik' bei Pauly-Wissowa (s. u.).
Unzugänglich war auch mir
— J. Negro, La grammatica in M. Fabio Quintiliano.
Citta di Castello, 1914.
Zu I 9 vgl.:
A. Brinkmann, Aus dem antiken Schulunterricht.
Rhein. Mus. 65 (1910) S. 129—155.
Über Barbagallo, Ziebarth, Beudel s. u.
Julius Peundorf, Progymnasmata. Rhetorische Anfangs-
übungen der alten Griechen und Römer. Wissenschaftliche
Beilage des Realgymnas. Plauen, Ostern 1911 (Progr. N. 786).
Plauen i. V. 1911. 27 S. 4.
Verf., mit der rhetorischen Literatur wohlvertraut, eröffnet seine
auf die Förderung des modernen muttersprachlichen Unterrichtes
eingestellte (S. 27), aber auch für die Geschichte der Vorübungen
nicht belanglose Abhandlung mit Quintilian; S. 3 — 5 werden
besprochen die Äsopische Fabel (auch mit Auflösung von Versen in
Prosa, vgl. C. Zander 'Phaedrus solutus', Lund 1921), Sinn-
sprüche , charakteristische Reden , die Aufgabe, Zweifelhaftes ein-
zureißen (destruere) oder mehr zu sichern (confirmare), Lob, Tadel,
Vergleich , Gemeinplatz , Beurteilung von Gesetzen ; Q.uintilians
verständige Weisungen für den praktischen Unterricht der Anfänger.
Dann folgt der Reigen der 16 Progymnasmata nach Aelius Theo n,
den P. in das 1. nachchristl. Jahrhundert (vor Quintilian?) ver-
setzt, nämlich: Chrie, Fabel usw. bis Widerrede. Auf Hermogenes und
Aphthonius (richtiger Apthonius) S. 21 — 26 ist hier nicht einzugehen.
Aus den Worten I 11, 17 'praecepta de liberorum educatione
composita' entnimmt A. Sizoo (S. 19 — 24) den Titel üegt
naidotQOCpiaq des Chrysippischen Werkes, nicht den umfassenderen
neqi Ttaiöcov aywytjg-, ansprechend. S. 24 ff. vergleicht Sizoo ein-
gehend die Stellen der beiden Benutzer über Ammen usw. I 10, 32
mitDyroff für adhibetur infantibus allactationi statt allectationi (S. 25).
Ich finde der Unterschiede mehr als Sizoo, auch erheblichere (sapientes).
Ob beide , Quintilian und 'Plutarch', einen Auszug aus Chrysipp
(von einem Philosophen) benützt haben, Quintilian einen besseren,
Plutarch einen schlechteren, bleibt doch recht fraglich.
252 Ammon: Quintil. inst, or. 1910—21.
II. Buch.
Zu II 10. Eine eingehende Studie widmet der beratenden
Beredsamkeit
Josephus Kleck. Symbuleutici qui dicitur sermonis
historiam criticam per quattuor saecula continuatam
scripsit Josephus Kleck. 8. Heft der rhetorischen Studien
Drerup. Paderborn 1920, Schöningh. IV 169 S.
Die umfassende, trefflich ausgestattete Arbeit (auch mit Indices)
zieht in ihren Bereich auch die Stellen Quintilians, die die suasoriae
behandeln (II 10, 1, III 8, 4 usw.); Kleck polemisiert auch gegen
Quintilian (III 8, 15) S. 81 oder dessen Erklärer (ni 8, 47) S. 107.
Die Literatur wird ausgiebig lierangezogen :
G. Fraustadt, Encomiorum in litteris Graecis usque ad
Romanam aetatem historia. Diss. Leipzig 1909;
E. Gossmann, Quaestiones ad Graecoriim orationum fune-
brium formam pertinentes. Diss. Jena 1908;
und viele andere. Besprochen ist Kleck B. ph. W. 1920, 575 — 587
von Friedrich Levy.
m. Buch.
A. Schulten, 'Martials spanische Gedichte'. In dem Neuen
Jahrb. 1913 I S. 463: über den verschiedenen Geschmack der
Alten und der Modernen an der Natur (Quintil. III 7, 27).
IV. Buch.
Über declamare = xaT>;x*'^*' inst. IV 2, 29
H. Colson in The Classic. Rev. XXXVI 314 (Phil.Woch. 1922, 1076).
V. Buch.
W. A. Baehrens, Vermischtes über lateinischen
Sprachgebrauch. Glotta V (1914) S. 79—98
bespricht unter XII omnia = omnino auch Quintil. inst. or. V 13, 24
(p. 291, 6 R) paria sint omnia, wo Radermacher per omnia liest.
Zu V 11:
Karl Ale well. Über das rhetorische naQä6Eiy(.i(x. Diss. Kiel,
1913. S. u.
VL Buch.
Zu VI 3, 20:
Charles Knapp, Molle atque facetum. Auszug aus Amer.
Jouru. of Phil. 38, 1917, 2. p. 194—199.
Alfred Klotz billigt in der B, ph. W. 40, 1920, 589 f. die
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 253
Beziehung Knapps von Horazens Worten (sat. I 10, 44) auf die
Eklogen Vergils, während Quintil. VI 3, 20 an die Äneis denke.
Wilhelm Süß, Das Problem des Komischeu im Alter-
tum. In den Neuen Jahrbuch. 23 (1920) I S. 28—45.
Ein rhetorisches wie philosophisches Problem erörtert Q uin-
t i 1 i a n in VI 3 de r i s u. Süß , der Verf. des Ethos, der ge-
wiegte Kenner des Aristophanes, wählt den Satz Quintilians VI 3, 6
Varia hominum iudicia . . . iudicatur zum Motto seines Aufsatzes
und verfolgt das Lachen, das ysXolov, den Witz von Piaton und
Aristoteles über Cicero bis auf Quintilian (S. 40 f.)
Die Stelle über die Phantasie erläutert durch Goethesche
Parallelen Ernst Maaß. Neue Jahrb. 1915. IS. 20. 'Toten-
opfer für Jugurtha'.
Quintilian führt VI 3, 37 für den Kunstgriff, das Lächerliche
drastisch vor Augen zu stellen , den gleichen Fall au wie Cicero
De or. II 266, wo C. Julius Cäsar Strabo, dem die Darstellung der
Partie über das yelolov zugeteilt ist, erzählt, wie er dem drängenden
Helvius Mancia auf die Frage: 'Nun, wie sehe ich denn aus?' sach-
lich geantwortet habe: 'demoustravi digito pictum Gallum in
Mariano scuto Cimbrico sub Novis, eiecta lingua buccis fluen-
tibus'. Über diesen eigenartigen Schildschmuck , von dem Quin-
tilian wohl nur vom Hörensagen wußte, und Verwandtes handelt
eingehend
Adolphe Reinach, Le Klappersteiu, le Gorgoneion et
l'Anguipede, im Bulletin du Musee Histor. de Mulhouse,
XXXVII 1913, S. 35—135;
speziell über die Quintilianstelle S. 80 ff. Auch Plin. nat. bist.
XXXV, 4 (8) kenneu diese Schilddarstellung nur vom Hörensagen.
Die Römer mögen in dem Bild einen Cimbernkopf gesehen haben,
wie denn die Schildbuckel (des Hasdrubal , des M. Aemilius) nicht
selten das Porträt des Trägers darstellten.
Inst. or. VI 3, 90 will Eduard Fraenkel Glotta VIII 1917
S. 59 das Geschlecht von dies des postera die ins Maskulin ver-
wandeln wegen des sonstigen Sprachgebrauches wie XI 2 , 43.
Warum die einhellige Überlieferung ändern? Nach Helm Philol.
Woch. 1920, 289 gebraucht Paulinus von Nola dies bald als masc,
bald als fem. ; auch sonst schwankend.
Vn. Buch.
Inst. or. vn 2, 16 will Ludwig Radermacher, der Heraus-
geber des Werkes, unter Anlehnung an die Hss. so lesen (Wiener
254 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
Studien 32, 1910, S. 206 f.): sumendum est enim ex his exemplis
statt utendum est enim et his exemplis.
VIII. Buch.
In der berechtigten Annahme, Quintilian lehne sich auch in
technischen Sprachwendungen an Cicero an, liest
Johannes Stroux, Handschriftliche Studien zu Cicero De oratore
(Basel, 1921), S. 166 f.
bei Quintilian VIII 3, 17 quae aut maxime explanant statt ex-
clamant im Hinblick auf Cic. or. 80 ; treffend.
Über die Auffassung von favor und urbanus VIII 3, 34
Th. Stangl. Ehein. Mus. 65, 1910, S. 117.
Inst. VIII 6, 44:
Gegen die Deutung von Hör. carm. I 14 0 navis referent
durch Quintilian (VIII 6, 44) als eine fortgesetzte Metapher
{dXXr]yoQia) für "^Staaf wendet sich der verdiente Herausgeber der
Pliniusbriefe
R. C. Kukula, Quintilians Interpretation von Horaz'
Carm. I 14. Wiener Studien 34 (1912), S. 237—245.
Das Gedicht sei wie I 3 ein Propemptikon, gerichtet an die
kurz vorher bei der Rückfahrt aus der Gegend der Cykladen hart
mitgenommenen Galeere Oktavians , der nach Asien in den ersten,
für die Seefahrt gefahrlichen Wochen des Jahres 30 segeln wollte.
Der Rezensent der Abhandlung Gustav Friedrich lehnt (Woch.
f. klass. Phil. 30 [1912], 574 f.) den Gedanken rundweg ab;
Heinzes Erklärung bleibe zu recht bestehen. Für seine Propemptikon-
deutung bricht Kukula ebendort Sp. 1021 f. eine Lanze; Friedrich
erwidert Sp. 1022. Wird es einen großen Unterschied machen, ob
der Dichter die navis, die den Staat, die patria oder die, welche
den pater patriae, den Repräsentanten trägt, anredet? Horaz
schmeichelt dem Kaiser oft unauffällig (vgl. c. I 2). Wenn beides
sich nicht vereinigen läßt, scheint mir Quintilians Auffassung die
natürlichere.
Über die zitierbare Sentenz (inst. VIII 5, 3) bietet
Eugen Wolf, Sentenz und Reflexion bei Sophokles. Ein Bei-
trag zu seiner rhetorischen Technik. 1. Teil. Diss. Tübingen.
Tübingen 1913
wertvolles Material (s. S. 3) , das einmal die Wichtigkeit des
yvojf.ioloyelv, wie Aristoteles in der Rhetorik betont, und dann für
die Kunst die Bewiißtheit des Schaffens, freilich sehr im Gegensatz
VIII. Zu den einzelnen Büchern der lustitutio. 265
zu unserem Zeitgeist , aber im Anschluß an Sophokles , der au-
geblich dem Aischylos vorrückte: ort eI '/mI tcc dtovxa Ttoiel aX?^
OL'/. Eidcog ys.
IX. Buch.
Pietro Rasi, Di un ctTxa^ elgr^juevor logico o di pen-
siero presso Quintiliano (Inst. er. IX 3, 8). In der
Kiv. di filol. 45 (1917), S. 160—196.
Bei Vergil Ecl. IV 62 stehe richtig cui risere parentes ; anders
Quint. IX 3, 8. Dieser habe statt cui in seinem Vergilexemplar
quoi oder qui gelesen und dies als Nominativ gefaßt für die zu
belegende Figur. Die Mutili der rhetorischen Schriften Ciceros
bieten öfters qui für cui, ebenso quidam für cuidam u. ä.
Eines der vom bayerischen Staatsministerium für Philologen 1914
gestellten Themen lautet :
Führt Quintilian seine Autorenreihen da, wo die strengzeit-
liche Ordnung aus sachlichen Gründen erwartet wird, regelmäßig
oder geradezu ausnahmslos in chronologischer Folge vor? Zur
V^iederlegung von Kurt Koehlers Berliner Dissertation v. J. 1909 :
De Rhetoricis ad C. Herennium. Vgl. auch Berl. philol. Wochen-
schr. 30 (1910), Sp. 399, wo Th. St an gl die Arbeit von Köhler,
die Kornifizianer und Antikoruifiziauer (inst. IX 3 , 69 flP.) , den
chronologischen Gesichtspunkt und Schlüsse ex silentio eingehend
bespricht. Die gewünschte Untersuchung steht noch aus.
Rhjiihmus.
Die fast unübersehbare Literatur zum Prosarhythmus,
die auch zur Theorie und Praxis Quintilians heranzuziehen ist,
findet sich zum größten Teil zusammengestellt bei
A. W. de Groot, A Handbook of Antique Pr ose -Rhythm.
I. Teil. Groningen 1918.
S. 200 — 217 'Contributions to a Bibliography of Antique Prose-
Rhythm' in alphabetischer Ordnung (Adams bis Zielinski) über
200 Verfasser. Ergänzungen und ein systematisches Verzeichnis
soll der in Aussicht stehende II. Teil bringen.
Vgl. meinen Bericht über Ciceros rhetor. Schrifen, Bursian
Bd. 179 (1919 n) S. 114 f. und Berl. philol. Woch. 40 (1920),
Nr. 10 u. 11, über die Bibliographie Sp. 244.
Noch weiter herab geht das ergänzte Literaturverzeichnis von
Louis Laurand, Supplement ;i la Bibliographie du
Cursus latin. Le Mus6e Beige IV (1920). S. 188—198
von Ales bis Zillinger. Wie ich schon öfter, betont auch Laurand
256 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
die Zweckmäßigkeit zu diesen Fragen , die Arbeiten über Sprach-
rliythmus überliaupt und über die einzelnen Sprachen im besonderen
Leranzuzielien, und verweist auf Marbe , Belin , Clark, Lipsky,
Saiutsbury, Platt, Landry, Roustan, Faguet, Lanson, Bremond.
Bei der häufigen Parallelisierung von redender und bildender
Kunst, auch bei Quintilian, gehört hierher
Eugen Petersen, 'Rhythmus'. In den Abhandl. der Gott.
Ges. d. Wiss. Bd. 16 Nr. 5. Berlin 1917. 4. S. 1—104.
Den Gegensatz zwischen Qvd-[.if/.ol und ^etqi'AoI, den Quin-
tilian (IX 4, 48) wie Dionys von Halik. kennt, beleuchten be-
sonders S. 21 und 97. S. 21 : „Das Metrum, vorgestellt in Zeichen . . .
ist ein abstraktes Schema, ein räumliches mehr als zeitliches, ohne
Bewegung, diese nur latent enthaltend; Rhythmus dagegen ist
das lebendige Bewegung gewordene Gesetz, das in dem Leben eben
die Kraft mit sich führt, die es bändigt." Etymologisch führt Petersen
Qvd'fAog auf egv und J-qv zurück, also wie unser 'Zug' (Energie-
begriff), nicht wie üblich aiif Qtco, Fluß (gleichmäßig). Auch der
Gebrauch des deutschen Wortes und seiner Synonyma erfahren durch
den großen Archäologen Petersen (f 1919) willkommene Aufklärung.
Auch an die Neuauflage von K. Bücher 'Rhythmus' sei erinnert.
Akzent.
H. B e r g f e 1 d (f ), DasWesen der lateinischenBetonung.
In Glotta VII (1916) S. 1—20.
War, wie Skutsch u. a. wollen, die Betonung von Anfang bis
zu Ende expiratorisch? Oder hat nebeneinander eine musikalische
und expiratorische Betonung bestanden , wie namentlich Franzosen
annehmen? War der lateinische Akzent der klassischen Zeit über-
wiegend expiratorisch oder musikalisch? Für dieses entscheidet
sich Bergfeld ; in Poesie wie Prosa einschließlich der Klauseln der
klassischen Zeit (im weiteren Sinn) war der Akzent quantitierend
(musikalisch), vorwiegend musikalisch ; auch der saturnische Vers
Avar (nach Zander, Leo, Bergfeld) quantitierend. Daß die
Prosa hinsichtlich des Akzentes (der numeri) nicht wesentlich
von der Poesie abweicht, wird unter gebührender Hervorhebung
von Cicero or. 190 und Quintil. inst. or. IX 4, 61 S. 5 f.
neuerdings eingeschärft. Von einer gedankenlosen Herübernahme
der griechischen Betonungsweise durch lateinische Gelehrte wie
Quintilian, könne nicht die Rede sein. Stimmt! Daß aber auch
die Mode sich breit machte, beklagt Quintilian selbst. Und wenn
Deutsche von deutschredenden Franzosen lange 'Reformator' statt
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 257
^Reformator' höreu , finden sich unter ihnen vielleicht auch Nach-
ahmer. Kom hat nach B. im 4. vorchristlichen Jahrhundert seinen
alten (etruskischen ?) expiratorischen Akzent mit dem quantitierenden
Drei- (Vier-) Silben- Akzent vertauscht, im 4. nachchristlichen Jahr-
hundert setzte sich unter dem Einfluß der 'Barbaren' (Afrika?) der
entgegengesetzte Wandel durch.
F. W. Shipley, The heroic clausula in Cicero and
Quintilian. Class. Philology 6 (1911) S. 410—418.
Cicero billigt or. 217 den Schluß - ww - w , Quintilian ver-
wirft ihn inst. IX 4, 102. In der Praxis hat Cicero nur 0,6 %
clausulae heroicae , Quintilian 1,9 ''/o; beide also wenige. Aber
- V./W - C7 ist anders in der Form moeuia Romae oder adire labores
(Vergil), anders in der Form quid faceres cum (Horaz), anders
commemorare oder non videatur (Cicero, Quintilian). Eine über-
sichtliehe Tabelle S. 412 ergibt: '■'Die forms tvhich occur most fre-
quently in prose are rarest in poetry, and the forms which are most
frequent in poetry are relatively rare in prose.' Die Formen velle
videbam oder foedere cautumst, in der Poesie zwischen 62 und 38 *^/o,
sinken in der Prosa auf 4,6 bei Cicero, auf 3,6 ^lo bei Quintilian
herab. Ein sachlicher Widerspruch ist bei beiden Technographen
nicht vorhanden : Cicero hat Akzent und Rhythmus von Formen itn
Sinn wie composuisses oder non videatur, Quintilian die poetischen
Formen. Vgl. F. di Capua, der Boficl 19 (1912) S. 207 die
Worte Cic. or, 217 quomodo . . . dichoreus als Glosse streichen will.
Es sei auch hingewiesen auf Fr. Novo tny, Die neue Klausel-
methode und die zweifelhaften Sallustiana. Zeitschr. für österr.
Gymn. 68, 1918, S. 25—64. Ebendort S. 328—332 äußert sich
Novotny über Qvd-uog gegen 0. Schröders Deutung = 'Welle', es
sei vielmehr 'Wasserweg', 'Bahn', 'Ordnung'. Vgl. oben Eug.
Petersen: 'Zug'.
Über den ursprünglichen, später geänderten Anfang des Livia-
nischen Geschichtswerkes (inst. IX 4, 74) : facturusne operae pretium
sim spricht A. W. de Groot, Der antike Prosarhythmus. Gro-
ningen (1921) S. 26. Auf dieses neue Werk von A. W. de Groot
(Teil I), das die Rhythmisierung, namentlich die Prosametrik, groß-
zügig von der vorattisclien Periode bis auf Cicero verfolgt, soll hier
nicht näher eingegangen werden. Vgl. meine Besprechung Philol.
Woch. 42 (1922) S. 1069 ff. Auch wird man den IL Teil (Cicero
und die spätere Zeit) abzuwarten haben.
Unter Berufung auf Quintilian (IX 4) führt F. di Capua
in seiner Besprechung (Boficl XX, 1913/14, S. 202 ff.) von L. Lau-
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. 11). 17
258 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
rands Schrift 'Ce qu'on sait et ce qu'on ignore dn ciirsus^ (Mus6e
beige 1913) eine Briefstelle (85) des hl. Augustin an „unde accidit
ut onmissa compositione verborum et scribentium sollicitudine dictem
quidquid in buccam venerit", die uns zeigt, daß ein und derselbe
Schriftsteller bald l'^Qv^/na, bald aQQvd^/iia schreiben konnte und
wollte, wie wir dies auch aus Cicero und Dionys von Halik. ent-
nehmen können. Bei der Besprechung von Susan Helen Ballou,
De clausulis a Flavio Vopisco . . . adhibitis (Weimar 1912) hebt di
Capua (Boficl XX S. 130 f.) die Zwischenräume in der Schrift
im Cod. Palat. hervor, welche die rhetorischen incisa, membra
und ambitus andeuten.
E. H. Sturtevant, Elision and Hiatus in Latin Prose
and verse. In The Classical Journal XH 1916, S. 34—43.
St. betont mit Recht, daß Quintilian für die Prosa Hiaten wie
pulchrä oratione acta anerkennt und zum Zweck der Emphase die
Unterlassung der Synalöphe billigt. Ähnlich die Behandlung von
Schluß-m wie in multum ille (IX 4, 46). Vgl. oben Heuer über
Euphonie.
P. Baumert, De -m final i (De pronuntiatione litterae -m
finalis quam subsequitur vocabulum a vocali incipiens, quid
efficiatur ex clausulis S uetonianis et Apuleianis). Im Aus-
zug mitgeteilt in dem Jahrbuch der philosophischen Fakultät
der Georg-August- Universität zu Göttingen 1921. 1. Hälfte:
Januar— Juni. I. Historisch -philologische Abteilung VIII,
116 S. Hier Nr. 13.
„Da ergaben sich für Sueton — geprüft sind nur die Klauseln
des Div. Jul. — bei Nie htver Schleifung des -m etwas
bessere Klauseln. Nach dem, was der Auszug mitteilt, scheint
Sueton beide Möglichkeiten zugelassen zu haben." So Alfred Klotz
in der Woch. f. Ph. 1922, 444 f. Auch was Klotz gegen Blass'
ßesponsion, gegen Zielinskis Diärese, für die Geltung der xwAa
und yLOfXfxata sagt, verdient Beachtung.
F. di Capua, Una glossa in Quintiliano, Inst. Or. IX
4, 105 im ßoll. di filol. class. 19 (1912/13) S. 207
will die Worte "quo modo claudet qui placet plerisque dichoreus?"
als den Eandbeisatz eines Lesers, der den Sprachgebrauch trochaeus
= tribrachys nicht verstanden habe, streichen. Was ist mit dem
vorhergehenden alioqui? Vgl. oben Shipley.
VIII. Zu den einzelnen Büchern der lustitutio. 259
Zum Yerstäiidnis der Wortfügung (IX 4).
K. Brugmanu, Verschiedenheiten derSatzgestaltung
nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in
den indogermanischen Sprachen. Ber. üb. d. Verb,
d. Sachs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig. Philo!. -bist. Kl. 70, 6.
Leipzig 1919, Teubner.
Unmittelbar zur Quintiliansliteratur gehört :
J. Marouzeau, Pour mieux comprendre les textes
1 a t i n s (essai sur la distinction des styles). Rev. de Philol.
55, 1921, S. 149—193.
Er bringt viel aus Quintilian und arbeitet mit Quintilian : inst. I
6, 1. IV 1, 68. Vni 3, 11 fP. X 1, 9. 1, 28. 1, 31. 1, 41. X 2, 21
und 22. XII 10, 10. 10, 58. Vergl. zu der tiefgreifenden Frage
Klemens Blener, Zur Methode der Untersuchungen über
deutsche Wortstellung. Zeitscbr. f. deutsches Altertum usw. LIX. Bd.,
1922 S. 127 — 144: „Es gibt kein einheitliches Prinzip, das auch
nur in einer bestimmten Periode für eine bestimmte Sprache alle
Wortstellungserscheiuungen erklären würde'' (S. 144).
Inst. IX 4, 4 5 ff.
*Poesieund Prosa' überschreibt Ulrich von Wilamowitz-
Mo eil endorff das zweite Kapitel seiner 'Griechischen
Verslehre'. (Berlin 1921, Weidmann), S. 25—57.
In großen Zügen mit charakteristischen Einzelheiten (auch aus
den Lateinern) gibt Verf. ein Bild der Entwicklung von der Zeit,
wo die Kunstprosa sich an die Stelle der Poesie drängt, von Gor-
gias, Isokrates, Piaton, Demosthenes bis herab auf die Zeit, wo der
expiratorische Akzent das Gefühl für Quantität ertötet und Prosa
wie Poesie auf neue Bahnen weist. Auch sonst bietet das um-
fassende (630 S.), gehaltvolle Werk für das Verständnis der In-
stitutio vieles, z. B. S. 67 über Aristoxenos, S. 69 über Dionys.
de comp. 17 (Inst. I 10, 22. IX 4, 88). Vgl. A. Körte, Neue
Jahrb. 1922. I 313 ff.
X. Buch.
Daß die in der Einsamkeit Erzogenen der Sprach fähig-
keit entbehren (inst. X, 1, 10), führt Weyman wegen der
Ähnlichkeit der Erzählung mit Arnobius (c. 21 p. 65 , 7 ff. K.)
nicht mit Peterson auf Herodot II 2 zurück, sondern auf 'eine Ver-
sion der Erzählung, in der Züge des Herodotischen Berichtes und
der von Arnobius für seine Schilderung des Erziehuugsexprimentes
benutzten Vorlage vereinigt waren'. (In den 'Beiträgen zur Ge-
schichte des christlichen Altertums und der byzantinischen Literatur'
17 *
260 Ammon: Quintil. inst or. 1910—21.
Festgabe für Albert Ehrbard, berausg. von A. M, Koeniger, Bonn
1922. S. 481 f.)
Über Timagenes, den Quintilian X 1, 75 als Erneuerer
ernster Gescbicbtscbreibung liocb einscbätzt, bandelt eingebend Eduard
Norden in seiner Germaniseben Urgescbicbte (^ 1922) S. 149,
153 usw. Beacbte die Einreibung des Timagenes im Stemma
S. 170. Aucb an A. Klotz, Cäsarstudien, 1910, ist bierbei zu
erinnern.
W. ßennie, 'satura tota nostra est'. In Tbe Classical
Review XXXVI 1/2, 1922, S. 21.
Quintilian (X 1, 93 £F.) meint nicbt "römiscben Ursprungs",
sondern "römiscben Cbarakters" und "von den Römern vervoll-
kommnet" ; 'final acbievement'.
Mit dem Satz Quintilians X, 1, 93 'satura quidem tota nostra
est' sowie mit dem anscbeinenden Widerspruch X 1, 95 illud prius
satirae genus befaßt sich eine Dissertation, die überhaupt für die
griechischen Studien höher stehender Römer beachtenswert ist :
Emil Englmaier, Was ist in des Horaz Satiren und Episteln
auf griechischen Einfluß zurückzuführen? Diss. Erlangen.
Nürnberg 1913, Benedikt Hilz. 128 S. Gr. 8.
Englmaier meint, Quintilian habe die Worte des Horaz sat.
I 10, 66 rudis et Graecis intacti carminis auctor [sc. Ennius] nicht
richtig gefaßt oder noch wahrscheinlicher , er wolle nur sagen :
'Eine Satire, die genau der des Lucil entsprochen hätte, hat es
bei den Griechen nicht gegeben' (S. 8). Für die ars poetica
(Q,uint. VIII 6, 30) hätten dem Horaz außer Neoptolemos von
Parion noch Schriften alexandrinischer Grammatiker vorgelegen
(S. 21); vgl. darüber jetzt K. Barwick, Hermes LVII 1
(1922). Aucb bei Horaz ist das reiche Überlieferuugsgut der
grammatischen und rhetorischen Schulen, der Lektüre und Exempla,
der Gnomologien, nicht zu vergessen. Wenn Englm. bei dem
Hinweis auf die Lektüre des Horaz stipare Piaton a Menandro
(sat. II 3, 11) an den Philosophen nach älterer Auffassung denkt
(S. 34), so wird man dies kaum gutheißen.
Giacomo Giri, II giudizio di Q, uintiliano intorno a
Lucrezio. In den Classici e Neolatini VII (1911) S. 2 — 8.
'Macer et Lucretius legendi quidem, sed non ut phrasin id est
corpus eloquentiae faciant; elegantes in sua quisque materia, sed
alter humilis alter diflficilis', urteilt Quintilian X 1, 87. Wie be-
rechtigt vom Standpunkt der Inst. or. aus das Urteil und die Zu-
sammenstellung ist, und wie man das anscheinend magere Lob für
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 261
Lukrez voll auszudeuten hat, zeigt kenntnisreich und scharfsichtig
Giri.
Karl Altkamp, Examinatur Q, uintiliani de Lucilio
iudicium. Wiss. Beil. des Gymnasiums zu Warendorf, 1913.
28 S. 4.
Der auch nach Altkamp mit den beiden Literaturen wohl-
vertraute, umsichtig und selbständig urteilende Kalagurritaner be-
handelt X 1, 94 den Erfinder der Satire C. Lucilius: 'eruditio
in eo mira et libertas atque inde acerbitas et abunde salis.' An
diesem mit Varro und Cicero zusammentreffenden Urteil weist Alt-
kamp im Hauptteil seiner Arbeit (bis S. 21) das Lob der mira
eruditio — ein Schlagwort, lebenskräftig auch noch in der mo-
dernen literarischen Kritik — als wohlberechtigt nach, und zwar
gründlich und umsichtig. 'Fragraentis Lucilii c[Uod ad eruditionem
attinet perlustratis neminem , qui carmina Lucilii perlegerit attente
eorumque sententias clare perceperit , fugiet poetam quascunque
tractat materias virum se praestare magnae scientiae. Graecorum
philosophis [Piaton - Sokrates, die Vorsokratiker und die nachsokra-
tischen Schulen] poetis [von Homer, besonders der Odyssee, herab
bis auf Menander] rhetoribus [von Isokrates bis auf die zeitgenössi-
schen Redner und Grammatiker] bene est eruditus neque tamen
omisit Romanorum veterum comoediam tragoediamque cognoscere.
Etiam Ennii scriptorum, quem primixm apud Romanos saturas scrip-
sisse constat, peritum se praebet Lucilius. Neque minus in dicendi
ratione amplitudinem quandam assecutus est. Numeros concitatiores
et ad varios affectus depingendos saepenumero optimc adhibuit'
(S. 20). Ob das freilich alles von dem vornehmen Dichter durch
eigene Lektüre gewonnen ist? In den neu eröffneten Rhetoren-
schulen wird viel Gemeingut überliefert worden sein , z. B. über
Antiopa, Zethus und Amphion (Cic.) ; vgl. die Arbeiten von Kohl,
M. Schamberger, besonders Karl Ale well, Über das rhetorische
7taQdÖ£iyi.ta, Diss. Kiel 1913.
Das zweite Charakteristikum im Urteile Quintilians über Lucil,
die libertas, wird kurz abgeraaiJht ; auch seinem Gönner Scipio hält
er das — von Quintilian — berührte pertaesum vor: 'Pertisum
hominem, non pertaesum, dicere humaniam genus.' Die acerbitas und
die abundantia, auch die Sprachmengerei des alumnus Campanus
werden beleuchtet (S. 22 — 27) und teilweise gegen Horaz in Schutz
genommen. Die in gefälligem Latein geschriebene Programmabhand-
lung begründet nicht nur das Urteil Quintilians gut, sondern fördert
durch den weiten Überblick über das Geistesleben der Szipionenzeit
262 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
auch die Horazerklärung, besonders sat. I 4, I 10, II 1 und ars poetica
(vgl. 0. die Abhandlung von Barwick).
Das Urteil Quintilians (X 1, 72), daß Menander den Kuhm
aller anderen Komiker verdunkelt und auch Philemon als Zweiten
weit hinter sich gelassen habe, vergleicht H. v. Arnim „Kunst
und Weisheit in den Komödien Menanders" mit Plut. Compar.
Aristoph. et Men. 3 S. 854 A in den Neuen Jahrb. 13 (1913) I
S. 243. Auch die folgenden Ausführungen über Quintilian, der
(XI, 69 ff.) Menander für die Jugendlektüre, besonders in Ehetoreu-
schuleu empfiehlt, sind belangreich.
Über Menander, den wie Quintilian auch Dion von Prusa
or. 18, 6 als Hilfsmittel tür den künftigen Redner bezeichnet,
bieten Beachtenswertes
E. Legrand, Daos •,
J. W. Cohoon, Ehetorical studies in the arbitration scene of
Menander's Epitrepontes, 1914;
Berend Keulen, Studia ad arbitrium in Meuandri Epitrepontibus
exhibitum. Diss. Leiden 1916.
Darüber Th. Thalheim B. ph. W. 37, 1917, 451 f. und meine
Besprechung von Cohoon B. ph. W. 36, 1916, 1129 ff.
Über die Literatur zu Menander und zur Komödie über-
haupt siehe den eingehenden Bericht von Ernst Wüst, Burs.
174. Bd. (1916/18 I 105—254).
Aus Inst. or. X 1, 128 inquirenda quaedam mandabat schließt
Ed. Norden, Die Germanische Urgeschichte . . . (1920) S. 444
auf Aufträge, die Neros Minister Seneca der Nilquellenexpedition
könne mitgegeben haben. (Im Index bei Norden nicht.)
Für das Urteil Quintilians (XI, 114) über Cäsar als Redner
(vis und elegantia) ist belangreich
Leo Holtz, C. Julius Caesar quo usus sit in orationibus
dicendi gener e. Dissert. Jena. 'Ludovicopoli MCMXIIL'
Holtz stellt S. 42 Quintilians Urteil mit dem des sonstigen
Altertums zusammen und kommt (S. 59 ff.) zu dem Ergebnis, daß
Cäsar in der Hauptsache sich der rhodischen Stilart, durch Molen
gewonnen, angeschlossen habe , zeitweilig auch dem genus dicendi
Atticum nicht ferngestanden sei. Wenn A. W. de Groot recht
hat (Der antike Prosarhythmus I 1921 S. 104), daß das ganze
genus Rhodium nur ein Schlagwort Ciceros ist, bedarf aber das an-
sprechende Ergebnis von Holtz einer gründlichen Revision.
In dem vielbehandelten Urteil über Seneca Inst. X 1, 131
möchte S. Eitrem, Varia, Nordisk Tidskrift f. Eilologi 6 (1917)
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 263
S, 161 so lesen: ': /implicia non contempsisset, si parum (trita)
non concupisset'. Kaum. Wenn wir, meine ich, an der Überlieferung
partum (Geborenwerden) non concupisset festhalten, so würde das
sonst übliche Bild vom Entstehen von Gedanken (Einfällen , Re-
gungen) naheliegen, etwa : si aliqua in sinu contempsisset si partum
non concupisset; 'ihr Zurweltkommen nicht gewünscht hätte'.
Zu der Bekämpfung des übertriebenen Gebrauches von Sen-
tenzen (sententiae, sententiolae, sensus, sensiculi ; yvioi-tai, yvcofiiöia)
vgl. Friedrich Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde, München 1922
Beck. Z. B. S. 23 S. Aurora musis amica. Zahlreiche 'geflügelte'
Worte — der Begriff ist 1864 durch Georg Büchmaun geprägt
worden — sind uns durch die Institutio Quintilians und seiner
Nachahmer vermittelt worden ; in den Ehetorenschulea wurden die
alten Gorgianischen Figuren (mit Reim, Assonanz, avxid^exa im wei-
testen Sinn) Jahrtausende fortgepflegt. Diese Fortpflanzung von
geflügelten Worten durch Quintilian wäre der Unter-
suchung wert.
Oskar Tillmann, Zur Dichte rlektüre in den ersten Jahr-
hunderten der Kaiserzeit. Programm. Zweibrücken 1912.
34 S. 8°.
Bei dem ersten Abschnitt der kenntnisreichen Arbeit „Die
Dichterlektüre unter rhetorischen Gesichtspunkten" S. 6 — 21 wird
Quintilians Theorie der Nachahmung, die auf selbsttätige Ver-
wertung des Gewonnenen hinweist (X 2, 12), gut gewürdigt. „Eins
freilig darf bei aller Anerkennung seiner Vorzüge nicht übersehen
werden: über den Gesichtspunkt der Nachahmung hinaus zu freier
unbefangener Würdigung der Poesie hat auch Quin-
tilian sich nicht erhoben" (s. u.). Durch die Vergleichung
mit Plutarch , Lukian , Dio von Prusa (nach H. von Arnim) und
unter Berücksichtigung des philosophischen Gesichtspunktes (S. 21 ff.)
wird diese Seite der inst. or. gut beleuchtet.
Tieferes über Imitationstheorie bietet
Paul Wendland, Quaestiones rhetoricae. Schrift an-
läßlich der Preisverteilung der Universität Göttiugen 1914.
Für die Verwendung der Musterbeispiele und für die Geschichte
der imitatio werden hier tiefgehende Ausblicke gegeben.
Zu den von Quintilian (X 5) empfohlenen Übersetzungen
und Variationen bringt wertvolles Material
Walter Franz el, Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrh.
Diss. Leipzig 1913, 155 S.
264 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
Wie K. Fr. Bahr dt seinen Tacitus verdeutsclien will, habe
ich bei der Besprechung des Neudruckes (B. ph. W. 40, 1920,
Sp. 636 ff.) hervorgehoben. Für Quintilians Instit. wäre die Über-
tragung von Schi räch eingehender zu würdigen (1, Teil Helm-
städt 1775), der sich auf seine Gewissenhaftigkeit etwas zugute tut.
Zu dem pädagogischen 18. Jahrhundert würde mau mit Gewinn die
Theorie und Praxis der Alten, vornehmlich Quintilians, halten; selbst
hinsichtlich der Fachausdrücke, wie xar uvTihjipiv inst. VII 4, 4.
Zum X. Buch noch einige Textverbesserungen:
H. Eöhl, Zu Quintilian. Woch. f. klass. Philol. 28, 1911,
Nr. 41 und Nr. 46.
Der neue Bearbeiter des zehnten Buches, der verdiente Horaz-
forscher, behandelt: XI, 70 statt illa mala zu lesen illa moralia ||
X 1, 99 wird erklärt mit der reichen Literaturangabe || X 3, 22
vorgeschlagen mihi certe Evdaif.wvr/.üg magis || X 7, 1 imitari (für
intrare) portum || X 1, 130 erklärt das Urteil über Seneca, das in
heilem Text überliefert sei || X 3, 21 materias dividere im Sinne
individueller Behandlung || X 7, 3 patitur hoc actio (statt ratio).
XI. Buch.
John W. Basore, On the Status of the Later Comic
Stage.
Trans, and Proceed. of Am. Phil. Ass. Dez. 1909, Vol. XL,
p. XXI sq.
Quintilian gibt XI 3, 58 einen Überblick über die komische
über palliata — comoedia — comici — comoedi actores comici,
scenici aetores, histriones) und die tragische Bühne. Die fabiila
palliata hat sich erhalten bis zum Anfang des 2. Jahrh. mit guter
actio, als Muster für rhetorischen Vortrag.
Über Armin Krumbacher, Stimmbildung, s. u.
Über XI, 3 handelt u. a.
Boris Warnecke, Gebärdenspiel und Mimik der rö-
mischen Schauspieler. Neue Jahrb. 1910 XIII, S. 580— 594.
Auf K. Sittl, Gebärden der Griechen und Römer, auf K. Scraup,
Katechismus der Mimik, und auf andere Hilfsmittel wird verwiesen.
Eine verständnisvolle Darlegung der Lehren Quintilians, der
ausführlichsten über diesen Gegenstand , wird besonders S. 588 fiF.
gegeben mit sachkundigen Ausblicken auf den auct. ad Herenn.,
Cicero, Dionys von Halikarnaß u. a.
VIII. Zu den einzelnen Büchern der Institutio. 265
XU. Buch.
Achille Beltrami, La composizione del libro duo-
decimo di Quintiliano. Studi italiani di filol. cl. 19
(1912), S. 63—72.
Der verdiente Herausgeber des 12. Buches sucht, einen Ge-
danken von R. Sabbadini weiter verfolgend, nachzuweisen, daß sich
Spuren von späteren Zusätzen finden , die nicht im ursprünglichen
Plane lagen und von Quintiliankennern, wie Bonnet, schon früher
störend empfunden Avurden. Vgl. oben über Disposition (Börner,
Tolkiehn).
Zu XII 10 : Über Antiphilos, den Zeitgenossen und Neben-
buhler des Apelles, außer P.-W. (unter Apelles und Antiphilos) auch
E. Pagenstecher, Alexandrinische Studien. Sitzungs-
bericht der Heidelberger Akad. d. ,Wiss. phil.-hist. Klasse
1917.
Aufsatz I: „Die Raumdarstellung in der alexandrinischen
Malerei zur Zeit des Antiphilos."
Zu den übrigen bei Quintilian genannten Malern und Bild-
hauern, zu Polygnot, Aglaophon, Zeuxis, Parrhasios, Protogenes,
Pamphilos, Melanthios, Theon, Apelles, die beiden Euphranor, zu
Kallon, Hegesias, Kaiamis, Myron, Polyklet, Pheidias, Alkamenes,
Lysippos, Praxiteles, Demetrios bietet die neueste Archäologie einem
künftigen Erklärer Quintilians reichen Stoff. Ich habe ihn nicht
gesammelt. Auch die Parallelen zwischen redender und bildender
Kunst, wie sie z. B. Brzoska in dem Epimetrum zu seiner Arbeit
über den Kanon der 10 Redner zusammengestellt hat (S. 81 ff.),
verdiente eine Neusichtung und Erweiterung, auch mit Rücksicht
auf ihr Fortwirken in der Folgezeit.
Zum I. und XII. Buch der instit. und zu den Arbeiten von
Loth, Messer, Appel über Quintilian wird man mit Nutzen ver-
gleichen einen Aufsatz von Rudolf Lehmann, 'Pädagog. Typen-
lehre', Zeitschr. f. Päd. Psych, und exper. Päd. 23 (1922), S. 241
bis 254, z. B. das aristokratische Ideal , das priesterlich-jjhilo-
sophische, das bürgerliche Bildungsideal, auch über Erziehertypen.
Über die durch Rudolf Lehmann besorgte Neuauflage von Fr. Paulsen,
Geschichte des gelehrten Unterrichts, die für Quintilian wenig
bietet, s. unten.
266 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
IX. Weitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung.
Wilhelm Kroll, Quiutilianstudien. Ehein. Mus. 73 (1921),
S. 243—272.
In diesen Studien Krolls^ der ^) durch seine Ausgabe neues
Leben in die Erklärung von Ciceros Orator gebracht bat, weht
Höhenwind der Forschung, ganz anders als in den landläufigen
Dissertationen und Programmabhandlungen. Abschnitt I 'Das
Kapitel über die Synthesis (inst. IX 4)', S. 243—260 gibt einen
trefilichen Sach- und quellenkritischen Kommentar zu dem Haupt-
gegenstand antiker Rhetorik in ihrem Höhenstand; vgl. o. J. Ma-
rouzeau, Pour mieux comprendre les textes latins. ßev. de
Philol. 55, 149 ff. Die Einleitung § 1—16 (bzw. 18) möchte Kr.
übereinstimmend mit H. Mutschmauu {tceqI vip.) nicht auf Cäcilius
von Kaiakte zurückgeführt sehen (gegen Coblentz und Ofenloch),
aber auch Theodoros von Gadara will er nicht als direkte Quelle
der einheitlichen Einleitung annehmen (gegen Mutschmann). Für
die Vorbemerkung der eigentlichen Tractatio (IX 4, 23 f.) über die
Scheidung der Prosa in rhythmisierte und nichtrhythmisierte werden
Parallelen angeführt aus Dionys. Halic, aus Aquila, aus Demetrius,
der, wie Aquila, drei Periodenarten unterscheide , die historische,
dialogische und rhetorische , Scheidungen , die letzten Endes auf
Aristoteles' Xs^ig ygacpiKi] und ayioviGZLy.ri zurückgehen mögen.
Quintilian kennt die historische Pei'iode anscheinend nicht, aber
er wußte doch wohl , daß Dionys von einem \GTOQLy.ov nldoi-ia
spricht, und die Theorie des Demetrios, dessen Zeitansatz immer
noch umstritten ist, geht, denke ich, auf vorquintilianische Zeit
zurück. Die vereinzelte, aber von Quintilian nicht erfundene Drei-
teilung der Synthesis in ordo (23 — 31), iunctura (32 — 44), zu der
Horaz a. p. zu vergleichen, und numerus (45 ff.) wird im einzelnen
genau behandelt. 'Hat Quintilian nicht selbst den Dionys ein-
gesehen, so hat seine Vorlage es getan, oder es liegt Benutzung
derselben Quelle vor' (S. 248). Ich habe mich schon früher für
die erste Annahme ausgesprochen ; s. inst. IX 4, 89. Bezüglich
des numerus , insbesondere der Metrik , urteilt Kr. mit Recht :
'Quintilian hat sich an das Gangbare — meist nach Cicero — ge-
halten und nicht so alte Quellen wie Dionys aufgesucht' (S. 248).
Den Anfang von Demosthenes' Kranzrede kannte Quintilian aber
wohl sicher aus eigener Lektüre, ebenso Ciceros Korrespondenz;
1) Auch auf seine Randbemerkungen im Rhein. Mus. 62 (1907)
zu Dionys, Cicero, Quintilian sei nachträglich hingewiesen.
IX. Weitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung. 267
gl. über die Briefe des Caivus und Brutus S. 260. Quintilians
:^emerkuno^en über Binnen rhythmus (inst. IX 4, 66 — 71)
;mpfiehlt K. besonderer Beaclituug, Wie Quintülan dazu komme,
n § 97 den Terminus Tribracbys, den er abweichend von Cicero
;ben verworfen bat, zu gebrauchen, darin stimmt Kr. Woebrer bei.
jber die anscheinend sich widersprechende Behandlung des Dak-
ylus durch Cicero und durch Quintilian vgl, oben Shipley.
^uintilian hat, darauf weist schon Prooem. zu I hin, kontaminiert,
n der Behandlung des numerus Cicero (or. und de or.), Dionys,
'ielleicht auch einen den Cicero oder Dionys oder beide berich-
igenden Rhetor; auch dem Celsus ist Quintilian nach Kr. S. 259
ron IX 4, 121 an in der Hauptsache gefolgt. Es ist nicht nötig,
u der Zeit der Klauselforschung auf diese Ausführungen Krolls
loch mit besonderem Nachdruck hinzuweisen. Die austera com-
positio hänge mit Dionys' avairjQCc avvd-eaiq (richtiger agfiovia)
rgendwie zusammen, sei vielleicht geradezu durch sie veranlaßt;
,'gl. Ammon, De Dion. Halic. fönt. (1889), S. 55 und Cic. or.
Ib8 und 175. "An Theophrast als dem Urheber dieser Lehren
iann ich, sagt Kr., heute nicht mehr festhalten' (Kroll S. 259).
Ein noch schwerer greifbares Element nimmt Abschnitt II
Das Kapitel über das Prepon (XI 1)" in Augriff. Daß das
tQtJiov zur gesamten Darstellung treten muß, als letztes, aber un-
entbehrlichstes Erfordernis, betont für die avvd^eoig auch Dionys.
Bei Quintilian heben sich XI 1, 1 — 5 als Einleitung ab ; in der
iveiteren Erörterung , die nach Kr. im wesentlichen das rcqinov
3ei Cicero behandelt, wird dem Fabius die Disposition, namentlich
äine reinliche Scheidung zwischen Af^/g und TiQdy/.iaTa schwer.
Das liegt im Wesen der Sache und in der rhetorischen Tradition.
Bis § 39 reicht der erste Hauptteil (hier möglicherweise auch
Celsus Quelle); der zweite 39 — 59: bei den res alienae als ad-
i'ocati. Es folgt das Passende im Ausdruck mit Nachträgen bis
^egen Schluß. Über die Quellenfrage (Caecilius, Celsus oder
mdere) will sich Kr. nicht entschieden äußern. In § 66 über
unser Benehmen in Prozessen mit Verwandten, oly.eloi, tritt stark
Aristotelisches (Peripatetisches) Gut hervor, in verständnisvoller
Überlieferung. Aus Horaz ließe sich wie für die ovvö^eoig^ so
auch für das Tcqtnov mehr gewinnen , und zwar nicht bloß aus
dem Brief an die Pisonen , sondern auch aus anderen , z. B. an
Lollius (I 18, 68): quid de quoque viro et cui dicas saepe videto;
während Lollius zu Rom deklamiert, studiert Horaz in Präneste
das rrQtnov^ lieber nach Homer als nach philosophisch-rhetorischen
268 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Kompendien (epist. I 2, 1 ff, . . . qitid pulchrum, quid turpe, quid
utile, quid non . . .), sat. I 10, 25 ff.
Viele Nüsse zu knacken gibt uns das wertvolle Kapitel über
die Actio (XI 3), das Kroll als letzten (dritten) Abschnitt be-
handelt. Die Disposition Einleitung (1^ — 10 : Wert der VTtoY-Qioig,
die bona naturae), I. Hauptteil 14 — 65 vox mit den Unterabteilungen,
dann II. gestus (§ 65 ff.) ist an sich ziemlich einfach. Aber die
Übertragung der 4 Tbeophrastischen aQerai, wie Kroll mit Stroux
richtig annimmt, auf die pronuntiatio (emendata, dilucida, ornata,
apta) ergibt manches Geschraubte. 'Über die Quelle der weiteren
Ausführungen läßt sich nichts sagen, als daß Plinius (§ 143) und
Popillius Länas (§ 183) sicher benutzt sind'.
Wilh. Kroll, Eliein. Mus. 73 (1921), 272 schlägt vor XI 3,
2 zu lesen (et) adfectus omnes languescant necesse et, sehr an-
sprechend. Auch sonst sei noch viel zu heilen, besonders durch
Archäologen. Auch an moderne Sprachtechniker sei erinnert, z. B.
das Neueste: Fritz Gerathewohl, 'Erziehung zum Redner',
Berlin 1922, der knappe Weisungen und S. 32 einschlägige Literatur
der jüngsten Zeit gibt (s. u.).
Richard Reitzenstein, Bemerkungen zu den kleinen Schriften
des Tacitus. Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft
der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische
Klasse 1914, S. 173—276.
Hauptzweck der 'Bemerkungen' ist (nach S. 213), die Kunst
des Tacitiis in seinen ersten Werken zu erläutern, wobei besonders
auf die damals eben erschienene große Ausgabe von Alfred G u d e -
man fortlaufend Bezug genommen wird. Es ergibt sich aber aus
den scharfsinnigen Untersuchungen Reitzensteins so Belangreiches
für die Charakteristik der Zeit, der Rhetorik, der Stilrichtungen,
für die Imitatio, das Klassizistische und Klassische, die 'Moderne',
die Wechselbeziehungen des Dialogus und der Institutio sowie für
einzelne Stellen der 'Rednerbildung', daß der Quintilianbericht auf
sie hinweisen muß. Erschüttert die Untersuchung der Überlieferung,
besonders betreffs des Hersfelder Inventarium , die Sicherheit der
äußeren Zeugnisse für die Autorschaft des Tacitus, so sprechen
Einzelbeobachtungen, die noch fortzusetzen sind, für ihn, für die Ver-
wandtschaft mit dem (früheren) Agricola und der Germania. Unter
den Flaviern sei der Dialogus nicht veröffeutlicht ; auch Kroll
möchte ihn in die Nähe des Agricola rücken. Für einzelne Stellen
der Institutio ist Reitzenstein öfters heranzuziehen, so für X 1, 90
Saleius Bassus, S. 234, für X 1, 31 Redner und historischer Stil,
IX. Weitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung. 269
S. 199, für X 1, 130 Urteil über Seneca, S. 269 f., zu XH 10, 48
über Sentenzen, S. 260.
Zur actio (Bucb XI.)
Armin Krumbacher, Die Stimmbildung der Redner
im Altertum bis aufdie Zeit Quintilians. Paderborn
1921, zweites Titelblatt: 1920. Scböningh. 108 S. gr. 8.
In den von E. Drerup herausgegebenen Rhetorisclien Studien,
Heft 10.
Stimmbildung , Stimmdiätik und Stimmbygiene bedurften bei
den großen Aufgaben der antiken Redner und dem empfindlichen
Ohr der Zuhörerschaft einer sorgfältigen Pflege. Wie dies geschehen,
untersucht Kr. nach den bisher nur spärlichen Vorarbeiten (Volk-
mann, Warnecke) in den zwei natürlichen Hauptteilen I Geschichte
der Stimmbildung, von Perikles bis auf Quintilian, S. 12 — 53,
n das System. der Stimmbildung S. 54 — 107.
Verhältnismäßig spät und erst nach langer praktischer Betätigung
entwickelte sich die Lehre vom Vortrag (v7t6'/.Qiaig, TVQOcpoQa, actio,
pronuntiatio) als ein selbständiger Teil der Techne, da der Vortrag
Sache der Natur zu sein schien (s. meine Bemerk. Bayer. Gymn.-
Bl. 30, 1900, S. 21). Krumbacher verfolgt die Stimmbildung
vou Perikles an über dessen demagogische Nachfolger, über
Thrasymachos (Perioden, Rhythmisierung, Hiatvermeidung) und
Isokrates (Vorlesen der "köyoi avayiyvcoay.ofusi'oi), dann über Demo-
sthenes, dessen Stimmbildung und Vortrag sehr eingehend, aber
zu wenig kritisch gegenüber der Überlieferung ^) betrachtet wird,
über Aischines, Hypereides, dann über die Theoretiker Aristoteles
und seinen großen Fortsetzer Theophrast, der die ndd^i] zijg ifjvyvg, die
seelische Ergriffenheit des Redners feststellte und damit den Kern
jedes natürlichen (psychologischen) Vortrags, dann über Athenaios,
den Zeitgenossen des Hermagoras, über die Entartung der asianischen
Richtung und die gesunde Gegenströmung der rhodischen peri-
patetisch beeinflußten Schule, die in der Herenniusrhetorik und
durch Ciceros rhetorische Schriften (Molon) auf Rom herüber wirkt
(dagegen A. W. de Groot s. u.), dann über die recitationes der
ersten Kaiserzeit bis aufQuintilian. Dessen Darstellung (XI 3),
die ausführlichste und genaueste des Alterturas , hat auch zum
Aufbau der Geschichte von Perikles bis auf Domitian viel Material
geliefert. Quintilian selbst steht auf den Schultern Ciceros, gestützt
^) Vgl. die eingehende Besprechung von Friedrich Levy, Philol.
Woch. 1922, 704.
270 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
wohl auch von Dionysios, Celsus (NB. Marx' Ausgabe), Plinius ;
vgl. 0. Kroll.
Der geschichtliche Überblick, umsichtig und gehaltvoll, bietet
auch für das Verständnis Quintilians sehr viel. Wenig hätte mau
nachzutragen, so das Eintreten des Horaz für das Natürliche und
Maßvolle, z. B. format enim natura prius nos intus ad omnem tor-
tunarum habitum (a. p. 108 ff.) im Sinne Theophrasts oder die
Geißelung der Unnatur eines Demetrius und Tigellius (sat. I 10
Ende mit den Schollen).
Wichtiger noch als der geschichtliche Überblick ist für ein
gründliches Verständnis der Institutio (namentlich I und XI) Krum-
bachers II. Teil 'System der Stimmbildung' (S. 54 — 108),
der den Gegenstand mit reicher Literatur- und Sachkenntnis über-
sichtlich darstellt : Die Stimmbildung der Knaben vor dem Eintritt
in die Elementarschule — der Leseunterricht (Anfangsgründe, der
Leseunterricht auf höheren Stufen, das Lesen des Lehrers und des
Schülers, die Arten des Lesens: xax^a diaozoXrjv, xad- v7t6}iQiGiv,
"Kara TTQOOwdiav, Lautlehre, Metrik) — Musik und Stimmbildung
(die Musik im Jugendunterrieht, die gesangliche Stimmbildung nach
den Musiktheoretikern, Solmisation, das Tonarion, auch der Fistu-
lator des C. Graccus) — der Schauspieler als Stimmbildner (die
Phonasci). — Die gesundheitliche Stimmpflege (Geschichtliches,
Anweisung zur Stimmpflege, die Anaphonesis, vociferatio, auch als
Heilmittel) und damit zum Schlüsse Hinüberleitung hoher Errungen-
schaften der antiken ßhetorik, besonders bei Quintilian, aber auch
bei seinen Vorläufern , Zeitgenossen und Nachfolgern, zu den ver-
wandten Bestrebungen des 20. Jahrhunderts.
Noch besonders hinweisen möchte ich auf die weit- und tief-
greifende Besjjrechung der Arbeit Krumbachers durch Johannes
Stroux, Deutsche Lit. -Zeit. 1922, Sp. 694 — 98. Die Stimmbildung war,
das betont Stroux ergänzend, ein Teil der allgemeinen gesellschaft-
lichen Bildung (vgl. Eurip. Ale. v. 343 ff.), schon bevor sie in den
Aufbau der Rhetorik einbezogen wurde, wo sie ein Autor mit dem
gestus nach einer einheitlichen Konzeption verkoppelte, und blieb
es auch nach der Einbeziehung, bis auch hier die Opposition gegen
ein Übermaß sich mit der Naturanlage begnügen wollte. Die Prin-
zipien der rhetorischen Hypokrisis , zu deren geschichtlicher Be-
trachtung Stroux schon in seinem Werke 'De Theophrasti virtutibus
dicendi', 1912, S. 70 f. einige Linien gezogen hatte — die schau-
spielerische geht ihre eigenen Wege — , mußten von den griechischen
Anfängen über Quintilian herab bis zu den späten Ausläufern ver-
IX. ^Yeitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung. 271
folgt werden. Diese Aufgabe habe Krumbacher bei aller An-
erkennung seiner Beiträge noch nicht gelöst. „Es ist, schließt
Stroux, der Reiz aller ernsthaften Behandlung der Geschichte
der Rhetorik , daß sie unmittelbar iu die Bildungswerte und die
Kulturelemente der Antike hineinführt."
Zn den juristischeu Fragen.
Josephus Sprenger, Quaestiones in rhetorum Roma-
norum declamationes iiiridicae. In den Dissertationes
philologicae Halenses Vol. XX, 2, 1911, VIII S. 169—262.
Sprenger behandelt den Älteren Seneca, Qiiintilian und
Calpurnius Flaccus. Er teilt den Stoff in diese 8 Kapitel: 1. Loci
communes de praemio tribuendo , 2. de patria potestate, 3. de
matrimonii iure, 4. de obligationibus , 5. de belli iure atque usu,
6. de actionibus iiiris civilis et criminum animadversione , 7. de
poenis exigendis, 8. variae leges.
Für die Geschichte der Deklamationen von dem
Phalereer Demetrios bis auf Quintilian und für die 'iuris argu.
tiae' (S. 232), die uns auch iu der Inst. or. naturgemäß immer
wiederbegegueu, ist die umfassende, unter G. Wissowas Ägide ent-
standene Dissertation sehr wertvoll. Ihre nähere Besprechung ge-
hört in einen anderen Bericht.
In dieser juristischen Umgebung, in die uns der Advokat
Quintilian naturgemäß immer wieder hineinstellt, sei genannt
Vocabularium iurisprudentiae ßomanae iussu insti-
tuti Savigniani, Tom. I— V 2, 1894—1917.
Griechen, Beispiele u. a.
Wie sich Quintilian zur griechischen Sprache, Literatur
und Bevölkerung stellt, ergibt das weitgreifende, gründliche Werk
Walter J. Snellmann, De interpretibus Romanorum
deque linguae Latinae cum aliis nationibus commercio.
Pars I Enarratio. Leipzig 1919. XVI 193 S. Pars II
Testimonia veterum. Leipzig 1914 (sie!). 193 S. Gr. 8.
Unter den XIV Gruppen des lateinischen Sprachverkehrs
(I Romani — gentes Italicae S. 1 — 14 bis zu XIV Romani —
Aegyptii S. 183 — 184) kommt Quintilian vornehmlich für die
Griechen (XII S. 119 — 174) in Betracht: so inst. I 1, 12 (mit
Griechisch anfangen); II 1, 1 (spät zum Rhetor) ; VI 1, 14 (ein
griechisches Bonmot) •, X 5 , 2 (über den Wert des Übersetzens) ;
XII 10, 35 (Griechisch und Lateinisch verglichen); XII 11, 23
272 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
(Cato lernt im Alter Griechisch) ; aber auch für die italischen Völker
mit Inst. I 6, 39; für die Veneti VlII 1, 3 (des Livius Patavinitas) ;
für die Galli X 1, 87 Varro Atacinus ; für die Hispani VII 3, 77.
Die den Testimonia entsprechende Enarratio im 1. Bd. gibt eine
verlässige Erklärung , geeignete Parallelen und reiche Literatur-
nachweise; z. B. I S. 107 f. Die Volltitel bietet der Index librorum
adhibitorum I p. VIII — XIV, z. B. Atzert, De Cicerone interprete
Graecorum. Diss. Göttingen 1908.
Über das angebliche spanische gurdi, das man auch gerne
im Index rerum neben "^Gurdonicus homo quidam Gallus' sähe,
vgl. Fr. Scholl, Indog. Forsch., s. o. S. 248.
Karl Alewell, Über das rhetorische IlaQad e ly ^a.
Theorie, Beispielsammlungeu, Verwendung in der römischen
Literatur der Kaiserzeit. Kieler Diss. Leipz. 1913, Hoffmann
behandelt zunächst die rhetorischen Vorschriften, für welche in der
nacharistotelischen Zeit neben dem auct. ad Herenn. und Cicero vor
allem Quintilian (V 11, 1 usw.) von Belang ist. Dieser gehe
(S. 19 ff.) auch gegen Cicero mit Aristoteles in der Fassung des
Begriffes (V 11, 1); A. handelt weiter über Terminologie, über
Definitionen (S. 24), über XQ^jOig und Xioig TTaQadeiyf.icctwv
(Qu int. V 11, 5 und 24). Den Vorschriften folgen die Beispiel-
sammlungen S. 36 ff., ab S. 54 die Zusammenstellung der in der
kaiserzeitlichen Literatur vorkommenden Exempla mit 41 Gruppen,
S. 56 — 86: exempla paupertatis, z. B. Fabricius inst. VII 2, 38;
exempla mutationis fortunae bis zu den exempla integritatis. Für
die Anwendung der exempla kommt Quint. mit XII 2, 29 u. a. in
Betracht. S. 100 (Abschnitt V) zählt A. die von Quintilian ge-
brauchten Exempla — Schulexempla — auf.
Hans Schönberger, Beispiele aus der Geschichte, ein rheto-
risches Kunstmittel in Cicero s Eeden. Augsburg 1910.
Darüber die benachbarten Berichte von Lehnert, J. K. Schön-
berger u. a.
In Ed. Nordens Germanischer Urgeschichte^, Berlin 1922,
werden manche Stellen der Inst, gut beleuchtet — in seinem Index
fehlt Quintilian — , z. B. Inselumfang und Flächeninhalt inst. 110, 39 ;
Furcht bei Mondfinsternis (Perikles, Sulpicius Gallus) I 10, 47 ff. ;
'sine urbibus ac sine legibus gentes' noch zu Quintilians Zeiten
(also um die Zeit der Veröffentlichung der Germania) inst. or.
III 2, 4 mit einem Hieb auf Giceros (oder Poseidonios ?) Begründung
der Anfänge der Beredsamkeit.
Über die Würdigung des Timageues s. o. S. 256 zu X 1,
IX. Weitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung. 273
Für Homer der auch nach Quintilian ein Muster für den Redner
sein soll, wie ihn Dio von Prusa bezeichnet als den TtQCüTog ycat
fxfoog y.al varatog 7cavTi naidl y.al avögi xal yeQovzi, sei genannt:
Hans Dachs, Die "Kva ig ex xov irgoacoTtov. Ein exe-
getischer und kritischer Grundsatz Aristarchs und seine An-
wendung auf Ilias und Odyssee. Diss. Erlangen. Erlangen
1913. 81 S. Gr. 8.
Für die Auffassung der Lehren vom TJd^og xov Xiyovrog ist
sehr ergiebig die auf Anregung des Aristarchforschers Adolf Römer
von Dachs unternommene neue Prüfung des Gedankens, daß
Homer die Reden seiner Personen individualisiert ; daß deshalb
ihre Aussagen oft untereinander oder von der Darstellung des
Dichters selbst abweichen , daß aber solche Differenzen nicht als
Widersprüche der Dichtung aufgefaßt , sondern aus den psycholo-
gischen Motiven der betreffenden Reden erklärt werden müssen.
Die Schollen zu Homer, zu den Tragikern, zu den Rednern usw.
haben natürlich immer die naQayyäXf.iaza Tsxvr/.a vor Augen:
vgl. Dachs S. 79; über den Grammatiker und Kritiker Aristarch
inst. I 4, 22. X 1, 54 und 59.
Für die r^d^t] und näd^rj^ besonders für das t)i^og tot ?Jyovrog,
ist von hervorragender Bedeutung:
Wilhelm Süß, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik.
Leipzig 1910, Teubner.
Auf das Verhältnis Quiutilians zu Aristoteles (R o e m e r : Marx)
ist in früheren Berichten näher eingegangen, hier sei nur hin-
gewiesen auf die er/oVa-Partie, inst. V 10, 15 ff., 'Debet nota esse
recte argumenta tractaturo vis et natura omnium rerum' etc., worüber
Süß, S. 154 ff.
Rhetorische Forschungen, herausgegeben von Otmar
Schissel von Fieschenberg u. Joseph A. G 1 o n a r.
Halle a. S. 1912 ff. M. Niemeyer.
'Die Rhetorischen Forschungen dienen kunstwissenschaftlicher
Beschreibung der Rhetorik. Der Begriff Rhetorik wird in seinem
weitesten Umfang verstanden; rhetorische Theorie und Praxis,
Vortrags- und Leserhetorik, politische und epideiktische Beredsamkeit
finden also gleiche Berücksichtigung', heißt es im Programm der
Sammlung. Für die nar ratio auch bei Quintilian ist der Ab-
schnitt I önjyrjaig und öi7Jyi]ua in dem II. Bd. 'Die griechische
Novelle' S, 1 — 19 von Bedeutung.
Ciceronis orationum Scholiastae. Vol. II ed. Thomas S tan gl.
Wien und Leipzig 1912.
Jahresbericht für Altertumswissenschaft ßd; 192 (1922. ü). 18
2 74 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
In dieser grundgelehrten Ausgabe des Qi^rogitiCotaTOg St an gl
findet auch der Quintilian- und Rhetorikforscher zuvei'lässiges
Material.
Für einen künftigen Erklärer der Institutio wird eines der
wichtigsten allgemeinen Hilfsmittel sein:
Alfred Gudeman, P. Cornelii Taciti dialogus de ora-
toribus. Leipzig — Berlin 1914, Teubner (s. u.).
Die Gesichtspunkte für solche Arbeiten, die Art der Entstehung,
die Frage der Wechselbeziehungen, die Analyse, die Sprache, der
Kommentar S. 183 — 511 in seiner Fülle, Übersichtlichkeit und
Verlässigkeit, die Bibliographie S. 515 — 520 und der Index nominum
et rerum S. 521 — 528. Auf Einzelheiten will ich hier nicht ein-
gehen. Vgl. meine Besprechung in der Deutschen Literaturzeitung
1914, 2563 — 67 und die noch eingehendere von Konstantin John,
B. ph. W. 35, 1915, 1171—1188, der als besonders wertvoll die
Prolegomena hervorbebt, aber auch den Kommentar trotz mancher
Einwände als „einen unerschöpflichen Stapelplatz des gesamtien
Wissenstoffs" bezeichnet , der zur sachlichen Erklärung der Schrift
herangezogen werden kann. Die Institutio auf diese Weise zu
kommentieren, erforderte unerschwinglichen Aufwand an Geld und
Kraft. Und der Leserkreis ?
Daß Demosthenes dem Plato (seinen Schriften und Vorträgen)
viel verdankt, berichtet der Dialog (c. 32) wie die inst. (XII 2,
22)*, nach Cic. Brut. 121 sagt dies Demosthenes selbst in einem
Brief; aus Cicero, der De or. I 89 und or. 15 das gleiche bezeugt
— wohl nach der Monographie des Demetrios von Phaleron über
Leben und Studien des Demosthenes — , wird das Zeugnis im Dia-
logus wie in der inst, herzuleiten sein ; daß andere den Demosthenes
durch die Aristotelische Rhetorik seine wesentliche Ausbildung ge-
winnen lassen , erweist Dionys von Halikarnaß als Irrtum. Die
Ausbildung eines Pompeius, eines Crassus usw. war in dem großen
Sammelwerk des Mucianus (11 Bücher Acta, 3 Bücher Briefe) ge-
schildert (Tac. dial. 37).
Mit dem 'Taciteischen' Charakter des Dialogus befaßt sich die
umsichtige, vielseitige Arbeit von
Roman Hingher, Possessivpronomen und Prosarhythmus bei
Tacitus; ein Beitrag zur Dialogusfrage. Tübingen 1922,
Kommissonsverlag Osiandersche Buchhandlung. VI 61 S.
Gr. 8.
Hingher hält die negativen Ergebnisse Reitzensteins (Be-
merkungen zu den kleinen Schriften des Tacitus, in den Nachr. d.
IX. Weitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung. 275
Gott. Ges. d. W. Philol.-Histor. Kl. 1914) für gesichert, nicht aber
die positiven Folgenxngen. Hinghers Untersuchungen über das
Possessivpronomen und den Prosarhythmus in] dem nach Ciceronia-
nischer Technik angelegten Rednerdialog zeigen solche Unterschiede
gegenüber dem sonstigen Tacitus, daß er 'sie kaum für vereinbar
hält mit der These von der Veränderlichkeit des persönlichen
Stils' (S. 61). Einen endgültigen Entscheid fällt H. nicht. Die
Vorsicht ist angezeigt; aber neben dem Zeitbild des Seneca, Quin-
tilian, Sueton, Martial, Plinius, Juvenal spiegelt der Dialog doch
viel von echt Taciteischen Denk- und Sprachformen wider. Und
für die willkürliche Stiländerung gibt Sueton in dem Rhetor Albucius
Silus ein drastisches Beispiel (rhet. 6).
Paulys Realenzyklopädie des klassischen Altertums.
Neue Bearbeitung von Georg Wissowa und Wilhelm Kroll.
Stuttgart, Metzlersche Buchhandlung. Bd. VII — X (von Fornax
bis Katochos), 1912—1919.
Fortunatianus, der nicht bloß Cicero und Quintilian aus-
geschrieben, sondern mit größerer Selbständigkeit arbeitet (VII 45,
52, 54 usf. von M ü n s c h e r) ; G a b b a (so Bücheier statt Galba,
vgl. Prosop. imper. Rom. II S. 104), der Hofnarr des Augustus
(VII 418), von dem Quintilian (VI 3, 27, nicht von A. Galba) ver-
schiedene Witze mitteilt; Junius Gallio, Rhetor der Kaiserzeit
(X 1035—1039 von Gerth), von Quintilian Hl 1, 21 (IX 2, 91)
zitiert; Gallus (verschiedene) VII 682 f.; Gavius Bassus,
Grammatiker VII 866 — 868 von Funaioli zur inst. I 6, 36; Geta bei
Quintilian I Prooem. 6 fehlt VII 1330; Glycon Spyvidion (VII
1439 von Münscher zur inst. VI 1, 41); Gorgias der Leontiner
VII 1598 fF. von Wellmann zur inst. III 1, 9 u. ö., sowie der
Lehrer von Ciceros Sohn, der Figurenschreiber, VII 1604 — 1619
von Münscher zur inst. IX 2 u. ö. ; Grammatik (grammatici,
darunter Remmius Palaemon) VII 1780 — 1811 von A. Gudeman ,
der auf Aistermann 'De M. Valerio Probe' und auf die Artikel
KqixiAog und OiXoXoyog verweist, besonders zur inst. I 4 — 7;
Hermagoras, gegen den Poseidonios schrieb, Bd. VIII 692 — 696
von Radermacher zur inst. III 1, 16 u. a. ; dann der Schüler
des Theodoros von Gadara zur inst. III 1, 18; ferner viel-
leicht ein Schüler des Stoikers Persaios zur inst. III 5 , 14 ;
Hermogenes aus Tarsos VIII 865 — 877 von Radermacher
zur inst. III (Statuslebre) ; Hermokreou, der Typus eines
reichen Rhodiers, VIII 889 von Münzer zur inst. V 10, 78;
Hesiodos VIII 1167 — 1240 von Rzach zur inst I 1, 15 über die
18*
276 Amraon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Echtheitsfrage der XiQCOvog V7to9^rj^cci (Sp. 1222) u. a. ; Hipp las
Eleus VIII 1706 ff. zur inst. III 1, 10, XII 11, 21 (Tausend-
kÜQStler) ; Hippokrates VIII 1801 ff. , der große Arzt , zur
inst. III 6, 63 (Fehler eingestanden); histriones VIII 2116—2128
von War necke besonders zur inst. XI 3 (vgl. oben Armin
Krumbacher): Homeros VIII 2188 — 2247 von Witte, wäre
für die Würdigung Homers bei Quiutiliau (passim !) noch zu ver-
arbeiten ; ebenso Ed. Stemplingers Horatius VIII 2336
bis 2399 und sein Buch 'Horaz im Wandel der Jahrhunderte*
(Leipzig 1921, Dieterich)-, Hortensius, Ciceros Kivale, VIII
2470 — 2481 (Vonder Mühll) zur inst. VI 3, 98 u. ö.; Hypereides,
der Verteidiger der Phryne {r^dovy), IX (1916) 281—285 von
Thalheim, der die Stellen der inst. X 1, 77, II 15, 9, XII 10, 22
zu vrenig heranzieht; Jambographeu IX 651 — 680 von Gerhard
zur inst. X 1, 9 (scriptores iamborum, auch Mimus und Sentenzen) ;
Isaios IX 2051 f. zur inst. XII 10, 22 (attice dicere) ; Isokrates,
der Redner IX 2146—2227 von Münscher zur inst. II 15, 33
(Khetorik = Philosophie, wozu Sp. 2151 zu vgl.); III 8, 9 in Helenes
laude und in Panegyrico, dazu Sp. 2180 ff. *, zur angezweifelten
riyvr] inst. II 15, 4 Sp. 2224; über sein Fortwirken III 1, 14,
IV 2, 21 Sp. 2221 und zu zahlreichen anderen Stellen Quintilians ;
Julius Africanus, ein römischer Redner, gleichzeitig mit Cn.
Domitius Afer, Bd. X (1919) Sp. 114—116 von Gerth zur inst.
VIII 5, 15 u. ö.; Julius Florus, ein Redner aus Gallien, und
sein mit Quintilian engbefreundeter Neffe Julius Secundus
Bd. X 800 — 803 von Gerth zur inst. X 3, 13 u. a.; iuriscon-
sulti X 1153 ff. und iurispruden t ia X 1159—1200 von
Berger, z. B. Sp. 1183 zur inst. X 1, 116, XII 3, 9 u. a.
Aus dem Supplementband III zu Pauly-Wissowa (1918)
ist u. a. der Artikel Marcus Aper von Gerth für die Auffassung
der Institutio von Bedeutung.
Aus der zweiten Reihe von Pauly -Wissowa oder Pauly-
Kroll- Witte (Ra . . .) 1914 ff. gehören hierher
raeda zur inst. I 5, 57 und 68 von Hug (I 1 S. 41 f.), Rätsel
(aenigma) zu VIII 6, 53 u. a. von W. Schultz (I 1 v. S. 62—125),
Rednerbülme von K. Schneider , r e p u d i u m zu VII 4, 38 von
Klingmüller, — Artikel wie Rhetor, Rhetorik, Rhetorenschulen,
ridiculum (risus) u. a. vermißt man — , Rhythmica von Seydel
(I 1, 770 — 781), Rufus Rutilius, sacerdotes, sacrilegium zu
VII 3, 10 u. a. von Pftiff, I 2 S. 1678—1681), Salii zu I 6, 40
von Rappaport (I 2 S. 1874—1899), Sallustius zu X 1, 101
IX. Weitere Arbeiten zur Kritik und Erklärung, 277
von Funaioli (I 2 S. 1912—1955), satura zu X 1, 93 ff. von
Kroll (II A 1921 S. 192—200); Saturninus, Saturnus, Satyros,
Schollen von A. Gudeman (II 1, 625—705).
Das sind einige Fingerzeige zur Ausnützung des fortsclireitenden
P. -W. für die Quintiliauerklärung; es wird noch lange Jahre
dauern, bis sie durchgeführt ist.
Erinnert sei auch an das große Werk
Dictionnaire des antiquit^s grecques et romaines , von
Daremberg begründet, von Edmund Saglio (f 1911)
und von Pottier und Lafaye zum Abschluß gebracht (Paris
1912).
Besonders für die Teile , die bei Pauly -Wissowa noch aus-
stehen, wie tragoedia, oder die der Plan des deutschen Werkes
ausschließt, wie translatio zur inst. III 6, 69 f. Die Tables
(Stoffübersicht) sind erst 1919 hinzugekommen, z. B. I 9, S. 13 f.
•^Sciences, Lettres , Enseignement' von Arithmetica bis volumen
(recht praktisch).
Zur Schulgeschiclite.
Ein Hauptwerk über Schule und Unterricht , das auch Quin-
tilian und sein pädagogisches Hauptwerk in die rechte Beleuchtung
setzt, ist
Corrado Barbagallo, Lo stato e 1' istruzione pubblica
nell' impero romano. Catania 1911, Franc. Battiato.
8. 431 S. In der von Karl Pascal herausgegebenen Biblioteca
di Filologia Classica Teil 3.
'Das öffentliche Schulwesen Europas ist durchaus eine Schöpfung
Italiens.' Wie Rom mehr noch durch seine Grammatik und
Rhetorik als durch seine Legionen die Welt erobert und behauptet
hat, wird mit Worten Gaston Boissiers (La iin du paganisme) leb-
haft veranschaulicht. Etwa zwei Jahre nach Quintilians Institutio
or. erschien Tacitus' Agricola. 'lam principum filios liberalibus
artibus erudire, et ingenia Britannorum studiis Gallorum anteferre,
ut qui modo linguam Romanam abnuebant, eloquentiam concupi-
scerent', rühmt er von der staatspädagogischeu Tätigkeit seines
Schwiegervaters (c. 21), ohne den Blick gegen die dem Naturvolk
drohenden Gefahren der Überkultur zu verschließen. Wenn in
den (italienischen, französischen, englischen, deutschen) Arbeiten
über antikes Schulwesen Rom meist mit Hellas , insonderheit der
hellenistischen Zeit , zusammengenommen ist , so ist das innerlich
278 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
begründet, mag auch, was Barbagallo bedauert, das Verdienst der
Römer dabei niclit genügend zur Geltung kommen. Auch Agricola
hat sein schulisches Interesse aus der Narbonitis mitgebracht.
In 9 Kapiteln durchschreiten wir bei B. in einem großen Schul-
museum die Entwicklung vom Aufstieg des Augustus bis zum Tod
Justinians (30 v. bis 565 n. Chr.), bis zur Schwelle des Mittelalters :
I. die Zeit der Julisch-klaudischen Kaiser (Museum Claudium ; Einfluß
des Hofes, so Neros auf die Zunahme rhetorischer Studien; Nero
und die Philosophie); II, die Zeit der Flavier (69 — 96 n. Chr.),
für Quintilian das Hauptkapitel (S. 81 — 112); III. die Zeit von
Nerva bis Mark Aurel (Trajans Bibliothek, Athenäum, Erneuerung
des Museums in Alexandrien; kaiserliche Lehrstühle an der Uni-
versität Athen usw.) ; IV. von Commodus bis zur Abdankung
Diocletians (180 — 305): der militärische Charakter der collegia
iuvenum, Honorare der Professoren, der Unterricht in Gallien im
3. und 4. Jahrhundert; V. die Zeit Konstantins des Großen und
seiner Söhne (312 — 361); VI. die Schulreformen Julians des Ab-
trünnigen (361—363); VII. die Valentinianische Dynastie (364—383);
Vm. die Dynastie des Theodosius (383—450); IX. vom Tode
Theodosius' II. bis zum Regierungsende Justinians (450 — 565).
Theoderich d. Gr. und der öffentliche Unterricht, Auflösung der
Universität Athen, Codex Justinianeus. Die Schlußpartie (S. 379
bis 408) faßt den reichen Inhalt, der das Kulturleben der mehr
als halbtausendjährigen Zeit des Imperium gut und neu beleuchtet
(außer Grammatik und Rhetorik auch Philosophie, Musik, Juris-
prudenz, Gehälter, Bibliothekswesen), in großen Zügen zusammen.
Die Literatur, auch die der 'grande nazione tedesca' (S. 6), ist
vielseitigst und gründlich herangezogen.
Ich greife auf Kapitel II zurück. Zweck und Umfang der
Rhetorenbesoldung Vespasians? Sie beschränkte sich auf
Rom, auf hervorragende Vertreter wie Quintilian; grammatici und
litteratores überließ der römische Staat, der für die "^Oberen' sorgte,
ihrem Schicksal (vgl. Juvenal). Es war eine Vergünstigung ad
personam , ein Zug Mäzenatentum des Kaisers , nicht eine Bevor-
zugung der Rhetoriklehrstühle , um ihre Vertreter etwa zu Ver-
teidigern der Regierung zu machen. Die Würdigung Quintilians
(S. 97 ff.), der die innere Ausbildung des Knaben und Jünglings
von den ersten Jahren bis zur Reife erstrebt, trifft mit der uns
durch deutsche Gelehrte nahegelegten zusammen (z. B. Kämmel in
Schmids Encyklopäd., Schwabe bei Pauly-Wissowa ; über C. Hosius
s. unten).
X. Weitere Arbeiten zur Kritik itnd Erklärung. 279
Das römische Schulwesen steht so auf den Schultern der
Griechen, daß auch hier zu erinnern ist an
Erich Ziebarth, Aus dem griechischen Schulwesen.
Eudemos von Milet und Verwandtes. Leipzig 1909. Teubner.
Lehrer [yQa{.iiiiarodidaaxaXoc) — auch Wanderlehrer, Lehr-
fächer , Musik und Turnen. Betrieb : Wachstafeln , Präparations-
heft zu Homer, Schulagone, Schultheater, schulfreie Tage, Ferien.
Eine sorgfältige, anregende Arbeit, die fast auf jeder Seite
aus Quintilians Institutio Licht empfängt , ist ihrerseits geeignet,
seine Genauigkeit zu bestätigen :
Paulus Bendel, Qua ratione G r a eci liberos docuerint,
papyris ostracis, tabulis in Aegypto inventis
illustratur. Diss. Univers. Münster i. W. Münster i. W. 1911.
71 S. Gr. 8.
In drei Kapiteln wird gehandelt 'De grammatistarum scholis',
'De grammaticorum scholis', 'De rhetorum officiis a grammaticis
occupatis'. Wenn Qu int. I 1, 30 sagt 'In syllabis nulluni com-
pendium erat : omnes erant perdiscendae' etc., so bestätigen die
Übungen av €v iv ov vv lov, dann ßav ßev usw. den Brauch. Bei
der Lektüre erinnern Erklärungen wie luyviv = ogytjv^ d^ea = (.lovaa
zur Ilias doch stark au moderne Präparationshefte.
Den Stand und Einfluß der Rhetorik in der Zeit Quintilians
beleuchtet eingehend und verständnisvoll
Edmond Courbaud, Les procedes d'art de Tacite dans
les 'Histoires'. Paris 1918, Hachette. XXII 298 S.
Courbaud, gleich vertraut mit der Rhetorik wie mit Tacitus,
sieht in diesem als Künstler 'un compose du poete et de l'orateur'.
'Melange curieux' (p. IX). 'Alors la rhetorique domine en mai-
tresse' (p. 217). Kapitel IV Les discours p. 199—234 und V Le
style p. 235 — 285 gehören besonders hierher. Hier die Inhalts-
angabe : Kap. IV. Les discours :
I. Les discours a l'epoque imperiale. — Les discours dans les
camps , sur le champ de bataille — Methode des historiens. —
Methode de Tacite.
n. Objets des discours dans les 'Histoires'. — Le discours a
tendance psychologique. — Le discours ;i tendance politique. —
Le discours, simple exercise litteraire.
m. La part de rhetorique dans des discours des 'Histoix'es'. —
Les discours d'ecole (p. 223). — La vraisemblance. — Le
monologue. — Les maximes.
IV. Principes communs a toutes les varietes des discours.
280 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
V. Les discours en style indirect. — Les discours omis. —
Pourquoi les grands discours sont relativement peu uombreux.
Inhalt von Kapitel V. Le style :
I. La Periode dans l'art classique. — Les periodes dans les
•^Histoires'. — Ce qui reste des liabitudes anciennes.
II. La structiare generale de la phrase eliez Tacite. — Les
divers types : la phrase courte — la phrase allongee — la phrase
condensee. — Emploi caracteristique du participe et de l'ablatif,
notamment du participe ä l'ablatif absolu. — L'ordre successif.
III. Les antitheses. — Les 'sententiae'. — Les idees generales
et les grandes pensees.
IV. Principe commun d'oü derivent les differents caracteres
de ce style : le desir d'innover. — luconvenients et avantages du
principe : aiFectation et obscurite, pittoresque et relief.
V. Originalite du style de Tacite.
Vgl. unten Literatur zum Dialogus.
Zur Charakteristik der Beredsamkeit des ersten Jahrhunderts
der Kaiserzeit bietet Wertvolles
Karl Münscher, Kritisches zum Pauegyrikus des
Jüngeren Plinius. Rhein. Mus. LXXIIL 1920.
S. 174—198.
Wie auf Friedl anders Sittengeschichte, 9. Aufl. von
G. Wissowa (L Bd. 1919, IL Bd. 1920, IIL Bd. 1921),
ist auf
Georg Grupp, Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit ^,
München 1911, zu verweisen: Abschnitt VIII: Unterricht,
Schule und Lehrer; ferner auf
Otto Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt.
4. Bd. Berlin 1911. Namentlich im 6. Kapitel über die
Ehetorik, S. 168—204; schließlich auf
Adolf Busse, Die Anfänge der Erziehungswissenschaft. Neue
Jahrb. 13, 1910. S. 465—477.
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians;
Zeitgenossen.
Die Selbständigkeit Quintilians , der Umfang seiner Studien
und Hilfsmittel wird leicht zu gering angeschlagen. Man unter-
schätze nicht die öffentlichen und privaten Bibliotheken in Rom,
die häufigen, anregenden Vorträge und Vorführungen, die täglichen
Redekämpfe auf dem Forum mit ihren Schlagern, das stille, noch
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen. 281
fruchtbarere avf.iq^iXoXoyeiv und oviiupLXooocfelv der besseren Kreise
oder das Vorlesen beim einfachen Mahle durch die Anagnosten,
die ausgiebige literarische Korrespondenz, den internationalen Ver-
kehr und den Kulturreichtum der "Weltstadt. Manche Hilfsmittel,
z. B. Aristoteles , mag der Rhetor zeitweilig benützt , aber nicht
ständig zur Hand gehabt haben. Die zahlreichen Zitate zeigen,
daß er zwar manches aus dem Gedächtnis anführt, im allgemeinen
aber einer guten Überlieferung folgt (Hermann Reeder, De
codicibus in Ciceronis orationibus Caesarianis recte aestimandis.
Diss. Jena 1906. S. 15—32. Emiein s. o. S. 227).
Barwick (Remmius Palaemon, s. o. S. 246) sagt im Hinblick
auf die ars grammatica (S. 267): 'Überhaupt dürfen wir bei einem
Mann wie Quintilian eine weitgehende Vertrautheit mit der
grammatischen Literatur voraussetzen. Da wird er denn zweifellos
auch manches eingesehen haben, oder es wird ihm manches aus der
Erinnerung in die Feder geflossen sein, worüber wir jetzt, bei dem
Charakter der Überlieferung, nicht mehr urteilen können.' Von der
ars rhetorica gilt das gleiche.
Aristoteles.
Über das Fortwirken des Aristoteles auch bei Quintilian
handelt
Ludwig Radermacher, Ein Nachhall des Aristoteles in
römischer Kaiserzeit. Wiener Studien 38, 1916. S. 72 — 80.
Es handelt sich hauptsächlich um den Gedanken (inst. HI 7,
23 ff., n 12, 4) virtutibus ac vitiis vicinitas aus Aristoteles' Rhetorik;
wohl ein Gemeingut der Rhetor enschule , findet er sich auch bei
Horaz, Livius, Celsus u. a. Vgl. W. Süß, Ethos, S. 154 ff.
Poseidouios.
Da der Einfluß des Poseidouios aus Apameia auf das erste
nachchristtiche Jahrb. noch sehr groß war — nicht bloß auf Seneca,
sondern, wie ich glaube, auch auf Quintilian und Tacitus — , so sei
hier eingereiht:
Karl Reinhardt, Poseidouios. München 1921, Beck. 475 S.
Der ganze Abschnitt über die Ethik S. 262 — 342 , enger D
'Die Erziehung' S. 313 — 319, in dem hauptsächlich die Werke
tisqI Tta&iov (Affektlehre) und tieqI aQETUiv zur Geltung kommen,
liefern Bausteine. Nach Galen hat Poseidonios einen ganzen Aus-
zug der Platonischen Erziehungslehre in sein erstes Buch über die
Affekte aufgenommen. Aber bei dieser Angabe ist Vorsicht geboten.
282 Ammon: Quiutil. inst. or. 1910 — 21.
„Worauf Poseidonios ausging, war Ergründung des Irrationalen;
was Galen will, ist, daß Piaton recht behalte" (S. 319). Poseidonios
ersetzt das intellektualistische Weltbild der Stoiker durch ein
dynamisches. Leib und Seele stehen in Wechselwirkung. Bespr,
von Wilh. Nestle, Philol. Woch. 1922, Nr. 20.
In der Übersicht über die Statustheorien erwähnt Quint. (III
6,37) den großen Apameer Poseidonios, sonst nicht. Daß aber
die Institutio direkt oder indirekt von Poseidonios beeinflußt ist,
ahnt jeder, der sich vertraut macht mit
Gunnar Rudberg, Forschungen zu Poseidonios. Upp-
sala , Akademiska Bokhandeln. — Leipzig , Harrassowitz.
336 S. Erschienen in: Skrifter utgifna af K. Humanistica
Vetenskaps-Samfundet i Uppsala. Bd. 20, 3. (1919.)
Die 6 Kapitel sind: I. Zur Persönlichkeit; II. Urzeit und
Entwicklung ; III. Philologisches (Poseidonios' Stellung zu den
Sprachen, Etymologien, S. 99 OvXi^ov = '[J\i:s.i=^ Od vaa 6 cog, vgl.
Inst. 14, 16, über y.aX6v: r^öv S. 141, Namenforschung, über
literarische und philologische Kritik, über Poesie und Prosa; der
wichtige Exkurs über Poseidonios und die Schrift nsgl vipovg
S. 144 ff., über das yelolov S. 155); IV. Zur Bildersprache
(Natur und Menschenwelt, auch die Wage) ; V. Technik und Kunst ;
VI. Bemerkungen über Sprache und Wortschatz. Die Forschungen
Rudbergs machen durchaus den Eindruck großer Gediegenheit und
fördern auch das Verständnis der Institutio.
Für die Quellenforschung zu Quintilian bietet, wie schon oben
angedeutet, gar manches das ungemein stoffreiche Werk
Eduard Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus'
Germania. Siehe meine Bespr. in den Bayer. Gymn.-Bl. 1922,
204—208.
Vgl. oben zu Timagenes und Seneca.
Quintilian und die Historiker S. 149. Norden weist S. 459 hin
auf das Fortwirken des Poseidonios, der auch eine Schrift über
den Stil {vtEgl Xe^Ecog) verfaßt hat (Diog. Laert. VII 60) — nach
Quint. inst. or. III 6, 37 genau und eigenartig über die Status-
einteilung, also nicht bloß über Xe^ig — , auf Pseudo-Longin 7t. vip.
(ovvsv&ovaiq) ; ferner auf H. Mutschmann, Tendenz, Aufbau und
Quellen der Schrift vom Erhabenen (Berlin 1913) sowie im Hermes
LH (1917) 161.
Stoiker.
Hermann Eaubeu heimer, Quintilianus quae debere
videatur Stoicis popularibusque, qui dicuntur,
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen, 28 3
pbilosophis. Würzburger Dissertation. Würzburg 1911,
C. J. Becker, Akademiscbe Druckerei. 84 S. Gr. 8.
Quintilian ist, worauf Raubenbeimer (geb. 1885 zu Ludwigs-
bafen a. Rh.) im Eingang in seiner unter Rem. Stölzles Auspizien
entstandenen Arbeit Nacbdruck legt , kein ausgesprocbener Gegner
der Pbilosopbie, besonders nicbt der Pbilosopbie, die in jener Zeit
im stoischen Gewand als eklektische Popularphilosophie herumging.
In ihrer üblichen Dreiteilung behandelt er die Naturphilosophie
(Götter, Geschöpfe, Vorsehung), die Logik (Erkenntnislehre, Dialek-
tik) und die Moralphilosophie, das für den Redner und Staatsmann
wichtigste Gebiet (Güterlehre , Tugenden und Laster), mehr oder
minder tiefgreifend, wobei sich natürlich zahlreiche Berührungen mit
Ciceros rhetorischen und philosophischen Schriften ergeben. In
einem zweiten Teil (S. 49 ff.) untersucht R. Quintilians Gedankeu
über Jugenderziehung und Redekunst. Jene zeigen im Zusammen-
halt mit der pseudoplutarchischen Schrift Ttegl rtaidiov aycoyijg
manches Chrysippische — freilich in einer nicht immer greifbaren
Deutlichkeit und scharfen Gegenüberstellung. Li der Definition der
Rhetorik kehrt Quintilian das et' Xiyeiv hervor (über dieses alte
Bildungsideal H. Gomperz); der Redner muß, wie Quintilian mit
Diogenes von Seleucia (Babylonius) betont, ein vir bonus sein (vgl.
unten Hubbell), und nicht ein Schandmaul, um mit Noske zu reden.
Quintilian hat nach Raubenbeimer viel Stoisches, zum Teil aus den
Quellen selbst geschöpft. Raubenbeimer meint, eine künftige Samm-
lung der Fragmente der Stoiker müsse aus Quintilian viel
mehr ausheben, als Hans von Arnim getan hat. Indizes und In-
haltsverzeichnis schließen die umsichtige Untersuchung, die ausgiebig
H. von Arnim und Radermacher zitiert. Nach dem Proömium zum
ersten Buch und nach anderen Stellen habe ich von Quintilian den
Eindruck, daß er den Redner auf Kosten des Philosophen zu heben
sucht; dieser, wie der Jurist zu den iufirmiora ingenia gerechnet
(wie von Aper in Tacitus Rednerdialog), habe seine 'Beute', das
Wesentliche von Ethik, Physik und Logik, an seinen alten Besitzer,
den großzügigen Redner, den vir bonus, herauszugeben.
Philodemos.
Über die Streitigkeiten zwischen Philosophen und Rhetoren
bietet reiches Material Philodemos in den 7 Büchern seiner Rhetorik.
Harry M. Hubbell (Ph. D. assistant professor of Greek and
Latin in Yale University), TheRhetorica ofPhilodemus.
Translation and commentary. In den Transactiona of the
284 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Connecticut Academy of arts and sciences. Vol. 23 (Sept..
1920) p. 2*43—382. New Haven, Connecticut, Yale Uni-
versity Press.
Philodem von Gadara, dessen Privatbibliotliek uns eine Vor-
stellung von den literarischen Hilfsmitteln (auch für Quintilian)
geben mag , gern gesehen im Augusteischen Kreis , hat nach dem
Vorläufer vTiOfivrjf.iazLy.6v seine Rhetorik au Gaius (um 75 v.^ Chr.)
veröffentlicht, auf die bereits oben bei der Disposition der iust. or.
hingewiesen ist. Auf die Entwicklung der Begriffe qt^tloq und
G0(piOTijg mit ihren Ableitungen legt Hubbell mit Recht Gewicht.
Die Seite 262 — 264 verzeichnete Literatur zur Rhetorik des Philo-
dem tut auch für Quintilian gute Dienste. Die Übersetzung, im
ganzen trotz aller Schwierigkeiten klar und geschmackvoll, folgt im
wesentlichen der Anordnung von Siegfr. Sudhaus. Durch Vor-
bemerkungen vor den einzelnen Büchern und durch verbindenden
Text zwischen Bruchstücken wird der Gedankengang leichter er*
sichtlich ; einigemal ist auf Quintilian verwiesen. Die iudicia über
Perikles , Demosthenes (auch Kallistratos , was Drerup auf S. 337
aus Kallisthenes verbessert hat) berühren sich eng mit denen Quin-
tilians. Die fortlaufende Parallelisierung Philodems und Quintilians
(Natur und Kunst, yrf/^ffv, Sachkenntnis usf.) wäre eine Arbeit
für sich, die namentlich die Fragmenta incerta (S. 341 — 359), z.
B. die Erzählung von Sardanapall (Cic. Tusc, Dio Chrys.), den
vir bonus dicendi peritus des Diogenes von Babylon (S. 351),
dann die Fragmenta Hypomnematici (S. 359 ff.) gehörig auszunützen
hätte. Den Gedanken (Quint. II 17, 11), daß es ohne und vor
der Rhetorik redegewandte Männer (wie Demades) gegeben habe,
führt Hubbell durch Vergleichuug mit Philodem, Sextus Empiricus
und Cicero (De or.) zurück auf einen Dialog desCharmadas,
in welchem die drei Teilnehmer an der Philosophengesandtschaft
von 155 ('?), Kritolaus, Diogenes und Karneades, Hauptunterredner
gewesen sein mögen. In der Frage , ob die Rhetorik eine ars sei
oder nicht — ifjsvdrj, auazäv, nicht zum Ziel gelangen — , auf die
ich früher bei der Besprechung von Sudhaus' Ausgabe hingewiesen
habe, biete Philodem einiges mehr als Quintilian und unsere sonstige
Überlieferung; Quintilian habe (inst. II 17) Dinge verschmolzen,
die bei Philodem getrennt waren. Die Wendung des Eingangs der
Aristotelischen Rhetorik, die qr^xoQLyJj sei avzioxQOcpog z^ ÖLaXE'/.ziy.j^,
in diese Richtung: 'Wenn die Dialektik eine Kunst ist, dann ist auch
die Rhetorik eine Kunst' möchte Hubbell als Quintilians eigenen
Gedanken ansehen.
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen. 28 5
Diouys von Halikarnaß. ♦
Für die Beziehungen zwischen Dionys und Quintilian bietet
manches Wertvolle
Umberto Galli, L'opera retorica di Dionigi d'Ali-
carnasso. In den Studi Italiani di Filologia classica 19
(1912) S. 237—273.
So im Abschnitt I Lo scritto Della collocazione delle parole
S. 236 — 257 über das musikalische Element bei Dionys, Cicero,
Quintilian, Abschnitt II Carattere ed importanza dell' opera di Dio-
nigi. In die Tiefe , wie einschlägige deutsche und englische Ar-
beiten , von denen er nur wenige zu kennen scheint , geht Galli
nicht. Über Dionys und Quintilian vgl. o. S. 266 f. Krolls Quin-
tilianstudien Ehein. Mus. 73 (1921).
Johannes David Meerwaldt, Studia ad gener um dicendi
historiam pertinentia. Pars I De Dionysiana vir-
tutum et gener um dicendi doctr in a. Dissert. Amster-
dam (1920). Amstelodami 1920, A. H. Kruyt. VI, 100 S.
Gr. 8. Beigegeben noch die Thesen (8 S.).
Meerwaldt gliedert seine Untersuchung über die aggrat-Lehre
des Halikarnaseer Dionysios (tt. ovvS^eo. ovo/j. und die kritischen
Schriften) so : I de virtutum ratione mit den virtutes necessariae und
adiectae , II de virtutum cum geueribus dicendi necessitudine mit
den 3 genera (tenue sublime medium), III de Demosthene oratore
perfecto nach den dem Redner eigenen und weniger eigenen Vor-
zügen. Von den 3 Excursus befaßt sich I mit 4 Stellen des Haupt-
werkes des Dionys : de vi compositionis, II mit pulchritudo und suavitas.
Quintilian spielt bei fast allen Fragen mit herein. Ergebnis ? Teil II
abwarten! Vgl. meine Bespr. Phlilol. Woch. 1922, 637 flF.
Caeciliiis von Kaiakte.
Da Quintilian sich wiederholt auf Caecilius von Kaiakte be-
zieht, so ist für seine iudicia von Bedeutung
La Eue van Hook, The criticism of Photius on the Attic
Orators. In den Transact. and Proceedings of the Amer,
Philol. Assoc. 38 (1907) S. 41—47.
Photios benützt nach eigener Angabe häufig das für uns ver-
lorene Werk des Kalaktiners. Aus Photios läßt sich also die ästhe-
tische Kritik in der Zeit von Cäcilius-Dionys bis auf Quintilian
weiter aufhellen. Nach Wilh. Schäfer (s. u.) hätte freilich Quintilian
den Kalaktiner nicht gelesen.
286 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
Cicero.
Fritz Selilmey er , 'Beziehungen zwischen Quintilians
Institutiones oratoriae und Ciceros rhetorischen
Schriften'. Diss. d. Univers. Münster i. W. 1912. 97 S. 8.
In der von W. Kroll geförderten Arbeit will Sehlmeyer (geb.
1888) versuchen, 'an welchen Stellen zwischen Cicero und Quintilian
Beziehungen bestehen', was am besten durch Nebenordnung der
entsprechenden Stellen von Buch 1 — XII erreicht wird. Sehlmeyer
bringt die Praxis Quintilians, die Tagesliteratur, die Mannigfaltig-
keit der Quellenbenutzung für die inst, or., in der z. B. I prooem.
26, 27 Cicero und Celsus ineinandergearbeitet seien, mehr als andere
in Anschlag. Wenn es feststeht (nach Wo ehr er), daß Julius
Severianus (p. 355, 17) die äußeren adiumenta des Redners vox,
latus, decor, valetudo, frugalitas, laboris patientia aus Celsus, dem
als Mediziner diese zu betonen nahelag, abgeschrieben hat, so weist
allerdings Quintilians Fassung (§ 27): vox, latus patiens laboris,
valetudo, constantia nach der gleichen Richtung. Nur beachte man,
daß das Verhältnis von q)vGig Ttyvv f/eAeVi;, von aiexvov und avT£)rpov
so abgedroschen war (vgl. B. Appel), daß sich Anklänge von selbst
ergaben 5 man beachte auch , was Severianus aus latus patiens la-
boris gemacht hat. Den Nachweis, daß Quintilian Ciceros Buch I
De oratore „eingesehen hat" (S. 9), verlangt wohl kein Quintilian-
kenner. Fabius ist mit allen rhetorischen Schriften Ciceros und
Reden wohlvertraut, wie schon der nach Schriften geordnete Index
bei Halm (II S. 373 ff.) zeigt. Aber es ist die umsichtige Zu-
sammenstellung der erheblich über 200 Stellen (Übersicht S. 91 — 96),
wo sich Quintilian mit Ciceros rhetorischen Schriften berührt, nicht
wertlos; sie wird durch die den Parallelen beigefügten Erörterungen
sogar für beide Rhetoren auf weite Strecken ein willkommener
Kommentar. Aber auf einige Fragen hätte man noch gerne eine
Antwort : Wie hat Quintilian die einzelnen der 7 rhetorischen
Schriften Ciceros eingeschätzt und verwertet? Über die rhetorici
(= de inv.) z. B. äußert er sich unter Berufung auf Cicero selbst
(De or. I, 5) wiederholt ziemlich abfällig. In welcher Weise hat
er das durch Cicero vermittelte griechische Erbe (Aristoteles, Theo-
phrast, Dikäarch usw.) und wie das von Cicero hinzugebrachte Na-
tionale verarbeitet? In welcher Form (Hss.) lagen dem Fabius
Ciceros Schriften vor?
Concetto Marchesi, De Quintiliano Ciceronis lauda-
tore. In den Classici e Neolatini VII (1911) Nr. 3/4, S.
262—272.
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen, 287
Seinem Zeitgeist, der neue Muster und einen neuen Stil ver-
langte und vielleicht auch brauchte, stellt Quintiliau die Alten, die
Klassiker, namentlich Cicero gegenüber, dessen Reden und rhetorische
Schriften richtig verwendet bzw. nachgeahmt zur Gesundung der
zeitgenössischen Beredsamkeit fuhren können. Marchesi zeigt, wie
Quintilian Cicero lobt, wie er ihn als Redner, Staatsmann und Men-
schen im Vergleich mit Demosthenes würdigt. Gegen Ciceros Eitel-
keit hätte sein Bewunderer Quintilian schärfere Worte finden sollen,
nicht bloß das minime contemptor sui (XII 1, 26); der Größe des
Redners entspreche nicht die staatsmännische und menschliche Größe. —
Ferrero spricht anders !
Celsus.
Was der berühmte Mediziner A. Cornelius Celsus in der
Rhetorik geleistet hat, müssen wir den Zitaten des mehr oder
minder an ihm nörgelnden Quiutiliau entnehmen. Auf die Disser-
tation von Justinus W o e h r e r , De A. Cornelii Celsi rhetorica
(Dissert. Vindsb. VII 1903), die aus F. Marx' Seminar erwachsen
ist (vgl. Berl. philol. Wochenschr. X, 1890, 1008), bin ich im
letzten Quintilianbericht S. 229 ff. eingegangen. Jetzt haben wir
eine zusammenfassende abschließende Darstellune: in
Fridericus Marx, A. Cornelii Celsi quae supersunt.
Leipzig 1915. Teubuer. CXIV 484 S. In dem Corpus medi-
corum Latinorum Vol. I.
Auf zwei Seiten (p. XIX sq.) zeichnet Marx den auch in der
Rhetorik grundgelehrten, von den Zeitgenossen anscheinend wenig
geschätzten (inst. XII 11, 24) Celsus und gibt u. a. zu Quintilian
ni 6 über die Statuslehre des Flavus Virginius (im J. 49 Lehrer
des A. Persius) und des Celsus tiefgreifende Aufschlüsse. Die 21
Fragmente aus den 5 Büchern der Rhetorik des Celsus — alle
aus Quintiliau — sind S. 411 — 421 mustergültig zusammengestellt
und durch treffende Parallelen, auch aus Julius Severianus nach
Wilh. Schäfer erhellt, z. B. gleich I: Ziel der Redekunst oc zö
Tcuoai^ ctXXa xo jceiaxiAcog einelv (im Sinne des Aristoteles), was
Celsus mit dicere persuasibiliter wiedergab. Das Stemma für die
Statuslehre des Celsus steht S. 413; im wesentlichen liatte ich es
nach Woehrer schon im letzten Bericht S. 281 gegeben. Über den
Satz quaedam virtutibus ac vitiis vicinitas fr. VII vgl. zu Ps. Plut.
TT. n. ay. Im Text IV 1, 12 frg. VIII ist mir die von Halm und
Radermacher abweichende aber sehr ansprechende Lesung aufge-
fallen: Negat haec prooemi[a] esse Cornelius Celsus. Ob Woehrer
IX 4, 97, wo Quintilian tribrachys statt des zu erwartenden tro-
288 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
cliaeus gebraucht, mit Eeclit auf Celsus zurückführt, bezweifelt
W. Kroll, Eh. Mus. 73, 251.
Was wir an Fragmeuten aus der Rhetorik des Cornelius Celsus
haben, stammt aus Quintilian. Daß aber das Werk nach Quintilian
nicht spurlos verschwunden ist, hat schon Just. Woehrer auf An-
regung von Fr. Marx nachzuweisen mit Erfolg versucht, namentlich
unter Heranziehung von Julius Severianus.
Guilelmus Schaefer, Quaestiones rh etor icae. Diss. Bonn.
Berlin 1913. 93 S. Gr. 8.
Wilh. Schaefer (geb. 1887, frühzeitig f), ein Schüler von Fr.
Marx, hat Aveiter geforscht. Den Titel der Ausgabe des Sixtus a
Popma 1569 'Aurelii Cornelii Celsi de arte dicendi libellus'' hält
Schaefer mit Reitzenstein gegen Woehrer nicht für eine handschrift-
liche Überlieferung, sondern für eine Erfindung des S. a Popma
selbst, gewonnen aus der Vergleichung des Severian und Quintilian.
Severian, ein auch von Sidonius Apollinaris erwähnter gallischer
Rhetor aus der Zeit des Maiorianus, habe die Rhetorik des Celsus
ausgiebigst benützt. Quint. IV 2, 4 sq. mit Severian p. 358, 18 ss.
verglichen, gibt Schaefer diesen Schluß ein (S. 29 u. 37): 'Qua
comparatione uixi pro certo dicere possumus Quintilian um et
Severianum illam de narratione praetermittenda doctrinam hau-
sisse ex Celsi opere.' Gelesen hat natürlich Quintilian die 5
Bücher des Celsus ; aber gerade die seit Jahrhunderten immer
wieder behandelte Erzähltechnik mahnt zur Vorsicht, wenn die un-
selbständige Ausnützung des Celsus durch Quintilian in Frage kommt;
vgl. Burs. Bd. 148 , S. 230 f. Auf Grund auch der sprachlichen
Untersuchung schließt Schaefer mit Woehrer : "^Ac Julii Severiani
de arte dicendi libellus Cornelii Celsi rhetoricae operis deperditi
epitoma est' (S. 59). Ausgewählte Untersuchungen über die Figuren
(S. 60 ff.) stellen weitgehende Übereinstimmungen zwischen Quintilian
und Isidor fest. Über Celsus (S. 68) und seine Vorlage wird das Gemein-
gut auf den Stoiker und Progymnasmataschreiber Theon (III 6, 48
und IX 3, 76) zurückgeführt ; den Cäcilius habe Quintilian nicht ge-
lesen (S. 68 u. 81). Das Schlußkapitel behandelt Fragen der Statuslehre.
Epiktet.
Für das Verständnis der Inst. or. ist förderlich die Aufhellung der
Pädagogik seines Zeitgenossen (50 — 130?), des Stoikers Epiktet. Über
diesen haben wir die feinsinnige , umfassende und gründliche Arbeit :
Wilhelm Scher er, Epiktets pädagogische Bedeutung.
Programm Regensburg, Altes Gymnasium 1915/16. 56 S. Gr. 8.
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen. 289
Inhalt: Einleitung mit dem Motto ovdtv svaycoyoTBQOV ävd-Qio-
rcu'T^g \pvx% (Epiktet Diss. IV 9, 16), das aucli den pädagogischen
Optimismus Quintilians kennzeichnen könnte, dann I. Begriff,
Notwendigkeit und Ziel der Pädagogik S. 6 — 24, II. Empfänger und
Vermittler der Erziehung S. 24 — 35, III. Erziehungs- und Bildungs-
mittel S. 35 — 56. Überall werden die Stellen und Hilfsmittel ge-
nau angegeben ; eine Vergleichuug mit Quintilian erfolgt nicht.
Quintilian : Tacitus.
Die zeitlichen und inhaltlichen Wechselbeziehungen zwischen
Quintilians Institutio und Tacitus' Eeduerdialog gehören zu den
umstrittensten Fragen der lateinischen Philologie. Über die zwischen
1914 — 1918 geäußerten Auffassungen von A. Gudeman, R.
Reitzenstein (Gott. Gel. Nachr. 1914, 173—225. 226—276),
B. Diene 1 (Wiener Stud. 37, 239—271), auch R. Klaib er (Progr.
Gymn. Bamberg 1914 I, 1916 II), urteilt Wilhelm Kroll in seinem
Bericht über lateinische Philologie (1919) S. 72 f. Er selbst neigt
dazu, den (echten) Dialogus „neben den Agricola zu rücken". Zeit-
lich liegt vor Gudemans Ausgabe und Dieneis Besprechung ein Auf-
satz von Wormser.
Georges Wormser, Le dialogue des orateurs et l'in-
stitution oratoire. In der Rev. de philol. XXXVI (1912)
S. 179—189.
Der mit der einschlägigen Literatur, namentlich auch der deut-
schen (Helm, Grünwald, Reuter, Hirzel, Gudeman, Leo, Norden)
wohlvertraute Verf. glaubt auf Grund der oft engen sachlichen und
sprachlichen Berührungen (besonders S. 182 f.) sich zu diesem Schluß
berechtigt (S. 184): Tacitus hat Quintilians Werk vor
Augen gehabtj er hat die 'formules de l'iustitution' oft nur
weiter entwickelt, in andere Bilder gekleidet oder auch gekürzt.
Ich möchte den Schluß nicht für zwingend halten, weil die zwanzig-
jährige Lehrtätigkeit Quintilians viele seiner Urteile und Dar-
stellungen bei dem jüngeren Geschlecht in Umlauf gesetzt hatte,
auch wörtlich nach dem Stenogramm der Hörer (prooem. I 7). Dana
sind zahlreiche Bilder (maturitas , avazrjQoirjg) für den Geschmack
aus der Eruchtreife längst Gemeingut der Schulen und Bücher.
Welche Philosophenschule dem Redner die nachhaltigste Nahrung
biete, war von Cicero (de or., Brut., or.), ähnlich wie von Quintilian
nud Tacitus erörtert worden. Aus der Verschiedenheit, der politischen
Stimmung schließt Wormser, den Dialog habe Tacitus im Jahre 95
zu schreiben begonnen und Ende 96, unmittelbar vor dem Agricola,
Jahresbericht fUr Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922. II). 19
290 Ammon: Quintil. insf. or. 1910—21.
veröffentlicht; die Institutio oratoria sei schon 94 erschienen. Ta-
citus habe sie gleich gelesen und zum Ausgangspunkt für seinen
Dialog genommen ; in der Dialogform konnte er seine Person vor
dem argwöhnischen Domitian sichern. Wirksam ist bei W. S. 186
die Gegenüberstellung der beiden Schriften, die rhetorisch- technische
und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise , die Tacitus
schärfere Töne anschlagen läßt als seinen Lehrer Quintilian (gegen
Ed. Wölfflin). Messalla, der angesehenste Mitunterredner, verficht
den Quiutilianischen Standpunkt : zurück zu Cicero ! nicht hyper-
modern (Seneca) ! Der Redner muß ein Charakter sein ; die Rhe-
torik benötigt die auf Psychologie und Ethik begründete Allgemein-
bildung, ay7.vY.Xog TtaiÖEia. nicht Blend- und Flitterwerk!
'La faconde des modernes , schließt Wormser seinen gehalt-
vollen, anregenden Aufsatz S. 189, marque une decheance, la re-
action classiqiie restera sans cffei^ ainsi peut se resumer la demon-
stration de Tacite. On y apertjoit deja son iJessimisme et sa sagacit6.*
Alfred Gudeman, P. Cornelii Taciti dialogus de ora-
toribus. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig-
Berlin 1914, Teubner. VIII, 528 S. Gr. 8.
• Gegenüber der englischen 1894 erschienenen Ausgabe ist diese
zweite Auflage ein neues Buch, das die einschlägigen Fragen alle
auf einmal und mit seltener Sachkenntnis sowie mit besonnenem
Urteil weithin fördert, wenn nicht zum Abschluß bringt. Auf seine
Bedeutung für einen künftigen Erklärer der Institutio Qiiintilians
ist schon oben hingewiesen ; auch auf die Bedeutung der sprach-
lichen Feststellungen des mit dem gesamten Material des Thesaurus
linguae latinae arbeitenden Herausgebers. Die nachdomitia-
nische Abfassungszeit des fingierten, aber im Jahre 74/75 gehalten
gedachten Dialogs lehnt G. mit nicht zu unterschätzenden Gründen
ab. Er sieht in ihm ein Jugendwerk des Tacitus (etwa vom Jahre
81) ; auch die Annahme , daß der Dialog unter Domitian verfaßt»
aber erst nach dessen Tod veröffentlicht sei, weist G. S. 30 zurück.
Quintilian habe wohl durch seine Vorträge auf den jugendlichen
Tacitus gewirkt (S. 96), wie sich umgekehrt einige Spitzen der
Inst. or. gegen den Dialog zu richten schienen. Die Frage nach
den literarischen Quellen (S. 85 — 98) berührt sich natürlich oft
mit der gleichen Frage in der Institutio. Die Beziehungen des
Dialogs zu Cicero hat Rudolf Klaiber in den beiden Programm-
abhandlungen Bamberg 1914 L Teil und 1916 11. Teil sorgfältig
zusammengestellt; auch der Dialog Hortensius (Gudeman S. 87),
die Theodoreische Richtung der Rhetorik, die ich die kasuistische,
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen. 291
den jeweiligen praktischen Bedürfnissen angepaßte nennen möchte,
haben nach Gudeman auf den jugendlichen Tacitus (durch Quin-
tilian?) Einfluß geübt. Die Ähnlichkeiten mit Quintilian und Ps.-
Plutarch, die S. 93 ff. in Übersicht geboten werden, möchte G. auf
Chrysipp zurückführen. Hier gilt noch ein Distingue ! Vgl. o. S. 242 f.
Auf die Bedeutung der Ausgabe als Arsenal für rhetorische Studien
ist schon oben hingewiesen.
K. Dienel, Quintilian und der Rednerdialog des
Tacitus. Wiener Studien 37 (1915) S. 239—271; vgl. die
Zeitschrift für österr. Gymnas. 66, 1915 S. 735—758 und
883 — 892 (Bespr. von Gudemans Ausg. durch Dienel).
„Mögen wir, sagt Dienel, der 1908 den Dialog herausgegeben
hat, im Eingang seiner kenntnisreichen, umsichtigen Abhandlung,
den Dialog wann immer ansetzen, als eine Schrift zur Propaganda
des von Quintilian geforderten modernen Ciceronianismus kann er
keinesfalls angesehen werden; mit dem Stil des Dialogs könnte
man diese Annahme nur dann begründen , wenn der Inhalt dazu
stimmte." Die Leitgedanken des Eednerdialogs werden (S. 245 ff.)
denen Quintilians scharf gegenübergehalten. Quintilian verdammt
den modernen Stil , aber nicht den Rednerberuf an sich. „Der
Dialog ist ein kulturhistorisches Glaubensbekenntnis im Sinne des
sittlich-konservativen Römertums." Ob dies den Gedanken Quin-
tilians, 'Fortentwicklung sei das Grundgesetz der Redekunst wie
aller anderen' ausschließt, erscheint denn doch fraglich. Für Kap. 40
lehnt nach Dienel Tacitus sowohl Ciceros politische als Quintilians
moralische Beurteilung der Redekunst rundweg ab. So hat Dienel
die XJberzeugang (S. 271), 'der Dialog des Tacitus sei nach der
Institutio Quintilians und zum Zwecke deren Wider-
le*gung — im großen und in Einzelnheiten — zu einer Zeit ge-
schrieben, wo Tacitus sich der Geschichtschreibung zuwandte'. Die
Arbeit von Dienel ist jedenfalls sehr förderlich; die Auseinander-
setzung aber noch nicht abzuschließen. So äußert sich auch W. Kroll
Lat. Philol. in Hönns wiss. Forschungsber. (1914 — 18) S. 73 : 'Tacitus
habe sich damals der Geschichtschreibung zugewandt und sich über
die von Quintilian aufgeworfenen Fragen grundsätzlich äußern wollen;
um sein Geschichtswerk nicht damit zu belasten, habe er das in
einer Monographie getan. Das ist in dieser Form kaum zu billigen;
so dankenswert auch das reichhaltige Material ist, mit dem Dienel
sachliche Berührungen zwischen den beiden Autoren belegt, so muß
bei der Aufspürung polemischer Beziehungen doch die größte Vor-
sicht angewendet werden.' Quintilian — Lehrbuch, Tacitus — lite-
19*
292 Ammon: Quiatil. inst. or. 1910—21.
rarische Streitfrage. Nach R. K 1 a i b e r , Die Beziehungen des
Kednerdialogs zu Ciceros rhetorischen Schriften, 1. und 2. Teil
(Bamberg 1914. 1916) 'stellt sich Tacitus nirgends schroff auf die
eine Seite'. Siehe Kroll a. a. 0. S. 73.
'Den Prosastil sucht in der Zeit Vespasians Quintilian
wieder in die geglätteten, kunstmäßigen Bahnen Ciceros zu lenken.
Tacitus mußte in seiner Jugend die Einwirkung aller dieser wider-
strebenden Hichtungen über sich ergehen lassen. Geklärt und ge-
läutert ist daraus seine Meisterschaft erwachsen. Die imponierende
Kraft hat sein Stil erst dadurch erhalten, daß seine ganze Persön-
lichkeit darin mitschwingt', so ansprechend Arthur Stein 'Tacitus
als Geschichtsquelle' in den Neuen Jahrb. 1915 I S. 373.
Anders urteilt, aber weit weniger treffend
R. Delius, Zur Psychologie der römischen Kaiser-
ze it. München 1911.
Nach Delius durchdenkt Tacitus nie das Ganze; er ist ein
'Mosaik geistreicher Fragmente' usw. Delius hält mehr auf Sueton.
Tacitus' Rednerdialog und Quintilians Institutio gehen m. E. ihre
eigenen Wege. Der Dialog, um die Mitte der siebziger Jahre ge-
halten gedacht, nicht zu lange darauf (schwerlich 20 Jahre) nieder-
geschrieben, muß nicht die Institutio als Anstoß haben, eher könnte
sie durch Quintilians Werk de causis corruptae eloquentiae oder
durch seine Vorträge veranlaßt sein. Tacitus schreibt geschichts-
philosophisch , stellt Lebensanschauung gegen Lebensanschauung,
legt wie sonst , z. B. bei der indirekten Charakterisierung des
Augustus , die richtigen Gewichte in die Wagschalen wie ein
Shakespeare und läßt uns den Befund ablesen. 'Exzellenz' Quin-
tilian, der erfahrene Praktiker und persona gratissima bei Domitian,
dem Feind der Philosophen , schreibt für die Schule und aus der
Schule fürs Leben. In wesentlichen Punkten, wie bezüglich des
unvermeidlichen Wandels der Zeiten — mutari cum temporibus
formas quoque et genera dicendi, Dial. c. 18 — , über Natur, über
l^ieaotrjg stimmen beide überein; sie schreiben auch in Gedanken
und Worten ihrer Zeit, lehnen nur Maniertheit und Unnatur ab.
Chr.ysipp — Plutarch.
Eine flir die Auffassung der ganzen inst. or. wichtige Unter-
suchung hat geliefert:
Fridericus Glaeser, De Pseudo-Plutarchi jcsqI Tiaidcjv
ayioy^g. In den Dissertationes Vindobonenses Philologae.
X. Quellen und Hilfsmittel Quintilians; Zeitgenossen. 293
Vol. XII Pars 1. Wien und Leipzig 1918, F. Deuticke. 107 S.
Gr. 8.
Die Schrift Über Kindererziehung, die, wie mir Dr. Bock mit-
teilte, aucli wegen der Ehythmen dem Plutarch nicht beigelegt
werden kann, stammt aber aus der Zeit des Plutarch, wie Glaeser
mit Grasberger anzunehmen geneigt ist, etwa aus der Zeit Hadrians.
Sie ist das Werk eines ungeschickten Kompilators, über den Gl.
nichts Genaueres angeben kann. Sie ist das Pi-odukt der Ver-
mischung von Lehren der mittleren Stoa (Panaitios, Poseidonios)
und des Peripatos (Theophrast) ; Chrysipp ist nicht unmittelbar be-
nützt (gegen Dyroff). Die Grundlage war philosophisch , moral-
philosophisch gehalten ; den rhetorischen Einschlag hat sie erst bei
der Kompilation in der Zeit des Synkretismus bekommen; auch der
Gemeinplatz gegen die schlechten Lehrer u. ä. stamme aus der
Kaiserzeit (vgl. S. 37, 88, 95). Die Polemik gegen Chrysippos
— bei Quintilian hinsichtlich der körperlichen Züchtigung — wird
(S. 87) geschickt über Galen auf Poseidonios zurückgeführt. Was
Quintilian anlangt, so möchte Gl. trotz der ausdrücklichen Zitate
nicht annehmen, daß er die pädagogische Schrift des Chrysipp
selbst gelesen habe ; diese habe dem Fabius in einer kompilatorischen
Verarbeitung vorgelegen (S. 88), nimmt aber in der Anmerkung
die These halb und halb wieder zurück. Mit Recht darf Gl. von
sich behaupten (S. 88): certe quae ilii philosopho (Chrys.) non
debeat, adumbravimus. Wie Quintilian arbeitet und zitiert, glaube
ich aber an die unmittelbare Benützung des Chrysipp; ebenso
A. Sizoo, siehe oben S. 243 f. zu Buch I. Auf ihn war er durch seinen
Leitstern Cicero so gut hingewiesen wie auf Panaitios (auf diesen
auch wegen der Vererbungstheorie in den Tuskulauischen Ge-
sprächen) und auf Poseidonios ; auch an Horaz' Erwähnung des
Chrysippos ist zu erinnern. Vgl. Friedr. B ock in seinem Plutarch-
bericht Burs. Bd. 187 (1921, T) S. 244 f.
Um die Bedeutung von Glaesers Arbeit für Quintilian im Umriß
zu zeichnen, stehe hier der Conspectus : I De compositione et genere
libelli, II. Herum comparatio [1 — 13 de fine educationis — de uxore
et concubitu — de natura, institutione, exercitatione — de nutricum,
servulorum, paedagogorum moribus — de paedagogo et magistro —
Bonorum comparatio et eruditionis laus — de institutione oratoria —
Tor syY.vv.Xia 7taiöei}.iaTct et philosophia — Bioi — Varia — (de
puerorum amore, de corporum exercitatione, de remissione laborum,-
ludis , certaminibus) — subsidia educandi et virtutes — De di-
scendo — De adulescentibus], III. De foutibus Pseudo-Plutarchi,
294 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
IV. De scriptore eiusque aetate. Zum gleichen Zweck aus dem
Index nominum et rerum memorabilium (S. 106 f.) einiges: adula-
tores — aemulatio (zu Poseidonios tieqI rcad^iov S. 21) — dicendi
genera — mediocritas Peripatetica — vitia adulescentium — de
Xenophontis imitatione. Neben aemulatio sollte auch das Schlag-
wort ambitio (inst. or. I 2, 22) stehen.
Den Ammentopos, den Quintilian unter Berufung auf
Chrysipp (II, 16 und 10, 32) behandelt, bespricht in seiner stoischen
und nichtstoischen Wendung
Wilhelm Schick, Favorin tceql naidiov ayajyijg und die antike
Erziehungslehre. Diss. Freiburg i. Br. Leipzig 1911, Teubuer.
Die von Albrecht Dieterich angeregte und seinem Andenken
gewidmete, frisch geschriebene Dissertation zeigt die enge Berührung
zwischen Favorinus, dem Lehrer des A. Gellius, und Pseudoplutarch
ttsqI Ttaiöiov aytoyijg', mit Favorin berühre sich Quintilian kaum.
Den Gemeinplatz über die Verwendung schlechter Erziehungs-
organe bei Favorin, der auch die stoische Lehre von der Vererbung
erweitert, möchte Schick auf den Peripatetiker Hieronymos oder gar
auf Theophrast zurückführen , der zuerst 7t€Ql Tiaidcov aycoyrjg
schrieb. Die Staatspädagogik eines Plato und eines Aristoteles
habe unter dessen Nachfolgern schon eine Wendung zur indivi-
dualistischen genommen, folgend dem Zuge der Zeit. Die stoische
Erziehungslehre des Chrysipp hält Schick nicht für originell.
Im Anschluß an Favorin, über den auch der Artikel bei
P. W. zu vergleichen wäre, möchte ich nachträglich auf eingehende
Untersuchungen über die Ai'beitsweise das A. Gellius hinweisen,
die Karl Hos ins in seiner Ausgabe der Noctes Atticae 1903
Praef. p. XVI — LIX niedergelegt hat. Zwar zeigt der Index zu
Gellius nicht den Namen Quintilians, aber der literarische Befund
und Geschmack der Zeit Quintilians wird gut beleuchtet. Über
Hosius' Vortrag über römisches Schulwesen siehe oben.
Für die Arbeitsweise des Gellius oder der benach-
barten Zeit überhaupt ist von hervorragender Bedeutung Friedrich
M ü n z e r , Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des
Plinius (Berlin 1897, Weidmann) : z. B. S. 189 ff. Weintrinkeu einer
Matrona ; Varro ausgeschrieben , aber nicht genannt , statt seiner
Fabius Pictor. Quintilian nennt den Varro (I 6, 12) als Mittel -
quelle: Varro in eo libro, quo initia Komanae urbis enarrat
lupum feminam dicit Ennium Pictoremque Fabium secutus.
XI. Ausgaben. 295
XI. Ausgaben.
In der Loeb Classical Library, herausgegeben von Capps, Page
and Kouse, ist in schmuckem Bädekergewand erschienen
H. E. Butler, The Institutio oratoria of Quintiliau
with an English translation in four Volumes. Vol. I. XJV
und 544 S. Buch I mit III. II. (IV— VI) ib. 1921, 532 S.
m. (VII— IX) ib. 1922, 596 S. IV. (X— XU) 1922, 548 S.
London — William Heinemann, New York — G. P. Putnam's
Sons.
Die Einleitung bietet knapp den ßiog in der gewöhnlichen
Form: geboren ca. 35, gestorben noch vor 100 n. Chr. (Beweis?).
An Gamurrinis Zweifel betreffs des Geburtslandes war zu erinnern.
Wenn Quintilians Vater in Eom als Rhetor tätig war, so überrascht der
nächste Satz 'the young Quintilian was seut to Rome for his education*.
Die Umrißzeichnung des großen Lehrers trifft ihn gut : 'humane,
kindly and of a deeply affectionate nature, gifted with a robust common
sens and sound literary judgment, he may well have been the ideal
schoolmaster.' Die Bibliographie hält sich auch bündig, ebenso die
Inhaltsangabe. Der Text ist der von Halm mit etlichen Änderungen,
besonders in der Interpunktion. Links steht der lateinische Text,
rechts die englische Übersetzung. Die Übersetzung ist, soweit
ich dies für das Englische beurteilen kann , treu und geschmack-
voll. Z. B. I 2, 3 über die angebliche Schädigung der Moral in
öffentlichen Schulen : 'K it were proved that schools, while advantage
US to study, are preiudicial to morality, I should give my vote for
virtuous living in preference to even supreme excellence of speaking.
But in my opinion the two are inreparable. I hold that no one
can be a true orator unless he is also a goodman and, even if he
could be, I would not have it so.' Die Partien über allgemeine päd-
agogische Fragen, wie die eben berührte, sind natürlich bequemer
zu übersetzen als die speziell technischen der Grammatik und
Rhetorik , wo eine Übersetzung stellenweise ganz unmöglich ist,
wie I 6, 40 qualia sunt topper et antegerio et exanclare — I refer
to words such as topper, "quite", antegerio, "exceedingly'', exanclare,
"to exhaust", so behilft sich Butler auch weiterbin öfters, z. B.
bei den verschiedeuen status ('bases') III 6. Ich habe es bei der
Übersetzung von Dionys von Halikarnaß Tlegi avvd'. ov., wie früher
bei K. Kuchtners Übersetzung der Herenniusrhetorik, wieder erfahren:
wo die Sprachform als solche in Betracht kommt, sind die Grenzen
der Übersetzung fest gezogen. An Umfang wird die modern-
296 Ammon: Quintil. inst. or. 1910—21.
sprachliche Übersetzung in der Regel etwas länger (bei Butler etwa
um ein Viertel) als das antike Original.
Auf den lateinischen Text, der sauber und übersichtlich
gedruckt ist, näher einzugehen, liegt kein Grund vor. III 11, 20
wird Clytaemnestra (englisch Clytemnestra) gedrtickt , obwohl auch
bei Quintilian das n nicht begründet ist. Im Index, der nur die
erklärungsbedürftigen Namen wie Agnon, Aleidamas enthält, finden
sich Clytaemestra, Agamemnon u. ä. nicht. Es wird das überlieferte
Marcelle Victori geboten, Vitoii nicht erwähnt, auch im Index nicht.
Der IV. Bd. enthält S. 517 Index of names, S. 533—549 Index
of words, auch die graeca, wie das Schlagwort dva7taQay(.oXovOr]TOv
IV 1, 40, das uns oft bei Dionys von Halik. begegnet.
Butlers äußerst gefällige und handliche Ausgabe wird besonders
den englischen und amerikanischen Pädagogen erwünscht sein ; viel-
leicht greift auch mancher deutscher Neusprachler und Pädagoge,
der nicht das pädagogische Evangelium von Rousseau ausgehen läßt,
wegen der guten englischen Übersetzung nach Butlers Buch.
M. Fabii Q, u i n t i 1 i a n i institutionis oratoriae liber decimus.
Erklärt von E. Bonneil. 6. Aufl. von Hermann Röhl.
Berlin 1912, Weidmann. 98 S. 8.
Der hervorragende Horazinterpret H. Röhl hat umfassendes
Wissen, Takt und Pietät der bewährten Bonuellschen Ausgabe des
10. Buches, um deren 5. Auflage sich der Quintilianherausgeber
Ferdinand Meister sehr verdient gemacht hatte , in dankenswerter
Weise zugewendet. Ich habe in meiner Besprechung der Neu-
auflage B. ph. W. 33, 1913, 877 &. einige Wünsche geäußert für
eine künftige Behandlung der iudicia, der hellenistisch - römischen
Terminologie der Rhetorik , der Klauseltechnik u. a. Diese sind
schon im Hinblick auf die zum 10. Buch im einzelnen angeführten
Schriften nicht zu wiederholen. Auch die textlichen Neuerungen
sind oben nach Röhls Studien behandelt.
Ferdinand Meister, Quintiliani Institutio oratoria. Liber X.
Wien-Leipzig 1921, Tempsky-Freytag. Zuerst 1897. Neue
Titelauflage 1920.
Nicht benützen konnte ich:
— A. Beltrami, Quintiliani Institutionis oratoriae liber XII
con introduzione e commento. Roma 1910, Albrighi Segati
e Co.
Rez. A e R N. 133'134 p. 42—43 von C. Biene.
Boficl XVII, 2/3, p. 48—51 von Cisorio.
XII. Fortleben der Institutio oratoria Quintilians. 297
— A. Beltrami . . . libro X. Bologna 1904, Zanichelli. 154 S.
— M. Bassi ... libro X^ (ristampa). Torino 1914.
— Hild ... 1. X.
— Lupi ... 1. I. Livorno 1915; auch nicht:
— Greene, H. W zu XII 10, 64; in Class. Quart. IX (1915)
S. 55.
Wir brauchen heutzutage
a) eine Erneuerung und Weiterführung der grolien kritischen
Ausgabe von Halm (1868/69),
b) eine Ausgabe mit fortlaufendem Kommentar, der in allen
Teilen auf der Höhe der Wissenschaft steht ; beides
natürlich nicht Ttagegya.
XII. Fortleben der Institutio oratoria Quintilians.
über den Einfluß auf Firmianus Lactantius, den christ-
lichen Cicero, handelt
Hubertus Jagielski, De Firmiani Lactantii fontibus quaestiones
selectae. Königsberger Diss. Königsberg 1912. 97 S. Gr. 8.
Quintilian wird neben Varro, Seneca und Gellius — Cicero ist
früher von Pichon behandelt — als eine Quelle für Laktauz, der
mit einem seiner Hauptwerke Institutionum divinarum libri VII zur
Verbreitung des Titels beigetragen hat, aufgezeigt (S. 89 — 93) an
Ähnlichkeiten, die freilich hie und da auch eine andere Erklärung
zulassen.
In Parallele treten z. B. Lact. Instit. H 12, 4 mit Quint. I 4, 4.
Für den Bestand der bei Quintilian berührten Stenographie
(Tachygraphie) bietet wenig:
Arthur Mentz, Das Fortwirken der römischen Steno-
graphie. Neue Jahrb. 19 (1916) I S. 493—517,
aber viel für die Geschichte der Stenographie mit der einschlägigen
Literatur.
Für das Fortleben und Fortwirken Quintilians enthält, wie
schon oben bei der Überlieferungsgeschichte angedeiitet, nicht wenig :
Max Manitius, Gesch. der lat. Lit. des Mittelalters, München
1911. Handb. von Iw. von Müller IX 2, 1 ;
so war die Inst, nach Cassiodor in der Bibliothek von Vivarium vor-
handen ; der Abschnitt de analogia bei Isidnr von Sevilla stammt aus
Quintilian (S. 63). S. 486 Anm. 4 : 'Es gab eine unvollständige insulare
[bei Altsig in England] und eine vollständige römische Überlieferung
298 Ammou: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
Quintilians' [bei Benedikt III.]. Für die Zeit Petrarcas und Pog-
gios vgl. oben S. 224 ff. Überlieferung (Sabbadini, Beltrami).
Ein Grundstein der Instit., der 'vir bonus' wird im Aufbau der
Eenaissance verwendet, wenn auch Quintilian, dessen Einfluß nach
Aug. Messers Forschungen mächtig war, nicht immer genannt wird.
Zum Verständnis des Tugendbegriffes , besonders des politischen,
trägt viel bei
Karl Borinski, DieWiedergeburtsidee in den neueren
Zeiten. In den Sitz.-Ber. d. Bayer. Ak. d. Wiss. Philos.-
philol. u. bist. Kl. Jahrg. 1919, 1. Abhandlung,
z. B. S. 67 und die Literaturnachträge S. 120 (Burdach: Wolkan;
Hans Tiedemann 'Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutschen
Humanisten um 1500').
Konrad B u r d a c h , der beste Kenner der Renaissance (auch
Jakob Burckhardt überragend), gibt seit 1912 im Auftrage der
Preußischen Akademie der Wiss. unter dem Titel „Vom Mittelalter
zur Reformation" eine Sammlung (bisher 4 Bände) heraus, die auch
für das Fortleben Quintilians von Bedeutung ist.
Konrad B u r d a c h , Reformation — Renaissauce — Humanismus.
Zwei Abhandlungen über die Grundlagen moderner Bildung
und Sprachkunst. Berlin 1918, Gebrüder Paetel. 220 S.
Bespr. Literaturblatt f. germ. u. rom. Phil. 43, 1922, 153 ff.
von Koerner.
Wie sich im Kreise Petrarcas und Poggios der Wechselbegriff
Renaissance und Humanismus entwickelt hat, faßt B. übersichtlich
usammen.
Quintilians Institutio war im Kreise Poggios, der 1416 den
Codex mit dem unverkürzten Text in St. Gallen entdeckte, bekannt
und wirksam. Auch an
Burdach, Deutsche Renaissauce. 2. Auflage. Berlin 1918,
sei erinnert.
„Der antike Kultus, in seinen originalen Formen wenigstens,
mochte vergehen. Die antike Schule als disciplina blieb." Über
dieses Fortwirken namentlich 'der Systematik Quintilians spricht
(der 12. 1. 22 als Professor an der Universität München verstorbene)
Karl Borinski, Die antike Poetik und Kuusttheorie
vou (richtig : vom) Ausgang des klassischen Altertums bis auf
Goethe und Wilhelm von Humboldt. L Mittelalter, Renaissance,
Barock. Leipzig 1914, J)ieterichsche Buchhandlung. 324 S.
Heft IX vom „Erbe der Alten".
XII. Fortleben der Institutio oratoria Quintilians. 299
Wie zu Beginn des Mittelalters die artes bei Augustin und
Cassiodor weitergeblüht, zeigt (I 3) S. 30 5 die internationale Lati-
nitas, von Valla als Göttin gefeiert, mit ihrem aptum und der TCBid^O)
führt die Kunsttheorie (II 3 S. 120 ff.) ? für die Zeit der Hoch-
renaissance und des Barock ist der Stilschule Quintilians ein
Paragraph (III 2 S. 176 ff.) gewidmet; auch die Poetik der Ke-
naissance greift auf Quintilian zurück (S. 227). Reiche Literatur
in den Anmerkungen ; auch Behandlung einzelner Stellen.
Johann Michael Hofer, Die Stellung des Desiderius
Erasmus und des Johann Ludwig Vives zur Pä-
dagogik des Quintilian. Erlanger Dissert. Erlangen
1910. IV, 221 S. Gr. 8.
Wie der katholische Theologe Ben. Appel hat auch der pro-
testantische Theologe Hofer (geb. 1887) der Instit. or., angeregt
und gefördert durch Ad. Römer, seine Arbeitskraft gewidmet. Der
Einfluß Quintilians als *^autor classicus' der Pädagogik wird kurz
skizziert (S. 1 — 13); so auf die jüngeren lateinischen Rhetoren, auf
Hieronymus, Hilarius, Servatus Lupus (Karolingerzeit), Vincenz von
Beauvais, auf den Humanismus. Den Humanistenfüi-sten Erasmus
und den mehr ethisch gerichteten Vives hatte schon A. Messer
eingehend behandelt — vgl. meinen Bursianbericht Bd. 109 (1901
II) S. 140 f. Darauf war zu verweisen. Es ist schon betont worden,
daß von acht einschlägigen Schriften des Erasmus sich dieser Ein-
fluß naturgemäß am meisten in dem Buche De pueris statim ac
liberaliter instituendis (1529) kund macht. Hofer weist wörtliche
und gedankliche Übereinstimmungen in großer Menge nach. Haupt-
gebiete sind : Beginn der 'Unterweisung', Beginn der sittlichen
Erziehung, das Ideal der Bildung (Eloquenz), der sittlichen Er-
ziehung, die Kindesuatur, Verhältnis von Anlage und Erziehung,
Übung, die Individualität, Kennzeichen der Anlagen, frühreife
Talente, Verhältnis von Körper- und Geistespflege (Spiel und Er-
holung), die Erziehungsfaktoren (Eltern, Wärterinnen, Pädagoge,
Lehrer, Kameraden), Unterricht im Hause oder in der Schule?
Die Zucht, Beeinflussung des Willens (Schläge, Ehrgefühl — Ehr-
geiz — der Unterricht — spielend lernen — Anschauung) , die
Methode des Unterrichts, Aussprache, Lesen und Schreiben, Gram-
matik und ihr Unterrichtsgang, die Klassikerlektüre und ihre
Interpretation , Griechisch , die Imitation. Nach dem 'Rückblick'
S. 90 f. verarbeitet und erweitert Erasmus oft Quintilian, kritisiert
ihn aber nicht; für ihn ist der römische Professor 'völlige Autorität*.
*Von einer inneren Verwandtschaft der beiden Pädagogen' (S. 90)
300 Aminon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
läßt sich aber nur cum grano salis sprechen. Das Beste in der In-
stitutio ist Überlieferungsgut.
Nach dem fast gleichen zweckmäßigen Plan wird Vives be-
handelt, der nach dem 'Eückblick' S. 159 als eigen hat: 'Kritik
an den Alten und Fortschreiten über dieselben hinaus' ; also den
Weg der neuzeitlichen Pädagogik betritt.
Anhangsweise möchte ich hinweisen auf Erasmus (Dialogus)
Cicero nian US von 1528, den Job. Karl Schönberger nach
der Baseler Ausgabe von 1540 neu herausgegeben hat. I. Teil:
Text. Augsburg 1919. 83 S. Bezüglich des Hauptstrebens der
Humanisten, der Imitation, äußert sich der Mitunterredner
Bulephorus im Sinne Qu in tili ans so (S. 80 f.): 'Nullus fuit
unquam tarn absolutus artifex in cuius opere non aliquid deprehendas
quod melius reddi possit. Ad haec nolim hanc imitationem nimis
anxiam ac superstitiosara esse. Nam hoc ipsum obstat, quomiuus
efficiamus quod volumus. Nee ita censeo M. Tullium adamandum
ut a ceteris omnibus abhorreas, sed optimos quosque primum legendos
et ex optimis quod in quoque est Optimum excerpeudiim . . . Ad
haec nolim quenquam sie addictum esse Ciceroni imitando, ut a suo
recedat ingenio et valetudinis vitäeque dispendio consectetur quod
repugnante Minerva non possit assequi vel nimio constaturum sit,
si tandem assequatur.'
Wenn auch Quintilian in den Schulordnungen 'fast niemals mit
Namen' genannt, so ist doch sein Einfluß unverkennbar, wie Ernst
Schwabe betont *, siehe Neue Jahrb. 1915 II S. 292 'Die Zwickauer
Schulordnung des Rektors Esrom Rüdinger vom Jahre 1550' ;
Rüdinger beruft sich bezüglich der mores praeceptoris ausdrücklich
auf den Fabius (S. 302).
Hans Heim, Fürstenerziehung im 16. Jahrhundert.
Beiträge zur Geschichte ihrer Theorie. Forschungen und
Fragen, herausg. von R. Stölzle, Heft 11. Paderborn 1919,
Sehöningh. XII, 179 S. 8".
Wenn die Studie fruchtbringend werden sollte , so durfte sich
der Verf. — wie Adolf Hase n cl ever - Halle a. S. in seiner- Be-
sprechung Deutsche Lit.-Ztg. 1922, 154 f., betont — nicht auf die
Vorführung der wenig bekannten Gelehrten (Christoph Vischer,
Belisar, Aquaviva, Michael Marullus, Joachim Hopper, Stephan
Piphius, Thomas Sigfried, Franziscus Patricius) beschränken, sondern
mußte die Abhängigkeit dieser von den vorausgehenden päd-
agogischen Theoretikern feststellen ; also auch auf Quintilians Ein-
fluß eingehen.
XII. Fortleben der Institutio oratoria Quintilians. 3Q1
Marianne Wychgram, Quintilian in der deutschen
und französischen Literatur des Barocks und
der Aufklärung. In Friedrich Manns Pädagogischem Ma-
gazin Nr. 803. Langensalza 1921. XII, 150 S. 8.
Unter Hinweis auf die von mir im letzten Bursianbericht
(1-18. Bd. S. 167) bezeichneten Desiderata der Q.uintilianliteratur
unternimmt es die Verf., die Geltung Quintilians für das deutsche
Geistesleben des 17. und 18. Jahrhunderts, soweit es in der Lite-
ratur zum Ausdruck kommt, zu untersuchen. In der Antithese
Barock - Aufklärung (bis auf Adelung) treten zwei verschiedene
Arten der Geltung Quintilians deutlich hervor — über die Sturm-
uud Drangperiode stellt W. gesonderte Untersuchung in Aussicht.
Es wird nach Angabe der Verf. noch ein doppelter Zweck im Auge
behalten : das Fortwirken der Antike überhaupt und der literarische
Stil des 17. und 18. Jahrhunderts. Statt der systematischen Dar-
stellung , z. B. Quintilians Bedeutung für Ehetorik und Stilistik,
für Pädagogik , Psychologie und Ästhetik , für allgemeine Kunst-
theorie (Das Erbe der Alten 9. Bd.) usw., wie dies zum Teil bei
Karl Borinski , Die Antike in Poetik und Kunsttheorie geschehen
ist, wird die historische Methode, das zeitliche Nacheinander ge-
wählt; es werden die führenden und repräsentativen Persönlich-
keiten (z. B. Morhof, Grübel, Chr. Weise, Schröter ; Uhse, Bödiker,
Neukirch, Lougolius, Leibniz) ins Auge gefalJt; die klassische fran-
zösische Literatur (Racine, Lafontaine, Lami, Rapiu, die Teilnehmer
au der „Q,uerelle des Anciens et des Modernes", ßolliu, Du Bos)
wird nur insoweit berücksichtigt, als sie auf die Geltung Quintilians
bei den Deutschen eingewirkt hat : Ausgaben, Fabricius, Hallbauer,
Gottsched, Breitinger, Simonetti, Peucer, Baumgarteu, G. F. Meier,
Job. El. Schlegel, Joh. Ad. Schlegels Batteuxübersetzung, ßabener,
Geliert, Friedrich der Gr. und Bielfeld, Thomas Abbt, J. F. Löwen,
Hogarth, Ant. Eaph. Mengs , Winckelmann, Lessing, Eschenburg,
Sulzer, Wieland, Garve, Adelung. Vorausgeht dieser stoffreichen
Darstellung eine kurze Analyse der Institutio oratoria (S. 1 — 5),
an der Natürlichkeit und Ausgeglichenheit des Stils besonders ge-
rühmt werden, und eine Skizze der Geltung Quiutilians im Mittel-
alter, in der Kenaissance und im Übergang zur Barockzeit (S. 6 — 23) ;
abgeschlossen wird die gehaltvolle Arbeit durch die Zusammen-
fassung S. 136 — 138. Einen Index ersetzt die eingehende Inhalts-
übersicht S. X — Xn und das Literaturverzeichnis (Quellen und Dar-
stellungen) S. 139 — 147, in dem sich freilich etliche Lücken uud
störende Druckfehler finden. Hervorheben möchte ich die Stellung
302 Ammon: Quintil. inst, or. 1910 — 21.
Lessings (S. 119 ff.), der ii, a. viel über die actio (auch den Ausdruck
^Chironomie"' inst. I 11, 17) aus Quintilian genommen hat. Mehr
einzugehen war auf (bayerische) Schulordnungen, besonders der
Jesuitenkollegien. Zu den Schriften über Fortleben Quintilians, das
ich in meinen Bursiauberichten , auch über Cicero , mitbehandelt
habe, wären u. a. noch zu stellen Manitius, Sabbadini, Bassi, Bel-
trami ') ; zu den Gesamtdarstellungen Quintilians neben Froment in
Buissons Dictionnaire de Pedagogie (Paris 1911) die von Schwabe
bei Pauly-Wissowa (Fabius) und die in dem Vortrag über römisches
Schulwesen von Karl Hosius ; die in der Cyclopedia of Edu-
cation V S. 101 f. (New York 1913) bietet nicht viel.
Bei Paulsen -Lehmann, Gesch. d. gel. Unterrichts (I 1919,
II 1921) ist zwar wiederholt von Quintilian die Rede, aber in den
Registern findet sich sein Name nicht (wie die der Klassiker über-
haupt nicht).
Am meisten näherte sich Johann Sturm der antiken Rhetorik.
Hier schafft Aufklärung
Walter So hm, Die Schule Johann Sturms und die Kirche
Straßburgs in ihrem gegenseitigen Verhältnis 1530 — 1581.
Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Renaissance. München
und Berlin 1912. XIV, 318 S. 27. Bd. der ^Historischen
Bibliothek'.
S. 31 ff. 'Der Begriff und die Schule der sapiens et
eloquens pietas' (Aristoteles — Cicero — Quintilian — Hermo-
genes). 'Haben wir seinen [sc. Ciceros] Geist erfaßt, dann ist auch
der Quintilians geschildert, der nur des Meisters Ideen zu einer
klassischen Pädagogik umarbeitet' (S. 44). Auch Sturm setzt gerne
orator = philosophus (S. 95). Vgl. oben S. 222 zu Appels Arbeit.
Auf das Fortwirken des als Erzieher seines rhetorischen Volkes
hocheingeschätzten Quintilian kommt
Paul Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und
geistesgeschichtlicher Beleuchtung, 2. Aufl. Leipzig 1916.
751 S.
immer wieder zix sprechen (Humanisten, Locke, Gesner usw.), nament-
lich tritt bei ihm aber die 'Erziehung in der Klassengesellschaft
des Altertums' S. 123 ff. durch die benachbarten Gegensätze ins
rechte Licht.
1) Einen Avie starken Einfluß die antike Pädagogik, neben Quintilian
auch das unter Plutarchs Namen gehende Büchlein tkqI nctiSwv dyayyijs,
geübt hat, skizziert unter Angabe reicher Literatur A. Sizoo, De Plu-
tarchi qui fertur de liberis educandis libello (1918 s. o.), im Prooemium.
XII. Fortleben der Institutio oratoria Quintilians. 303
Ernst Bergmann, Die antike Nachahmungstheorie in der deut-
schen Ästhetik des XVIII. Jahrhunderts. Probevorlesung,
gehalten an der Universität Leipzig 1910. In den Neuen
Jahrb. 1911 I S. 120—131.
Nach Aristoteles, der von seinem Lehrer Piaton hierin abweicht,
beruht die Freude an der uii-irjaig, an der Kunst überhaupt, in dem
Vergleichen von Abbild und Urbild . . . „Bei den Römern erhält
die (.iif.ir]aig einen anderen Sinn. Wenn Cicero, wenn Quintilian
von i m i t a t i o reden , so meinen sie damit die Nachahmuns: der
großen Werke berühmter Vorgänger. Diese Verflachung der Nach-
ahmungstheorie und Einschränkung auf die Rhetorik wirkt dann
fort durch die ganze neulateinische Dichtung und Renaissance bis
ins XVin. Jahrhundert hinein. So schreiben die Bembo , Sturm,
Joh. Gerh. Voß und viele andere de imitatione oratoria. Auch
Kant gebraucht das Wort noch in dem angedeuteten Sinn,"
Wenn Paul Merker in seinem Aufsatz ''Der Ausbau der
deutschen Literaturgeschichte' in den Neuen Jahrbüchern f. kl. Alt.
1920 I (S. 72) sagt: ''Zunächst fehlt uns eine literarische Stil-
und Formgeschichte, die die Wandlungen der allgemeinen
dichterischen Form und des Stils durch die Jahrhunderte verfolgte',
so zeigen die Arbeiten von Borinski, Wychgram, Bergmann u. a.,
was uns auch hier Quintilian sein kann. Rhys Roberts hat von
Dionys von Halikarnaß ausgehend eine Geschichte der literarischen
Kritik in Angriff genommen.
Wegen der Übersetzungen Quintilians — eine solche war auch
für Drerups Rhetorische Quellenschriften in Aussicht genommen —
ist zu verweisen auf
W. Franz el, Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert.
Leipzig 1914.
Siehe oben zu Buch X.
Xin. Quintilians Bedeutung für die Gegenwart.
Die Institutio enthält 1. eine bis zur Raffiniertheit entwickelte
rhetorische Technik, die dem künftigen Berufsredner die besten
Wege öffentlicher Wirksamkeit weist, 2. eine auf dieses oratorische
Ideal eingestellte allgemeine Bildungs- und Erziehungslehre, 3. ein
Kultur- und Sprachbild der Weltstadt aus dem Hochstand ihres
Imperiums. Ein solches Werk kann den Epigonen nicht entbehrlich
werden, auch wenn sie an den Grundfragen menschlichen Aufstiegs
nicht so irre geworden wären wie die Gegenwart. Zwar klingt das
304 Ammoa: Quiutil. inst. or. 1910—21.
Eeichsgesetz : „Jedes deutsche Kind hat ein Kecht auf Erziehung
zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" noch
verheißungsvoller als das Programm des civis Komanus, aber zum
Zweck der Durchführung wird es gut sein, ab und zu bei dem
alten 'Professor' ein Stündchen zu hören. 'Von keinem Gebiet
gilt so sehr die Wahrheit, daß in der Gegenwart die ganze Ver-
gangenheit enthalten ist wie von der Erziehung' (Eduard Spranger,
Kultur und Erziehung, S. 1).
a) Zur Rhetorik.
Unsere Zeit , die Zeit der Großstädte und des Verkehrs , der
Freistaaten und der Parlamente ist rhetorisch oder wird rhetorisch.
Adolf Damaschke, Volkstümliche Redekunst, Erfah-
rungen und Katschläge. Jena 1911.
„In der Redekunst ist der Wille zur Tat das Entscheidende"
(Vorwort); virtus und pectus, die Quintilian fordert, stehen dem
nahe. Die Disposition (Fleiß und Begabung — Stoff — Gliederung —
Ausdruck — Aneignen — Vortrag; von der Vollendung der Rede-
kunst) zeigt uns das Gerippe der alten Techne. Quintilian (S. 4.
36. 37. 47 genannt) kommt zur Geltung, z. B. die Bedeutung des
Proömiums. „Wenn man das erste Knopfloch verfehlt," mahnt
Goethe, „kommt man mit dem ganzen Zuknöpfen nicht zustande.
Der Anfang muß gut sein."
Umfassender ist das 10 Jahre später erschienene Buch
Adolf Damaschke, Geschichte der Redekunst. Eine
erste Einführung. Jena 1921, Fischer. VIII, 320 S.
Wie seine Geschichte der Nationalökonomie „soll auch dieses
Buch nichts voraussetzen und verzichtet ebenso auf wissenschaft-
liche Vollständigkeit" ...: „Mit höhnischem Spott und bitterem
Weh wird heute die Anklage erhoben, daß wir Deutsche niemals
ein staatsbüi-gerlich durchgebildetes Volk gewesen sind. Im rechten
Sinn aufgefaßt, kann eine Geschichte der Redekunst mehr zu solcher
staatsbürgerlichen Erziehung helfen als Arbeiten auf vielen anderen
Gebieten" (S. V). Ähnliche Gedanken schließen öfter auch meine
rhetorischen Berichte. Von Homer bis auf uns durcheilt D. die
Zeit in 10 Abschnitten (I 1 Homer — X 5 „Und wir"). In Rom
zeigt die Graccheuzeit die Macht des radikalen Schlagwortes (S. 59).
Der Abschnitt II 5 'Cicero' und II 6 'Um Cicero' (S. 78—113)
und IT 7 'Der Ausgang in Westrom' (S. 113 — 133), in dem „Ex-
zellenz" Quintilian und Tacitus im ganzen angemessen behandelt
XIII. Quintilians Bedeutung für die Gegenwart. 305
sind, ersetzen streckenweise einen Saclikommentar zur Inst. or.
Ein Namenverzeiclinis, das mau vermißt, würde auch das Fortwirken
der antiken Beredsamkeit (Demothenes — Pitt usw.) leicht überblicken
lassen.
Fritz Gerathewohl, Erziehung zum Redner. Eine
Anleitung. Berlin 1922, Zentralverlag. 32 S. 8.
Wie der Titel der Inst. or. entspricht, so auch mehrere Kapitel:
Die Atmung — das Sprechen (Naturresonanz, Stimmlagen, Wort
und Inhalt) — die Rede — der Stil , mit geeigneten Beispielen,
auch aus unseren Klassikern. Von der augeführten Literatur
(Martin-Seydel, Ewald Geißler, Kofier, Schreber, Krumbach-Balzer,
Damaschke, Preßler, Wallaschek, Naumann, Wunderlich, Niemann,
Le Bon, David, Hermann Müller) sind mehrere , wie Le Bon, La
Psychologie des foules (3. Aufl. Leipzig 1919) , schon fiüher be-
sprochen oder berührt, andere seien hier noch kurz skizziert.
HansCalm, Redner und Rede. Leipzig [1919], Voigtländer.
161 S.
gibt gute, knappe, klare Weisungen.
Gustav Herrmann, Die Kunst der politischen Rede.
Leipzig-G. 1921, in 2 Bändchen,
Für Quintilians Forderung, daß der höchste Gipfel der Rede-
kunst einem durchaus anständigen Menschen erreichbar
sei (I S. 9). Kurzer geschichtlicher Überblick.
Bei der Besprechung der Arbeit von Armin Krumbacher,
Die Stimmbildung der Redner im Altertum (s. o.), hebt W. E. J.
Kuiper im Museum 29, 8, S. 192 ff. als besonders lehrreich hervor,
zu sehen, wie die Stimmbildung der Redner im Altertum
in einer Weise üblich war, wie man sie erst wieder im 20. Jahrb.
zum Gegenstand des Unterrichts gemacht hat (Phil. Woch. 1922,
691). Ahnlich schließt Friedrich Levy seine eingehende Besprechung
Philol. Woch. 1922, 702—705.
Quintilian hat sich wie Cicero und Dionys gründlich mit
Musik beschäftigt. In einen größeren Zusammenhang rückt diese
Studien ein Schüler von Otto Crusius,
Hermann Abert, Die Lehre vom Ethos in der grie-
chischen Musik. Leipzig 1899. 2. Bd. in Breitkopf & Härteis
Sammlung musikwissenschaftlicher Arbeiten, z. B. S. 43 f.
'Grammatik, Rhetorik, Metrik. Die Laien', Quintilian u. a.
Über die Veröffentlichungen über Redekunst (Rhetorik)
berichtet Ewald Geißl er-Erlangeu in der Zeitschrift für
Deutschkunde, zuletzt 1922, Jahrg. 36, S. 189—191 (Gerliug»
Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. 192 (1922 II). 20
306 Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
Calm, David, Fritz Müller, Fritz Specht, Gustav Hermann) : drei
seien herausgehoben: Der junge Redner von Willibrod Beßler,
2. u. 3. Aufl. Freiburg i. B. 1919, Herder (mit Stoffen aus den
Oberklassen einer Klosterschule) , dann eine theologische Arbeit,
die aber auch für die Nichttheologen recht gute Dienste tut: Wie
predigen wir dem modernen Menschen? 3. Teil, Tübingen 1921
(Mohr), und schließlich eine Geschichte der Redekunst, 'die aber
eigentlich keine Geschichte ist: Adolf Damaschke, Geschichte
der Redekunst. Jena 1921, Gustav Fischer'; s. S. 304.
b) Zur Bildung und Erziehung.
Friedrich Leo, Die römische Literatur und die Schul-
lektüre. Human. Gymn. 21 (1910), S. 166—176
sagt über Quintil i an (S. 173): „Plinius übt die Kunst, das
Einfache auf nicht einfache Weise zu sagen ; darum ist er für die
Schule nicht gemacht. Anders Qiiintilian, dessen Sprache und
geistige Kultur das Beste ist, was auf Ciceros Boden , auf den er
zurücktrat, gediehen ist. Große Abschnitte sind allerbeste
Schullektüre. Im Gefolge der Reaktion, die er gegen den
herrschenden Stil unternahm , mit großem Erfolg für die Schule
und nicht dauerndem für die Literatur, steht der jüngere Plinius
und Tacitus mit dem Dialogus." In dem treflPlichen 'Lateinischen
Unterricht' von Fr. Gramer kommt Quintilian nicht recht zur
Geltung, entsprechend den gegenwärtigen Schulordnungen.
Bei der antiken Lektüre ist viel mehr als bisher die Form,
die ästhetische Seite zu betonen. Unter Berufung auf eine Stelle
aus Schopenhauers Parerga führt dies an einigen Beispielen
(Reden, Beschreibungen) näher aus
P. Becker, Wie kann die Lektüre der antiken Schrift-
steller lebendiger und nutzbringender gemacht
werden? In der Monatsschrift für höh. Schulen 21 (1922),
129—138.
Er verweist u. a. auf die suasoriae der antiken Rhetoren-
schulen. Für den Lehrer ist und bleibt, füge ich bei, Quintilian
einer der verlässigsten Führer durch die lateinische Kunstprosa, ja
durch Rede, Aufsatz, Lektüre (nach Inhalt wie Form) überhaupt.
Und doch wird er von den Schulmännern, namentlich den jüngeren,
so wenig gelesen und ausgenützt.
Jeder Sprachunterricht soll auch ein Sach-, ein Kultur-
unterricht sein; eloquentia und sapientia dürfen nach Cicero und
XIII. Quintilians Bedeutung für die Gegenwart. 307
Quintilian nicht getrennt marschieren: Curam verborum rerum
volo esse sollicitudinem (inst. or. VIII prooem 20). Samter, Der
Sprachunterricht als Kulturunterricht, die Teubnerischen Sammel-
werke 'Vom Altertum zur Gegenwart', 2. Aufl. 1921 — hier S. 127
bis 137 auch über Pädagogik von Jul. Ziehen — und 'Das
Gymnasium und die neue Zeit' bewegen sich in dieser Richtung-,
ebenso viele andere.
Hatte Bennett in seinem Aufsatz 'An Ancient Schoolmaster's
Message to the Present-Day Teachers' im Class. Journ. 1909 Febr.
die Forderung Quintilians (I 4, 22) : 'nomina declinare et verba
imprimis sciant' etc. den modernen Lehrern vorgehalten , so zeigt
Roy K. Hack, 'Quintilian again' im Classical Journal 5
(1909), S. 161—164,
daß Bennett und Quintilian unter Grammatik nicht das gleiche
verstehen. 'If we desire to conserve in the United States the form
and essence of liberal education, we must by our Instruction make
Greek and Latin live again in the minds of our pnpils' ... 'A
careful study of Quintilian and such Humanists as Maffeo Vegio
and Vittorino da Feltre would go far to dissipate any preiudice
against their methods and ideals in education. Let us, as Professor
Mahafiy urges, „teach all languages as living vehicles of human
expression". Hörst du, Volk der Denker, diese Stimme aus den
Landen des 'Amerikanismus' ?
Wie in der Zeit der ersten Sophistik, nach dem Zusammen-
bruch Athens, so stehen auch in der zweiten Sophistik beim mora-
lischen Zusammenbruch der weltbeherrschenden Roma Aufbau- und
Erziehungsfragen im Vordergrund. Dort sucht der Homer der
Philosophen Fundament und Halt zu schaffen, hier der 'unphilo-
sophische' Quintilian. Einen geistvollen, klaren Überblick über Grund-
fragen (Wert, Begabung, Vererbung usw.) der antiken Pädagogik gibt
Otto Stählin, Grundfragen der Erziehung bei Piaton
und in der Gegenwart. Rektoratsrede Erlangen 1921.
4". S. 3 — 17, Anmerkungen S. 17 — 20 (reiche Auswahl der
neuesten Literatur).
Die Rede ist auch für die Institutio Quintilians , mag mau
diese systematisch oder in ihrer geschichtlichen Stellung nach auf-
und abwärts betrachten, ein weitblickender Wegweiser. Ein Wort
Hermann Hesses (S. 4) paßt auch auf die von Juvenal charakte-
risierten Übermodernen : 'Leicht erscheint ihnen jedes Gesetz als
Konvention, leicht erscheint ihnen jeder Gerechte als Philister,
leicht überschätzen sie jede Freiheit und Absonderlichkeit, allzu
20*
gQg Ammon: Quintil. inst. or. 1910 — 21.
verliebt hoi-chen sie auf die vielen Stimmen in der eigenen Brust'.
(Quintilian über Seneca.)
Heinrich Faßbinder, Die leitenden Ideen der Ge-
schichte des Volksbildungswesens in ihrem kultur-
und geistesgeschichtlichen Zusammentaug. Paderborn 1922,
Schöningh. 36 S. 8.
Die grundlegende Bedeutung des griechisch-römischen Bildungs-
wesens wird S. 75 ff. gebührend betont (Seneca, Quintilian). Nicht
für Gelehrte.
Auf die wissenschaftlichen Werke, die auch die Brücke zwischen
Altertum und Gegenwart schlagen helfen , auf Barba gallo,
P. Barth und andere ist oben hingewiesen.
Zum Nachleben Quintilians gehört auch das Fortwirken
seiner reichen, anschaulichen Bildersprache für Erziehung und
Unterricht , zwar vielfach ein Erbgut früherer Jahrhunderte , aber
doch durch die Institutio zur Landmünze geworden bis auf den
heutigen Tag, wie 'verdauen', 'vorkauen' (X 1, 19), 'die lebendige
Stimme' des Lehrenden, 'verekeln' — classem ducere 12, 24 — vas-
cula oris angusti I 2, 28 — instillare (ib.) — ad iutellectum audientis
descendere 1 2, 27 usw. Eine zusammenfassende Bearbeitung wäre
angezeigt ; ebenso für unsere pädagogisch-didaktische Terminologie
nach Quintilian.
„Es steht fest, daß ein neuer Mensch geboren werden soll.
Und bisher ist noch immer , Avenn auf deutschem Boden ein neuer
Mensch geboren wurde, die Antike dabeigewesen," sagt Ed. Spranger
(1922), und K. Burdach zitiert in seiner Deutschen Eenaissance
im Hinblick auf gewisse Strömungen der Gegenwart Goethes
Xenion für Autochthoniesüchtige :
'Gern war' ich Überliefrung los
Und ganz original!
Doch ist das Unternehmen groß
Und führt in manche QuaP.
PA Jahresbericht über die Fort-
3 schritte der klassischen
J3 Altertumswißsenschart
Bd .191-192
PLEASE DO NOT REMOM'
CARDS OR SLIPS FROM THIf ,
UNIVERSITY OF TORON' "^ ^
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